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"Du weißt schon, dass du vergessen hast, zu bezahlen?" "Wieso läufst du mir nach? Ein bisschen verrückt, meinst du nicht auch?" Es sind nicht die typischen Worte eines Kennenlernens und es ist keine Liebe auf den ersten Blick, aber Sebastian und Mareike gehen einander nicht mehr aus dem Kopf. Als sie sich schließlich wieder begegnen, merken sie, dass es vielleicht doch mehr als Sympathie sein könnte. Langsam nähern sie sich einander an, doch Sebastian verschweigt ihr seine schwierige Kindheit und verstrickt sich in einem Netz aus Lügen, während Mareike ihm ihrerseits vorenthält, dass sie schwer krank ist. Kann eine Liebe Bestand haben, wenn ihr Fundament aus Unwahrheiten und Ausreden erbaut wurde?
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Seitenzahl: 446
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Inhaltsverzeichnis
Titel
Informationen zum Buch
Impressum
Widmung
Kapitel 1 - Mareike
Kapitel 2 - Sebastian
Kapitel 3 - Mareike
Kapitel 4 - Sebastian
Kapitel 5 - Mareike
Kapitel 6 - Sebastian
Kapitel 7 - Mareike
Kapitel 8 - Sebastian
Kapitel 9 - Mareike
Kapitel 10 - Sebastian
Kapitel 11 - Mareike
Kapitel 12 - Sebastian
Kapitel 13 - Mareike
Kapitel 14 - Sebastian
Kapitel 15 - Mareike
Kapitel 16 - Sebastian
Kapitel 17 - Mareike
Kapitel 18 - Sebastian
Kapitel 19 - Mareike
Kapitel 20 - Sebastian
Kapitel 21 - Mareike
Kapitel 22 - Sebastian
Kapitel 23 - Mareike
Kapitel 24 - Sebastian
Kapitel 25 - Mareike
Kapitel 26 - Sebastian
Kapitel 27 - Mareike
Kapitel 28 - Sebastian
Kapitel 29 - Mareike
Kapitel 30 - Sebastian
Kapitel 31 - Mareike
Kapitel 32 - Sebastian
Dank
Carolin Emrich
The way to find love
Liebesroman
The way to find love
»Du weißt schon, dass du vergessen hast, zu bezahlen?«
»Wieso läufst du mir nach? Ein bisschen verrückt, meinst du nicht auch?«
Es sind nicht die typischen Worte eines Kennenlernens und es ist keine Liebe auf den ersten Blick, aber Sebastian und Mareike gehen einander nicht mehr aus dem Kopf.
Als sie sich schließlich wieder begegnen, merken sie, dass es vielleicht doch mehr als Sympathie sein könnte. Langsam nähern sie sich einander an, doch Sebastian verschweigt ihr seine schwierige Kindheit und verstrickt sich in einem Netz aus Lügen, während Mareike ihm ihrerseits vorenthält, dass sie schwer krank ist.
Kann eine Liebe Bestand haben, wenn ihr Fundament aus Unwahrheiten und Ausreden erbaut wurde?
Die Autorin
Carolin Emrich wurde 1992 in Kassel geboren. Schon als kleines Mädchen bat sie ihre Mutter, ihr nicht nur vorzulesen, sondern ihr auch das Lesen beizubringen. Sobald sie dieses beherrschte, gab es kein Halten mehr. Stapelweise wurden die Bücher verschlungen und bald schon begann sie, eigene kleine Geschichten zu Papier zu bringen. Im Alter von 15 Jahren verschlug es sie auf eine Fanfiction-Plattform, wo sie auch heute noch ihr Unwesen treibt. Im Herbst 2015 reifte dann die Idee heran, ein Buch zu schreiben. Aber vorher stellte sich die Frage: Kann ich das überhaupt? Um dieser auf den Grund zu gehen, begann sie zu plotten, und schrieb daraufhin ihr Fantasy-Debüt »Elfenwächter«. Weitere Jugendbücher sind derzeit dabei, Gestalt anzunehmen.
Beruflich schloss Carolin Emrich im Juli 2015 ihre Ausbildung zur Industriemechanikerin erfolgreich ab. Sie ist verheiratet und lebt mit ihrem Mann und zwei Hunden in Hessen.
www.sternensand-verlag.ch
1. Auflage, Mai 2018
© Sternensand Verlag GmbH, Zürich 2018
Umschlaggestaltung: Rica Aitzetmüller | Cover & Books
Lektorat: Sternensand Verlag GmbH | Martina König
Korrektorat: Sternensand Verlag GmbH | Jennifer Papendick
Satz: Sternensand Verlag GmbH
ISBN (Taschenbuch): 978-3-906829-88-3
ISBN (epub): 978-3-906829-87-6
Alle Rechte, einschließlich dem des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.
Dies ist eine fiktive Geschichte. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
Für alle,
die kämpfen
und niemals aufgeben.
Sieben Jahre zuvor
»Mama!«
Meine Stimme hallte durchs Badezimmer und ich war mir nicht sicher, ob sie es bis ins Schlafzimmer meiner Eltern schaffte. Erschöpft ließ ich mich auf die Fersen sinken, eine Hand noch immer auf dem Rand der Toilette. Der Geschmack in meinem Mund war fürchterlich, aber ich hatte das Gefühl, dass es nicht reichte, um auf die Beine zu kommen.
»Mama!«, rief ich ein zweites Mal, lauter, aber auch eine ganze Ecke weinerlicher. Ich versuchte, die Tränen zurückzublinzeln, aber sie liefen mir schon über die Wangen, als endlich das erlösende Klappern der Schlafzimmertür ertönte.
»Mareike?«, hörte ich ihre verschlafene Stimme, ehe sie das Licht im Bad bemerkt haben musste und durch den Flur lief.
Ich schluchzte lediglich, als sie auf der Türschwelle erschien, doch es reichte wohl, damit sie die Situation sofort erfasste.
»Och Mäuschen«, sagte sie sanft, bevor sie ins Badezimmer trat, die Klospülung betätigte und mich dann musterte. »Schon besser? Hast du etwas Falsches gegessen?«
»Ich hab so Kopfweh«, stieß ich zwischen Nasehochziehen und Schluchzen aus.
»Na komm her.« Sie griff nach mir und stellte mich auf die Beine, führte mich langsam zum Waschbecken. »Spül dir den Mund aus«, befahl sie, ließ mich dabei aber weder aus den Augen, noch nahm sie die Hand von meinem Rücken. »Sehr schlimm? Ist dir noch schlecht?«, wollte sie wissen, nachdem ich einen Becher mit Wasser getrunken hatte. Ausspucken tat ich nicht gern.
»Mein Kopf«, wiederholte ich. Das Aufstehen hatte das Pochen wieder verstärkt.
Mama warf einen Blick auf die Uhr über der Badezimmertür. »Es ist bald halb fünf. Leg dich ins Bett, ich bringe dir gleich einen Tee und etwas gegen die Schmerzen und dann bleibst du zu Hause.«
Ich nickte schwach und ließ mich von ihr ins Bett zurückbringen, wo sie mich kurze Zeit später mit einem Fencheltee und einer Ibuprofentablette versorgte.
»Ich lege mich noch einmal hin, aber lehne die Türen nur an, ja? Wenn etwas ist, ruf einfach.« Sie streichelte mir noch einmal über den Kopf und ließ mich dann allein.
Ich wusste, dass Mama arbeiten musste und noch bis sechs Uhr schlafen konnte. Meine Kopfschmerzen sollten sie nicht davon abhalten, zur Arbeit zu gehen, obwohl mir klar war, dass sie natürlich versuchen würde, hierzubleiben, wenn es mir schlecht ging.
Es dauerte einige Zeit, bis die Tablette wirkte, und auch der Tee musste abkühlen, aber dann schaffte ich es, noch einmal einzunicken, und verschlief erschöpft den ganzen Vormittag.
»Hallo, Mareike.«
Die Frau mit der Brille und dem strengen Rock, die eben den Raum betreten hatte, schien mich schon zu kennen. Vielleicht stand es auch auf dem Zettel, den Mama ausgefüllt hatte, als wir das letzte Mal hier gewesen waren.
»Mein Name ist Frau Braun.«
Ihr Lächeln war ehrlich und offen, als sie mir die Hand reichte und ich sie leicht ergriff. Sie setzte sich mir gegenüber in einen Sessel.
Ich hatte erst nicht allein gehen wollen, aber nachdem Mama mir versprochen hatte, im Wartezimmer sitzen zu bleiben, hatte ich mich doch getraut. Und nun war es gar nicht so schlimm, denn Frau Braun schien wirklich nett zu sein.
»Hat dir deine Mama schon gesagt, warum du heute mit mir sprechen sollst?«
Ich nickte. Es ging um die neue Schule und meine ständigen Kopfschmerzen. Ich hatte Mama und Papa im Wohnzimmer reden gehört, dass es sein könne, dass die neue Schule noch zu viel für mich sei, und ich doch lieber auf die Realschule wechseln solle. Auch hatten sie mich oft gefragt, ob ich Probleme hätte, dem Stoff zu folgen, oder ob es Ärger mit Klassenkameraden gäbe.
Ich konnte nur mit dem Kopf schütteln. Ja, ich hatte mehr Hausaufgaben auf, aber die konnte ich meistens allein erledigen. Die Kopfschmerzen kamen nur ab und zu. Ich wusste nicht, was der Auslöser war. Und genau das erzählte ich auch der Frau vor mir.
Mama hatte gesagt, dass es wichtig sei, dass ich ganz ehrlich war und nichts verschwieg. Es sei mir auch keiner böse. Manchmal gäbe es eben Probleme, für die man selbst nichts konnte.
Ich wusste das schon, seit ich in der dritten Klasse eine Fünf in Mathe mit nach Hause gebracht hatte. Erst hatte ich furchtbare Angst gehabt, dass ich Ärger bekommen könnte, weil eine Mitschülerin auch eine Fünf geschrieben und angefangen hatte, zu weinen, da sie Hausarrest bekommen würde. Ich war mit einem mulmigen Gefühl nach Hause gegangen, aber es hatte niemand geschimpft. Wir hatten uns nur zusammen hingesetzt und die Aufgaben noch einmal durchgearbeitet.
»Wie sieht denn dein Schultag aus? Magst du mir das erzählen?«
Sie sprach mit mir, als würde ich sie nicht direkt verstehen können. Betont langsam und deutlich.
Ich erzählte ihr von den Dienstagen, denn da hatten wir in den ersten beiden Stunden Kunst, mein Lieblingsfach, und am Nachmittag Musik, was ich ebenfalls sehr mochte. Wir sprachen darüber, was ich in den Pausen machte und wie ich es fand, dass meine beste Freundin aus der Grundschule nun auf die Realschule und nicht mehr mit mir in eine Klasse ging.
Ich musste noch drei Mal zu Frau Braun, aber ich konnte ihr nichts anderes erzählen, auch wenn sie immer wieder wissen wollte, ob ich an der neuen Schule glücklich war und mir das Lernen Spaß machte. Mich irritierten ihre Fragen, aber ich wollte Mama nicht bitten, dass ich nicht mehr zu ihr musste. Es schien wichtig zu sein und mit meinen Kopfschmerzen zusammenzuhängen, auch wenn ich nicht verstand, warum.
Drei Jahre zuvor
In den Gängen roch es nach Desinfektionsmittel, gemischt mit Bratensoße, weil auf den Stationen gerade das Mittagessen verteilt wurde. Die Uhr auf unserem Weg zeigte genau 11:45.
Nervös und hungrig folgte ich dem Arzt, der uns abgeholt hatte und das CT durchführen würde. Eigentlich hätte ich nicht einmal selbst hinlaufen dürfen, da der Zugang für das Kontrastmittel schon lag, aber ich hatte darauf bestanden und nach mehreren Versuchen, mich zu überreden, durfte ich laufen. Es war wohl gang und gäbe, den Patienten überall hinzukutschieren.
Auch wenn ich mich nicht allzu verrückt machen wollte, schwebte das Damoklesschwert ›Hirntumor‹ die ganze Zeit äußerst drückend über mir. Natürlich hatte ich bereits gegoogelt, seit der Termin zum CT feststand, und meine Symptome passten super.
Auf der einen Seite wäre es schön, endlich eine Diagnose zu haben, die meine Übelkeit, das Flimmern in meinem Blickfeld, wenn ich zu viel las, die Kopfschmerzen und das äußerst nervige Taubheitsgefühl im kleinen Finger erklärte, aber ich hätte mir dann doch eine gewünscht, die etwas weniger tödlich aussah.
Je mehr ich mich im Internet rumgetrieben hatte, desto mulmiger war mir geworden. Ich hatte in der Woche vor der Untersuchung nicht mehr richtig geschlafen. Dementsprechend müde war ich jetzt.
Das Gerät und die Liege flößten mir einen Heidenrespekt ein, aber das würde ich nicht freiwillig zugeben. Ich legte mich nach Anweisung hin und zuckte nicht, als das Kontrastmittel gespritzt wurde. Plötzlich war ich ganz ruhig, atmete einfach und hörte auf das Summen der Maschine.
Die Untersuchung dauerte nicht lange. Während ich mich mehrmals wegen des Mittels erbrach, warteten wir auf den Spezialisten, der die Bilder meines Kopfes auswerten würde.
Mama war furchtbar angespannt und musste sich immer wieder die Tränen wegwischen. Ich wusste nicht, woher ich mit meinen vierzehn Jahren diese Ruhe nahm, aber es tat gut, dass Papa mir immer wieder über den Rücken strich und meine Haare hielt, wenn ich mich übergab.
Es war nicht selten, dass Patienten von dem Kontrastmittel schlecht wurde, deswegen hatte ich auch nüchtern kommen sollen. Jetzt fand ich das nicht mehr so überflüssig wie heute Morgen.
Mein Magen knurrte nur noch mehr, als er sich wieder beruhigt hatte, und Mama versprach, dass ich eine Suppe bekommen würde, sobald wir auf dem Heimweg wären. Ich persönlich hatte ja mehr Lust auf einen Zwischenstopp bei McDonald’s, aber dafür waren meine Eltern nicht zu haben.
Nach dem Gespräch mit dem Arzt war ich allerdings auch nicht mehr dazu bereit, irgendetwas zu essen.
Es war ein Schatten zu sehen. Der Arzt hatte ihn uns gezeigt. Ein kleiner Fleck auf diesem Bild bedeutete, dass etwas in meinem Kopf war, das da nicht sein sollte. Ein Tumor, vielleicht bösartig. Wer wusste das schon?
Durch meine Googlesuche hatte ich nur noch einen einzigen Gedanken im Kopf: Ich würde bald sterben.
Es wurde ein OP-Termin vereinbart und ich sollte gleich übermorgen früh stationär aufgenommen werden.
Auf dem Heimweg kaute ich lustlos auf meinen Pommes herum und musste mir immer wieder auf die Unterlippe beißen, um nicht zu weinen.
Zwei Jahre zuvor
Abschlussgespräch nannte es sich, auch wenn ich wusste, dass hier gar nichts abgeschlossen war. Es sollte noch einmal über den Erfolg der OP (nicht vorhanden) und der Bestrahlung des Tumors (immer noch unverändert an Ort und Stelle) gesprochen werden.
Der einzige Lichtblick, den ich hatte, war, dass mein Tumor ein pilozytisches Astrozytom der Stufe eins war. Das hatte ich mir gemerkt und direkt nach der OP nachgeschlagen, als ich wieder zu Hause gewesen war. Hinter diesem Begriff verbarg sich ein gutartiger Tumor, der sich durch langsames Wachstum auszeichnete und mit dem ich notfalls viele Jahre leben konnte. Dadurch hatte ich auch vier Jahre lang unter Übelkeit und Kopfschmerzen gelitten, bis jemand auf die Idee gekommen war, mal in meinen Kopf zu gucken.
Es war einfach blöd gelaufen, dass die ersten Symptome genau dann aufgetreten waren, als ich die Schule gewechselt hatte. Dann war es die Pubertät gewesen und nun … ein Hirntumor. Aber ein gutartiger. Meine Therapeutin meinte, ich solle ihm einen Namen geben, aber so dicke waren wir dann doch nicht, der Tumor und ich.
Jedenfalls konnte er nicht ganz entfernt werden, da er sehr nah am Stammhirn saß. Die OP war möglich, aber risikoreich, und da hatte ich nicht zugestimmt. Dann war eine Bestrahlung versucht worden, die nichts gebracht hatte. Gut, der Tumor war nicht mehr gewachsen, aber das musste nicht mit der Therapie zusammenhängen.
Ich hörte meinem Arzt schweigend zu. Ich kannte ihn mittlerweile so gut, dass ich zählen konnte, wie lange es brauchte, bis er erneut seine Brille hochschob. Normalerweise lagen vierundzwanzig Sekunden zwischen zwei Schiebern.
»Nun, wie Sie wissen, Frau Sommer, hat die Bestrahlung Ihres Tumors nicht zum gewünschten Ergebnis geführt.« Dr. Leitner drückte gegen den Steg seiner Brille.
Eins, zwei …
»Ich hatte Ihnen ja bereits in einem Vorgespräch gesagt, dass Sie noch einmal über die Option einer erneuten Operation nachdenken sollten …«
Sieben, acht …
»Nein. Ich möchte nicht.«
»Es ist aber so, dass wir Ihr Astrozytom nicht vollständig entfernen konnten und dadurch die Möglichkeit besteht, dass es wieder wächst. Sie wissen jedoch auch, dass wir einen Spezialisten auf dem Gebiet im Haus haben, der sehr viel Erfahrung mit Tumoren hat, die sich am Hirnstamm befinden.«
Vierzehn, fünfzehn …
»Das sagten Sie bereits, ja.« Ich fuhr mir durch die Haare und strich dabei über die Narbe an meinem Hinterkopf, genau dort, wo die Haare begannen.
Ich wollte keine zweite Operation. Ich wusste um die Risiken, die sie mit sich brachte, und dazu war ich einfach noch nicht bereit. Es war ein merkwürdiges Argument, wenn ich sagte, dass ich für diese OP zu sehr an meinem Leben hing. Ich meine, es ging um die Entfernung eines Tumors.
Allerdings konnte ich mit dem Ding noch zwanzig Jahre leben, wohingegen eine Beschneidung meines Stammhirns weitreichende Folgen nach sich ziehen konnte. Ich müsste vielleicht alles neu lernen. Laufen, Sprechen, Essen. Das war es mir einfach nicht wert.
»Ich möchte Ihnen diese Möglichkeit nur noch einmal anbieten.«
Dr. Leitner griff sich wieder an die Brille. Mist, das waren nur zwanzig Sekunden gewesen. Hatte ich zu langsam gezählt oder war er schneller geworden?
Heute
»Mareike, du kommst zu spät!«, rief Mama und ich schwang die Beine genervt über den Bettrand. Ich wusste doch ganz genau, wie viel Zeit ich morgens brauchte. Nur weil Mama wesentlich langsamer aß als ich, musste ich mich nicht genauso hetzen, wie sie es immer tat.
Papa hatte schon vor einer halben Stunde das Haus verlassen.
Ich nahm mir ein paar Klamotten von dem Stuhl neben meinem Schrank und roch daran.
Das Top konnte ich eindeutig noch tragen, aber die Hose wies einige Flecken auf und ich fragte mich, warum ich sie nicht schon gestern in die Wäsche getan hatte.
»Mareike!«
Herrgott noch mal, ja!
»Chill doch mal. Bin ich bis jetzt einen Morgen zu spät gewesen?«
Ich kramte nach frischer Unterwäsche und einer sauberen Hose. Zum Glück sah Mama fast nie in meinen Kleiderschrank. Sie würde bei dem Chaos einen Herzinfarkt bekommen.
»Nicht du, aber ich!«
Mama hantierte in der Küche. Wahrscheinlich war sie schon mit dem Frühstück fertig und wollte dringend los.
Seufzend beeilte ich mich ein bisschen und putzte mir die Zähne. Das Frühstück ließ ich ausfallen. Ich konnte mir auch in der Schule etwas zu essen holen.
Ich war ja insgeheim froh, dass meine Eltern mich nicht mehr wie ein rohes Ei behandelten, aber Stress konnte ich auch nicht gebrauchen.
Als ich in die Küche kam, lehnte meine Mutter schon wartend an der Theke und wippte mit dem Fuß. Es war gerade mal Viertel nach sieben und keine Uhrzeit, bei der man in Hektik verfallen musste.
»Können wir los?«, wollte sie wissen.
Ich verdrehte die Augen, griff nach einem Apfel aus dem Obstkorb und holte dann meine Tasche.
Mama fuhr mich morgens ab und zu mit dem Auto zur Schule, weil sie in der Nähe arbeitete, es einfach praktisch war und sie so doch irgendwie ihre Bemutterung ausleben konnte. Auch wenn ich bald siebzehn wurde, war es an Regentagen oder im Winter doch schön, morgens immer noch gefahren zu werden.
Ich lehnte den Kopf ans Fenster und ließ meinen Blick über die Häuserreihen in der Straße gleiten. Die Sonne war schon um fünf Uhr aufgegangen und spiegelte sich in einigen Glasscheiben.
»Alles in Ordnung?«, wollte Mama wissen und ich nickte, während ich mich wieder gerade hinsetzte.
Sie fragte schnell nach, wenn ich mich so hängen ließ, also achtete ich in ihrer Gegenwart darauf, es nicht zu tun. Auch wenn es einfach daher kam, dass ich nicht so gut geschlafen hatte und noch müde war. Dafür hatten wir in den ersten beiden Stunden Kunst, was mich spätestens im Klassenraum meine Müdigkeit vergessen ließ.
Fünf Jahre zuvor
Ich wollte nicht so sehr zittern, aber ich konnte einfach nichts dagegen tun. Je mehr ich versuchte, mich zusammenzureißen, desto schlimmer wurde es.
Mir war eiskalt, obwohl die Luft im Flur angenehm warm schien.
Draußen hörte ich meinen Vater schreien. Ich verstand nicht genau, was er rief, aber er war sehr wütend.
Meine Ohren zuhaltend, drückte ich mich an die Wand neben der Haustür.
Mein Vater hatte mir nach dem Einkaufen gesagt, dass ich schon mal reingehen solle, denn er hätte etwas mit Mama zu besprechen. Aber mir war nicht wohl dabei, wenn er so schrie.
Er tat es öfter.
Abends, wenn ich im Bett lag, hörte ich ihn und meine Mutter oft streiten.
Ich wollte das nicht mehr hören.
Meine Hände pressten sich immer fester an meine Schläfen, bis ich davon Kopfschmerzen bekam, aber das war mir egal.
Ich hörte meinen Namen. Immer wieder meinen Namen.
Sie stritten sich wegen mir.
Ich wusste nicht einmal, wer von beiden es war, der mich rief. Auch wusste ich nicht, was ich angestellt hatte. Aber ich würde nicht rausgehen, das gäbe nur Ärger.
Mich ablenkend, summte ich eine Melodie vor mich hin und versuchte, alles andere um mich herum zu ignorieren.
Erst als an der gegenüberliegenden Wand das blaue Licht einer Sirene flackerte, wagte ich, meinen Kopf zu heben, um aus dem Fenster zu sehen.
Draußen war es dunkel und still, bis auf das blaue Licht. Auf dem Gehsteig gegenüber von unserem Haus standen Leute. Ein Krankenwagen und ein Polizeiauto parkten auf der Straße vor unserer Einfahrt.
Es war ein gespenstischer Anblick, da durch die geschlossenen Fenster auch nicht allzu viele Geräusche nach drinnen drangen. Irgendjemand wurde im Krankenwagen behandelt.
Es lag zumindest jemand auf der Trage und ich konnte einen kurzen Blick hinein erhaschen, bis die Türen zugeworfen wurden.
Was genau war da draußen passiert?
Heute
Als das rote Backsteingebäude der Lebenshilfe in Sicht kam, schnippte ich die Zigarette auf die Straße. Ich griff nach der Packung und dem Feuerzeug in meiner Tasche, während ich anhielt, um die Kippen am Rand eines Vorgartens unter einigen Steinen zu verstecken.
Es wusste zwar jeder, dass ich gelegentlich rauchte, aber offiziell war es mir verboten. Deswegen wollte ich wenigstens versuchen, es nicht zu offensichtlich zu tun. Also keine Kippen am Körper tragen und nicht in der Einrichtung rauchen.
Ich wollte einfach ein Gespräch vermeiden, in dem mir erzählt wurde, dass ich noch keine achtzehn war und das eigentlich nicht durfte. Wunderbar, es gab viele Dinge, die ich nicht durfte und die ich trotzdem tat.
Das Handy vibrierte in meiner Tasche, aber ich wusste auch so, wer mich zu erreichen versuchte. Schließlich war ich ganze zwei Stunden zu spät.
Den Scheißschlüssel für die Haustür hatte ich mir erst vor Kurzem verdient und ich würde ihn ungern wieder abgeben müssen. Es würde mich zwar nicht einschränken, denn ich konnte immer noch kommen und gehen, wann ich wollte, aber der bittere Nachgeschmack, dass man mich nicht für verantwortungsvoll genug hielt, um auf einen einfachen Haustürschlüssel aufzupassen, war weniger angenehm.
»Du sollst an dein Handy gehen, wenn ich versuche, dich zu erreichen!«, rief mir mein Betreuer Jan entgegen, noch bevor ich den Schlüssel wieder aus der Haustür gezogen hatte.
Shit!
»Ich hatte es in der Jackentasche, hab’s nicht mitbekommen.«
Ich bemühte mich, meine Schuhe ordentlich zu den anderen zu stellen, auch wenn ich sie gern in die nächste Ecke geknallt hätte. Dafür war ich aber schon zu oft zum Aufräumen verdonnert worden.
»Du sollst es ja auch nicht auf lautlos stellen!«
Ich atmete tief durch und blieb im Flur stehen. Ging mir der Typ auf den Sack. Ich musste so oder so gleich durchs Wohnzimmer, wenn ich hoch in mein Zimmer wollte, aber mit ihm Angesicht zu Angesicht zu diskutieren, wenn ich mich noch so aufregte, war nie gut. Zum Glück wusste Jan das mittlerweile und kam auch nicht auf mich zu. Zumindest hatte ich nicht mitbekommen, dass er aufgestanden wäre. Mehr als laut wurde es nie, das konnte ich gar nicht, aber er ließ mir trotzdem meine Zeit.
»Ich war in der Schule und hab es eben nicht mehr auf laut gestellt. Ich kann’s jetzt direkt machen.« Ungeduldig wippte ich auf den Fußballen. Ich hatte keine Lust, meine Zeit hier zu vertrödeln.
»Warum bist du so spät hier?«
Irgendwer war mit Jan im Wohnzimmer, denn ich hörte jemanden husten, der eindeutig nicht mein Betreuer war. Es klang weiblich und konnte eigentlich nur von meiner Mitbewohnerin Lara stammen.
Ich unterdrückte ein Augenrollen. »Wir wurden später rausgelassen und ich hab den Bus verpasst. Da die Sonne scheint, dachte ich, ich könnte laufen.«
Komm schon, schluck es!
»Und dafür brauchst du fast zwei Stunden? Soll ich in der Schule anrufen?«
Langsam wurden mir die Füße vom Rumstehen lahm und ich beschloss, doch ins Wohnzimmer zu gehen. Irgendwann musste ich mich ja mal von der Stelle bewegen.
Lara saß am Wohnzimmertisch und war wahrscheinlich mit ihren Hausaufgaben beschäftigt. Sie hatte ihre kleine, schmale Statur in eine Sofaecke gedrückt und bekritzelte einen Collegeblock auf ihren Beinen, während Jan in der angrenzenden offenen Küche stand und etwas auf einen Zettel schrieb. Vermutlich eine Einkaufsliste. Er strich sich beim Nachdenken immer wieder die braunen Haare aus dem Gesicht. Er bediente das Sozialarbeiterklischee mit den langen Haaren, die er immer zu einem Dutt hochband. Bei manchen Männern sah das tatsächlich gut aus. Bei ihm nicht.
Zu meinem Missfallen klebte der blaue Marienkäfer auf der Magnettafel beim Punkt ›Einkaufen‹ unter meinem Namen. Ich würde heute also auch noch etwas zu tun haben. Was für eine Scheiße.
Ich wollte einfach nur auf mein Zimmer, niemanden mehr sehen und heute Abend noch eine Stunde raus, um mit Mia zu reden. Ich konnte ja verstehen, dass mein Kumpel Vince ein wenig angepisst war, wenn ihm jemand erzählte, dass ich seine Freundin vögelte – was ich auch tat –, aber das sollte er dann doch lieber mit Mia klären und nicht mit mir. War schließlich nicht mein Problem, wenn er es ihr nicht richtig besorgen konnte und ich dafür einspringen musste. Man half ja nur, wo man konnte.
Jan ließ sich von Lara das Telefon geben und suchte die Nummer des Sekretariats raus. Mit seinen abschätzenden Blicken sorgte er dafür, dass ich stehen blieb, wo ich war. Weglaufen brachte hier nichts. Jan würde mir so oder so nachlaufen und mein Zimmer hatte keinen Schlüssel – aus Gründen.
Während Jan mit irgendeiner Tussi telefonierte, die ihm auch nicht sagen konnte, ob wir länger hatten bleiben müssen, setzte ich mich auf die Treppe, die nach oben führte. Ich zog mein Handy aus der Tasche meiner Lederjacke und warf einen Blick darauf.
Vince hatte mir drei Morddrohungen geschickt, sollte ich seine Freundin noch einmal anfassen. Mia hatte geschrieben, dass es ihr leidtue und ob wir uns am Freitag sehen könnten.
Ich entschied mich, Vince zu ignorieren und ein Treffen mit Mia auszumachen. Das klang entspannter. Wenn ich Sex einer Schlägerei vorziehen konnte, würde ich das doch gern tun. Wobei ich wahrscheinlich alles einer Schlägerei vorgezogen hätte.
Jan entließ mich nach seinem Telefonat. Er hatte nichts Genaues herausgefunden und so war meine Ausrede völlig in Ordnung. Die zwei Stunden waren schließlich nicht schlimm, immerhin war ich jetzt hier. Unverletzt und ohne zusätzlichen Ärger.
Ich beschäftigte mich in der nächsten Stunde tatsächlich mit meinen Hausaufgaben.
Das Wohnprojekt der Lebenshilfe war noch recht neu – normalerweise wurden Jugendliche nur stundenweise betreut – und das ganze Konzept noch nicht vollständig ausgearbeitet, aber ein grober Rahmen war dennoch vorhanden. Es gab Freiheiten, die ich mir erarbeiten konnte, wenn ich kooperierte. Gute Noten, sich täglich um zu erfüllende Aufgaben kümmern und nicht negativ auffallen, gehörten dazu. Dafür hatte ich einen Schlüssel bekommen und durfte freitagabends länger wegbleiben. Mir lag nicht viel an dem Projekt der Einrichtung, aber ich war doch froh, hier gelandet zu sein und nicht in irgendeinem Heim meine Zeit abzusitzen, bis ich rauskonnte.
Ich war siebzehn, hatte keinen Schulabschluss und keine Perspektive auf eine Ausbildung. Die hätte ich auch nicht, wenn es nicht jemanden wie Jan und die anderen Helfer gäbe. Noch mal in diesem Loch landen wie letztes Jahr, wollte ich nicht. Und auch wenn ich sehr an meiner Freiheit hing und die hier eindeutig beschnitten wurde, versuchte ich, mich zu benehmen, soweit es mir möglich war. Und dazu gehörte nun mal ein Schulabschluss.
Ich legte die Hausaufgaben beiseite und kramte die Zigaretten unter meinem Bett raus, die ich in einem kleinen Etui zwischen Matratze und Lattenrost versteckte.
Mia schickte mir gegen Abend, nachdem ich widerwillig den Einkauf erledigt hatte, einige anzügliche Nachrichten, die entweder noch zur Entschuldigung zählten oder mir verdeutlichen sollten, dass ihr langweilig und Vince nicht bei ihr war. Nachdem ich eher halbherzig geantwortet hatte, weil mir der Stress von heute eigentlich reichte, bekam ich ein Foto ihrer Brüste in einem lila Spitzen-BH. Na gut, damit hatte sie mich überredet. Ich ließ den Rest meiner Aufgaben liegen und widmete mich dem Handy.
Mittwoch war für mich der beschissenste Tag der Woche. Viele Leute mochten den Montag nicht, aber ich fand den Mittwoch viel schlimmer. An diesem Tag musste ich mich mit etwas auseinandersetzen, das ich am liebsten vergessen hätte. Ganz tief wollte ich das Gefühl des Versagens in mir verbannen, weil damals mal wieder jemand für mich entschieden hatte. Immer beschlossen andere, was gut für mich war oder nicht. Mir ließ man keine Wahl, als es einfach hinzunehmen.
»Sebastian, wie geht es dir heute? Du bist so still.«
Ich war immer still, da musste mich Herr Bruns von der Gruppenleitung jetzt nicht blöd anquatschen. Er hatte die Beine überschlagen und richtete immer wieder seine Falten auf der Hose. Wahrscheinlich bügelte er sie.
Während sich Jan, Maria und Steffen die Tag- und Nachtschichten teilten, übernahm Herr Bruns – er weigerte sich beharrlich, uns das Du anzubieten – nur die Nachtschichten. Wir bekamen ihn ab und zu morgens oder abends zu Gesicht, aber normalerweise sprachen wir nur mittwochs miteinander, weil er nun mal diese Gruppensitzungen leitete. Er war allerdings derjenige, der mich zu meinen HPG – den jährlichen Hilfeplangesprächen beim Jugendamt – begleitete.
»Mir geht es gut«, sagte ich gelangweilt, weil ich mir zehn bessere Dinge vorstellen konnte, als hier zu sitzen. Außerdem war es nicht einmal gelogen. Ich hielt mich in letzter Zeit sehr aus Stress raus. Vielleicht auch, um meinen Schlüssel nicht wieder abgeben zu müssen. Irgendwie hing ich doch an dem Ding. Es war krass, wie sehr man sich von so einer kleinen Sache abhängig machen konnte.
Es wurde mit den anderen weitergemacht. Lara erzählte von ihren guten Noten in der Schule, Ben von seinem Wochenende und der Feier im Sportverein und Lars von dem netten Nachmittag mit seinem Vater.
Er brauchte so wenig Worte, dass sogar ich erstaunt war. Aber er wurde normalerweise schon für seine Anwesenheit gelobt. Das war nicht selbstverständlich.
Für einen kurzen Moment konnte man dabei fast vergessen, warum wir alle hier saßen. Das war immerhin keine Kaffeefahrt-WG, sondern ein Projekt mit Jugendlichen, die Probleme hatten, sich in einem normalen Heim oder einer Pflegefamilie zurechtzufinden. Wir hatten es alle ganz weit gebracht.
Lars hatte ein kleines Aggressionsproblem und neigte dazu, jedem eins auf die Schnauze zu hauen, der auch nur ein Wort zu viel sagte. Das hatte ich gehört. Hier benahm er sich – bis jetzt. Ich sagte ihm meistens nicht einmal Guten Morgen.
Bens Eltern waren Alkoholiker, die dazu geneigt hatten, ihn und seine kleine Schwester im Rausch zu verprügeln. Das hatte ich gehört – er sprach nicht darüber. Er hatte große Probleme, Leute an sich ranzulassen. Oder überhaupt mal den Mund aufzumachen.
Lara hatte eine recht ähnliche Geschichte wie ich. Auf tragische Weise die Eltern verloren, von einer Pflegefamilie zur nächsten, und so weiter.
Aber irgendwie waren wir hier im Projekt alle ein wenig pflegeleichter. Ich merkte ja selbst, dass ich meine Betreuer nicht enttäuschen wollte, auch wenn ich das nicht immer vermeiden konnte.
»Also, Sebastian, wie hast du das Wochenende verbracht?«, wandte sich der Typ mit Klemmbrett und Notizzettel wieder an mich.
Ich hob den Blick vom Tisch und musterte ihn. Eigentlich ging ihn mein Wochenende überhaupt nichts an. »Hab mich mit Freunden getroffen«, murrte ich schließlich, als er meinen Blick weiterhin starr erwiderte. Wie ein Terrier: einmal zubeißen und nicht mehr loslassen.
Ich hatte zum Glück nicht so viel zu erzählen, weil alles andere selbst für meine Freunde zu privat war. Ich vergrub mich wieder in meinen Gedanken, bis diese nervtötende Stunde vorbei war.
Es interessierte mich nicht, was die anderen gemacht hatten, weil es sie doch auch nicht juckte, wie es mir ging. Ja, ich fand’s hier besser als bei einer Pflegefamilie, die Eltern für mich spielen wollte, und auch besser als in der Klinik letztes Jahr, aber deswegen musste ich mich nicht wohlfühlen und einen auf Familie machen.
Ich zog mich auf mein Zimmer zurück und verbrachte den Abend mit Videos auf YouTube, während ich mir nebenbei den Stoff für die Physikarbeit morgen anschaute.
Der Freitagmorgen begann scheiße, weil sich Lars über etwas aufregte und es dabei schaffte, zwei Teller zu demolieren. Ich war noch oben, hörte es nur scheppern und dann ihn fluchend die Treppe hinaufrennen. Ich blieb in meinem Zimmer, bis seine Tür krachend ins Schloss fiel.
Unten in der Küche vermied ich es, jemandem einen guten Morgen zu wünschen, vor allem da Ben kalkweiß wie eine Wand am Tisch saß. Meine Vermutung war, dass er für Lars’ Ausbruch verantwortlich war, wobei es da schon reichte, wenn man ihn zu lange ansah. Obwohl Ben erstaunlich gefasst wirkte. Er sah nicht so aus, als wäre er ins Kreuzfeuer geraten.
Lars war noch nicht lange dabei und es war noch unklar, ob er bleiben durfte. Davon ging ich jedenfalls aus, denn ich war mir nicht sicher, ob der Verschleiß an Geschirr lange tragbar wäre. Aber immerhin riss sich Lars soweit zusammen, dass er noch keinem von uns etwas getan hatte.
Ich warf mir meinen Rucksack über die Schulter. So früh am Morgen war ich noch nicht zu gebrauchen, erst recht nicht, wenn Lars schon wieder so eine gute Laune verbreitete.
An sich war ich kein Morgenmensch und hetzen ließ ich mich deswegen schon dreimal nicht, aber es war entspannend, genügend Zeit für alles zu haben. Während ich also gemütlich zur Haltestelle schlenderte, weil mein Bus noch eine Weile auf sich warten lassen würde, konnte ich in Ruhe eine rauchen.
Meine Laune hellte sich gleich wieder auf, als ich sah, dass niemand an der Bushaltestelle wartete. Ich war echt früh dran. Außerdem war heute Freitag, was hieß, dass ich diese schreckliche Physikarbeit bereits gestern geschrieben und sie dazu auch ordentlich in den Sand gesetzt hatte. In Physik hoffte ich auf eine Vier im Zeugnis und damit bestanden zu haben, mehr nicht. Scheißfach.
Aber Freitag bedeutete außerdem, dass ich mich heute Abend mit Mia treffen würde, wenn Vince sie aus den Augen ließ. Wobei ich davon ausging, dass er sie nicht kontrollieren würde. Dazu war er nicht der Typ und ich vermutete, dass sich Mia auch gar nichts von ihm sagen lassen würde.
Ich ließ mich auf die Bank im Bushäuschen fallen und legte den Hinterkopf an die Scheibe. In den Ecken tummelten sich Spinnen, die dort ihre Netze spannen und vor der Wärme des Tages Zuflucht suchten. Oder möglicherweise noch vor der Kälte der Nacht? So gut kannte ich mich da nicht aus.
»Moin«, grüßte mich eine Stimme von der Seite.
Ich nahm den Kopf wieder vor und öffnete die Augen, die ich eben erst geschlossen hatte, um noch ein kleines bisschen die Ruhe zu genießen. »Guten Morgen«, grüßte ich zurück, auch wenn ich keine Lust dazu hatte. Nachher glaubte er noch, dass ich für ein Gespräch zu haben war, immerhin ging Leo mit mir in eine Klasse.
Er wohnte hier irgendwo in der Gegend und schien ein recht ausgeschlafener Kandidat zu sein. Während ich hier meistens noch ein bisschen vor mich hin döste, tippte er oft auf seinem Handy. Zum Glück sprach er mich nicht weiter an und gab sich damit zufrieden, mich gegrüßt zu haben.
Ich lehnte mich also wieder zurück und wartete auf den Bus. Als sich um mich herum immer mehr Leute versammelten, kramte ich mein Handy aus der Tasche und steckte mir die Stöpsel in die Ohren. Auf die Gespräche der Umstehenden hatte ich keine Lust. Die kleinen Mädels waren mir zu hysterisch und die Jungs aus meinem Jahrgang hatten nichts Besseres zu tun, als sich über irgendwelche Eroberungen zu unterhalten, die mich nicht interessierten. Aber zum Glück war heute Freitag.
»Wie wäre es denn damit?«
Alina deutete mit dem bunten Plastiklöffel auf ein rotes Top im Schaufenster, das einen Wasserfallausschnitt besaß. Die Form, der Schnitt, die Falten – es sah toll aus!
Und ich wusste sofort, dass es mir nicht passen würde und es das bestimmt nicht in meiner Größe gab. So war es doch jedes verdammte Mal. Wieder und wieder hängte ich Dinge weg, die nicht passten. Aber ich ließ mich auch jedes Mal von meiner besten Freundin zum Anprobieren überreden.
»Mhm«, machte ich deshalb ratlos, weil ich wusste, wie es enden würde.
»Welche Größe brauchst du?« Sie warf sich die blondierten Haare über die Schulter und setzte einen Schritt aus, als die Glastüren nicht schnell genug aufgingen.
Auch wenn ich keine Lust hatte, folgte ich ihr zu dem Ständer, auf dem die Tops in verschiedenen Größen und Farben hingen. Hinter ihr hatte ein junges Mädchen gerade die gleiche Idee gehabt und tanzte etwas um Alina herum, bevor es sich auf die andere Seite stellte.
»Mag ich nicht sagen.«
An sich störte es mich nicht, dass ich vielleicht etwas viel auf die Waage brachte. Das lag einfach an den Schmerzmitteln, die ich nehmen musste. Aber ich mochte es dann doch nicht, wenn jemand nach konkreten Zahlen fragte.
»Dann such selbst«, schlug meine Freundin vor und das machte ich dann auch. Nur widerwillig zwar, weil es hier eh fast nichts in meiner Größe gab, aber ihr zuliebe tat ich mal so.
Langsam, als würde ich überlegen und nachsehen, schob ich ein Oberteil nach dem nächsten von hinten nach vorn. Dabei drückte ich Alina meinen Eisbecher in die Hand, damit ich nicht aus Versehen irgendwo einen Flecken hinterließ. Sie würde ihn jetzt sowieso entsorgen können. In meinem Becher sammelte sich eine merkwürdige Mischung aus Pistazien- und Schokoladeneis-Soße. Ich mochte beide Sorten, aber nicht gemischt.
Das höchste der Gefühle war eine Größe 40, die ich einsam zwischen den 34ern und 36ern fand. Die 40 musste schon groß ausfallen, damit sie mir passte.
Laut der gesellschaftlichen Einschätzung würde ich wohl als dick gelten, wobei mich das nicht unbedingt störte. Ich wusste ja, dass es nicht daran lag, dass ich meine Ernährung nicht im Griff hatte.
»Zieh es an!«, forderte Alina, ehe ich es wieder weghängen konnte. Sie sah mich so auffordernd an, dass ich keine Wahl zu haben schien.
Es war wirklich ein total schönes Oberteil, aber ich wusste auch, wie enttäuscht ich sein würde, wenn es nicht passte. Und diese Chance war verdammt hoch.
Ich drehte mich mit dem Bügel in der Hand zu einem der Spiegel um. Wenn mir das Ding passte, könnte es mir echt stehen. Alina hatte recht, ich sollte es zumindest anprobieren.
Während sie unsere Eisbecher wegwarf und sich dann ein anderes Oberteil raussuchte, steuerte ich die Umkleidekabinen an.
Von einer Mitarbeiterin wurde mir ein blaues Schildchen in die Hand gedrückt, auf dem eine 1 prangte. Es erinnerte mich an ein übergroßes ›Nicht stören‹-Schild in Hotels.
Ich musste kurz warten, bis eine Umkleidekabine frei war. Wie ich es hasste, in solchen Schlangen zu stehen. Jeder begaffte einen wie im Zoo. Gerade bei mir hatte ich verstärkt das Gefühl. Als wenn die Leute abschätzen wollten, dass ich mich mit meinem Gewicht bloß nicht schick oder zu knapp anzog.
Als endlich eine der Kabinen frei wurde, schlüpfte ich hinein und zog mit einem mulmigen Rumoren im Bauch den Vorhang hinter mir zu. Ehe ich das Unvermeidliche noch lange hinauszögern konnte, zog ich mir mein T-Shirt über den Kopf und ließ es auf den kleinen Hocker fallen, der in der Ecke stand.
War es eigentlich Absicht, dass das Licht hier so unvorteilhaft war? Ich meine, ich war ja sowieso schon dick, aber die Schatten, die mein Körper warf, ließen meine Hüfte irgendwie noch ausladender erscheinen. Wobei dadurch meine Brüste größer wirkten und da wollte ich mich nicht beschweren.
Ich warf mir noch einen Blick im Spiegel zu, ehe ich nach dem Top griff und es raffte, damit ich es leichter über den Kopf ziehen konnte. Mit den Armen kam ich problemlos rein und es ließ sich widerstandslos runterziehen.
Ich hatte fast Angst, jetzt in den Spiegel zu sehen. Das hatte zu gut funktioniert. Entweder hatte ich wider Erwarten abgenommen oder das Oberteil saß ausnahmsweise so, wie es sollte.
Mein Spiegelbild überraschte mich dann doch. Nicht etwa die braunen Haare oder die blauen Augen – die sahen aus wie immer. Es war wirklich das Top an mir, was ich schön fand. Das kam nicht alle Tage vor.
Ich drehte mich langsam von links nach rechts, betrachtete mich von allen Seiten und beugte mich vor, um zu testen, dass man nicht zu viel Ausschnitt sah, wenn ich mich für etwas hinunterbeugen musste. Man sah nur etwas, wenn ich mich vor jemand Sitzendem lasziv auf dessen Tisch abstützen würde, und wer machte das schon?
»Mareike?« Alina schien ihre Suche beendet zu haben und wollte nun wissen, wie es bei mir aussah. »Wo bist du?«
»Linke Seite, ganz hinten!« Ich streckte den Kopf durch den dicken blauen Vorhang, damit sie mich besser fand.
»Komm raus! Los!«, befahl sie und hielt winkend vor meiner Kabine an. Sie hatte einige Oberteile über dem Arm und ein blaues Schild mit einer 4 baumelte an ihrem Finger.
Ich grinste etwas skeptisch, aber dann schob ich den Vorhang beiseite und trat auf den beleuchteten Gang hinaus. An beiden Ende prangten deckenhohe Spiegel, an einem auch über Eck, damit man sich ohne Probleme von hinten betrachten konnte.
»Hey, wow!« Alina streckte die Arme nach mir aus und deutete an meinem Körper auf und ab. »Das ist doch mega!«
Sie war zwar meine beste Freundin, aber ich wusste, dass sie mir sagen würde, wenn es bescheuert aussah. Wegen ihrer ehrlichen Art war sie unter anderem meine beste Freundin. Und sie war die einzige, die mir geblieben war, nachdem ich in den letzten Jahren die ganze Krankenhaussache über mich hatte ergehen lassen müssen. Die anderen hatten irgendwann die Geduld verloren, mich im Krankenhaus zu besuchen und dort mit mir Zeit zu verbringen. Eine Grundschulfreundin hatte sogar im Streit gesagt, dass sie mich nicht mehr sehen wolle, weil ich zu dick geworden sei. Es hatte mich zu der Zeit unglaublich verletzt, aber das war zum Glück schon eine Weile her.
»Jetzt sag doch was!«, forderte Alina mich auf und schob mich näher an einen Spiegel.
»Jaaa«, sagte ich langsam und legte den Kopf schief. Etwas unsicher strich ich über den roten Stoff.
»Du bist ziemlich doof, wenn du es nicht kaufst.« Sie stand immer noch neben mir und kümmerte sich nicht darum, dass sie auch etwas anziehen wollte.
»Ja, ich weiß. Ich mag es auch.«
»Aber?«
»Keine Ahnung. Meinst du nicht, dass es ein bisschen eng sitzt?« Ich zupfte am Ausschnitt.
»Suchst du verrücktes Huhn gerade wirklich nach Ausreden, um es nicht zu kaufen? Nimm’s mit!« Sie wedelte erneut an mir auf und ab, sodass die Klamotten auf ihrem Arm hin und her flogen.
»Ich überlege es mir. Jetzt geh du dich doch erst mal umziehen«, befahl ich und schob sie auf meine Umkleidekabine zu. Es war einfach brechend voll hier, aber für einen Freitagnachmittag auch nicht gerade verwunderlich.
Eigentlich liebte ich diesen Laden, weil er eine der ausgefallensten Übergrößenabteilungen hatte, die man hier finden konnte. Leider landete ich doch immer wieder bei den gewöhnlichen Größen, da es dort die schöneren Farben und Kombinationen gab. Eigentlich war ich auch eher der Kleidertyp, da man damit ein bisschen besser kaschieren konnte, doch das Oberteil, das ich immer noch trug, würde ich auf jeden Fall mitnehmen wollen, wenn der Blick in mein Portemonnaie nicht gerade gähnende Leere ergeben hätte. Mist. Das Eis hatte ich mit Kleingeld bezahlt, aber ich war mir sicher gewesen, noch einen Schein zu besitzen. Meine Kontokarte lag da, wo sie laut meiner Mutter hingehörte: in einer Schublade des Wohnzimmerschranks, damit ich sie nicht verlieren konnte, wenn ich sie nicht unbedingt brauchte.
»Und, was sagst du?« Alina kam mit einem Longshirt aus der Umkleidekabine. Es war mit dem Bild eines männlichen Models bedruckt, könnte auch ein Sänger sein. Er kam mir jedenfalls bekannt vor. Ein Name fiel mir dazu aber nicht ein.
Ich konnte nicht abstreiten, dass das graubraune Oberteil zu der engen Jeans echt super aussah, also reckte ich ihr den erhobenen Daumen hin.
»Ich hab allerdings ein kleines Problem.«
»Sag mir nicht, dass du dich doch dagegen entschieden hast«, stöhnte Alina auf, aber da konnte ich sie mit einem Kopfschütteln beruhigen.
»Ich habe allerdings kein Geld dabei.«
»Das ist Mist. Ich auch nicht. Shoppen war ja nicht geplant.« Sie warf einen Blick auf ihr Handy. »Oh, ich muss den nächsten Bus erwischen. Mama bringt mich um, wenn ich heute nicht aufräume.«
Sie zuckte mit den Schultern und zog mich mit in die Umkleidekabine, damit wir uns beeilen konnten.
Wir legten auf dem Weg zum Bahnhof einen zackigen Schritt vor, bis wir uns auf eine Bank an der Haltestelle setzten. Unser Bus würde laut Anzeigetafel erst in fünfzehn Minuten fahren, davon waren zwölf Verspätung. Genug Zeit also, um sie zu vertrödeln.
»Was machst du morgen?«, wollte Alina wissen.
»Weiß noch nicht. Rumhängen, nichts tun, mich in den Garten legen. Es ist Samstag.« Ich zuckte mit den Schultern und versuchte, meinen Rucksack zwischen meinen Füßen auszubalancieren, aber er kippte immer wieder nach vorn.
»Hast du noch mal Lust auf einen Stadtbummel? Wir könnten wegen dem Oberteil gucken. Du solltest es kaufen. Echt! Ich habe frei.«
»Hast du morgen kein Spiel?«
Alina spielte neben ihrer Ausbildung bei Thalia Volleyball im Verein und hatte mehrmals in der Woche abends Training. Meistens fand samstags ein Turnier statt, wobei ich nie genau wusste, wie die Saison aussah. Ich hatte ab und zu mit ihrer Mutter im Publikum gesessen, aber das war’s dann auch. Sonstige Verbindungen zu sportlichen Aktivitäten beschränkte ich lieber auf die Schule.
»Die Saison beginnt im September, bis dahin ist es noch ein bisschen. Ich dachte, dass wir noch mal shoppen gehen könnten. Ich brauche einen neuen BH und muss noch in den Drogeriemarkt.«
»Ja, gut. Können wir machen. Ich frag Mama nach Geld, dann können wir richtig schauen.«
»Warum noch mal bekommst du kein Taschengeld?«
Meine beste Freundin stand auf und warf sich ihren Rucksack über die Schulter.
»Weil ich nie welches wollte. Wenn ich etwas brauche, bekomme ich es. Und ich frage eben nicht oft und brauche nicht viel. Wir gehen mal ins Kino oder eben ab und zu shoppen, aber anscheinend liegt das noch unter der Grenze, was sich meine Eltern als Taschengeld vorstellen. Sonst hätten sie längst was gesagt.«
Ich öffnete die hinterste Tasche meines Rucksacks und suchte nach dem Portemonnaie, welches ich nach einem kurzen Herzinfarktmoment unter einem Buch fand.
»Sicher, dass deine Eltern dir nicht einfach das Geld geben, egal wie oft du fragen würdest?«
Alina reihte sich hinter mir ein, während wir in den Bus stiegen und uns einen Sitzplatz suchten.
»Meinst du?« Ich drehte mich leicht zu ihr um, ließ mich dann aber erst auf den nächstbesten Sitz fallen und rutschte zum Fenster durch. »Meinst du echt, dass sie das machen würden?«
»Na ja«, sie verstaute ihren Rucksack zwischen ihren Füßen, »stell dir vor, dein Kind wäre krank … Ich meine, du bist immer noch völlig dämlich, dass du zu keiner Kontrolle gehst, aber ansonsten kann ich es mir schon vorstellen.«
»Du glaubst, meine Eltern blasen mir Zucker in den Arsch, weil ich ’nen Hirntumor habe?«
Sie starrte mich für einen Moment völlig perplex an, ehe sie ganz langsam nickte. Sie hätte es bestimmt anders ausgedrückt, aber manchmal war mir ihre Rumdruckserei echt zu blöd.
Durch den Lärm, den die anderen einsteigenden Leute machten, hatte mich zum Glück niemand gehört. Damit ging man ja nicht unbedingt hausieren. Die Leute starrten mich dann immer total mitleidig an, als hätte ich verkündet, dass ich sicher morgen sterben würde. Klar war meine Diagnose nicht toll, aber es war immerhin ein gutartiger Tumor, der nicht streute. Was sollte ich da anderes tun als abwarten? Ich hatte keine Lust, mir immer und immer wieder anzuhören, dass der Tumor an einer sehr ungeschickten Stelle saß und er sich ohne eine riskante OP nicht entfernen ließ. Das wusste ich alles schon. Ich musste es mir nicht jedes halbe Jahr wieder anhören. Die Bestrahlung hatte ja auch nichts bewirkt und eine Chemo wollte man unter den Umständen nicht machen.
Aber ich lebte recht gut mit den Kopfschmerzen. Ich wusste ja, woher sie kamen, und konnte mit den richtigen Tabletten gut dagegen angehen. Und wenn er wuchs, würde ich es bemerken. Die motorischen Probleme, wie das Zucken oder der taube kleine Finger, waren seit der Bestrahlung nicht mehr aufgetreten.
»Also ich glaube nicht, dass meine Eltern so sind, weil ich irgendwie krank bin. Ich bin Einzelkind. Vergleich mal meine Ausgaben mit deinem oder Aarons Taschengeld. Da bekommst du sicher mehr als ich.«
Alina zuckte nur vage mit den Schultern. Ich würde es ihr sogar vorrechnen, wenn es sein müsste, denn ich war mir sicher, dass meine Eltern mich nicht extra verwöhnten. Das wollte ich nicht und hatte es hoffentlich lange genug betont.
Wir machten einen Treffpunkt und die Uhrzeit für morgen aus, aber sonst schwiegen wir. Irgendwie führten wir beide nicht gern umfangreiche Gespräche im Bus. Ich kam mir dabei immer so vor, als würde mir jemand zuhören. Gerade wenn es recht ruhig war.
Alina stieg zwei Haltestellen vor mir aus. Ich sah ihr nach, während sie den Bürgersteig entlanglief und wartete, dass der Bus wegfuhr, damit sie die Straße überqueren konnte. Ihre blondierten Haare wehten im Wind, den der vorbeifahrende Bus erzeugte, und sie winkte, als sie mich durch die Scheibe erkannte. Ich winkte grinsend zurück.
Meine Haltestelle lag so geschickt, dass ich morgens erst das Haus verließ, wenn ich den Bus kommen hörte. So war auch mein Heimweg verdammt kurz, da ich aus der Bustür quasi ins Haus stolpern konnte.
Ich hatte den Schlüssel noch nicht aus dem Schloss gezogen, als meine Mutter mir schon mit ihrem Terminkalender entgegenkam. Das sah nicht gut aus. Ich wusste mittlerweile, was sie wollte, wenn sie mich so ansah. Als hätte Alina es geahnt, als sie das Thema im Bus angesprochen hatte.
»Ich habe eben einen Anruf von deinem Arzt bekommen.«
Mama lehnte sich an den Schuhschrank, in den ich eben meine Chucks stellen wollte. Um Alinas Theorie nicht zu untermauern: Es waren keine echten.
»Was wollte er?«, fragte ich unschuldig, obwohl ich es natürlich schon wusste.
Mir war klar, dass zu regelmäßigen Zeiten ein CT gemacht werden sollte, um den Wachstumsverlauf des Tumors zu überprüfen. Im Notfall konnte man auch noch mal einen Teil davon entfernen, aber mich interessierte es einfach nicht. Sollte ich irgendwelche Ausfallerscheinungen bekommen, wie vor drei Jahren, konnte ich immer noch etwas tun. Ich hatte schon kapiert, dass der Tumor gutartig und es beinahe ausgeschlossen war, dass er sich veränderte und Metastasen bildete. Gutartige Tumore taten so etwas nur in den seltensten Fällen. Also sollte er bleiben, wo er war, und mich nicht nerven.
»Er hat angerufen und gefragt, wie es um deine Bereitschaft steht, endlich einen Termin im Krankenhaus zu vereinbaren.«
Sie klang echt ungewohnt streng. Mama war sonst die netteste Frau, die ich kannte, aber ihr Tonfall gerade behagte mir nicht.
»Na ja …«
»Nichts na ja«, unterbrach sie mich. »Ich habe einen Termin für dich ausgemacht. Du wirst hingehen!«
Ich hielt beim Tascheauspacken inne und zog die Augenbrauen zusammen. »Und wenn ich nicht will?« Die Brotdose beiseitelegend, richtete ich mich auf, bevor ich die Arme vor der Brust verschränkte. Das ging jetzt aber zu weit. Wer hatte ihr denn den Floh ins Ohr gesetzt? Ich war wohl alt genug, das selbst zu entscheiden.
»Du wirst hingehen«, wiederholte sie und sah mich nicht minder missmutig an als ich sie.
»Kannst mich ja an die Hand nehmen und hinbringen, als wäre ich fünf«, fauchte ich zurück.
Wir starrten uns feindselig an, ehe sie seufzte und die Schultern hängen ließ.
»Ich mache mir doch nur Sorgen um dich.«
Das war leider der Satz, mit dem sie mich fast immer bekam. Ich konnte es nicht ertragen, sie traurig oder wütend zu sehen, und irgendwie gab ich doch jedes Mal nach, wenn sie so etwas sagte. Ich wusste ja selbst, dass sie sich Vorwürfe machte, nicht genug Zeit mit mir zu verbringen.
Aber das alles war irgendwie so merkwürdig. Es war ja nicht so, als hätte ich eine sicher tödliche Krankheit. Ich konnte gut zwanzig Jahre mit dem Ding leben, ohne dass es sich auch nur einmal bemerkbar machte.
»Wann ist der Termin?«, wollte ich etwas besänftigter wissen.
»In zwei Wochen könntest du hinkommen, wenn du denn willst.« Sie hatte den Kalender auf den Schuhschrank gelegt und lehnte noch immer davor.
»Eigentlich will ich nicht.«
Mama zog erneut die Augenbrauen zusammen und legte den Kopf leicht schief. Ich schaute genauso, wenn ich verstimmt war, und kannte diesen Blick nur zu gut.
»Kann ich nicht wenigstens erst mal das Schuljahr fertig machen? Ist ja nicht so, als wäre ich nicht eh schon die Älteste, weil ich eine Klasse wiederholen musste. Und die Kopfschmerzen sind nicht schlimmer geworden. Die werden aber auch nicht weggehen, solange das Ding da drin ist. Ich will meinen Abschluss endlich haben.«
»Nach den Sommerferien?«
Sie würde wohl keine Ruhe geben und mich nicht warten lassen, bis ich das nächste Schuljahr auch hinter mir hatte. Ich hatte wegen alledem ja schon vom Gymnasium auf die Realschule wechseln müssen.
Ich nickte also ergeben, schulterte meine Tasche wieder, um nach oben zu gehen, drehte mich auf dem Absatz aber noch einmal um. »Könnte ich morgen mit Alina shoppen gehen? Ich hab heute ein echt schönes Oberteil gesehen, das ich mir gern kaufen würde.«
Mama sah mich einen Moment zweifelnd an, als überlege sie, ob ich es ernst meinte, dass ich nach den Sommerferien endlich das schon länger überfällige CT machen lassen würde. Schließlich gab sie nach. »Ich lege dir morgen früh ein bisschen Geld hin. Gibt es einen besonderen Anlass?«
»Ich hab kein Date oder so«, klärte ich sie auf.
Nicht, dass sie in eine falsche Richtung dachte. Mama war manchmal so. Klar, sie würde sich für mich freuen, wenn es so wäre, aber irgendwie waren die Jungs in meiner Klasse alle ein bisschen komisch und Alinas Bruder Aaron, den ich ganz gut fand, hatte kein Interesse an mir. Zumindest hatte er nie den Anschein gemacht, dass ich mehr war als die beste Freundin seiner kleinen Schwester. Und wer wollte schon was von der?
Ich versicherte ihr noch einmal, dass ich morgen mit Alina shoppen wollte, weil ich es ab und zu gern tat, auch wenn oft nichts Passendes für mich dabei heraussprang, bevor ich mich auf den Weg in mein Zimmer machte. Es freute mich ja auch, wenn meine Freundin etwas für sich fand.
Mama leierte mir noch einmal das Versprechen aus den Rippen, dass ich mich nach den Ferien um einen Kontrolltermin bemühen und ihn auch wahrnehmen würde.
Der Bass dröhnte laut in meinen Ohren, nachdem ich durch den Vorhang den einzigen Raum der kleinen Disko betreten hatte. Er war muffig, eng und es interessierte hier niemanden, wie alt man war oder was man vorhatte. Selbst an der Bar kontrollierte niemand.
Der Schuppen war ein Geheimtipp, wenn man in der Masse untergehen wollte. Die Musik war nicht ganz mein Ding und ich fand sie selbst für eine Disko zu laut, aber dafür musste man sich nicht mit irgendwelchen Idioten rumschlagen. Meist bekam ich eh nicht mit, wenn mich jemand ansprach, und war in der Menge verschwunden, bevor es unangenehm werden konnte. Auch wenn es nicht den Anschein machte, aber auf solche Dinge wurde dann doch geachtet.
Außerdem fand ich es nirgendwo einfacher, ein Mädel aufzureißen, als hier. Manchmal reichten ein paar Blicke und man war sich einig. Es gab hier viele dunkle Ecken und Nischen, in die ich keinen Blick riskieren würde, weil ich wusste, was man dort anstellen konnte.