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»Du schmeißt mir solche Dinge an den Kopf wegen einer blöden Umarmung, die sich gut angefühlt hat?« »Ich war einfach total überfordert.« »Wir reden hier von einer Umarmung. Wären wir miteinander im Bett gelandet, hätte ich deine Eskalation vielleicht nachvollziehen können.« Lena und Jonas sind sich spinnefeind. Wann immer sie aufeinander zu sprechen kommen, lassen sie kein gutes Haar am anderen. Also ist Jonas entsprechend nicht begeistert, als Lena in der Disco zu jobben anfängt, in der er seit Jahren arbeitet. Für ihn ist sie eine übertreibende Zicke, und sie bezeichnet ihn als Aufreißermachoidioten. Allerdings lernt Jonas, dass das Verhalten seiner neuen Arbeitskollegin einen guten Grund hat. Und diese wiederum merkt, dass viel mehr hinter seiner Fassade steckt, als sie zuerst glaubte.
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Seitenzahl: 492
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Inhaltsverzeichnis
Titel
Informationen zum Buch
Impressum
Widmung
Kapitel 1 - Lena
Kapitel 2 - Jonas
Kapitel 3 - Lena
Kapitel 4 - Jonas
Kapitel 5 - Lena
Kapitel 6 - Jonas
Kapitel 7 - Lena
Kapitel 8 - Jonas
Kapitel 9 - Lena
Kapitel 10 - Jonas
Kapitel 11 - Lena
Kapitel 12 - Jonas
Kapitel 13 - Lena
Kapitel 14 - Jonas
Kapitel 15 - Lena
Kapitel 16 - Jonas
Kapitel 17 - Lena
Kapitel 18 - Jonas
Kapitel 19 - Lena
Kapitel 20 - Jonas
Kapitel 21 - Lena
Kapitel 22 - Jonas
Kapitel 23 - Lena
Kapitel 24 - Jonas
Kapitel 25 - Lena
Kapitel 26 - Jonas
Kapitel 27 - Lena
Kapitel 28 - Jonas
Kapitel 29 - Lena
Kapitel 30 - Jonas
Kapitel 31 - Lena
Kapitel 32 - Jonas
Kapitel 33 - Lena
Kapitel 34 - Jonas
Kapitel 35 - Lena
Kapitel 36 - Jonas
Dank und Nachwort
Carolin Emrich
The way to find you
Lena & Jonas
Liebesroman
The way to find you: Lena & Jonas
»Du schmeißt mir solche Dinge an den Kopf wegen einer blöden Umarmung, die sich gut angefühlt hat?«
»Ich war einfach total überfordert.«
»Wir reden hier von einer Umarmung. Wären wir miteinander im Bett gelandet, hätte ich deine Eskalation vielleicht nachvollziehen können.«
Lena und Jonas sind sich spinnefeind. Wann immer sie aufeinander zu sprechen kommen, lassen sie kein gutes Haar am anderen. Also ist Jonas entsprechend nicht begeistert, als Lena in der Disco zu jobben anfängt, in der er seit Jahren arbeitet. Für ihn ist sie eine übertreibende Zicke, und sie bezeichnet ihn als Aufreißermachoidioten.
Allerdings lernt Jonas, dass das Verhalten seiner neuen Arbeitskollegin einen guten Grund hat. Und diese wiederum merkt, dass viel mehr hinter seiner Fassade steckt, als sie zuerst glaubte.
Die Autorin
Carolin Emrich wurde 1992 in Kassel geboren. Schon als kleines Mädchen bat sie ihre Mutter, ihr nicht nur vorzulesen, sondern ihr auch das Lesen beizubringen. Sobald sie dieses beherrschte, gab es kein Halten mehr. Stapelweise wurden die Bücher verschlungen und bald schon begann sie, eigene kleine Geschichten zu Papier zu bringen. Im Alter von 15 Jahren verschlug es sie auf eine Fanfiction-Plattform, wo sie auch heute noch ihr Unwesen treibt. Im Herbst 2015 reifte dann die Idee heran, ein Buch zu schreiben. Aber vorher stellte sich die Frage: Kann ich das überhaupt? Um dieser auf den Grund zu gehen, begann sie zu plotten und schrieb daraufhin ihr Fantasy-Debüt »Elfenwächter«. Weitere Jugendbücher sind derzeit dabei, Gestalt anzunehmen.
Beruflich schloss Carolin Emrich im Juli 2015 ihre Ausbildung zur Industriemechanikerin erfolgreich ab.
www.sternensand-verlag.ch
1. Auflage, Februar 2022
© Sternensand Verlag GmbH, Zürich 2022
Umschlaggestaltung: Rica Aitzetmüller | Cover & Books
Lektorat / Korrektorat: Sternensand Verlag GmbH | Natalie Röllig
Korrektorat Druckfahne: Jennifer Papendick
Satz: Sternensand Verlag GmbH
ISBN (Taschenbuch): 978-3-03896-235-9
ISBN (epub): 978-3-03896-236-6
Alle Rechte, einschließlich dem des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.
Dies ist eine fiktive Geschichte. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
Für alle, die verzeihen können.
Sieben Jahre zuvor
In manchen Nächten lag ich wach und wünschte mir andere Eltern.
Ich kannte kaum ein Kind, welches sich nicht auf Weihnachten freute. Ich war eins davon. Bei meinen Freunden würden Geschenke unter dem Baum liegen und sie erzählten nach den Ferien in der Schule, was sie bekommen hatten. Letztes Jahr hatte ich mir etwas ausgedacht. Dinge, die ich mir gewünscht hatte, die aber alle mit ein und demselben Argument abgeschmettert wurden: »Es gibt Kinder, die haben weit weniger als ihr. Einen Tag, der kommerziell aufgezogen wurde, müssen wir nicht für uns nutzen, sondern denen etwas geben, die gar nichts besitzen.« Das war sowieso Mamas Lieblingsspruch bei allem, was irgendwie Spaß machte.
Vieles war unter ihrer Würde, aber gleichzeitig opferte sie sich regelrecht auf, um alles, was sie besaß, in gemeinnützige Organisationen zu stecken. Vor allem ihr Wissen als Anwältin.
Auch dieses Jahr gab es zu Weihnachten keine Geschenke in dem Sinne. Wir sahen uns Videos an, wie die Menschen, denen meine Eltern Geld geschickt hatten, feierten. Wie Kleinkinderaugen leuchteten, weil der Weihnachtsmann ihnen etwas gebracht hatte. Es freute mich und ich wollte nicht undankbar sein, denn ich hatte ein Dach über dem Kopf und jeden Tag genug zu essen, und dennoch wünschte ich mir manchmal ein Weihnachtsfest wie bei meinen Freunden. Dort gab es ein Festessen und Geschenke.
Ich wollte ja nicht einmal große Dinge. Die neuen Haarklammern, die jetzt alle meine Freundinnen trugen, oder diese Palette mit buntem Lidschatten. Aber gerade bei Schminkzeug brachte meine Mutter gleich mehrere Gründe vor, warum ich da niemals ransollte. Zuallererst die Chemikalien, die damit an meine Haut und dadurch in meinen Körper gelangten.
Dann waren die wenigsten Make-ups tierversuchsfrei, was auch für mich ein nachvollziehbares Argument darstellte, doch da gab es Alternativen. Zusätzlich war da noch eines ihrer liebsten Themen: Keine Frau sollte je ihren Körper benutzen müssen, um einen Vorteil zu erringen.
Das erzählte sie mir, seit ich festgestellt hatte, dass es auch andere Geschlechter gab als mein eigenes. Also mit drei. Aber mir gefiel es einfach, wie meine beste Freundin aussah, wenn sie sich schminkte. Bei ihr taten wir das manchmal und während uns ihre Mutter Tipps gab und sogar half, musste ich zusehen, das Zeug wieder rückstandslos zu entfernen, bevor ich nach Hause kam.
Anderthalb Jahre zuvor
»Du hast wunderschön ausgesehen«, sagte mein Vater, als ich mit meinem Abiturzeugnis wieder bei ihren Sitzplätzen ankam und mich auf den Stuhl am Gang fallen ließ.
Das Stehen auf einer Stelle funktionierte in diesen Schuhen nicht so gut, obwohl sie keinen großen Absatz hatten. Ich war es schlicht nicht gewohnt.
»Danke schön«, erwiderte ich.
Auch meine Mutter warf mir einen anerkennenden Blick zu. Was ich als großen Erfolg verbuchte, denn sie trug es mir immer noch nach, dass ich meinen Platz im Nationalkader hatte sausen lassen, damit ich genug Zeit für meine guten Noten im Abitur hatte.
Ihrer Meinung nach wäre nämlich beides möglich gewesen, wenn ich mich mehr angestrengt hätte. Da waren wir unterschiedlicher Ansicht und auch zwei Jahre nach der Entscheidung bekam ich das noch zu spüren.
»Wir wollen noch ein Gruppenfoto machen«, informierte uns meine beste Freundin Lena, die trotz ihrer hohen Schuhe beinahe einen Kopf kleiner war als ich.
So schafften unsere Freunde es auch, uns auseinanderzuhalten. Es gab da mich, die große Lena, und sie war die kleine Lena. Die Namen hatten wir bereits in der Grundschule erhalten, als wir uns miteinander angefreundet hatten.
»Jillian hat ein wunderschönes Kleid an. Richte ihr das bitte aus. Dieser Schnitt schmeichelt ihrer Figur. Sie kann das wirklich tragen, nicht wahr?«, fragte meine Mutter meine beste Freundin.
Jillian war unsere Klassensprecherin und hatte die Rede zu unserem Abschluss gehalten. Wenn meine Mutter wüsste, dass es ein billiges Chinafabrikat war, würde sie das wohl nicht mehr denken, doch Jillian brüstete sich regelrecht damit, möglichst viel für möglichst wenig Geld zu bekommen. Ungeachtet der Arbeitsbedingungen, der Stoffe oder der Verarbeitung.
»Auf jeden Fall. Tolle Farbe«, stimmte Lena zu. »Kommst du?«, wandte sie sich an mich, woraufhin ich aufsprang.
Hauptsache, endlich aus dieser stickigen Halle raus. Mein Zeugnis ließ ich bei meinen Eltern zurück. Sie würden sich sowieso noch mit ein paar anderen Menschen unterhalten wollen. Ob nun mit meinem Lehrer oder Eltern, bei denen sie Eindruck schinden mussten.
Mein Zwillingsbruder Torben war irgendwo mit seinen Jungs hin verschwunden. Er war schon immer in die Parallelklasse gegangen, damit kein Lehrer uns direkt vergleichen konnte. Ironischerweise waren es unsere Eltern gewesen, die das Tag um Tag getan hatten.
»Hat deine Mutter den Schock verwunden?«, wollte Lena wissen, als wir auf dem Weg nach draußen waren.
Massig Schüler aus unserer oder den anderen Abiturklassen strömten an uns vorbei.
Ich blickte hinunter zu meinen weißen Sandalen, die einen kleinen Keilabsatz vorwiesen. Erstaunlicherweise konnte ich darauf sehr gut laufen, obwohl ich sonst nur flache Schuhe trug.
Offiziell natürlich, weil ich eh schon groß war und nicht auch noch Absätze tragen musste. Inoffiziell, weil es meine Mutter nicht gut fand, wenn ich nuttig rumlief. Nuttig. Wegen Schuhen mit Absätzen.
Ich fand auch viele Dinge fragwürdig, die Frauen taten oder trugen, um Männer auf sich aufmerksam zu machen, aber kleine Absätze gehörten für mich nicht dazu.
Draußen schien die Sonne von einem makellosen blauen Himmel herab, als wüsste das Wetter, dass es heute mal wichtig war, während wir von einem Fotografen auf einer Wiese zusammengescheucht wurden.
Uns wurden Luftballons in die Hand gedrückt, die mit Helium gefüllt waren. Ich würde nen Teufel tun und meinen Ballon loslassen. Wenn nur einer weniger dafür sorgte, dass ein Wildtier kein Gummi fraß oder sich darin verhedderte und starb, wäre schon etwas getan. Mir wäre nie eingefallen, Luftballons steigen zu lassen, weil ich wusste, was sie anrichten konnten. Aber sie waren leider da, weil irgendjemand nicht verantwortungsvoll planen konnte, und ich hatte einen in die Hand gedrückt bekommen, ohne gefragt worden zu sein.
»Wenn Blicke töten könnten«, trällerte meine beste Freundin neben mir.
»Es muss doch nicht sein, oder? Wenn irgendwelche Verantwortlichen mal nachdenken würden, dann gäbe es weniger Tierleid.«
Lena seufzte und warf einen Blick zu den Mädels, die zu uns rübersahen. Die dachten eh, ich tickte nicht mehr richtig, dabei war ich eine der wenigen, die sich Gedanken machte.
»Halt das Ding einfach fest und wir machen gleich noch zu zweit Fotos. Dafür können wir die nehmen, und zu Hause entsorgen wir sie«, schlug Lena vor.
Das war keine schlechte Idee und gefiel mir viel besser.
Ihre Meinung teilte ich nicht immer und auch wir gerieten mal aneinander, weil sie mich als extrem abstempelte oder mir mal nahelegte, dass ich etwas lockerer werden sollte.
Dabei gab es Themen, die keinerlei Lockerheit verdienten. Wir beide waren die Einzigen, die unsere Luftballons festhielten, als wir aufgefordert wurden, sie für ein Foto fliegen zu lassen.
Die Kommentare der anderen konnte ich mir denken, doch da hörte ich schon lange nicht mehr hin. Die waren es gar nicht wert, dass ich darauf reagierte.
»Warte mal eben«, forderte mich Lena auf und suchte in ihrer Handtasche, bis sie eine kleine Dose Haarspray herauszog. »Da löst sich eine Strähne.«
Sie drehte mich rum und rückte mir den Fischgrätenzopf, den wir uns heute Morgen gegenseitig geflochten hatten, zurecht. Beide in Braun. Meiner echt, ihrer gefärbt, aber es war ein ähnlicher Farbton.
Dann suchten wir uns ein ruhiges Plätzchen im Schatten, um noch einige Fotos nur zu zweit aufzunehmen.
Heute
Wir hatten 16 Uhr ausgemacht, wofür ich meine letzte Vorlesung ausfallen lassen musste. Das ging schon okay, denn es war ja nicht wie in der Schule, dass die Eltern über solche Dinge informiert wurden. Zum Glück.
Meine Mutter könnte einen Anfall bekommen. Aber sie würde auch absolut nicht begeistert sein, wenn sie mitbekam, was ich stattdessen vorhatte.
Wenn alles gut ging, hatte ich ab heute einen Job. Nur einen Nebenjob, aber er könnte mir irgendwann helfen, aus dieser verzwickten Lage zu entkommen.
Seit meinem Abi haderte ich nun damit, endlich diesen Schritt zu gehen, und heute würde der Tag sein. Ein eigenes Konto hatte ich mir letzte Woche zugelegt, von dem meine Eltern nichts wussten. Nur sie vor vollendete Tatsachen zu stellen und auszuziehen, ging erst, wenn ich sicher war, es allein zu schaffen. Immerhin hatte ich im Sommer gesehen, was passierte, wenn man sich gegen die Erwartungen unserer Eltern stellte.
Es waren allerdings zwei Paar Schuhe, dafür zu sorgen, dass ich ausziehen konnte, und es dann auch wirklich zu tun. Wobei ich eh rausfliegen würde, wenn ich mich für das ›falsche‹ Hauptfach entschied. Und das falsche war genau das, was ich später mit meinem Leben anfangen wollte. Deswegen brauchte ich dringend eine finanzielle Grundlage.
Vor der Bar sah meine Gefühlslage wieder ganz anders aus. Ich konnte keinerlei Berufserfahrung vorweisen. Das einzige Praktikum in der achten Klasse hatte ich in einer Zahnarztpraxis gemacht, in der die mir zugewiesene Betreuerin ein absoluter Drache gewesen war.
Als würde meine beste Freundin von meinen Zweifeln wissen, bekam ich eine Nachricht von ihr, dass ich das schaffen würde. Sie drückte mir alle Daumen und schickte ganz viele Kleeblatt-Emojis. Ihre Zuversicht würde mir guttun, wenn ich sie ernst nehmen könnte, doch der Zweifler in mir sprach nur davon, dass ich keine Chance hatte.
Und jetzt wollte ich einen verdammten Job, den ich nicht einmal leiden konnte, um heimlich Geld für den Auszug zu sammeln.
Shit, das würde nie funktionieren.
Bevor ich den Club betrat, ging die Tür auf und ein Mann kam mir entgegen. Er war vielleicht Mitte dreißig, hatte schwarze Haare und trotz der Jahreszeit schien er gebräunt zu sein.
»Du bist Lena, richtig?«, grüßte er mich und streckte mir die Hand hin.
»Ja, hi«, sagte ich leicht überfordert, weil ich schon drauf und dran gewesen war, wieder zu gehen.
»Hey, ich heiße Tim und bin der Eigentümer«, stellte er sich vor, nachdem ich seine Hand geschüttelt hatte. Mit einer auffordernden Geste lud er mich ein, das Gebäude zu betreten.
Den Club kannte ich flüchtig. Wenige Male war ich mit meiner Freundin Alina hier gewesen, aber der Kontakt war im letzten Jahr irgendwie eingeschlafen, sie verbrachte nur noch Zeit mit ihrem Kerl, den ich ein wenig merkwürdig fand, oder beim Training. Mit vierzehn waren wir eine Saison gemeinsam zum Volleyball gegangen. Nachdem ich mir bei einem Sturz die Hüfte geprellt hatte, weswegen ich ewig nicht zum Sport konnte, war ich nicht mehr dort aufgetaucht. Meine Mutter fand die Hosen dort eh zu kurz, wenn es eigentlich um Leistung ging. Ironisch, weil ich Schwimmerin gewesen war.
»Hast du schon mal hinterm Tresen gestanden?«, fragte er, während wir durch den einladenden Eingangsbereich gingen.
Sonst durchquerte ich die kleine Bar nur, um in den hinteren Teil mit der Tanzfläche zu gelangen. Hier war es ruhiger, sodass man sogar ein nötiges Gespräch führen konnte, ohne den Club zu verlassen.
»Nee, habe ich nicht«, gab ich zu und wusste, dass ich damit bereits mein Urteil unterzeichnete.
»Das ist nicht so schlimm. Irgendwann muss jeder mal anfangen, und wenn du dich gut anstellst, hast du das superschnell drauf.« Er führte mich durch den Raum zu der zweiten Bar, an der ich schon gesessen hatte.
Vor Jahren hatte hier mal ein Kumpel von Alina gearbeitet und ich hoffte, dass er es nicht mehr tat. Er war einer dieser Männer, die ich nicht leiden konnte, die keine feste Bindung eingingen, den Frauen das Blaue vom Himmel herunterlogen, damit sie mit ihnen ins Bett stiegen, nur um sie dann wieder fallen zu lassen.
Die wenigen Male, die ich hier gewesen war, hatte er bedient. Allerdings war mir durch das Studium und meine Eltern nicht viel Zeit geblieben, wegzugehen, und wenn ich gekonnt hätte, wäre ich auf dem Sofa geblieben oder bei Lena aufgeschlagen.
»Im Barbereich vorne gibt es Cocktails und so was, das heißt, darum musst du dich gar nicht unbedingt kümmern, außer sie haben echt Not am Mann«, erklärte Tim, während er durch den Raum gestikulierte.
Das hatte ich anders in Erinnerung. Wir hatten hier hinten schon bei Cocktails gesessen, aber vielleicht hatte das System nicht funktioniert.
»Ich hätte dich gern hier hinten. Bier, Longdrinks, Shots, der einfache Kram eben. Los geht es um neun Uhr, du hättest also um halb neun hier zu sein, gehst die Bestände durch, wenn nicht schon einer vor dir da ist und das erledigt. Bis zwei ist geöffnet, Freitag und Samstag bis drei, danach noch aufräumen und die Theke putzen. Um die Toiletten und den Boden kümmert sich eine Firma. Ihr seid normalerweise zu zweit hinter der Theke, damit einer immer mal rauskann. Rauchst du?«
Über seinen heftigen Monolog hätte ich fast die Frage überhört. »Nein, äh ja, doch.«
Meine Eltern würden, wie bei allem anderen auch, ausflippen, weswegen ich aus Reflex verneinte, bevor mir klar wurde, dass es sinnvoller war, es gleich zu sagen.
Am Tag und bei Licht sah es auf der Tanzfläche so kahl und trostlos aus, wohingegen ich mir die Ausmaße bei Nacht nie so wirklich hatte vorstellen können.
»Zwei, drei Raucherpausen sind okay, aber übertreib es nicht, ebenso mit den alkoholfreien Getränken.« Er stieß eine Tür neben dem Zugang zur Theke auf und wir landeten in einem Getränkelager. »Hier stehen Kisten mit kleinen Flaschen Cola, Sprite, Fanta.« Tim deutete auf den Stapel neben der Tür. »Nehmt euch was raus. Kannst dir auch nen Energy nehmen, wenn du das lieber trinkst. Gib es aber nicht ab, das merke ich und dann muss ich es beschränken, klar?«
Er sprach schon so, als hätte ich den Job, was mich tatsächlich hoffen ließ, dass ich mich gut anstellte und seine Erwartungen erfüllte.
Mit einem beherzten Griff zur Klinke stieß er eine Hintertür auf. »Getränke kommen immer Donnerstagvormittag. Wer Zeit und Lust hat, hilft mir, wer nicht, der eben nicht. Hier kannst du auch zum Rauchen raus, pass nur auf, dass dir die Tür nicht zufällt. Am besten immer anlehnen, dann passiert das nicht.«
Er führte mich noch durch den Rest des Clubs, zeigte mir, wo Dinge wie Strohhalme und Servietten gelagert wurden, wo ich im Notfall einen Eimer Wasser und einen Mopp fürs Klo fand, falls die Putzfrau in Ohnmacht fiel – seine Wortwahl, nicht meine –, und erklärte mir an der Bar, wo welche Getränke aufbewahrt wurden. Mir wurden die Abmessungen für die Mischgetränke gezeigt und ich musste es kurz vormachen.
Auf den ersten Blick wirkte das gar nicht so kompliziert, doch bei Schummerlicht, lauter Musik und Stress war ich mir sicher, dass ich etwas verwechselte.
»Zur Not wäre immer jemand da, den du fragen kannst. Oder schau einmal mehr in die Karte. Nutz das, denn wenn erst mal ein falsches Getränk vor dem Kunden steht, ist das nicht so gut.«
»Ja, das stimmt wohl.«
Irgendwie hatte ich Bedenken, dass ich die ganze Zeit über zu schweigsam gewesen sein könnte. Aber ich beobachtete normalerweise lieber, bevor ich etwas sagte, was sich später als falsch herausstellte. Manch einer bezeichnete mich deswegen als arrogant, aber was konnte ich schon für mein Resting-Bitch-Face? Dafür war ich bei Dingen, für die ich mich einsetzte, umso engagierter.
»Nur keinen falschen Stolz hier. Es tut dir keiner was, wenn du etwas nicht weißt. Also? Wann kannst du zum Probearbeiten kommen?«
»Du willst echt, dass ich zur Probe arbeite?« Darauf gehofft hatte ich, aber ich war doch positiv überrascht, dass ich es durfte.
»Klar.« Tim lehnte an der Theke, während ich noch immer mit der Cola dahinterstand und die Tropfen beobachtete, die am Glas perlten. »Wenn man immer nur Menschen einstellen will, die Erfahrung haben, müssen sie irgendwann damit auf die Welt kommen, weil sie keiner sammeln kann.«
Mit einem Lächeln stimmte ich ihm zu. Nun musste ich mich einfach nur richtig reinhängen, damit ich den Job auch wirklich bekam.
Gerade lief es zu gut, um wahr zu sein. Ich wusste nur immer noch nicht, was ich meinen Eltern sagte, weswegen ich einige Nächte die Woche so spät noch unterwegs war. Aber ich hatte keine Wahl, denn in jedem anderen Job lief ich Gefahr, dass mich Bekannte entdeckten und es meinen Eltern erzählten.
Vielleicht konnte ich mich wirklich mit einem Projekt oder einer Lerngruppe rausreden. Was das anging, waren sie ja relativ locker.
»Ich könnte jederzeit«, sagte ich nachdenklich. Ich wüsste nicht, was mich außer meinem Lernpensum und den Verpflichtungen zu Hause davon abhalten könnte.
»Spontan heute Abend?«, schlug er vor und nickte zu meiner Cola, die ich nur theoretisch mit Alkohol gemischt hatte. »Trink ruhig.«
»Danke. Ich hätte es nur ungern entsorgt. Aber heute Abend klingt gut, ich richte mir das ein.«
Tim wiegte den Kopf hin und her. »Freut mich, dann machen wir das. Man merkt, dass ich echt Not am Mann habe, hm?« Er zwinkerte mir zu, allerdings nicht so, dass ich dahinter eine komische Bedeutung vermutete. »Bezüglich des Entsorgens: Es ist alles eine Frage des Geldes. Ich rate dir, jede Bestellung zu wiederholen, die du bekommst, auch wenn es stressig ist und du dir sicher bist, dass du es verstanden hast«, legte er mir nahe.
»Okay. Ich kriege das hin«, behauptete ich bestimmt. Meine Selbstzweifel musste ich einfach ausblenden, wenn ich endlich für mich einstehen wollte.
»Gut, dann schaue ich heute Abend mal vorbei, wie es läuft«, sagte er, während ich das Glas leerte und es kurz mit der Hand abspülte, da die Becken noch nicht mit Wasser gefüllt waren.
»Schenkst du nicht mit aus?«, wollte ich wissen.
»Nein, ich kümmere mich um alles andere. Dienstpläne, Bestellungen, Veranstaltungen organisieren, DJs buchen. Ich habe genug zu tun.«
»Das klingt gut beschäftigt.«
Meinen Mantel, den ich zu Beginn über einen Hocker gelegt hatte, zog ich an der Tür wieder an. Obwohl es für November nicht unbedingt kalt war, fegte doch ein ekelhafter Wind durch die Straßen. Allerdings war mein Mantel nicht winddicht, und so fror ich, sobald ich draußen vor dem Club stand.
»Ich sage den beiden Bescheid, die heute Abend Dienst haben, damit sie dich ein wenig unter ihre Fittiche nehmen. Guck dir alles an, stell Fragen und ich komme zwischendurch dazu.« Tim reichte mir die Hand. »Dann bis heute Abend.«
Ich ergriff sie. »Ich freue mich und werde mein Bestes geben.«
Da ich normalerweise erst in einer Stunde zu Hause ankommen würde, wollte ich mich in ein Café setzen und einen Moment die Ruhe genießen.
Es kam nicht oft vor, dass ich so gelassen und locker drauf war, aber jetzt würde ich mir meinen Erfolg nicht zunichtemachen lassen. Von niemandem.
Lena, 17:02 Uhr:
Ich soll heute Abend zum Probearbeiten kommen!
Lena Michels, 17:04 Uhr:
Das ist ja meeeeegaaaa! Ich hab es dir doch gesagt! Glaub an dich. Das packst du und ehe du weißt, wie es passiert ist, hast du genug Geld, um auszuziehen.
Lena, 17:04 Uhr:
Ja. :-)
Am liebsten wäre mir, wenn das Ganze in einer Hauruckaktion geschähe. Wie ein Pflaster, welches man schnell abriss. Heimkommen, Sachen packen, gehen und erst dann erzählen, dass man nicht wiederkam. So würde es für alle Beteiligten am besten laufen, doch noch war völlig unklar, wann es so weit sein würde.
Fünfzehn Jahre zuvor
»Es ist mir scheißegal, was du denkst!«, hörte ich die Stimme meines Vaters, obwohl ich mir das Kissen über den Kopf gezogen hatte und es fest gegen meine Ohren drückte.
»Wenn es dir so egal ist, warum bist du noch hier?«, schrie meine Mutter zurück.
Es tat weh. Jede einzelne Silbe, die sich durch meinen Schutz fraß, tat weh.
Ich wusste nicht, warum sie stritten, aber ab und zu fiel mein Name und auch wenn Mama mir immer versicherte, dass es nicht meinetwegen sei, war ich unsicher.
Vielleicht hatte ich etwas getan, ohne es zu wissen, und sie log?
»Du hast recht! Was mache ich hier überhaupt noch? Mir deine eingebildete Scheiße anhören?«
Das waren für diesen Abend die letzten Worte meines Vaters, ehe seine Schritte vor meiner Tür lauter wurden und wieder verklangen. Dann schlug die Wohnungstür zu.
Es ging fast immer um dasselbe Thema. Mein Vater würde lügen und meine Mutter sei misstrauisch, übertrieb und bildete sich Dinge ein. Um was es genau ging, konnte ich nicht verstehen, doch das sorgte dafür, dass es beinahe täglich Streit gab.
Vorsichtig nahm ich das Kissen von meinem Kopf und setzte mich auf.
So gern ich jetzt schlafen würde, um das alles irgendwie zu vergessen, ich konnte noch nicht. Schritte hallten erneut über den Flur, Holz knarzte und schließlich wurde ganz leise meine Zimmertür geöffnet.
Wahrscheinlich hoffte sie, ich hätte es nicht mitbekommen, doch da lag sie wie immer falsch. Mein Herz raste, aber das kam nicht von dem Streit, der eben verklungen war.
»Mein Schatz«, sagte sie mit erstickter Stimme, kam an mein Bett und nahm mich fest in den Arm, klammerte sich regelrecht an mich. Sosehr ich diese Streite hasste, das hier war beinahe noch schlimmer.
Neun Jahre zuvor
Sanft drückte ich den Schlüssel in den dafür vorgesehenen Schlitz und lauschte auf das Klicken, als ich ihn langsam drehte. Feuchte Schneeflocken wehten mir in den Nacken und ich zog fröstelnd die Schultern hoch.
Dann beeilte ich mich, ins Innere zu kommen, und während ich mich noch einmal umwandte, um zu winken, war das Auto meines Vaters bereits verschwunden.
Natürlich, als ob er länger hier stehen würde als nötig, damit ihn meine Mutter möglicherweise zu Gesicht bekam. Wenigstens fuhr er mich bis vor die Haustür und machte es nicht so wie Mama, die mich die wenigen Male, die sie mich gebracht hatte, eine Straße vorher aus dem Auto ließ.
Die weißen Flocken wirbelten durch die Dunkelheit des Januarabends und vollführten unter der Laterne einen Salto nach dem anderen. Schön waren sie. Wild und fast unbeugsam gegen die Schwerkraft, die sie unabdingbar gen Boden zog.
»Da bist du ja wieder«, rief meine Mutter aus der Küche, nachdem ich die Haustür endlich geschlossen und meine Schuhe auf der Fußmatte ausgezogen hatte.
Mit einer Begrüßung lief ich an ihr vorbei und warf einen Blick in den Kühlschrank, um vielleicht noch einen meiner Lieblingspuddings zu finden.
»Hast du nichts zu Abend gegessen?«, hakte sie nach, was ich eigentlich vermeiden wollte.
Allerdings hätte ich dafür später noch einmal in die Küche schleichen müssen, was mir in meinem eigenen Zuhause nicht in den Sinn kam.
»Nein, noch nicht, wir …«, setzte ich an, mich zu erklären, doch sie ließ mich gar nicht ausreden.
»Na, das ist ja mal wieder typisch. Nicht in der Lage, sich darum zu kümmern, dass sein vierzehnjähriger Sohn zu Abend isst. Ihm ein neues Handy kaufen – das kann er dann.«
So war es nicht gewesen, aber es wäre ein Kampf gegen Windmühlen, etwas klarstellen zu wollen. Papa hatte eine neue Familie, und Mama hasste ihn dafür. Wahrscheinlich hasste sie sich selbst, dass sie nicht endlich darüber hinwegkam.
Die Scheidung lag zwei Jahre zurück und ich konnte und wollte nicht immer der Punchingball zwischen ihnen sein. An meinen schlechten Noten war ihrer Meinung nach natürlich auch er schuld. Wann immer ich versucht hatte, zu erklären, dass ich schlicht nicht verstand, was der Lehrer von mir wollte, ging es auf seine Kappe.
Neuerdings war das Handy schuld, welches ich zum Geburtstag letzte Woche bekommen hatte. Das besaß ich aber noch nicht, als wir die Arbeit in Englisch geschrieben hatten.
Ich ließ sie in ihrer Schimpftirade über meinen Vater allein stehen.
Auch dieses Verhalten verschulde er, dabei wollte und konnte ich das einfach nicht mehr hören.
Mit einem Sahneschokopudding bewaffnet, verkrümelte ich mich in mein Zimmer, um meinen Kumpel Arthur anzurufen und zu überlegen, wie viele der Hausaufgaben wir morgen abschreiben konnten. Es war sowieso nicht wichtig, was wir hinschrieben, solange wir etwas vorzeigen konnten, was ansatzweise mit dem Thema zu tun hatte.
Dass ich heute Mittag mit meinem Vater, seiner Frau und meinen beiden Stiefgeschwistern essen gewesen war und wir alle bis eben keinerlei Hunger verspürt hatten, erklärte ich Mama nicht mehr. Sie würde ein Haar in der Suppe finden. Das tat sie immer.
Heute
»Hi«, rief ich, als ich die Eingangstür aufgezogen hatte.
Der Reinigungsdienst lag gerade in den letzten Zügen, vorne an der Cocktailbar standen Marie und Ralf bereits in ihrer Montur und checkten die Lage.
»Hey, Jonas, alles fit?«, sagte Ralf, weswegen ich kurz bei ihnen stehen blieb, um mich zu unterhalten. Ralf fuhr genauso begeistert Motorrad wie ich und überlegte schon länger, ob er sich eine alte Goldwing zulegen sollte, um sie über den Winter wieder in Schuss zu bringen. Die Idee fand ich total gut und hatte ihm angeboten, dass ich aushelfen würde, wann immer er mich brauchen sollte. Seine Frau teilte sein Hobby nämlich nicht so sehr und verbot ihm auch, seine Maschinen in die eigene Garage zu stellen.
»Was, glaubst du, kommt heute für eine?«, wollte er von mir wissen und ich wiegte den Kopf nachdenklich hin und her.
»Keine Ahnung. Hast du mehr Infos als ich?« Mit dem linken Arm stützte ich mich auf der Theke ab.
»Nee, sie ist auch noch nicht da.« Ralf checkte die Flaschen, die hinten in den Fächern standen.
»Hoffentlich ist sie ne Nette«, überlegte ich laut und dachte an Aliza, die hier echt ein Fass aufgemacht hatte, nachdem sie nicht bei mir landen konnte. Für eine Nacht hatte sie es geschafft, darüber hinaus jedoch …
»Hoffentlich nicht, dann lässt du die Finger von ihr«, hielt Ralf dagegen, als hätte er meine Gedanken gelesen.
»Ich weiß immer gar nicht, was das Problem ist. Ich hab keine Lust auf etwas Dauerhaftes. Das sage ich sehr deutlich.«
Ralf nickte und wischte mit einem Tuch über die Ablage, um die letzten Wasserflecken zu beseitigen. »Und genau deswegen sollst du es lassen. Weil die meisten Weiber dumm sind.«
Darüber musste ich grinsen. »Da könnte was dran sein. Wobei ich auch schon welche erwischt habe, die da echt sehr cool drauf waren.«
»Ich hab einfach eine geheiratet, die nicht ganz so schlimm erschien«, witzelte mein Kollege mit einem Schulterzucken.
Es klang fies, aber wenn man ihn zusammen mit seiner Frau Julia erlebte, wurde schnell klar, dass seine Aussage Blödsinn sein musste. Er vergötterte sie und während es mich störte, dass er sich ins Hobby reinreden ließ, juckte es ihn keineswegs, dafür extra eine Garage zu mieten. ›Man muss auch Abstriche machen können‹, sagte er stets, wenn ihn jemand darauf ansprach.
Zum Glück fanden die meisten Mädels mein Motorrad richtig gut. Außerdem hatte sich bis jetzt keine Frau als so spannend entpuppt, dass ich sie über einen längeren Zeitraum an meiner Seite behalten hätte. Wenn eine ging, kam irgendwann die nächste, da machte ich mir keine großen Gedanken drüber.
Vor allem wollte ich eh keine feste Beziehung. Meine Eltern hatten vorgemacht, wie es nicht ging, und ich würde einen Teufel tun und riskieren, das noch mal durchzumachen.
Ja, irgendwann kam vielleicht eine Frau daher, bei der ich dreimal überlegen würde, es nicht doch versuchen zu wollen, aber bis zu dem Tag floss noch viel Wasser den Rhein hinab.
»Ich mache mich mal an die Arbeit«, sagte ich, klopfte auf das dunkle Holz der Theke und verschwand im angrenzenden Raum.
Er war größer, weitläufig und wurde bis auf einige Sitznischen und die Bar zum größten Teil von der Tanzfläche eingenommen. Noch waren die hellen Deckenstrahler an, damit wir unserer Arbeit nachgehen konnten. Später bei der Schummerbeleuchtung musste jeder Handgriff sitzen.
Ich kontrollierte gerade die ersten Schränke und notierte mir, was ich alles aus dem Lager brauchte, als Franzi auf mich zukam. Ich hatte nur kurz hochgesehen und registriert, dass da zwei Leute den Raum durchquerten.
»Hi, hab die Neue eingesammelt. Sei lieb«, erklärte sie und schälte sich aus ihrer Jacke, um sie hinten im Lager an die Garderobe zu hängen.
»Jo«, murmelte ich nur, schrieb zu Ende und hob den Kopf. Das musste ein Scherz sein. »Was machst du hier?« Das war keine normale Frage, denn es hätte jede Person sein dürfen außer Lena.
»Ich wusste, dass das passieren würde«, sagte Lena anstelle einer Begrüßung.
Sie trug eine Jeans und eine einfache Bluse, ihre Jacke lag über ihrem Arm. Das Auffällige an ihr war allerdings der rote Lippenstift. Das war schon damals ihr Ding gewesen und ich persönlich kannte sie gar nicht ohne. Er unterstrich stets ihren Blick, wenn sie alles und jeden musterte, als wäre die ganze Welt unter ihrer Würde. Genauso wie mich jetzt.
»Warum ausgerechnet du?«, hakte ich nach.
Wenn wir uns durch Alina zufällig begegneten, hatten wir nie einen Hehl daraus gemacht, dass wir uns nicht mochten. Damit fing ich jetzt sicher nicht an. Natürlich würde ich sie als meine Kollegin annehmen und respektieren, solange sie das bei mir tat.
»Ich brauche einen Job«, antwortete sie knapp und hob ihre Jacke leicht an. »Ich bringe die mal weg.«
»Franzi kann dir alles zeigen«, rief ich ihr nach, damit niemand auf die Idee kam, mir diese Aufgabe zuzuteilen.
»Kennt ihr euch?«, wollte Franzi leise wissen, als sie Lena eins ihrer Oberteile ausgeliehen hatte, damit sie Arbeitskleidung für heute Abend hatte.
Wäre vielleicht nicht notwendig gewesen, sonst hätte Tim das nachher selbst gemacht, doch es schadete nicht.
Ich warf einen Blick zu der Toilettentür hinter dem kleinen abgegrenzten Bereich hinter der Theke. »Ein bisschen. Wir sehen uns ein paar Mal im Jahr, weil wir eine gemeinsame Freundin haben. An sich haben wir gar nichts miteinander zu tun. Ich mag sie nicht. Hab sie als sehr eingebildet und herrisch kennengelernt.«
»Gibt aber keinen Stress?«, fragte Franzi, woraufhin ich den Kopf schüttelte.
»Wenn sie keinen macht. Und du weist sie ein. Es ist ja nur Probearbeiten. Vielleicht überzeugt sie gar nicht.«
Franzi band sich eine Schürze um und schob sich ein Geschirrtuch unter das Band. »Kann ich machen, ist mir egal.« Sie zuckte mit den Schultern.
Lena hatte sich mittlerweile umgezogen und zupfte am oberen Saum ihres Tops herum. Ich sah förmlich, was in ihrem Kopf vorging, bevor sie es aussprach: »Ein bisschen knapp, hm?«
Franzi warf einen Blick auf ihren eigenen Ausschnitt und zuckte mit den Schultern. »Das wird hier nachher so warm, da bist du froh, nicht zu hochgeschlossen angezogen zu sein.«
Ich wollte etwas hinzufügen, doch damit hätte ich den Hass der Lena Jansen vollends auf mich gezogen. So wie Franzi gerade grinste, würde sie es nun tun.
»Außerdem springt mit ein wenig Ausschnitt auch mehr Trinkgeld raus.« Passend dazu wackelte Franzi mit den Augenbrauen.
Lena stoppte augenblicklich damit, ihr Top zurechtzuziehen, dass es hoch genug saß, aber noch gescheit aussah. »Bitte? Das ist Sexismus in Reinform. Zeig ein bisschen Titten, und die Männer zahlen gut.«
»Oh, Lena. Fang nicht jetzt schon an«, bremste ich sie. »Du musst kein Trinkgeld annehmen. Aufregen kannst du dich, wenn dir ein besoffener Typ an die Brüste fasst, weil du dich ja nett über die Theke beugst.«
Sie erdolchte mich regelrecht mit Blicken.
»Du hast den Typen nicht richtig verstanden, beugst dich extra weiter vor, weil es so laut ist, und er freut sich über die vermeintliche Einladung«, erklärte ich, falls sie es noch nicht genau kapiert hatte.
»Das ist ekelhaft und total dein Niveau, richtig?«, giftete sie mich an.
»Absolut gar nicht. Unterstell mir nichts, was nicht stimmt.« Ich deutete mit dem Zeigefinger auf sie, während ich meine Liste einsteckte. »Jeder Frau, die ich kennenlerne, erkläre ich, was ich will und was ich bereit bin, dafür zu geben. Dann kann sie völlig allein entscheiden, ob das für sie okay ist oder nicht. Ich mache keine dummen Sprüche oder grabe respektlos herum. Da gibt es ganz andere. Wenn du jetzt immer noch von Sexismus faselst, hast du keine Ahnung von der Thematik.«
Damit ließ ich sie stehen und machte mich auf in den Lagerraum, um Servietten aufzustocken und Schirmchen zu besorgen. Danach mussten nur noch Orangen und Zitronen geschnitten werden. Das würde ich am liebsten Lena aufdrücken.
Keine fünf Minuten da und schon ging sie mir auf den Sack. Wenn hier irgendjemand Frauen mit Respekt behandelte, dann ja wohl ich.
Natürlich war ich hier und da mal ein Idiot, das stritt ich nicht ab, aber Frauen waren für mich nicht nur Objekte, die ich lediglich fürs Bett brauchte. So kam es ihr vor, doch da lag sie eben falsch.
»Als ob ich eine Situation ausnutzen würde«, murmelte ich immer noch wütend vor mich hin, während ich zwischen den ganzen Lagerwaren nach einer Packung Schirmchen suchte. Wahrscheinlich hatte Tim sie wieder in die letzte Ecke geknallt und ich durfte hier beim Suchen für Chaos sorgen.
Als ich einen Karton vom obersten Regalbrett zog, wirbelte Staub auf und zwang mich, eine kurze Pause einzulegen. Hustend funkelte ich den Karton an, aber es änderte nichts daran, dass er wohl schon länger nicht bewegt worden war.
Diesmal ging ich vorsichtiger ans Werk und konnte das Teil auf dem Boden abstellen. Die Servietten darin hatten ein rot-weißes Design, welches ganz gut zu Weihnachten passte. War Mitte November zu früh für Weihnachten?
Ich beschloss, es auf einen Versuch ankommen zu lassen, immerhin fand in zweieinhalb Wochen die erste Adventsparty hier statt. Neben einer Packung blauer Servietten nahm ich die im Weihnachtsstyle mit und stieß endlich in der hintersten Ecke auf die Schirmchen.
Es wurde höchste Zeit, hier mal aufzuräumen und eine Inventur durchzuführen. Lena könnte das ja übernehmen, falls sie blieb.
Ich schmiss die Sachen auf die Theke, hinter der Franzi gerade dabei war, Lena zu zeigen, wie wir das Obst schnitten, das an die Longdrinkgläser gesteckt und außerdem zu Shots gereicht wurde.
Neben ihr stand ein ganzer Korb und ich war gespannt, ob sie es schaffen würde. Obwohl sie ja auch nebenbei noch weitermachen durfte. Sie wurde nicht direkt hinter der Theke gebraucht, außerdem stürmten selten direkt zu Beginn so viele Menschen hier herein, dass wir nicht noch in der Lage wären, nachzuarbeiten.
Während ich alles einsortierte, unterhielten sich Franzi und Lena miteinander, aber das blendete ich aus. Lediglich die Info, dass Lena Biologie studierte, kam bei mir an.
Ihr Gerede über Gleichstellung und Veganismus interessierte mich echt nicht. Ich fragte mich lediglich, wie sehr einem ein Mensch auf die Nerven gehen konnte, ohne dass man jetzt gerade direkt mit ihm zu tun hatte.
Sollte Lena den Job bekommen, wollte ich möglichst wenig Zeit mit ihr verbringen, sonst würde ich mich irgendwann aus dem Fenster stürzen.
»Macht es Sinn, jetzt noch eine rauchen zu gehen, weil nachher einfach keine Zeit ist, oder dauert es noch, bis hier etwas los ist?«, fragte Lena um kurz vor neun und wischte sich die Hände trocken, nachdem sie sie gewaschen hatte. »Ich war nicht oft hier, aber wenn, steppte der Bär.«
»Sind steppende Bären nicht Tierquälerei? Darf man das sagen?«, zog ich sie auf und bekam zu Recht einen mordenden Blick. Den hatte ich provoziert.
»Das kannst du jetzt machen oder in einer Stunde«, schlug Franzi vor, wobei sie meine Worte überging. »Wir sind ja heute auch zu dritt, da kommen wir sicher super zurecht. Hast du das schon mal gemacht?«
Lena schüttelte den Kopf. »Kriege ich schon hin«, sagte sie mit einer wegwerfenden Handbewegung.
»Wenn dein Oberteil rutschfrei sitzt, meinst du?«, hakte ich nach, was sie mit den Augen rollen ließ.
»Langsam wird es langweilig, Jonas.« Sie sah mich dabei mit einem sehr gleichgültigen Gesichtsausdruck an, doch ich vermutete, dass ich sie dennoch zur Weißglut brachte, wenn ich das nur lang genug durchzog.
Es machte mir auch einfach Spaß, sie zu ärgern. Lena war so pedantisch, dass es regelrecht dazu einlud. Aber ich beherrschte mich jetzt, denn meine Erfahrungen in der Schulzeit sollten reichen, dass ich nie bewusst über jemanden herzog, den es offensichtlich traf. Wobei Lena nicht so wirkte, als würde sie meine Meinung über sie wirklich interessieren.
»Dann lass uns schnell zusammen gehen«, bot Franzi an und stieß die Tür zum Lager auf.
»Alles klar«, stimmte sie zu und schon waren die beiden verschwunden.
War das zu fassen? Mochte meine Kollegin Lena etwa? Da kam ich nun gar nicht drauf klar.
Mit einem Kopfschütteln kümmerte ich mich um die letzten Vorbereitungen.
Die beiden Mädels waren rechtzeitig wieder zurück, was auch gut war, denn heute begann der Betrieb gleich stürmisch.
Ob es heute etwas gratis gab, dass wir so früh bereits so viel Betrieb hatten? Es wunderte mich, doch dadurch bekam ich einen guten Einblick, wie belastbar Lena war und wie schnell sie sich einfand.
Tatsächlich ging sie sehr konzentriert an die Arbeit, rannte nicht hektisch herum oder verlor die Nerven. Auch verschwand sie nicht ständig auf der Toilette oder draußen zum Rauchen. Sie hatte nicht einmal die Zeit, sich wirklich über den ein oder anderen Mann aufzuregen, der ihr in den Ausschnitt sah.
Ich ging davon aus, dass sie lieber eines der T-Shirts zum Arbeiten haben wollte als die vorgesehenen Tops für Frauen. Aber das war mir völlig egal. Hauptsache, sie ging mir nicht auf die Nerven und machte ihre Arbeit zuverlässig.
Mir taten die Beine weh und ich war auf eine Art und Weise müde, die mir sehr gut gefiel. Es hatte mich nicht überanstrengt und doch war ich fix und fertig. Ich wusste, sobald ich im Bett lag, konnte ich schlafen, was eine enorme Besserung im Vergleich zu meinen sonstigen Schlafversuchen sein würde.
Die Novembernacht war kalt und ich umklammerte mein Handy in der Jackentasche, damit ich es jedem um die Ohren hauen konnte, der mich schief ansah.
Im Bus blieb ich stehen, auch wenn es Sitzplätze gegeben hätte. Mit einer Hand hielt ich die Stange fest, als ob sie ohne meinen Griff verschwunden wäre, mit der anderen tippte ich eine nicht fehlerlose Nachricht an Lena, dass es mir wider Erwarten wirklich gut gefallen hatte.
Sollte ich mir einfach eine Wohnung nehmen? Und erneut meldeten sich die Zweifel, dass ich übertrieb. Ich könnte auch mal dankbar sein für die Möglichkeiten, die sie mir boten.
Ich schlug fester auf den Stopp-Knopf, als ich müsste. Seit Jahren kämpfte ich gegen diese Gedanken an, doch sie fraßen sich wie ein Holzwurm in einen Baum immer wieder in mein Innerstes. Auch jetzt, als ich ausstieg, keimte das schlechte Gewissen. Ich ließ sie im Stich, wenn ich einfach so ging.
Mit einem Kopfschütteln kramte ich den Schlüssel aus der Tasche und steckte ihn leise ins Schloss. Kein Geräusch gab die Tür von sich, als ich ihn drehte und hineinging. Das Haus lag im Dunkeln, selbst von oben drang kein Geräusch zu mir, das hieß, dass meine Eltern schon schliefen.
Ich hatte erwartet, meine Mutter noch anzutreffen, weil sie nicht wusste, wo ich so lange gewesen war. Sonst wollte sie immer alles wissen und die volle Kontrolle über meine Aktivitäten haben.
Als ich mich nach dem Abendessen auf den Weg gemacht hatte, schob ich eine Lerngruppe vor. Wenn es für die Uni war, ließ sie mir viele Dinge durchgehen, über die sie sich sonst aufgeregt hätte. Ein diffuser Geruch lag noch in der Luft, der aus dem Duft des Abendessens und der Holzstäbchen in dem Zitronenzeug bestand, welche auf der Ablage unter dem Spiegel im Flur standen. Schon seit frühster Kindheit verband ich den Duft von Zitronen mit meinem Zuhause.
Im Bad nahm ich nur eine Katzenwäsche vor, denn erneut schlug die Müdigkeit zu und ließ mich beinahe auf dem Klo wegnicken. Zum Duschen war jetzt keine Zeit mehr, außerdem würde es zu viel Lärm verursachen. Meine Lider fühlten sich kiloschwer an und meine Oberschenkel brannten wegen der ungewohnten Belastung heute Abend.
Wäre ich noch im Training, hätte mir das gar nichts ausgemacht, aber durch die Uni hatte ich sämtliche sportliche Aktivitäten außer Zumba und gelegentlich Yoga erst mal eingestampft, was sich nun rächte.
In einer lockeren Jogginghose und einem Top wollte ich in mein Bett huschen, doch auf dem Weg in mein Zimmer kam mir eine Person entgegen. Sie wirkte groß und schlank. Trotz der Dunkelheit meinte ich, das Stirnrunzeln zu erkennen.
»Wo bist du gewesen?«, fragte meine Mutter ohne eine Begrüßung.
Danke. Ob sie sich nur Sorgen machte, weil ich bei einem Mann unter ihrer Würde gewesen sein könnte? Oder interessierte es sie wirklich, was ich gemacht hatte?
»Wir haben uns mit der Lerngruppe total verquatscht, tut mir leid.«
»Also wart ihr fleißig? Schön. Sieh das nächste Mal öfter auf deine Uhr oder sag Bescheid, wenn es später wird.« Sie bedachte mich noch mit einem Blick, von dem ich im Dunkeln nicht erkannte, ob er ein wenig wertend sein sollte oder nicht.
»Mache ich. Gute Nacht«, antwortete ich lediglich und schloss meine Zimmertür hinter mir, bevor sie noch etwas dazu sagen konnte.
Ich warf einen Blick zurück, als ich auf meinem Bett saß, und wünschte mir einen Schlüssel für diese Tür. Es hieß offiziell, dass es keinen gebe, nach den Vorfällen der letzten Monate nahm ich an, dass das nicht der Wahrheit entsprach.
Wie sollte meine Mutter mich anständig kontrollieren und bei jeder Gelegenheit Zutritt zu meinem Zimmer haben, wenn ich es abschließen könnte?
Ich sah wieder zu meiner Tür und wartete förmlich darauf, dass Torben reinkam, aber das würde er nicht mehr. Zumindest nicht zu solch unmenschlichen Uhrzeiten.
Meine Eltern behandelten ihn, als wäre er freiwillig ausgezogen, und ignorierten völlig, dass sie ihn vor die Tür gesetzt hatten. Die wenigen Male, die er hier gewesen war, um noch etwas zu holen oder zu klären, hatte er sehr unterkühlt reagiert, während man ihnen nichts anmerkte. Allerdings fragten sie auch nie nach ihm oder luden ihn ein. Vielleicht sollte ich meinem Bruder mal schreiben und mich für die kommende Woche ankündigen.
Bevor ich mein Handy noch einmal zur Hand nehmen konnte, massierte ich mir meine schmerzenden Füße. Normalerweise befand ich mich viel auf den Beinen und bewegte mich auch dementsprechend, doch das heute Abend hatte dem Ganzen die Krone aufgesetzt.
Ich stöhnte leise auf, als ich meinen Daumen in den Ballen bohrte und langsam die ganze Sohle mit leichtem Druck nachfuhr. Gott, tat das gut.
Mit sanften Bewegungen massierte ich mir erst den linken, dann auch den rechten Fuß. Ebenso verspürte ich ein leichtes Ziehen in meinen Oberschenkeln, was ebenfalls von der vielen Bewegung herrührte. Das war allerdings kein Grund, den Job nicht zu wollen.
Tim hatte irgendwann vorbeigeschaut und ausgerechnet Jonas gefragt, wie es so lief. Zu meiner Überraschung nickte dieser lediglich, was mich hoffen ließ.
Ich brauchte das Geld wirklich. Mir war noch gar nicht klar, welche Summe ich zusammenbekommen musste, damit ich meinen Plan in die Tat umsetzen konnte, aber das würde ich mit der Zeit herausfinden. Auch wenn ich sonst eher an meinen Fähigkeiten zweifelte, weil es nie so wirklich reichte, fühlte es sich doch an, als hätte ich eine Chance. Gerade wenn Jonas sie mir ebenfalls einräumte. Wo wir wieder beim Thema waren.
Ich machte es mir am Kopfende bequem und legte die Bettdecke lose über meine Beine, während ich mich an das Licht gewöhnte, welches mein Handy ausstrahlte. Meine Augen hatten sich schon völlig der Dunkelheit angepasst. Bei einem Blick auf die Uhr wurde mir kurz schwummerig, denn obwohl ich meine erste Vorlesung locker würde ausfallen lassen können, ahnte ich, dass meine Mutter damit ein Problem haben würde. Wenn sie meinen Stundenplan kannte, hatte ich Pech, aber dessen war ich mir gar nicht so sicher.
Ich beschloss, es drauf ankommen zu lassen, und aus dem Wecker, der in 3 Stunden und 37 Minuten geklingelt hätte, wurde einer, der in 4 Stunden und 37 Minuten klingelte. Das war eine Mütze Schlaf, mit der ich zurechtkam.
Zu meiner Überraschung wurde Alina in WhatsApp als online angezeigt.
Lena, 03:23 Uhr:
Rate doch mal, wen ich heute beim Probearbeiten getroffen habe.
Alina Spöckinger, 03:24 Uhr:
Was für ein Probearbeiten? Was machst du an sich gerade so?
War unser letzter Kontakt so lange her, dass sie nicht mehr über mein Studium Bescheid wusste?
Lena, 03:24 Uhr:
Ich studiere immer noch Biologie. Jetzt im dritten Semester. Hab heute in einem Club Probearbeiten gehabt, in dem wir auch ein paar Mal gewesen sind.
Alina Spöckinger, 03:25 Uhr:
Okay, ich bin immer noch bei Thalia. Wer war da denn nun?
Lena, 03:25 Uhr:
Du sollst doch raten!
Alina Spöckinger, 03:26 Uhr:
Oh Mann, was weiß ich denn?
Lena, 03:26 Uhr:
Jonas. Wenn ich den Job kriege, ist er mein Kollege. Warum bist du um diese Uhrzeit eigentlich wach?
Alina Spöckinger, 03:26 Uhr:
Äh, okay. Soll ich dich nun bemitleiden oder beglückwünschen? Ich hab ihn ja echt gerne, wenn er sich benimmt. Ich bin übrigens noch wach, weil heute Vollmond ist. Lars hat damit auch Probleme, er besitzt nämlich keine Jalousien, und wir spielen gerade Quizduell gegeneinander, bis einer wieder einschläft. Im besten Fall beide.
Ich warf einen Blick aus meinem Fenster, konnte den Mond von hier aus aber nicht ausmachen. Vielleicht hatte ich deswegen keinerlei Probleme damit, denn er schien nicht unbedingt in mein Schlafzimmer.
Lena, 03:27 Uhr:
Keine Ahnung. Ich mag ihn halt einfach nicht. Prolliger Neandertaler. Aber er hat beim Chef gesagt, dass ich mich gut geschlagen habe, also könnte ich es ihm anrechnen, wenn ich den Job kriege. Dann muss ich wohl nett zu ihm sein.
Alina Spöckinger, 03:28 Uhr:
Hm … du wirst ihn mögen lernen. Er ist gar nicht so uncool, wie du denkst. Da ist mein Bruder eindeutig mehr Neandertaler. Wobei, weißt du schon, dass er ne Freundin hat?
Lena, 03:28 Uhr:
Oh mein Gott! Was habe ich verpasst? Das wusste ich noch nicht. Wer ist sie und wie kann sie so blöd sein, sich auf ihn einzulassen?
Alina Spöckinger, 03:29 Uhr:
He, wir reden hier immer noch von meinem Bruder. Werd nicht zu ausfallend. Sie heißt Sina, ist total cool und Aaron steht so dermaßen unter ihrem Pantoffel. :-D Aber noch viel cooler ist ihre Tochter. Die ist 6 und hat hier alle im Griff. Sogar meine Mutter ist hin und weg. Sie sagt jetzt immer so Sachen wie »Irgendwann wären eigene Enkelkinder auch etwas Tolles« und sieht mich dabei immer so komisch an. Ey, ich bin 19, die soll mal schön noch 10 Jahre warten.
Lena, 03:30 Uhr:
Haha, ich kann es mir vorstellen. Klingt zumindest sehr lustig. Hätte deinem Bruder gar nicht zugetraut, dass er so eine Verpflichtung eingeht.
Alina Spöckinger, 03:30 Uhr:
Ach komm, das hätte keiner. Aber die machen das echt gut.
Lena, 03:31 Uhr:
Wie alt ist denn seine Freundin, wenn die Tochter schon 6 ist?
Alina Spöckinger, 03:31 Uhr:
Sina ist 22.
Lena, 03:31 Uhr:
Da hat sie aber früh angefangen.
Alina Spöckinger, 03:32 Uhr:
Ja, manchmal passiert das. So. Lars hat tatsächlich gerade gesagt, wenn ich je wieder Sex haben will, soll ich jetzt WhatsApp ausmachen und mit ihm zocken. Ist das zu fassen? Du weißt, was das heißt: Gute Nacht. <3
Lena, 03:32 Uhr:
Das solltest du dir nicht gefallen lassen.
Alina Spöckinger, 03:32 Uhr:
Schlaf gut. :-*
Lena, 03:33 Uhr:
Gute Nacht, du auch.
Am nächsten Morgen kam ich erst um kurz nach neun Uhr in die Küche. Das würde nicht einmal mehr reichen, um zu meiner zweiten Vorlesung pünktlich zu erscheinen.
Die Küche war leer und ich vermutete, dass um diese Uhrzeit niemand mehr im Haus sein konnte. Es sei denn, ich hatte nicht mitbekommen, dass einer der beiden Urlaub hatte. Das konnte mittlerweile mal passieren. Wobei es dann auch möglich war, dass keiner zu Hause anzutreffen war.
Meine Eltern verbrachten an sich keinen Urlaub nur zu Hause. In jungen Jahren waren wir oft hier in der Stadt bei einer gemeinnützigen Organisation gewesen oder hatten andere Veranstaltungen dazu mitgemacht. Ein Jahr pflanzten wir Bäume oder das eine Mal machten wir Urlaub auf einem Bauernhof. Nie um auszuspannen, sondern immer so, dass bei irgendetwas geholfen wurde oder unser Aufenthalt einen Nutzen bekam.
Als wir älter wurden, mussten wir uns ebenfalls einbringen. Nur rumsitzen gab es nicht. So gern ich mich für den Tier- und Umweltschutz oder Menschenrechte einsetzte, so genau wusste ich, dass ich das nicht beruflich ausüben wollte. Leider überschnitt sich mein Berufswunsch nur bedingt mit dem meiner Eltern.
Als ich letztes Jahr mit dem Biologiestudium begann, dachte ich noch, dass sie es akzeptieren würden, wenn ich mich nicht in Richtung Ökologie oder Umweltschutz spezialisierte, sondern Pathologie oder Forensik wählte. Denn eigentlich würde ich lieber zur Polizei. Gern machte ich in meiner Freizeit Dinge, die meine Eltern so schätzten, doch ich konnte das einfach nicht so wie sie.
Leider hatten sie bei Torben bewiesen, dass nur ihre Meinung zählte. Er hatte gehen müssen, nachdem er sich gänzlich gegen ein Studium entschied. Ursprünglich hatte er sogar freiwillig ausziehen wollen, doch dann hatte er sofort gehen müssen. Daher war auch völlig klar, dass mir dasselbe Schicksal blühte, wenn sie von meiner Entscheidung erfuhren. Bis zur Wahl meines Schwerpunktes blieb mir aber noch ein wenig Zeit, die ich mit der Vorbereitung füllen konnte.
Ich schaltete das Radio ein und versuchte, in Ruhe mein Frühstück zusammenzupacken. In der Uni hatte ich genug damit zu tun, mich zu konzentrieren. Da wollte ich mir nicht mehr ständig Gedanken darum machen, was hier zu Hause los war. Das würde sich alles irgendwie regeln lassen. Ich musste mir nur ein wenig mehr vertrauen.
Da ich in greifbarer Nähe zur Uni wohnte, konnte ich den Weg in ein paar Minuten zu Fuß zurücklegen. Mein Schulweg war früher kaum weiter gewesen. Das hatte bereits zu der Zeit für einige Anfragen bezüglich einer Hausparty geführt.
Tatsächlich war meine Mutter, was das anging, sehr darauf bedacht, dass sie bei allem den Überblick behielt. Partys bei mir gingen also immer klar und Geburtstage von Freunden hatten wir ab und an bei uns gefeiert. Denn dort hatte sie mich im Blick. Dass ich mich nicht schminkte, nicht zu viel trank, nicht mit einem Kerl rummachte.
Sie konnte ihre Augen und Ohren jedoch nicht überall haben. Mit ein bisschen Kreativität ging alles. Ihre Ansichten dahingehend waren eh ein wenig verschroben. Auf der einen Seite wollte sie, dass ich immer ich selbst blieb und nie etwas nur für einen Mann machte, auf der anderen Seite sollte ich mich aber auch nicht rumtreiben.
Mein Atem bildete Wölkchen in der kalten Novemberluft und ich ärgerte mich, dass ich mir keine Mütze mitgenommen hatte. Allerdings luden sich davon meine Haare immer elektrisch auf und ich brachte ewig damit zu, bis sie wieder so lagen, wie ich sie morgens zurechtgemacht hatte.
Zu meinem Missfallen musste ich feststellen, dass ich heute Morgen ausgerechnet die Vorlesung in Ökologie versäumt hatte. Es war nicht so, dass ich mir die Mitschriften nicht auch aus dem Internet besorgen konnte, doch ich empfand noch ein ähnliches Pflichtgefühl den Vorlesungen gegenüber wie damals den Schulstunden. Hier durfte ich Versäumnisse haben, aber ich tat es nicht gerne.
»Dachte, du bist krank«, sagte jemand neben mir, als ich bereits durch die Gänge zu meiner nächsten Vorlesung in Mathematik ging.
Erst nach einem Blick um mich herum verstand ich, dass ich damit gemeint gewesen war. Die Stimme gehörte Valerie, mit der ich Ökologie belegt hatte. Sie wollte später mal irgendwas mit Tieren machen, hatte aber nicht den ausreichenden Abischnitt für Veterinärmedizin vorweisen können und deswegen Biologie gewählt. Da gab es auch Möglichkeiten, in die Nähe von Tieren zu kommen.
»Nee, ich war gestern zur Probe arbeiten. Hinter der Theke in einem Club. Ging bis zwei Uhr und bis ich zu Hause und im Bett war, hatten wir bereits halb vier«, erklärte ich ihr und gähnte demonstrativ, obwohl ich mich nicht müder fühlte als sonst.
»Oje, ist das das Richtige?«, fragte meine Freundin und griff sich an die hochgegelten Haare. Sie waren kurz und blau und ich hatte sie vom ersten Tag an dafür bewundert.
Ich wollte nicht wissen, was zu Hause los sein würde, wenn ich auch nur mit dem Gedanken spielte. Nicht einmal Strähnchen hatte ich mir reinmachen dürfen, als es vor einigen Jahren so in Mode gewesen war. Den Wunsch würde ich ja nur verspüren, weil es in den Medien so breitgetreten wurde, dass die Jungs drauf standen. Na klar, bestimmt.
»Ja, das geht schon. Es ist ja nur zwei- oder dreimal die Woche, entweder muss ich da morgens durch oder ich mache es wie heute.«
»Kannst meine Mitschriften haben«, bot sie an.
»Ach, die Folien kriege ich auch online, danke«, winkte ich ab und richtete den Riemen meines Rucksacks neu. Er verrutschte auf meiner Jacke immer.
»Ich kopiere sie dir gleich, kein Ding. Hab es doch angeboten.« Valerie drängte regelrecht und so fügte ich mich, damit ich dort nicht so viel nacharbeiten musste.
Meine Freundin war ebenso bemüht wie ich und ich wusste, dass sie alles vollständig hatte. Von mir aus würde ich aber nie fragen, ob ich etwas bekam, was ich auch selbst erledigen konnte. Das war einfach nicht meine Art.
»Danke«, sagte ich noch, bevor sie sich wieder verabschiedete, da sie zu einem anderen Kurs musste.
Als ich mit noch nassen Haaren in die Küche kam, wartete genau ein Schluck Kaffee auf mich. Ehrlich, ich verarschte meinen besten Freund auch gern, aber bei Kaffee hörte der Spaß auf.
»Arthur?«, rief ich durchs Wohnzimmer. Stille.
Da das Bad auch leer gewesen war, vermutete ich, dass er sich gar nicht mehr zu Hause aufhielt.
Na gut, dann eben nicht.
Ich griff nach einem Post-it und hinterließ ihm eine Notiz, dass ich seine Wäsche aus dem Korb aussortieren würde, um sie nicht mitzuwaschen, wenn er mir in Zukunft keinen Kaffee überließ. Den gelben Zettel pappte ich genau auf den Deckel für das Pulver, wo er ihn niemals übersehen konnte. Er würde ihn also zur Kenntnis nehmen. Ob er ihm auch so viel Ernst beimaß, um mir Kaffee zu kochen, war wieder etwas anderes.
Dabei wusste er, dass ich durchzog, was ich androhte. Wenigstens etwas.
Mit einem Blick auf die Uhr stellte ich fest, dass ich mich ein bisschen spurten musste, um rechtzeitig zu meiner Pflichtveranstaltung zu kommen. Lust hatte ich keine, aber ich musste ja.
Schweren Herzens verzichtete ich darauf, mir neuen Kaffee zu kochen, warf mein Handtuch, welches ich mir nach dem Duschen um den Bauch gebunden hatte, auf die Sofalehne und ging in mein Zimmer, um mir etwas anzuziehen.
Meine Haare musste ich allerdings bändigen, sonst sah ich unmöglich aus. Obwohl ich sie kurz trug, wirkten sie immer, als hätte ich in eine Steckdose gefasst. Mit Gel und Föhn bewaffnet, brachte ich das wieder in Ordnung, sodass ich kurze Zeit später tatsächlich auf die Straße konnte. Mein Sinn für ordentliche Haare brachte mir ab und zu alberne Sprüche ein, aber ich mochte es eben so.
Dafür hasste ich die Uni umso mehr. Nachdem ich jedoch zwei Ausbildungen abgebrochen hatte, weil es alles nicht so meins gewesen war, hatte meine Mutter mich recht eindringlich gebeten, doch etwas mit meinem Leben anzufangen. Und da ich nach wie vor nicht wusste, was ich tun sollte, hatte ich mich für ein BWL-Studium entschieden. Immerhin hieß es doch, wer nichts mit sich anzufangen wusste, studierte BWL. Wobei sich jetzt schon herauskristallisierte, dass ich es nicht in einem normalen Zeitraum beenden würde. Dafür versäumte ich zu viel und mir fehlten Punkte.
Zum Glück zahlte mein Vater die Miete. Ich wäre wohl ziemlich aufgeschmissen, wenn ich das noch übernehmen müsste. Er drängte mich auch nie, dass ich mich nun entscheiden musste oder meinen Arsch mal hochbekam.
Mama war da ein bisschen anders, aber der erzählte ich im Moment einfach, dass es lief, denn ich konnte mich gerade nicht damit auseinandersetzen, dass ich keinerlei Ahnung hatte, was ich wirklich mit meinem Leben anfangen wollte.
In wenigen Wochen würde ich vierundzwanzig werden. Manche hatten zu der Zeit bereits fünf Jahre Berufserfahrung und ich kam nicht aus dem Quark.
Ich würde das jetzt noch eine Weile durchziehen, bis ich entweder irgendwann einen Geistesblitz hatte oder zu oft durch eine Prüfung fiel. Bis jetzt hatte es immer gerade so gereicht, falls ich denn antrat, wenn auch erst beim zweiten Anlauf.
Mit sehr viel Wehmut stieg ich in den Bus ein, der mich zur Uni bringen würde.
Es gab viele Gründe, den Winter nicht zu mögen. Das regnerische Wetter, die fehlenden Sonnenstunden, die daraus resultierende Dunkelheit, die Kälte allgemein. Aber bei mir war es hauptsächlich deswegen, weil ich im Winter kein Motorrad fahren konnte.