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Wir leben in einer Zeit gescheiterter Befreiungen. Denn bei Lichte besehen, haben alle Befreiungsversuche früher oder später neue Formen der Herrschaft und damit der Knechtschaft hervorgebracht. Für Christoph Menke verlangt die Erklärung dieser Situation nach einer Umkehrung des Blicks. Anstatt uns einfach dem nächsten Befreiungsprojekt zuzuwenden, müssen wir analysieren, wie die bisherigen Befreiungsversuche verlaufen sind. Vor allem ihr Anfang ist dabei entscheidend – die gewöhnliche, aber faszinierende Erfahrung, dass eine Gewohnheit, die uns knechtet, plötzlich bricht. Sie zu bejahen heißt, in die Praxis der Befreiung einzutreten.
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Seitenzahl: 995
3Christoph Menke
Theorie der Befreiung
Suhrkamp
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eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2022
Der vorliegende Text folgt der deutschen Erstausgabe, 2022
© Suhrkamp Verlag AG, Berlin, 2022
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Umschlaggestaltung: Hermann Michels und Regina Göllner
eISBN 978-3-518-77417-5
www.suhrkamp.de
7für Petra
Cover
Titel
Impressum
Widmung
Inhalt
Informationen zum Buch
Cover
Titel
Impressum
Widmung
Inhalt
Der Kampf der Befreiung
I
. Ästhetik der Befreiung
1. Anfangen. Der Auszug aus der Knechtschaft
(a) Die Freiheit des Subjekts. Griechischer Ursprung
Die Entdeckung der Freiheit
Ich kann
Die Arbeit der Befreiung
Exkurs: Selbstbeherrschung und Disziplin
(b) Die Knechtschaft der Gewohnheit. Jüdische Erfahrung
Israels Murren
Selbstversklavung; Fanon
Die Gewohnheit der Identität
Exkurs: Freiwillige Knechtschaft
Neu anfangen
Erfahrung
2. Faszination. Die Befreiung des Sehens
(a) Die Erfahrung des Bilds
Hinter der Wüste (
Exodus
)
Das Bild (Surrealismus 1)
Fazit: Befreiung und Erfahrung
Ausblick: Die Krise der Faszination
(b) Die Entscheidung zur Wahrheit
Vor dem Fernseher (
Breaking Bad
)
Das Gewöhnliche des Ungewöhnlichen (Surrealismus 2)
Ich will: Erfahrung und Entscheidung
Fazit: Krise und Entscheidung
Exkurs: Medienkritik
Ausblick: Das neue Denken
(c) Die Freiheit des Denkens. Kritik des Idealismus
Die Negativität des Begriffs
Naiver Idealismus. Verwunderung, Staunen
Die Endlichkeit der Freiheit
Exkurs: Heraklit. Der Weltenbrand
Zwischenstand
I
II
. Zwei Modelle: Ökonomie und Religion
3. Befreiung zur Selbständigkeit.
Breaking Bad
Breaking Bad
1: Walter Whites Entscheidung
(a) Findigkeit. Das Ethos der Selbständigkeit
Durch die Angst zur Freiheit
Breaking Bad
2: Entsicherung
Breaking Bad
3: Till rising and gliding out I wander'd off by myself
Die ökonomische Freiheit
Breaking Bad
4: Illegalität
Krise als Chance
Breaking Bad
5: Who would do such a thing? Walter White ist Heisenberg
Abwägen, Umwerten, Anpassen
Breaking Bad
6: Der Preis des Lebens
Selbstverwirklichung
(b) Werde, der du bist
Selbstverantwortung
Breaking Bad
7: Versagen
Die Identität des Individuums
(c) Die Dialektik der Serie
»Erhaltungs-Steigerungs-Bedingungen«
Breaking Bad
8: Mehr-Vermögen
Serialisierung: ökonomisch und ästhetisch
Breaking Bad
9: Lust und Angst
Breaking Bad
10: I was alive
4. Befreiung als Gehorsam.
Exodus
(a) Vom Sehen zum Hören
Exkurs: Das Zögern (Kafka 1)
»Gott«
Religionskritik: Die Gegenthese der Autonomie
Exkurs: Die Aufklärungsgeschichte der Religion
(b) Die Befreiung durchs Gebot
Auszug aus der Sittlichkeit
Überforderung, Scham, Verinnerlichung
Die Befreiung zum Gebot
Exkurs: Drei Ergänzungen zur Kraft des Gebots
Exkurs: Das Überleben der Scham (Kafka 2)
(c) Die Krise der Religion
Das Ja der Befreiung
Exkurs: Der Triumph der Geistigkeit
Exkurs: Ja und Nein
Die Aporie der Vergesetzlichung
Mystik, Antinomismus, Nihilismus: die Grenze des religiösen Modells
Exkurs: Tun und Hören
Ausblick: Eine »geheime Vorgeschichte«
Zwischenstand
II
III
. Ein Begriff radikaler Befreiung
5. Im Rückblick: Eine Idee und zwei Modelle
(a) Analytik: Gewohnheit und Erfahrung
Kritik der Subjektivierung
Ästhetik der Befreiung
(b) Diagnostik: Individualisierung oder Singularisierung
(c) Dialektik: Der Widerspruch der radikalen Befreiung
Die Dialektik der Ökonomie: Serialisierung
Die Dialektik der Religion: Erinnerung
6. Die Verwirklichung der Befreiung
(a) Erfahrung: Erinnerung
(b) Existenz: Humanisierung
(c) Praxis: Universalisierung
Fazit 1: Die Universalität der Befreiung
Fazit 2: Die Befreiung der Universalität
Ausblick: Politik
Anmerkungen
Der Kampf der Befreiung
I
. Ästhetik der Befreiung
II
. Zwei Modelle: Ökonomie und Religion
III
. Ein Begriff radikaler Befreiung
Ausblick: Politik
Dank
Namenregister
Informationen zum Buch
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Leicht fanget aber sich In der Kette, die Es abgerissen, das Kälblein. Friedrich Hölderlin1
Wir leben in einer Zeit gescheiterter Befreiungen. Alle Befreiungen, die die Moderne seit ihrem Beginn hervorgebracht hat, haben sich – früher oder später – ins Gegenteil verkehrt. Sie haben neue Zwänge, neue Ordnungen der Abhängigkeit und Knechtschaft hervorgebracht. Wir kennen die Diagnosen, ihre Liste ist lang: Die Befreiung von äußerer Herrschaft und Bevormundung hat zu Regimen der Selbstkontrolle und Selbstdisziplin geführt; die Befreiung unserer Bedürfnisse und Interessen aus den Grenzen, die ihnen durch Tradition und Sittlichkeit gezogen waren, hat sie der Verwertungslogik der kapitalistischen Ökonomie unterworfen; die Befreiung der Schwarzen hat die rassistische Ausbeutung in rechtlicher Form reproduziert; die Befreiung der Frauen hat sie in den ökonomischen Verwertungszusammenhang integriert; die Befreiung der Sexualität hat die Kampfzonen der Konkurrenz ausgeweitet; die Befreiung der Worte, Farben und Töne hat die Kunst dem Kalkül der Wirkung unterworfen. Alle Befreiungsversuche, ob politisch, ökonomisch, rechtlich, ethisch, kulturell oder künstlerisch, haben sich in Paradoxien und Widersprüche verfangen; sie haben neue Gestalten und Strategien der Herrschaft hervorgebracht. Mehr noch ist offensichtlich geworden, dass die Befreiung in Wahrheit immer schon der Rechtfertigung von Herrschaft diente. Die eigene Befreiung rechtfertigt, die anderen zu beherrschen – um sie da10durch zu befreien. Im Namen der Befreiung hat Europa seine Herrschaft über die Welt errichtet: den globalen Süden erobert und kolonialisiert, die alten Mächte des Ostens zur Öffnung ihrer Häfen und Grenzen gezwungen, die traditionellen Kulturen den Imperativen der Emanzipation unterworfen.
Dies bedeutet, dass die Befreiung nicht länger ein Versprechen und eine Hoffnung sein kann. Die Befreiung ist nicht die Zukunft, die erst noch kommen wird und kommen soll. Wenn die gegenwärtigen Formen von Herrschaft und Knechtschaft die Folgen gescheiterter Befreiungen sind, dann hat die Befreiung vielmehr schon stattgefunden. Die Befreiung ist unsere Vergangenheit. Daher müssen wir den Blick umwenden: Bevor wir wieder – und immer weiter – fordern und versuchen können, uns von bestehenden Formen der Knechtschaft und Unterdrückung zu befreien, müssen wir begreifen, wie dies bisher, in der Vergangenheit, unternommen worden ist. Bevor wir erneute Versuche der Befreiung entwerfen können, müssen wir zurückschauen: auf frühere Befreiungsversuche.
Darum geht es in diesem Buch: um eine Theorie der Befreiung im Rückblick; im Rückblick auf Geschichten von Befreiungen, die versucht worden und die gescheitert sind. Es geht darum zu verstehen, wie die Befreiung versucht wurde, warum sie gescheitert ist – und wie es vielleicht anders geht.
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Wenn man zurückschaut, zeigt sich zuerst, wie unauflösbar Befreiung und Herrschaft ineinander verhakt sind. Jede Befreiungsbewegung, ob politisch, ökonomisch, rechtlich, ethisch, kulturell oder künstlerisch, kämpft gegen Verhältnis11se, die als knechtend und unterdrückend erfahren werden. Das treibt die Befreiung an und berechtigt sie; jeder Befreiungsversuch hat recht. Zugleich hat die Befreiung – so zeigt sich im Rückblick – neue Gestalten der Knechtschaft und Herrschaft hervorgebracht; das ist ihr Scheitern. Wie ist dieses Zugleich – die Befreiung bekämpft die Herrschaft und bringt sie erneut hervor – zu verstehen? Die Frage kann auf zwei ganz verschiedene Weisen beantwortet werden. Nach der ersten Antwort ist dies der Kreislauf, der den Lauf der Geschichte bestimmt. Auf jede befreiende Durchbrechung einer Ordnung folgt die Errichtung einer neuen, die wiederum befreiend durchbrochen werden wird, und so weiter; Ordnung und Aufruhr, Polizei und Rebellion sind nur zwei Seiten desselben. Die andere Antwort hält daran fest, zwischen Freiheit und Herrschaft zu unterscheiden. Das ist die Position der Kritik. Sie sucht noch im Scheitern der Befreiung einen emanzipatorischen Gehalt aufzufinden, der ihr Scheitern überlebt – unberührt von der Herrschaft, die sie gegen ihre Absichten und Ziele hervorgebracht hat. Beide Antworten sind einander strikt entgegengesetzt, aber keine von ihnen wird dem Verhältnis von Befreiung und Herrschaft gerecht. Die erste schaut von so weit oben, dass sie nur den Zusammenhang zwischen ihnen sieht und ihre unversöhnliche Gegnerschaft aus den Augen verliert. Die zweite Antwort vertraut darauf, dass Herrschaft und Befreiung – in der Tiefe – voneinander geschieden werden können, und verkennt, dass sie einander herbeirufen, ja hervorbringen.
Ich versuche daher in diesem Buch etwas anderes. Es geht darum, die Verknüpfung von Befreiung und Herrschaft zu erkennen – wie die Befreiung durch sich selbst in Herrschaft umschlägt –, ohne ihre Entgegensetzung aufzugeben. Beides, ihre Verknüpfung mit der Herrschaft und ihre Entgegensetzung zur Herrschaft, bestimmt die Befreiung im Inneren. 12Die Befreiung ist sich also im Inneren entgegensetzt; sie ist selbst ihre Entgegensetzung. Das will die Theorie der Befreiung begreifen: Sie will verstehen, wodurch sich die Befreiung sich selbst entgegensetzt. Die Theorie der Befreiung ist eine Theorie des Widerspruchs, des Widerspruchs der Befreiung mit sich selbst.
Auch hier geht es also darum – wie in der Antwort der Kritik –, im Rückblick auf die Befreiung zu unterscheiden. Es geht darum zu erkennen, welche Spannungen, Spaltungen und Gegensätze in Befreiungsversuchen aufbrechen. Aber ich suche diese Spaltungen nicht in ihrem Inhalt – nicht also darin, was in jenen Versuchen gefordert wurde und wie sie sich begründet haben. Sondern in ihrer Form: darin, wie sie verstehen, was es überhaupt heißt, sich zu befreien. Diese Widersprüche in der Form der Befreiung können nicht durch normative Gegensätze ausgedrückt werden, so wie die Antwort der Kritik dies will, wenn sie den emanzipatorischen Anspruch eines Befreiungsversuchs seinen repressiven, knechtenden Mitteln oder Folgen gegenüberstellt. Das ist unmöglich. Denn mit jeder solchen (»kritischen«) Entgegensetzung tut sich ein neuer Gegensatz auf, der den emanzipatorische Anspruch wiederum von sich selbst trennt. Es gibt keinen Weg, keine Methode der Kritik, die uns zu einem normativen Gehalt führt, der frei von Herrschaft ist. Jeder Anspruch, den die Kritik in seinem Gehalt und Grund als emanzipatorisch identifiziert, ist zweideutig, widersprüchlich, der Keim neuer Herrschaft oder Knechtschaft. Wenn es ein Moment gibt, in dem die Befreiung der Herrschaft entkommt, ja, sich ihr entgegensetzt, so liegt dieses Moment dort, wo die Befreiung die Form des Anspruchs selbst unterläuft – wo sie in ihrer Form die Festlegung auf einen gegebenen Inhalt, einen vorbestimmten Gehalt durchbricht. Die Befreiung ist die Befreiung ihrer Form.
13Die Befreiung, so sehen wir dadurch, ist gar kein Gegenstand, den wir untersuchen können – indem wir ihre Eigenschaften, ihre Inhalte und Gründe feststellen, sie voneinander unterscheiden und bewertend gegeneinander ausspielen. Die Befreiung ist kein bestimmbarer Gegenstand, sondern, in jedem ihrer Elemente, ein Prozess: das Prozessieren ihres Widerspruchs. Es gibt die Befreiung also nur so, dass sie sich befreit: dass sie sich von sich selbst befreit. Das ist die Dynamik und Dialektik der Befreiung. Die Befreiung kämpft immer einen doppelten Kampf: Sie kämpft gegen die Herrschaft und zugleich kämpft sie mit und gegen sich selbst. In der Theorie der Befreiung geht es um den Kampf, den die Befreiung gegen sich selbst führen muss, wenn sie die Herrschaft bekämpfen will. Auf diesen Kampf schaut aber die Theorie nicht von außen, betrachtend und teilnahmslos – wie auf ein Schauspiel. An diesem Kampf nimmt die Theorie teil. Sie versucht den Kampf voranzutreiben.
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Ich untersuche in diesem Buch zwei Etappen im dialektischen Prozess der Befreiung – zwei strategisch-begriffliche Konstellationen in dem Kampf, den die Befreiung mit und gegen sich selbst führt. Das sind nicht seine einzigen Etappen und Konstellationen; es gibt viele andere. Aber es sind zwei für die gegenwärtige Lage wichtige.
In der ersten Etappe geht es darum zu verstehen, wie diejenige Figur geboren wurde und bestimmt ist, die im Zentrum unseres – des westlichen – Begriffs der Freiheit steht. Diese Figur ist das Subjekt: nicht als die Instanz transparenter Selbstbeziehung und souveräner Weltbeherrschung (wie es missverstanden wird), sondern als Könner, als fähiges und handelndes, als praktisches und daher immer schon soziales 14Subjekt; subjektive Freiheit heißt soziale Freiheit. An ihr zeigt sich zum ersten Mal die Dialektik der Befreiung. Denn die Freiheit des Subjekts wird ebenso durch einen Akt der Befreiung hervorgebracht, wie sie in neue Herrschaft umschlägt; die emanzipatorische Figur subjektiv-sozialer Freiheit ist in ihrem Kern – ihrem Kern der Gewohnheit – knechtend. Deshalb muss die Befreiung über sie hinausgehen. Das kann sie aber nur, indem sie zu ihrem Anfang zurückgeht. Die Befreiung befreit sich von der Subjektfigur, die sie im ersten Schritt hervorgebracht hat, indem sie ihren Anfang erinnert.
Denn der Anfang ist nicht der Grund, der das Folgende trägt und sichert; er ist nicht der Ursprung, der den Verlauf lenkt und ausrichtet. Der Anfang der Befreiung ist vielmehr eine Erfahrung, die uns aus unseren Gewohnheiten herausreißt. Die Befreiung fängt damit an, dass uns etwas fasziniert: dass wir auf etwas treffen, das wir nicht erfassen und bestimmen können und das uns deshalb anzieht und fesselt. Sich zu befreien beginnt damit, dass wir in der Erfahrung befreit werden. Deshalb kann die Befreiung nicht so verstanden werden, dass wir sie tun; dass sie unsere (»subjektive«) Leistung ist, die wir unter Einsatz der Fähigkeiten hervorbringen, die wir durch soziale Teilnahme erworben haben. Die Befreiung fängt vor unserem Tun an. Sie fängt damit an, dass uns etwas widerfährt, das über unsere Fähigkeiten – auch schon über die Fähigkeit, das Erfahrene überhaupt nur zu bestimmen: es zu verstehen und zu begreifen – hinausgeht. Die Befreiung fängt in der Erfahrung an, weil die Erfahrung die Befreiung ist. Die Befreiung von ihrem Anfang, in der Erfahrung, in der Faszination, her zu denken heißt daher, hinter die soziale Freiheit des Subjekts zurückzugehen – das Selbst aus seiner subjektiven und sozialen Existenz zu befreien. Das ist die radikale Befreiung: die Befreiung, die ihren Anfang erinnert, bejaht und wiederholt – die der Erfahrung treu bleibt.
15Die zweite Etappe wird durch Versuche bestimmt, die Idee der radikalen Befreiung zu verwirklichen. Diese Versuche sind vielfältig und von unterschiedlichster Art. Sie bilden ein unübersehbares (und wenig erforschtes) Feld, in dem ganz verschiedene, sogar einander entgegengesetzte Semantiken und Modelle miteinander im Konflikt stehen. Sie alle sind Modelle radikaler Befreiung, weil sie grundsätzlich in Frage stellen, wie wir gewöhnlich leben. Sie stellen unsere Gewohnheiten in Frage, ja, sie sind Befreiungen aus der Gewohnheit. Und sie sind radikal, weil sie dies tun, indem sie an die Wurzel gehen, weil sie also hinter unsere Gewohnheiten des Bestimmens zu der Erfahrung zurückführen, in der sich uns etwas Unbestimmtes zeigt und fasziniert (und ohne die es gar keine Gewohnheiten des Bestimmens gäbe). Aber wie sich diese Erfahrung und ihre befreiende Kraft begreifen lassen – und wie wir uns von ihr her neu verstehen müssen –, beantworten die vielen Modelle der radikalen Befreiung auf ganz verschiedene Weise.
Ich untersuche zwei solcher Modelle, die einander scharf entgegengesetzt sind, die sich aber beide in polemischer Frontstellung gegen die erste Konzeption, die Befreiung des Subjekts, als sozialem Teilnehmer befinden. Diese beiden Modelle sind: die kapitalistische Ökonomie und die monotheistische Religion. Sie sind die verfeindeten Feinde der emanzipatorischen Grundidee der Moderne, der Idee subjektiv-sozialer Freiheit. Die These lautet also, dass beide Formationen als Gestalten der radikalen Befreiung verstanden werden müssen. Diese These ist kontraintuitiv. Wenn man sich auf sie einlässt, wird aber erkennbar, dass die kapitalistische Ökonomie und die monotheistische Religion die beiden extremen, ja extremistischen Bewegungen im Kampf der Freiheit gegen sich selbst, gegen ihre Subjektfigur, sind; zwischen ihnen verläuft der Riss unserer Gegenwart. Sowohl in der ka16pitalistischen Ökonomie (die ich in ihrer neoliberal erneuerten Programmatik analysiere) wie in der monotheistischen Religion (die ich im Spiegel einer Philosophie der Transzendenz, als Exteriorität, deute) geht es darum, sich von der Form der Subjektivität zu befreien. Nicht aber, um die Idee der Freiheit preiszugeben; das ist eine völlig falsche Deutung ebenso der kapitalistischen Ökonomie wie der monotheistischen Religion. Sondern um einen ganz anderen, radikalen Begriff der Freiheit zu gewinnen.
Nur wenn man die Ökonomie und die Religion als Modelle radikaler Befreiung versteht, versteht man daher ihre Berechtigung – was sie wollen und worin sie recht haben. Nur so versteht man auch, weshalb sie bestimmend für unsere Gegenwart geworden sind. Denn die beiden Modelle radikaler Befreiung sind keine bloß theoretischen Konstrukte: Sie sind geschichtlich wirksam. Sie sind entscheidende Faktoren in ebender Geschichte der Befreiung, die unsere Gegenwart hervorgebracht. Und daher haben sie auch die gegenwärtigen Gestalten der Knechtschaft hervorgebracht, in denen wir leben. Das ist es, was wir erkennen, wenn wir auf die Geschichte der Befreiung zurückschauen: Die gegenwärtigen Formen der Knechtschaft sind – paradoxerweise – die Effekte von Versuchen radikaler Befreiung.
Damit es eine dritte Etappe im Kampf der Befreiung geben kann, muss dieser Umschlag der radikalen Befreiung in erneute Knechtschaft verstanden werden. Er muss gestoppt werden. Oder die Befreiung muss darüber hinaus- und weitergetrieben werden. Das kann nur so geschehen, dass die beiden Modelle der radikalen Befreiung – die einander kaum schärfer entgegengesetzt sein könnten – auf ihren wahren Kern reduziert und dadurch in ihrem Gegensatz zusammengedacht werden. Wenn das gelänge, könnte sodann die Frage angegangen werden, wie sich die radikale Befreiung in der 17Welt einrichten ließe: wie sich die subjektive Freiheit und die radikale Befreiung verbinden ließen.
***
Darum geht es in dieser Theorie der Befreiung: Es geht um eine Theorie der radikalen Befreiung. In der ersten Etappe wird die Idee der radikalen Befreiung entwickelt, in der zweiten geht es um zwei Modelle und in der dritten Etappe um den Begriff der radikalen Befreiung. Diese drei Etappen im Kampf der Befreiung gliedern dieses Buch. Das sind seine Teile:
Der erste Teil zeigt, dass die Befreiung in der Erfahrung beginnt, und kritisiert ihre gängige, herrschende Konzeption, die, von den Griechen bis zu Hegel, die Befreiung als die freie Tat eines selbstbewussten Subjekts versteht. Dem stelle ich das Konzept der radikalen Befreiung gegenüber. Das geschieht in einer Ästhetik der Befreiung. Die Ästhetik verortet die Befreiung in der Erfahrung: Wir befreien uns nicht selbst, sondern werden – immer schon – befreit, wenn wir etwas erfahren. Die Erfahrung – genauer: die Erfahrung der Faszination – ist der Anfang der Befreiung. Von Erfahrungen lässt sich aber nur erzählen. Deshalb muss die Theorie der radikalen Befreiung von Erzählungen ausgehen. Die Theorie der radikalen Befreiung ist eine ästhetische Theorie: eine Theorie, die ästhetisch verfährt.
Der zweite Teil untersucht die beiden Modelle der radikalen Befreiung. Das erste Modell ist die Befreiung von der Existenz als sozialer Teilnehmer, die die moderne, liberale oder neoliberale Ökonomie verspricht. Das zweite Modell ist der Auszug aus der herrschenden sittlichen Ordnung, die den religiösen Begriff der Befreiung definiert. Diese beiden Modelle der radikalen Befreiung können – aus systema18tischen Gründen – nur von ihren Erzählungen her verstanden werden; der zweite Teil verfährt daher auf dem Weg der Lektüre. Von der ökonomischen Befreiung erzählt die Fernsehserie Breaking Bad, von der religiösen Befreiung die biblische Geschichte in Exodus. Beide Erzählungen sind nicht nur geschichtlich denkbar weit voneinander entfernt, sie denken auch den Begriff der radikalen Befreiung in entgegengesetzten Registern (ökonomisch und religiös, immanent und transzendent, als Selbständigkeit und als Hören oder Gehorsam). Gerade deshalb aber lassen sie sich vergleichen; gerade deshalb lässt sich in ihrem Vergleich begreifen, wie die Versuche radikaler Befreiung anfangen, wozu sie führen und weshalb sie scheitern.
Der dritte Teil schaut auf die Befreiungsbewegungen zurück, die in den ersten beiden Teilen untersucht wurden, und versucht, aus ihrem Scheitern zu lernen. Dieser Rückblick blickt zugleich voraus: auf die Dialektik der radikalen Befreiung. Darin zeigt sich, worin die beiden Modelle – aber in ganz unterschiedlicher Weise, ja in ganz unterschiedlichem Maß – wahr sind. Ihre Wahrheit liegt darin, dass sie extrem sind, sie liegt in ihrem Extremismus: Die moderne Ökonomie ist der konsequente, radikale Naturalismus, die monotheistische Religion ist der Exzess des Normativen. Beides muss zusammengedacht werden; das ist der Begriff radikaler Befreiung.
Das Leiden zu sein: das heißt, das freie Spiel jeder Fähigkeit.
Samuel Beckett1
20
Warum überhaupt nach der Befreiung fragen? Weshalb stellt sich die Frage, wie die Freiheit wird, wie sie geworden ist oder hervorgebracht werden kann? Ist die Freiheit nicht – ist die Freiheit nicht ein Sein?
Das ist die erste Bestimmung der Freiheit: Die Freiheit ist ein Sein; sie ist eine Weise zu sein. Dieses Sein, das wir frei nennen, umfasst zweierlei. Wir nennen zum einen etwas frei: eine Handlung, eine Entscheidung, ein Leben – etwas Besonderes; eine Lebensweise, eine Institution, eine Gesellschaft – etwas Allgemeines; einen Gedanken, ein Kunstwerk, einen Stil – etwas Objektives. Und wir nennen zum anderen jemanden frei: einzelne oder ein Kollektiv, natürliche oder künstliche Personen. Frei ist ebenso der Vollzug wie das Selbst. Aber frei sind beide nur in ihrer Beziehung. Denn ihre Beziehung verbindet den Vollzug und das Selbst nicht nur, sondern bringt sie als freie hervor. Sie sind jeweils frei durch ihre Beziehung. Die Freiheit ist daher weder innerlich noch äußerlich. Sie ist weder das subjektive Vermögen des Täters hinter der Tat noch eine Eigenschaft des Vollzugs, die empirisch beobachtet (und daher auch empirisch bestritten) werden kann. Die Freiheit ist vielmehr das Sein des Selbst in seinen Vollzügen. Frei sein heißt »Insein«; es heißt, dass das Selbst in seinen Vollzügen da ist.
Oder frei zu sein heißt, dabei zu sein. Dabeisein aber heißt Außersichsein. Frei zu sein heißt, dabei zu sein, indem man außer sich ist. Ein Beispiel dafür – das Beispiel, das Theodor W. Adorno für die Freiheit des Dabeiseins gibt – ist, wie wir ein Musikstück hören, ein anderes – das Beispiel, an 21dem Hans-Georg Gadamer diesen Begriff erläutert –, wie wir einem Schauspiel zuschauen.2 Ein Musikstück zu hören oder einem Schauspiel zuzuschauen heißt, an einem Geschehen teilzuhaben, das sich aus sich selbst heraus vollzieht. Es heißt daher für das hörende oder zuschauende Selbst, außer sich selbst, nicht bei sich selbst, sondern bei dem zu sein, das vor ihm und mit ihm geschieht. Es heißt aber, gerade darin selbst zu sein. Die Freiheit ist ein Sein, eine Weise des Selbst, zu sein. Und frei ist ein Selbst, das in seinem Außersichsein dabei ist.
Diese erste Grundbestimmung der Freiheit enthält unmittelbar zwei weitere. Aus ihr folgt zunächst, dass die Freiheit eine Erfahrung ist und dass diese Erfahrung ein Gefühl ist. Denn wenn die Freiheit darin besteht, dass das Selbst in seinen Vollzügen da – darin und außer sich – ist, dann ist sie kein objektiver Zustand. Das Selbst erfährt sich in seinem freien Dabeisein: Wer frei ist, erfährt sich als frei. Und das heißt in seiner unmittelbaren und zugleich intensivsten Form, dass wer frei ist, sich frei fühlt. Das ist ein Gefühl der Freude, der Lust. Frei zu sein ist ein Zustand der Lust – der Lust des Selbst an sich selbst: daran, wie es in seinen Vollzügen ist. Und weil die Freiheit ein Sein ist, das lustvoll erfahren wird, folgt weiterhin, dass frei zu sein ein Zustand der Affirmation, der Bejahung ist. Denn die Lust ist bejahend; sie ist selbstbejahend, das Gefühl der – oder als – Bejahung. Indem das Selbst seine Freiheit fühlt und Lust daran hat, in seinem Außersichsein dabei zu sein, bejaht es dies also. Das heißt aber nicht weniger, als dass das Selbst darin seine Wahrheit sieht. In seinem Außersichsein dabei und also frei zu sein, ist nicht ein beliebiger Zustand, eine beliebige Seinsweise des Selbst. Frei zu sein ist sein wahres Sein.
Die erste Grundbestimmung der Freiheit lautet also: Die Freiheit ist ein Sein. Und daraus folgt, dass die Freiheit ein Gefühl der Lust, ein Zustand der (Selbst-)Bejahung ist.
22Es gibt aber nicht nur das freie Dabeisein, sondern auch das Dabeisein der Hörigkeit. Es gibt nicht nur das Ja der Freiheit, sondern auch das Ja widerstandslos verinnerlichter Knechtschaft. Es gibt nicht nur das Glück der Freiheit, sondern auch das Glück der Unterwerfung. Und daher kann die Freiheit nicht nur lustvoll-affirmativ sein – sie kann nicht nur sein –, sondern sie muss Nein sagen. Die Freiheit sagt: »Nieder mit dem Glück der Unterwerfung.«3 Alle Bestimmungen, die das Sein der Freiheit oder die Freiheit als eine Seinsweise beschreiben – im Außersichsein dabei zu sein, dies lustvoll zu erfahren und es zu bejahen –, sind zutiefst zweideutig. Sie können Bestimmungen der Freiheit oder der Knechtschaft sein. Deshalb muss die Freiheit über das Sein – das Sein, das die Freiheit ist: das sie für den ist, der frei ist – hinausgehen und eine Unterscheidung treffen. Das affirmative Sein der Freiheit bedarf einer Negation; die Lust der Teilhabe verlangt ein Urteil. Die Freiheit muss über das Sein, die Lust, die Affirmation hinausgehen. Sie muss negativ, unterscheidend, urteilend werden. Diese Notwendigkeit – über das affirmative Sein hinausgehen zu müssen – ist nichts anderes als die Freiheit. Der Schritt hinaus über das Sein – das die Freiheit für die Freien ist – gründet selbst in der Freiheit. Er gründet darin, dass die Freiheit das Andere der Unfreiheit ist. Genauer: dass die Freiheit sich als das Andere der Unfreiheit hervorbringt. Denn die Freiheit ist nicht von der Unfreiheit unterschieden, sie unterscheidet sich von ihr. Das heißt aber nichts anderes, als dass die Freiheit nicht ist, sondern wird. Sie wird, indem sie sich von der Unfreiheit befreit. Das ist die zweite, der ersten entgegengesetzte Grundbestimmung der Freiheit: Die Freiheit ist das Werden der Freiheit – die Befreiung.
Diese zweite Bestimmung besagt, dass die Freiheit niemals aus sich heraus verstanden werden kann: dass sie also kein 23unmittelbares Sein, nicht eine Seinsweise des Selbst und der Vollzüge (des Selbst in seinen Vollzügen) ist, dass sie nicht aus ihrer Lust und Bejahung begriffen werden kann. Frei zu sein wird vielmehr erst zur Freiheit geworden sein, indem es sich hervorbringt – indem es die Unfreiheit negiert. Adorno schreibt: »Erst an dem von ihm Getrennten und gegen es Notwendigen erwirbt das Subjekt […] die Begriffe Freiheit und Unfreiheit.«4 Denn die Freiheit als Unmittelbarkeit und Sein – als Lust, als Bejahung – kann nicht von der Unfreiheit unterschieden werden. Sie verschwimmt mit ihrem Gegenteil; sie löst sich auf. Die Freiheit bloß als Sein verstehen zu wollen heißt, ihren Gegensatz zur Unfreiheit aufzugeben. Es heißt, die Freiheit aufzugeben.
Aber wenn die Freiheit als Sein zu verstehen in das Problem führt, dass sie nicht mehr von der Knechtschaft unterschieden werden kann und man sie deshalb als Werden, als Negation, als Befreiung begreifen muss, verstrickt man sich sogleich erneut in ein Problem, das unlösbar scheint. Es besteht darin, wie das Werden, die Hervorbringung der Freiheit – oder wie die Negation der Unfreiheit – zu verstehen sind. Ist das Hervorbringen der Freiheit oder das Negieren der Unfreiheit nicht eine Tat? Denn wenn sie keine Taten sind, müssten sie ein anonymes, objektives Geschehen sein. Aber wie soll ein Geschehen – der Inbegriff der Unfreiheit – die Freiheit hervorbringen können? Wie sollte sich – zum Beispiel – begreifen lassen, dass der evolutionäre Prozess der Naturgeschichte zur Freiheit führt? Der evolutionäre Prozess kann immer nur bis zur Schwelle, bis zu den notwendigen Bedingungen der Freiheit führen. (Und dann erfolgt ein Sprung.) Wenn das Werden der Freiheit aus der Unfreiheit also nicht geschehen sein kann, muss es getan worden sein. Aber das kann ebenso wenig richtig sein. Denn im Unterschied zu einem Geschehen ist eine Tat frei, und wenn daher 24das Werden der Freiheit als Tat verstanden wird, setzt es die Freiheit, die erst werden soll, schon voraus. Es ist also ebenso unmöglich, das Werden der Freiheit so zu verstehen, dass es geschehen ist, wie dass es getan worden ist. Beide Auffassungen des Werdens der Freiheit sind selbstwidersprüchlich: Die eine Auffassung, als Geschehen, versteht nicht das Werden der Freiheit; sie gelangt nicht bis zur Freiheit. Die andere Auffassung, als Tat, versteht nicht das Werden der Freiheit; sie beginnt schon mit der Freiheit. So wie daher die erste Grundbestimmung der Freiheit als lustvoll-affirmatives Dabeisein des Selbst daran scheitert, ihre Differenz von der Unfreiheit nicht denken zu können, so verstrickt sich die zweite Grundbestimmung, nach der die Freiheit in ihrem Werden aus der Unfreiheit besteht, in einen Zirkel. Sah man sich zunächst genötigt, vom Sein zum Werden der Freiheit überzugehen, so scheint man nun wieder vom Werden zum Sein der Freiheit zurückgehen zu müssen.
Ich versuche im Folgenden, einen Ausweg aus dieser Lage von der zweiten Seite aus zu finden: von der Seite der Befreiung her. Der Versuch besteht darin, das Werden der Freiheit und damit die Negation der Unfreiheit zu begreifen, ohne sie entweder als eigene, selbstbewusste Tat oder als anonymes, selbstläufiges Geschehen zu verstehen. Das Werden der Freiheit, so wird sich zeigen, lässt sich nur begreifen, wenn man diesen Gegensatz – von Tat und Geschehen, allgemeiner: von Aktivität und Passivität – aufzulösen vermag. Die Befreiung muss sich von diesem Gegensatz befreien; sie muss das Werden befreien. Wenn dies gelingt, wenn es gelingt, das Werden der Freiheit jenseits dieses Gegensatzes zu denken, löst sich zugleich auch ihr Gegensatz zu der ersten Grundbestimmung der Freiheit, der Freiheit als Sein, Lust und Bejahung auf. Das Werden der Freiheit richtig zu verstehen heißt nichts anderes und nicht weniger, als zu verstehen, wie das Sein und25das Werden der Freiheit, ihre Affirmation und ihre Negativität, die Lust und das Urteil der Freiheit intern miteinander verbunden sind. Die beiden Grundbestimmungen der Freiheit müssen in ihrem Gegensatz zusammengedacht werden.
*
Die Untersuchung beginnt in diesem ersten Teil mit einer Rekonstruktion von zwei ganz verschiedenen Weisen, die Befreiung zu verstehen. Ich nenne das erste Verständnis die »griechische« oder »dialektische« Konzeption. Denn es ist das Verständnis, das sich in den Geschichten von der griechischen Entdeckung der Freiheit findet. Diesen Geschichten unterliegt eine dialektische Struktur, die Hegels Philosophie des Subjekts begrifflich auf den Punkt bringt. Dem stelle ich ein zweites Verständnis gegenüber, das in der jüdischen Erzählung vom Exodus zu finden ist und das ich deshalb eine »ästhetische« Konzeption nenne, weil sie die Freiheit als Erfahrung begreift (und weil die Ästhetik von der Erfahrung handelt). Diese beiden Verständnisse der Befreiung stehen im Gegensatz zueinander. Denn indem sie auf entgegengesetzte Weise erklären, wie die Freiheit hervorgebracht wird – entweder indem sie entdeckt (und reflektiert) oder indem sie erfahren wird –, bestimmen sie zugleich auf entgegengesetzte Weise, worin die Freiheit besteht. In der Frage danach, wie die Freiheit anfängt, geht es nicht um deren Vorgeschichte. Im Werden der Freiheit geht es um ihren Begriff.
Das erste Kapitel dieses Teils beginnt damit, die ästhetische Konzeption der Befreiung gegen die griechisch-dialektische zu verteidigen. Das setzt das zweite Kapitel fort, indem es den ästhetischen Begriff der Freiheitserfahrung – der Befreiung durch die Erfahrung – entfaltet. Das führt zu einer Gegenüberstellung der beiden Konzeptionen der Befreiung 26(in Kap. 2, Abschnitt [c]), die zeigt, dass sie nicht nur die Befreiung auf entgegengesetzte Weise verstehen, sondern ebenso, was es heißt, die Befreiung zu verstehen – also sie zu denken. Es sind zwei verschiedene Konzeptionen des Denkens und seiner Freiheit: ein idealistisches und ein (ästhetisch-) materialistisches Konzept des Denkens. Der zusammenfassende Ausblick (»Zwischenstand I«) erläutert, worin das Problem des ästhetisch-materialistischen Begriffs der Befreiung besteht. Das Problem besteht in seiner Radikalität. Es besteht darin, dass die Befreiung, ästhetisch oder materialistisch verstanden, hinter die Freiheit des Subjekts zurück- oder über sie hinausgeht. Damit stellt sich die Frage, wie die Freiheit jenseits des Subjekts positiv gedacht werden kann. Mit dieser Frage beschäftigen sich die beiden folgenden Teile II und III. Sie werden die enormen Schwierigkeiten erkunden, diesem Anspruch gerecht zu werden.
Im Tanz, im Lied, in den traditionellen Riten und Zeremonien entdeckt man denselben Aufschwung, dieselben Veränderungen, dieselbe Ungeduld. […] Indem der Kolonisierte die Intentionen und die Dynamik des Kunsthandwerks, des Tanzes und der Musik, der Literatur und des mündlich überlieferten Heldengesanges erneuert, gewinnt auch seine Wahrnehmung eine andere Struktur. Die Welt verliert ihren Fluch. Alle Bedingungen für die unvermeidliche Auseinandersetzung treten zusammen.
Frantz Fanon5
Die Freiheit ist wesentlich negativ. Sie ist die Negation der Unfreiheit. Es gibt keine Freiheit, die bloß affirmativ ist: die bloß affirmativ ist, weil sie bloß ist. Die Freiheit wird erst, indem sie negiert. So lautet die Ausgangsthese, die durch zwei weitere Thesen vorgreifend bestimmt werden kann.
Die erste dieser beiden Thesen besagt, dass die Freiheit die Unfreiheit negiert, weil die Freiheit die Kraft des Anfangens ist. Wir nennen etwas oder jemanden, einen Vollzug oder ein Selbst, unfrei, wenn es oder er oder sie durch das bestimmt, also determiniert ist, was ihm oder ihr vorgegeben ist. Unfrei zu sein bedeutet, eine bloße Folge aus etwas Vorgegebenem zu sein; Unfreiheit heißt Folgsamkeit, bestimmt zu sein durchs Vorgegebene. Damit bricht die Freiheit. Die Freiheit ist die Kraft des Anfangens, weil sie Nein sagt – nicht zu dem, was ihm vorgegeben ist, sondern dazu, dass es ihm vorgege28ben ist. Die Negation der Freiheit gilt der Vorgegebenheit. Sie negiert die Positivität; sie durchbricht die Herrschaft des Vorgegebenen. Die Freiheit ist die Kraft, die Kette der Folgen zu durchbrechen und von selbst anzufangen.
Die zweite These besagt, dass die Freiheitskraft des Anfangens nicht gegeben ist. Denn wenn frei zu sein heißt, dass jemand oder etwas von selbst anfängt, also nicht eine bloße Folge aus etwas Vorgegebenem ist, dann kann auch frei zu sein – also die Kraft zu haben, anzufangen – nicht etwas bloß Vorgegebenes sein: etwas, das man zu befolgen hat. Die Kraft des Anfangens kann mithin keine Eigenschaft und kein Vermögen sein, die ein Vollzug oder ein Selbst hat – die sie bestimmen. Die Freiheit ist kein Normalzustand, sie ist weder normal noch ein Zustand. Sondern die Freiheit des Anfangens kann es nur so geben, dass sie nicht gegeben ist, sondern anfängt. Die Kraft des Anfangens muss selbst anfangen. Darin besteht das Werden der Freiheit. Die Befreiung ist das Anfangen des Anfangens.
Wenn die Freiheit des Anfangens die Negation der Unfreiheit ist (erste These); wenn es die Freiheit des Anfangens aber nur so gibt, dass sie nicht ist, sondern wird (zweite These), dann ist die Unfreiheit nicht nur das Andere der Freiheit, dem sie gegenübersteht und das sie hinter sich zurücklässt. Sondern die Unfreiheit ist als das Andere der Freiheit der Anfang der Freiheit. Die Freiheit fängt mit der Erfahrung der Unfreiheit an. Die Hervorbringung der Freiheit fängt also damit an, dass ein Zustand als unfrei erfahren wird – als ein Zustand, in dem die Freiheit unterdrückt oder geraubt ist, als ein Zustand der Knechtschaft. Die Erfahrung der Knechtschaft ist der erste, grundlegende Schritt im Werden der Freiheit. Sie ist nichts anderes als der Schritt von der Natur zur Gesellschaft. Der natürliche Zustand ist ein Zustand der Nichtfreiheit – ein Zustand, in dem es keine Frei29heit gibt und sie daher auch nicht unterdrückt oder geraubt werden kann. Im natürlichen Zustand gibt es weder Freiheit noch Unfreiheit, sondern nur Stärke und Schwäche (und die Beherrschung der Schwachen durch die Starken). Die Hervorbringung der Freiheit beginnt damit, dass dieser Zustand aufhört natürlich zu sein (oder natürlich zu scheinen) und die Abwesenheit der Freiheit als Unfreiheit erfahren wird: als Negation der Freiheit, als Knechtschaft. Das macht diesen Zustand zu einem nichtnatürlichen; zu einem Zustand, in dem nicht frei zu sein heißt, der Freiheit beraubt zu sein. Mit dieser Erfahrung befinden wir uns zum ersten Mal – in der Gesellschaft. Die erste wahrhaft gesellschaftliche Erfahrung, die erste Erfahrung eines nichtnatürlichen Verhältnisses, ist die Erfahrung der Unfreiheit. Damit fängt das Werden der Freiheit an. Der Anfang der Freiheit ist die Erfahrung der gesellschaftlichen Negation der Freiheit.
So geht die Beraubung der Freiheit ihrer Hervorbringung vorher: Die Freiheit wird hervorgebracht, indem wir erfahren, dass wir ihrer beraubt sind. Also entsteht die Freiheit erst im Einspruch gegen ihre Negation. Die Freiheit gibt es nicht, bevor sie negiert und im Widerspruch gegen ihre Negation hervorgebracht wird. Darin besteht die Befreiung; die Befreiung ist die Hervorbringung der Freiheit aus der Erfahrung der Knechtschaft: die Hervorbringung der Freiheit durch die Negation ihrer Negation.
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Mit dieser These – die Freiheit ist die Befreiung, weil die Freiheit nur durch die Erfahrung der Unfreiheit, der Knechtschaft, gewonnen wird – ist aber noch nichts gewonnen. Alles kommt darauf an, wie sie verstanden wird.
Dafür müssen wir uns im ersten Schritt klarmachen, dass 30das Verständnis der Freiheit als Befreiung nicht weniger als das Grundprogramm unserer Kultur ist – der Kultur des Westens (aus anderer Perspektive: des Nordens). Die westliche Kultur versteht sich als die Kultur der Freiheit, und das heißt, sie versteht die Freiheit als ihre kulturelle Errungenschaft, nicht als eine natürliche Gegebenheit und schon gar nicht als eine Gabe, die sie von einem anderen empfangen hat. Die westliche Kultur hat ihre Freiheit selbst hervorgebracht. Sie ist nichts anderes als diese Hervorbringung: Sie ist die Kultur der oder als Befreiung.
Was wir damit meinen, wenn wir dies von uns glauben, können uns die Erzählungen sagen, die zeigen, wie in der griechischen Kultur im fünften Jahrhundert vor unserer Zeit die Freiheit »entdeckt« (Kurt Raaflaub) oder »hervorgebracht« (Orlando Patterson) wurde.6 Die Freiheit als Befreiung zu verstehen, so zeigen diese Erzählungen, hat eine griechische Genealogie. Hier (oder damals) wurde die Freiheit zuerst »zu einem erstrangigen Politikum entwickelt, das die ganze Gemeinschaft betraf und zur Stellungnahme zwang«.7 Hier wurde die Freiheit zum ersten Mal »politisiert« und dadurch zu einem grundlegenden geteilten »Wert«, das heißt, zu einem »Ideal, das aktiv zu verfolgen ist«.8 Hier zeigt sich deshalb auch zum ersten Mal und daher in aller Klarheit, wie die westliche Kultur dies von nun an verstehen wird. Sie versteht es so, dass die Freiheit nur »aus der Erfahrung der Knechtschaft hervorgebracht« werden konnte; dass also die Freiheit ein Effekt der Befreiung ist.9 Und sie versteht vor allem diesen Akt der Befreiung so, dass er nur möglich ist, ja in nichts anderem besteht, als dass uns die Freiheit bewusst wird. Dabei heißt Bewusstsein Selbstbewusstsein. Die Befreiung besteht darin, sich der eigenen Freiheit bewusst zu werden. Das Sein der Freiheit ist das Bewusstsein – der Begriff – der Freiheit. Das ist die griechische Konzeption der Freiheit als 31Befreiung, die die Matrix und das Programm der westlichen Kultur bildet. »Befreiung« heißt hier und seitdem, durch die Erfahrung ihrer Negation zum Bewusstsein der Freiheit zu gelangen. Die Grundoperation in der griechischen Entdeckung der Freiheit ist die »Emanzipation des Bewußtseins« (Herbert Marcuse)10: durch die Emanzipation des Bewusstseins zum Bewusstsein, zum Wissen und Wollen, der Emanzipation zu gelangen.
Diese – griechische, europäische, westliche – Verbindung von Freiheit und Selbstbewusstsein werde ich im folgenden Abschnitt (a) zuerst rekonstruieren. In ihr liegt das Besondere der westlichen Kultur – ihre Leistung und Errungenschaft –, und in ihr gründet ihre Zweideutigkeit, ja ihr Widerspruch. Denn durch die Bindung der Freiheit an das Freiheitsbewusstsein schlägt die griechisch-westliche Konzeption der Befreiung in neue Herrschaft um. Sie reproduziert die Knechtschaft, gegen die sie sich richtet, in anderer, neuer Gestalt: in der Gestalt des Subjekts, das diese Befreiung hervorbringt. Solange die Befreiung daher nur von ihrer griechischen Erzählung her und in ihrer westlichen Gestalt gedacht und durchs Selbstbewusstsein definiert wird, bleibt sie kraftlos, reproduziert sie die Knechtschaft, ja, ist die Befreiung nichts anderes als ein Mechanismus der Knechtschaft. Sie muss daher von einer anderen Erzählung her weitergedacht und radikalisiert werden. Eine dieser anderen Erzählungen ist die jüdische Szene und Erfahrung: die Befreiung des Exodus (Abschnitt [b]). Der Exodus bindet die Befreiung nicht ans Bewusstsein, sondern an die Erfahrung. Er denkt die Befreiung, indem er die Erfahrung vom Bewusstsein befreit. Die Lehre des Exodus ist: Die Erfahrung der Befreiung ist die Befreiung der Erfahrung. Darin ist der Exodus eine Konzeption radikaler Befreiung. Der Exodus schneidet die Knechtschaft an ihrer Wurzel ab.
Die griechische Genealogie der Freiheit besteht in einer fundamentalen semantisch-begrifflichen Transformation. Darin wird aus dem Freisein die Freiheit; aus einem natürlich verstandenen Status oder gar Sein wird ein Wert und Ideal. Wie und wodurch das geschieht, rekonstruiert im Folgenden der erste Schritt. In ihm erweist sich, dass diese Transformation zutiefst zweideutig ist. Der westliche Wert der Freiheit ist von seinem griechischen Anfang her durch einen Gegensatz markiert, der sein zweideutiges Verhältnis zur Herrschaft ausmacht. Das zeigt exemplarisch die Kontroverse zwischen Raaflaub und Patterson. Im zweiten und dritten Schritt soll im Anschluss an Patterson die Dynamik nachgezeichnet werden, in der sich die Freiheit gegen ihre eigene Kontamination mit der Herrschaft wendet. Das bringt einen neuen, »praktischen« Begriff der Freiheit hervor. Er versteht die Freiheit als die Macht zu handeln: die Freiheit des Subjekts.
Wie geschieht es, dass das griechische Wort eleuthería zum weitverbreiteten Begriff der Freiheit wird – dass also »Freiheit« Freiheit bedeutet? Um diese Frage geht es in der Erzählung davon, wie in Griechenland die Freiheit »entdeckt« wurde. Wie wird ein Wort, das Wort eleuthería, das eine alte indoeuropäische Wurzel hat, zum Ausdruck für die neue Idee der Freiheit, derer die griechische Kultur (und hier besonders Athen) sich rühmt? Was treibt diese Entwicklung an? Und wie wird durch den Prozess, in dem eleuthería diese Bedeutung gewinnt, in dem die Freiheit also gedacht wird, die Freiheit bestimmt? Was ist die Freiheit am Ende und als Pro33dukt dieses Prozesses? Das sind die beiden zentralen Fragen, die beantwortet werden müssen: die Frage nach dem Werden und die Frage nach der Bestimmung der Freiheit (durch ihr Werden).
Die Frage, wie und wodurch eleuthería »Freiheit« zu bedeuten beginnt, stellt sich exemplarisch für die erste (adjektivische) Verwendung des Ausdrucks, die sich im Epos, und zwar nur in der Ilias, findet. Dort gebraucht Hektor das Wort, als er das Schicksal beklagt, das seiner Gattin Andromache durch die Niederlage Trojas droht:
Sein wird der Tag, wo einst zugrundegeht die heilige Ilios Und Priamos und das Volk des lanzenguten Priamos. Doch nicht der Schmerz um die Troer wird mich hernach so kümmern, Selbst um Hekabe nicht und Priamos, den Herrscher, Noch um die Brüder, die da viele und edle In den Staub hinfallen werden unter feindlichen Männern, So wie um dich, wenn einer von den erzgewandten Archaiern Dich Weinende wegführt und raubt dir den Tag der Freiheit [eleútheron ẽmar], Und du in Argos webst für eine andere am Webstuhl Und Wasser trägst von der Quelle Messeïs oder Hypereia, Viel widerstrebend, doch ein harter Zwang liegt auf dir.11
Es ist signifikant, dass hier von eleútheros in einer Klage die Rede ist: der Klage über einen – nach Hektor: den schlimmsten – Verlust, der Andromache bevorsteht; darauf komme ich gleich zurück. Aber was ist die ausgezeichnete Qualität, die Qualität des Tages, der für Andromache bald für immer vergangen sein wird, die Hektor mit diesem Wort bezeichnet? Dieses Wort ist hier auf ganz verschiedene Weisen übersetzt und damit gedeutet worden. Auf der einen Seite stehen 34Deutungen, die mit seiner ersten Verwendung unmittelbar auch schon den Begriff der Freiheit gegeben sehen: Was Andromache verlieren wird, ist der »Tag der Freiheit«.12 Dieser Freiheitssinn ergibt sich aus der Entgegensetzung zu der Knechtschaft, die ihr droht: für andere und nach ihrem Willen arbeiten zu müssen. Dem stehen Deutungen gegenüber, die Hektors (oder Homers) Verwendung noch die alte, archaische Bedeutung geben, die das Wort eleútheros von seiner indoeuropäischen Wurzel her hat. Von dieser Wurzel her bedeutet es, at home (Modestus van Straaten) zu sein: Eleútheron ẽmar, dessen Andromache beraubt werden wird, »ist der heimatliche Tag, an dem man sein Leben zu Hause leben konnte«,13 unter seinesgleichen. Denn Andromache wird als Sklavin in die Fremde verschleppt werden. Die Beraubung der Heimat, der Zugehörigkeit, der Seinigen oder aber die Beraubung der Freiheit: das sind die beiden verschiedenen Lektüren, die eleútheron ẽmar eröffnet. Die Verwendung des Wortes weist hier geschichtlich in zwei verschiedene Richtungen. Sie weist zurück zur indoeuropäischen Wurzel und voraus zu seiner Politisierung, als Wert und Ideal. Homers Verwendung steht auf der Schwelle.
In seiner alten, archaischen Verwendung bezeichnet eleuthería die Zugehörigkeit zur guten, weil eigenen Gemeinschaft. Eleútheros ist der »Gemeinfreie«. »Die Grundbedeutung von ἐλεύθερος ist demnach ›zum Volk (Stamm) gehörig‹.«14 Diese Zugehörigkeit des – im archaischen Sinn – »Freien« ist durch Abstammung definiert und gesichert. Eleútheros, »frei«, ist, wer die richtige oder gute Abstammung hat und daher zugehörig ist. Darin weist das griechisch-archaische Verständnis von eleuthería auf die indoeuropäische Wurzel des Worts zurück, deren Grundbedeutung Émile Benveniste darin sieht, dass es »die Geburt in der Kontinuität der Generationen [ist], die den ›freien‹ Zustand des Menschen garantiert«.15 »Frei« 35zu sein hat hier den positiven Sinn der richtigen, guten Herkunft, die zugleich den richtigen Aufwuchs, das gute Wachstum umfasst: »Das Wort eleuthería hat daher zwei Hauptbedeutungen, die in ihrer Verbindung zu begreifen sind: die Zugehörigkeit zu einem ethnischen Stamm (das Volk, die Leute) und die Idee eines Wachstums, das zu einer vollendeten Form führt, die ihr Ende in voller Blüte erreicht.«16 »Frei« sagt man »von einer Pflanze, die sich in ihrem Wachstum vollendet«.17 Im archaischen Sinn, der den der indoeuropäischen Wurzel fortschreibt, ist die Freiheit als eleuthería nicht »politisch, sondern biologisch« (Romano) definiert. Die archaische Freiheit ist ein natürliches Sein.
Das impliziert bereits – aber es impliziert erst auch nur – die Unterscheidung des Freien vom Sklaven. Die archaisch-biologische Definition des Freiseins impliziert diese Unterscheidung, weil es innerhalb der durch gemeinsame Abstammung gesicherten Gemeinschaft weder Herren noch Sklaven gibt (aber selbstredend eine Vielzahl von Machtverhältnissen unter Ungleichen: zwischen Eltern und Kindern, Männern und Frauen, Herren und Knechten, Reichen und Armen). Die Sklaven, die es gibt, kommen von außen oder werden zu Fremden gemacht. Daher kann einer, der eleútheros, einer von uns oder guter Abstammung ist, kein Sklave sein. Aber diese Differenz definiert nicht den archaischen Begriff des Freien; definiert wird dieser Begriff immanent, durch die biologisch gegebene Verbindung der Freien untereinander. Die Freiheit ist archaisch nicht das Andere der Unfreiheit; sie ist hier noch »kein Kontrastbegriff« (wie Dieter Nestle gegen Max Pohlenz festhält).18 Damit aber, so Kurt Raaflaub in Die Entdeckung der Freiheit, ist die archaische »Freiheit« überhaupt noch kein Begriff der Freiheit. Sie kennt keine »positive Typologie des Freien«; sie dient nicht dazu, »den [zur Knechtschaft] gegenteiligen, positiven Zustand als solchen« 36zu erfassen und herauszuheben.19 Das kann erst geschehen, wenn die Freiheit als das Andere der Knechtschaft erfahren wird. »[Das] Bewußtsein vom Wert jeder Art von Freiheit (und damit die Fähigkeit, einen entsprechenden Terminus zu prägen) [setzt] die Existenz eines kräftigen Bewußtseins vom Unwert der entsprechenden Art von Unfreiheit (und damit in der Regel die entsprechende Negativterminologie) voraus.«20 Es kommt erst zu einer positiven Bestimmung der Freiheit, wenn es zu einer negativen kommt, genauer: wenn die Freiheit negatorisch, sich entgegensetzend, gefasst wird.
Darin besteht der Schritt, der über die archaische Verwendung des Worts hinausführt und durch den eleuthería die Freiheit, das heißt: den Begriff der Freiheit, zu bezeichnen beginnt. Die Freiheit zu begreifen heißt, sie im Gegensatz zur Unfreiheit zu begreifen. Die Entdeckung der Freiheit – der Freiheit als dem entscheidenden »Wert« – geht aus der Erfahrung der Unfreiheit hervor. Nur indem das unmittelbare Freisein von der Unfreiheit her gesehen wird, wird es gewusst und gewollt – und damit ganz neu und anders verstanden. Frei zu sein, der natürliche, durch Geburt garantierte Status, wird dadurch erst zur Freiheit, dem Wert, Ideal oder Begriff: Der eleútheros, der von guter Abstammung und damit einer von uns ist, wird zu einem, der sich der Knechtschaft entgegengesetzt denkt und daher keinen Herrn über sich duldet. Die »Politisierung« der Freiheit ist beides in einem: Die Freiheit wird zum Wert und zum Gegensatz der Unfreiheit oder Knechtschaft – zur »Negation eines Negativums« (Raaflaub). Die Freiheit wird zum Wert, weil sie nur so besteht, dass sie sich der Unfreiheit entgegensetzt. Das heißt: Wenn die Freiheit sich der Erfahrung der Unfreiheit entgegensetzt, ist sie nicht mehr bloß, sondern muss behauptet, gar hervorgebracht werden.
Die weitreichenden Konsequenzen dieser Transformation, 37die Raaflaubs begriffsgeschichtlicher Erzählung eingeschrieben ist, treten darin hervor, wie Orlando Patterson an sie anknüpft, ja, weshalb er sich überhaupt für die griechische Hervorbringung der Freiheit interessiert. Patterson hat in Slavery as Social Death eine große, weltgeschichtliche Untersuchung der Sklaverei vorgenommen, die diese als einen Zustand absoluter Entfremdung, als »sozialen Tod«, bestimmt. Dies führt Patterson zur Frage nach der Freiheit. Aber nicht – oder nicht einfach nur –, weil die Freiheit das Gegenteil der Sklaverei ist. Sondern weil sich Patterson der abgründige Gedanke aufdrängt, dass dieses »Ideal, das der Westen gegenüber allen anderen am höchsten schätzt, als eine notwendige Folge aus der Erniedrigung der Sklaverei und der Anstrengung, sie zu negieren, hervorgegangen ist«.21 Ohne die Erfahrung der Sklaverei keine Freiheit: Die Freiheit entsteht (und besteht) nur in der Negation – in der Tat: in der Negation einer Negation. Das ist der Hegel'sche Gedanke, um den Pattersons Analyse der Sklaverei kreist: »Freiheit – Leben – ist eine doppelte Negation; denn sein [des Sklaven] Zustand ist schon eine Negation des Lebens, und die Zurückgewinnung dieses Lebens muss daher eine Negation der Negation sein.«22 Diese Struktur erkennt Patterson in Raaflaubs griechischer Entdeckungsgeschichte der Freiheit wieder: Die Freiheit wird zum Wert, indem sie den Zustand der Sklaverei negiert, der darin selbst bereits als eine erste Negation erscheint; die Freiheit ist die Negation der Negation, die die Sklaverei ist.
Liest man Raaflaubs griechische Entdeckungsgeschichte der Freiheit mit Patterson (und also mit Hegel), dann tritt aber nicht nur in aller Schärfe hervor, dass es die Freiheit überhaupt nur als ein Resultat – also nicht als unmittelbares Sein – einer doppelten Negation – der Negation ihrer Negation – gibt: dass also der Existenz der Freiheit ihr Verlust 38vorausgeht (und die Freiheit deshalb allein als Befreiung existiert). Patterson betont auch die Konsequenz, die Hegel daraus zieht. Diese Konsequenz formuliert Hegel im Begriff des Neuen: Die aus der Negation der Unfreiheit geborene Freiheit ist neu – eine »neue Form« (so sagt Hegel über das »Resultat« der »bestimmten« Negation: der Negation, die produktiv ist23). Die Freiheit ist neu, weil sie nicht immer schon da ist; so wie es das archaische Freisein war, das nicht gewonnen oder erkämpft, sondern biologisch ererbt ist. Die Freiheit, die ein »Wert« oder »Ideal« ist, existiert nicht von sich aus und von selbst, sondern muss immer erst hervorgebracht werden. Aber deshalb, so hebt Patterson, wiederum mit Hegel, hervor, gewinnt die durch Negation gesetzte Freiheit auch einen neuen Inhalt. »[D]ie Freiheit ist mehr als bloß eine doppelte Negation. Sie ist fortdauernd aktiv und schöpferisch.«24 Die Befreiung ist also nicht deshalb die Negation der Negation, weil sie zu dem ursprünglichen Zustand zurückkehrt, so wie er vor der ersten Negation – der Sklaverei als Negation – bestand. Wer die Erfahrung der Unfreiheit gemacht hat und diese Negation ihrerseits negiert, »wird für sich selbst ein neuer Mensch« (ebd.). Er versteht sein Freisein – sein Freigewesensein – vor der Unfreiheit auf ganz neue Weise. Darin ist die Befreiung schöpferisch: dass sie das Alte neu zu sehen lernt.
Das bedeutet es, mit Raaflaub zu sagen – wenn wir es mit Pattersons Augen lesen –, dass die Freiheit von den Griechen »entdeckt« wurde: Dass die Griechen den Wert der Freiheit entdeckt haben, heißt, dass sie (i) die Freiheit der Sklaverei entgegengesetzt, darin (ii) die Sklaverei als Negation verstanden und damit (iii) die durch die Sklaverei negierte alte Existenz ganz neu beschrieben haben. Die Griechen lernen durch die Erfahrung der Unfreiheit zu sehen, was an der Existenz, die sie bloß deshalb »frei«, eleútheros, nannten, weil sie darin 39unter sich, chez soi oder at home waren, wahrhaft oder »positiv« (Raaflaub) frei war, weil sie dies nun negatorisch verstehen, als Entgegensetzung zur Unfreiheit. Die Setzung der neuen Freiheit ist, griechisch oder dialektisch verstanden, eine Umbeschreibung, eine schöpferische Aneignung des alten Seins: Selbsterfahrung als (Selbst-)Bewusstwerdung.
Damit ist klar, weshalb und in welchem Sinn die griechische Entdeckung der Freiheit die »Emanzipation des Bewußtseins« (Marcuse) ist. Sie ist die Emanzipation durchs Bewusstsein. Es gibt keine Freiheit, als Wert, Ideal oder Idee, ohne sich der Freiheit bewusst zu sein, und sich der Freiheit bewusst zu sein heißt, sie der Unfreiheit entgegenzusetzen. »Freiheit« heißt Begriff