Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Ein skurriler, frecher Krimi aus dem Osten der Spielleute, Gaukler und Ritter belagern Bad Langensalza: Das legendäre Mittelalterstadtfest hat die Kurstadt fest in seiner Hand. Für einen war es jedoch das letzte historische Spektakel. Beim "Teufelswerk", einem allseits gefürchteten Spiel, findet man eine verstümmelte Leiche. Die Kommissare Bernsen und Kohlschuetter tauchen ein in eine Zeit, in der drakonische Strafen an der Tagesordnung waren.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 467
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Julia Bruns wurde in einem kleinen Dorf mitten in Thüringen geboren. Die promovierte Politikwissenschaftlerin arbeitete viele Jahre als Redenschreiberin und in der Öffentlichkeitsarbeit. Heute schreibt sie als freie Autorin, am liebsten Krimis aus ihrer Heimat Thüringen.www.thueringen-kommissare.de
Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig. Dieses Werk wurde vermittelt durch die Agentur Editio Dialog, Dr.Michael Wenzel (www.editio-dialog.com
© 2018 Emons Verlag GmbH Alle Rechte vorbehalten Umschlagmotiv: Thomas Stankiewicz/Lookphotos Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer Umsetzung: Tobias Doetsch Lektorat: Marit Obsen eBook-Erstellung: CPI books GmbH, LeckISBN 978-3-96041-327-1 Originalausgabe
Unser Newsletter informiert Sie regelmäßig über Neues von emons: Kostenlos bestellen unter www.emons-verlag.de
Für Christine und Stefanie, da am Ende eben doch alles gut wird
Prolog
1987
Die Schermaschine summte. Die Luft war stickig. Obwohl es weit nach Mitternacht war, spürte er noch die Schwüle des vergangenen Tages, die ihm, vermischt mit dem strengen Geruch nach mehreren tausend Kühen und dem schweren Dunst von Motorenöl und Schmiermittel, den Atem nahm.
Seine Augen hatten eine Weile gebraucht, um sich nach der Dunkelheit in der Maschinenhalle der Wieglebener Milchviehanlage an das gleißende, kalte Licht der kleinen Neonröhre zu gewöhnen, die direkt über der Werkbank von der Decke hing. Fast hätte er den Schalter dafür nicht gefunden. Aber seine Erinnerung hatte ihn nicht im Stich gelassen.
Die Lampe beleuchtete einen schmalen Streifen auf der metallenen Arbeitsfläche. Gerade so viel, wie er brauchte. Er hatte die abgenutzte silbergraue Platte nicht groß freiräumen müssen. Die Maschinenschlosser hatten ihren Arbeitsplatz schmutzig, aber halbwegs ordentlich hinterlassen. Nur ein paar Kisten mit Schrauben musste er zur Seite rücken. Das war ausreichend, um die willenlose Gestalt, die er zuvor entkleidet hatte, auf der Werkbank abzulegen. Ersteres hatte ihn kaum Mühe gekostet. Der Mann war bei den Temperaturen ohnehin mit nicht viel mehr als einem Paar Gummistiefel und einer blauen Arbeitshose bekleidet gewesen. Noch dazu handelte es sich um einen Hänfling von höchstens siebzig Kilogramm. Eine widerliche kleine Ratte, die bestialisch nach Schweiß und Kuhmist stank.
Voller Ekel betrachtete er den vor ihm liegenden nackten Körper. Die jugendliche Haut, die straff die Muskeln umspannte, die sehnigen, kräftigen Hände, die dünne, noch flaumige Brustbehaarung, das Muttermal an der linken Leiste, den schwarz behaarten Schambereich. Abrupt schloss er die Augen. Er spürte, wie sich sein Herz zusammenkrampfte. Das Blut rauschte in seinen Ohren. Denk nicht daran, nicht daran denken, sagte er sich immer wieder. Er atmete tief durch, versuchte sich mit aller Kraft zu konzentrieren.
Es gelang. Sein Puls verlangsamte sich wieder. Er war bereit. Entschlossen setzte er das Scherblatt auf.
Die dunklen Härchen rieselten hinunter auf die gestrige Ausgabe des »Neuen Deutschland«, dessen Seiten er zuvor zur Hälfte sorgsam auf der Bank ausgebreitet hatte. Sie landeten auf einem Foto des Staatsratsvorsitzenden Erich Honecker, der einem ihm fremden Mann die Hand schüttelte. Er hielt einen Moment inne und las die fett gedruckte Überschrift.
»Begegnung Erich Honeckers mit Bremer Bürgermeister«. Darunter stand als zusammenfassende Schlagzeile: »Aufgeschlossenes Gespräch mit Klaus Wedemeier/Gemeinsame Auffassung betont: Beseitigung der Mittelstreckenraketen in Europa ist der Schlüssel zur Abrüstung/Kontakte DDR-Bremen gewürdigt«.
Deren Probleme möchte ich haben, dachte er und setzte die Schermaschine wieder an. Sekunden später war der Staatsratsvorsitzende unter der Schur verschwunden.
Nach einer Weile hielt er erneut inne, begutachtete die kahl geschorene Stelle, legte die Maschine ab und beseitigte mit einer zackigen Wischbewegung seiner rechten Handfläche die auf der Haut verbliebenen Haare. Dann schaute er sich suchend um. Er konnte seine Tasche nicht finden. Dabei hatte er doch eben erst das Schergerät dort herausgenommen. Das musste das Adrenalin sein. Oder die Hitze.
Regungslos stand er vor der Werkbank und starrte ins Nichts. Endlich fiel es ihm wieder ein. Die Schubkarre. Die Tasche lag in der Schubkarre, mit der er den Typ hierhertransportiert hatte. Er trat einen Schritt zur Seite und touchierte mit seinem rechten Knie einen der gummiüberzogenen Griffe der Karre. Den Schmerz spürte er nicht. Hastig beugte er sich hinunter. Die Tasche war da, wo er sie abgestellt hatte. Er öffnete den Klappverschluss, zog die Flasche mit dem Jod und ein Mulltuch heraus, desinfizierte lieblos die nackte Haut und legte alles sorgsam neben den Füßen des leblosen Mannes ab. Sein Blick war starr, seine Bewegungen mechanisch, auf eine seltsame Weise geschäftig. Als Nächstes fingerte er das Operationsbesteck, das er am Morgen sorgsam in ein Leinentuch eingeschlagen hatte, aus der Tasche, fasste vorsichtig nach dem Skalpell und setzte an.
Er arbeitete ruhig und konzentriert. Ab und zu horchte er in die Nacht hinaus. Nichts. Die Ruhe war gespenstisch. Hin und wieder waren ein paar Kühe zu hören. Er schwitzte.
Nur noch ein paar Handgriffe, dann war es so weit. Angewidert packte er das blutige Fleisch auf den auseinandergefalteten Rest der Zeitung, den er zuvor aus Ermangelung einer Nierenschale auf der Werkbank abgelegt hatte. Er wickelte die feuchte, noch warme Masse in das »Neue Deutschland«, zog ein altes graues Handtuch aus seiner Tasche, schlug es mehrfach um das blutdurchtränkte Paket und verstaute alles bei seinen Sachen. Das Jodfläschchen, die Schermaschine und sogar der benutzte Mull folgten. Er durfte nichts zurücklassen. Erst nachdem er sicher war, keine Spuren hinterlassen zu haben, verschloss er die Wunde.
EINS
Friedhelm Bernsen saß auf dem Balkon und blinzelte in die warmen Strahlen der Augustsonne, die ihren Weg durch das Blätterdach der großen Linden fanden, welche die Bremer Stadtväter zur Naherholung der Bewohner hinter den Mietshäusern hatten anpflanzen lassen. Seit über dreißig Jahren bewohnte er mit seiner Rotfeder eine gemütliche Drei-Zimmer-Wohnung im zweiten Obergeschoss eines der schlichten Wohnblöcke im Bremer Westen zwischen dem Industriehafen und dem Bahnhof Bremen-Walle. Hier am rechten Weserufer, in Utbremen, wie die Einheimischen die Gegend nannten, war er aufgewachsen.
Bernsen hatte seine Beine lang ausgestreckt, bequem an den Knöcheln übereinandergeschlagen und in einem an der Balkonbrüstung befestigten Blumenkasten abgelegt, wobei er die fetten Nachtkerzen und Lobelien mit seinen Füßen rücksichtslos zur Seite drückte. Das tat er aus ganz praktischen Erwägungen, denn der üppige Blumenschmuck, mit dem seine Rotfeder den Balkon bestückt hatte, versperrte einem kleinen Mann wie ihm, noch dazu wenn er saß, schlichtweg die Sicht auf den Hinterhof und damit auf die Geschäftigkeit seiner Nachbarn. Es hatte grüne Heringe und Bratkartoffeln zum Mittagessen gegeben, ein samstägliches Ritual, das die Rotfeder und er seit ihrer Hochzeit pflegten. Dass sie anschließend alle Wohnungsfenster aufriss und ihn zum Auslüften auf den Balkon verbannte, gehörte ebenfalls zu diesem Brauch. Es bereitete ihm jetzt, mitten im Hochsommer, wenig Unbehagen. Das schwere Essen und die Mittagshitze hatten ihn jedoch ein wenig schläfrig gemacht, und so hing er mit halb geschlossenen Augen dösend auf seinem Klappstuhl.
»Friedhelm«, ertönte der alles durchdringende Ruf seiner Rotfeder aus der Wohnung. »Du hast doch nicht wieder deine Füße in meinem Blumenkasten? Wehe dir, wenn nur eine meiner schönen Blüten abgebrochen ist.« Geschirr klapperte. Eine Schranktür fiel zu. Die Kaffeemaschine rauschte.
Bernsen war auf einmal hellwach. »Natürlich nicht, meine Rotfeder«, rief er reflexartig, während er seine Beine von der Brüstung schwang und sich kerzengerade aufsetzte. Just in diesem Moment betrat die Rotfeder den Balkon, warf einen prüfenden Blick auf die zerdrückten Blumen, tadelte ihn lautstark, stellte energisch einen dampfenden Kaffeepott vor ihn auf den kleinen Beistelltisch und verschwand wieder in der Wohnung. Bernsen griff nach der Tasse, von deren Vorderseite ihn ein Seehundpaar freundlich anlächelte, nahm, vorsichtig in die heiße Flüssigkeit pustend, einen Schluck und machte es sich wieder bequem. Seine Füße landeten erneut im Blumenkasten. Ein paar Stängel des Männertreus fielen auf den mit Kunstrasen ausgelegten Balkonboden.
Er dachte an die vergangene Woche. In der Erfurter Polizeiinspektion war nichts Spektakuläres passiert. Ein paar aufzuarbeitende Akten, der übliche Papierkram, den Bernsen im Normalfall möglichst unauffällig auf Kohlschuetters Schreibtisch befördert hätte. Aber der Kollege war im Urlaub, und so war ihm nichts anderes übrig geblieben, als sich selbst im Zwei-Finger-Suchsystem mit den Protokollen herumzuquälen.
Nur einmal hatte man ihn zu einem vermeintlichen Tatort gerufen. In Sömmerda war ein bewusstloser Mann blutüberströmt in einem Vorgarten gefunden worden. Alles deutete auf eine Straftat hin, woraufhin Bernsen ein Dutzend Bereitschaftspolizisten durch die anliegenden Straßen schickte, damit sie in Mülltonnen, hinter Briefkästen und unter Sträuchern nach der Tatwaffe suchten. Doch abgesehen von ein paar Anrufen einiger irritierter Anwohner, die beobachtet hatten, wie die Polizei ihren Müll durchwühlte, war nichts dabei herausgekommen. Schlussendlich hatte sich herausgestellt, dass der Mann, ein Kleingärtner, den fünfundzwanzigsten Geburtstag des Kreisverbandes der Gartenfreunde Sömmerdae.V. in der Unstruthalle so ausschweifend gefeiert hatte, dass er, nicht mehr ganz Herr seiner Sinne, auf seinem Nachhauseweg unglücklich in einen halbhohen Gartenzaun gefallen war. Dabei hatte er nicht nur eine überaus reich blühende und betagte Akelei auf unschöne Weise platt gemacht, sondern sich an den spitzkantigen Streben der Grundstückseinfriedung auch so üble Verletzungen zugezogen, dass die Polizei zunächst von einer schweren Messerstecherei ausgegangen war.
Für Bernsen, der schon Sorge gehabt hatte, sich mit langwierigen Ermittlungen, im schlimmsten Fall mit einer Fehde zwischen Gartenfreunden herumschlagen zu müssen, war die Sache damit gottlob zügig erledigt gewesen. Grünfanatiker, die sich in so einfältigen Wettbewerben wie dem um den dicksten Zucchino befanden, welchen der gekürte Sieger dann wie eine Jagdtrophäe vor der Kamera des Zeitungsfotografen präsentieren durfte, vertrugen sich nicht mit Bernsens männlichem Ego. Zumal er der tiefen Überzeugung war, dass der Zucchino-Champ die Mühen der wochenlangen Pflege der gurkenähnlichen Frucht, ein aus seiner Sicht gänzlich testosteronarmes Hobby, nur für die wenigen Minuten kleingärtnerlichen Ruhmes auf sich nahm. Ein Ruhm, der jählings verblasste, sobald das holzige Gemüse unters Messer kam und nicht einmal mehr für eine Suppe taugte. Männer sollten sich schlichtweg nicht wie Gemüsemodels gebärden, sondern die Familie ernähren, lautete Bernsens unumstößlicher Standpunkt. Entsprechend hatte er weder Lust verspürt, die Gartenfreunde kennenzulernen, noch sich mit deren unzufriedenen Ehefrauen herumschlagen wollen. Überdies wäre das ohnehin eher ein Fall für den weichgespülten Kohlschuetter gewesen.
Das Protokoll zu dem Einsatz hatte Bernsen dennoch gut und gern einen halben Tag beschäftigt. Ansonsten hatte er es sich mit heruntergelassenen Jalousien im leichten Lüftchen seiner penetrant ratternden Tischventilatoren in ihrem gemeinsamen Büro gemütlich gemacht. Das monotone Geräusch wurde nur noch von dem Rauschen des alten Transistorradios und damit seinen krampfhaften Versuchen, NDR2 zu empfangen, übertroffen. Ab und zu hatte Claudi, die Sekretärin des Chefs, seine »Höhle«, wie er den Raum während Kohlschuetters Abwesenheit getauft hatte, betreten. Meist jedoch nur, um ihm das bestellte Frühstück oder ein Stückchen Torte zu bringen. Seit es vor einigen Wochen zu einem peinlichen Zusammentreffen zwischen Kohlschuetter und Liese, der Küchenfrau der Bereitschaftspolizisten, gekommen war, gab die gute Seele Bernsens Verpflegung nur noch an der Pforte der Polizeiinspektion ab. Claudi übernahm den Rest des Botendienstes.
Gelegentlich war Claudi aber auch nur so vorbeigekommen, um nach ihm, dem, wie sie immer wieder betonte, »einsamen« Friedhelm zu sehen und wie nebenbei den neusten Bürotratsch loszuwerden. Dabei war das einzige wirklich Interessante die Verlobung von Susanne Summer, der Leiterin der Kriminaltechnik beim Landeskriminalamt, gewesen. Claudi gab an, sogar den Bräutigam schon gesehen zu haben. Irgendein Konditor aus der Nähe von Erfurt. Bernsen hatte zwar schon dessen von Susi mitgebrachte Torte verspeist und wusste daher um des Mannes berufliche Fähigkeiten, konnte sich aber beim besten Willen nicht mehr daran erinnern, wer das sein sollte. Was ging ihn auch das Liebesleben der sperrigen Summer an? Was ihn aber an dieser Nachricht kitzelte, war der Gedanke an Kohlschuetters blödes Gesicht, wenn er erfahren würde, dass der Traum seiner schlaflosen Nächte sich anderweitig orientiert hatte. Denn eines war sicher: Bernsens junger Kollege war, auch wenn er mitunter den Eindruck machte, dass er sich nichts sehnlicher wünschte, nicht der Auserwählte.
»Friedhelm!«, ertönte von drinnen die alles andere als zärtliche Stimme seiner Rotfeder.
Bernsen schwang umgehend die Beine nach unten, wobei er versehentlich den Topf mit den Hortensien streifte. Eine dicke blaue Blütendolde fiel zu Boden, eine andere hing abgeknickt über den Topfrand. Er räusperte sich. »Ja, meine Rotfeder?«
»Denkst du bitte daran, dass wir pünktlich um Viertel vor fünf losmüssen. Wenn Knipp Gumbo im ›Hart Backbord‹ singt, wird es bestimmt voll«, rief sie angestrengt aus der Küche. Dann hörte er, wie sie auf den Pudel einredete.
Sicher macht sie den blöden Bernd wieder ausgehfein, und das Vieh wehrt sich nach Kräften, dachte Bernsen und grinste in sich hinein. Absolut unverständlich, dass der Köter sie auch noch zu Knipp Gumbo begleiten musste. Wofür hatte man denn einen Wachhund, wenn der nicht die Wohnung hütete, sondern sich ständig in Frauchens Schlepptau befand. Zumal es früher selbstverständlich gewesen war, dass Bernsen die halben Portionen, die seine Rotfeder auf ihrem Teller übrig ließ, rübergereicht bekam. Und heute? Pustekuchen! Seit Bernd da war, hatte er gut und gern drei Kilogramm abgenommen, die nun ganz eindeutig der Hund auf den Rippen trug.
»Und zieh dir bitte ein frisches Hemd an, ja?« Pause. »Bernd, bei Fuß.« Pause. »Du riechst wie ein alter Hering.« Pause. »Wirst du wohl, Bernd.«
Der Pudel kam um die Ecke gesprintet und knallte sich genervt vor den Hortensientopf. Ein paar einzelne kleine Blütenblätter segelten herunter und landeten auf seinem Rückenfell.
»Alter Hering riecht immer noch besser als das muffige Flohwohnheim hier«, murmelte Bernsen angesäuert. »Ja, mein Schatz«, antwortete er laut.
Bernd knurrte. Die negativen Schwingungen blieben nicht mal dem tumben Hund verborgen.
»Halt die Klappe«, zischte Bernsen. Zufrieden lächelnd schwärmte er: »Knipp Gumbo, der plattdeutsche Elvis. Was für ein herrlicher Samstag.« Er senkte die Lider und beschloss, sie erst wieder zu öffnen, wenn der Aufbruch zum alljährlichen Wallener Stadtteilfest kurz bevorstand. Mehrere Bühnen, viel gute Musik, leckerer Fisch mit eiskaltem Bier und ausgelassene Stimmung wie an einem Kindergeburtstag, auf all das freute sich Bernsen schon seit Monaten.
»Bernd, kommst du bitte. Wir waren noch nicht fertig.«
Bernsens Rotfeder stand in der Balkontür und versuchte sich in Hundeerziehung, wobei ihr Tonfall allem Anschein nach ernst klingen sollte. Dabei sprach sie mit dem Pudel eher säuselnd wie eine Mutter, die sich mit breitem Lächeln über ihr Neugeborenes beugte und permanent »dutzi, dutzi, dutzi« rief. Der Hund hatte entsprechend schnell durchschaut, dass die Erziehung seines Frauchens deutliche Schwächen aufwies. Zumindest was ihn anging. Gegenüber Herrchen verhielt sich die Sache schon ganz anders.
Von jetzt auf gleich schlug die Stimme der Rotfeder um, sie keifte in Richtung Bernsen: »Und du trink deinen Kaffee, bevor er kalt wird. Ich bin schließlich nicht deine Magd. Ach übrigens, was ist das für eine leere Wurstverpackung, die ich da aus deiner Tasche gefischt habe? Seit wann mögen wir denn Schweinefleisch? Aus Thüringen?« Sie rümpfte die Nase. »Na ja, du musst selbst wissen, was du tust. Es ist dein Leben.«
Sie zog ein Gesicht, als hätte sie Bernsen mit einer anderen Frau im Ehebett erwischt. Doch es kam noch schlimmer. Im Hineingehen bemerkte sie die demolierte Hortensie. Ihre Augen formten sich zu schmalen Schlitzen, die Lippen wurden weiß, und ihre Kieferknochen knackten, als zermalmte sie ein paar Walnüsse samt Schale.
»Friedhelm!«, kreischte sie so laut, dass die gesamte Nachbarschaft strammgestanden hätte, wenn sie gemeint gewesen wäre.
Bernsen zuckte nicht einmal. In Zeitlupe ballte er seine linke Hand zur Faust, streckte den Daumen im rechten Winkel ab, drehte seine Hand um fünfundvierzig Grad und zeigte damit auf Bernd. Der Hund schaute ihn aus treuen Augen an.
»Also wirklich, Berndi-Boy, was machst du denn für Sachen«, hauchte die Rotfeder liebevoll, wiegte sanftmütig seufzend den Kopf, schnappte sich den Pudel und ließ Bernsen allein auf dem Balkon zurück.
»Berndi-Boy«, sagte Bernsen verächtlich, nahm seine Lieblingsposition wieder ein und schlummerte weg.
Er konnte nicht sagen, wie lange dieser glückselige Zustand schon andauerte, als das schrille Läuten der Türklingel ihn aus seinen Träumen riss. Stimmen wurden laut. Ein junger Mann sagte etwas von »alte Dame, Gipsbein und Pflege«. Mehr konnte er hier draußen nicht verstehen. Dann wurde es wieder still, und die Wohnungstür fiel unsanft ins Schloss. Die Nachbarn, dachte er und beschloss, seinen wohlverdienten Mittagsschlaf fortzusetzen.
»Friedhelm!« Ein hysterischer Schrei seiner Rotfeder beendete das Vorhaben. Irgendetwas knallte gegen die Vitrine im Wohnzimmer. Gläser klirrten. Wieder hörte er Stimmengemurmel.
»Ich habe immer gesagt, dass diese Wohnung viel zu klein ist. Ein Loch, er lässt dich in einem Loch wohnen. Ach, was sage ich, hausen. Dieser Nichtsnutz«, zeterte eine unangenehm schrille Stimme.
»Jetzt bitte ich dich aber, so kann man das auch nicht sagen«, entgegnete die Rotfeder beschwichtigend. »Er verdient gut bei der Polizei. Und unter der Woche wohne ich doch allein hier.«
»Pah. Nimm ihn nicht in Schutz. Oh, mein Bein.«
Wieder dieser beängstigende Tonfall. Bernsen brauchte ein paar Sekunden, um die Stimme zuzuordnen. Im nächsten Moment spürte er, wie sich sein Magen verkrampfte. Unverzüglich fühlte er sich, als wäre er in einen Schusswechsel geraten. Seine Nackenhaare stellten sich auf. Jeder Muskel in seinem schmächtigen Körper spannte sich an. Adrenalin schoss ihm in die Blutbahn. Hektisch sah er sich um, suchte nach Fluchtmöglichkeiten. Ein Sprung über die Balkonbrüstung in den Hinterhof. Aus dem zweiten Stock. Als junger Streifenpolizist hätte er das gewagt. Aber heute? Ausgeschlossen. Er konnte seiner Schwiegermutter nicht entrinnen.
»Friedhelm!«, rief seine Frau erneut.
»Friedhelm!«, schrie ihre Mutter, wobei er sich sicher war, dass sie diesen herzigen Ruf noch um ein moserndes »Wenn man den Idioten braucht, ist er natürlich nicht da« erweiterte.
Bernsen verließ seinen Platz und trottete mit hängenden Schultern ins Wohnzimmer. Mit einem Blick erfasste er die Situation und wünschte sich, er wäre doch vom Balkon gesprungen. Jetzt hatte er die Bescherung. Seine Schwiegermutter thronte in einem Rollstuhl. Ihr linkes Bein lag ausgestreckt auf einer extra dafür an diesem Gefährt angebrachten Vorrichtung. Es war bis oberhalb des Kniegelenks eingegipst. Auf ihrem Schoß stand eine prall gefüllte Reisetasche, die sie mit ihren dicken kurzen Fingern fest umklammerte, so als ob die Gefahr bestünde, dass sie ihr jemand stehlen könnte. Die altrosafarbene Chiffonbluse, die sie trug, war falsch zugeknöpft, sodass die Rüschen am Revers schräg herabhingen, was jedoch angenehm von den dunkelbraunen Kaffeeflecken ablenkte, die darauf verteilt waren. Ein langes dunkelblaues Hämatom zog sich von ihrem rechten Auge bis hinunter zur Wange, und ihr geschwollenes Gesicht wirkte noch verzerrter als sonst. Das konnte aber auch an ihrem Gebiss liegen, das sich augenscheinlich nicht in ihrem Mund befand. Die dünnen weißen Haare standen nach allen Richtungen ab und verliehen ihrer Erscheinung etwas Wahnsinniges.
Bernsen beäugte sie schweigend. Eine Mischung aus Klaus Kinski und Axel Schulz, dachte er, Letzterer, was das Gewicht angeht. Nur dass diese Frau kaum mehr als anderthalb Meter misst. Die eigentliche Frage aber war, wieso sie in diesem Zustand den weiten Weg aus Hannover auf sich genommen hatte. Sie war ein unzufriedenes, böses altes Weib, das es sich zum Lebensinhalt gemacht hatte, ihren Schwiegersohn zu tyrannisieren, und ihn auch jetzt in einer Tour mit garstigen Blicken bedachte. Ihm schwante Übles.
»Mutti ist gestürzt und wird die nächsten drei Wochen bei uns wohnen«, verkündete die Rotfeder entschieden, um gleich darauf zur Tagesordnung überzugehen. »Kannst du bitte neuen Kaffee aufsetzen und den Tisch decken? Ich habe noch einen Apfelstrudel im Eis. Den gönnen wir uns auf den Schreck«, flötete sie und verschwand aus dem Zimmer.
Schreck ist leicht untertrieben, dachte Bernsen mit knirschenden Zähnen und unterdrückte den Reflex, den Rollstuhl samt Schwiegermutter ins Treppenhaus zu stoßen und die Wohnungstür von innen zu vernageln. Drei Wochen. Einundzwanzig Tage. Fünfhundertvier Stunden. Nun gut, davon verschlief der Drache einen guten Teil. Und er weilte allein schon fünfzehn Tage in Erfurt. Aber trotzdem, selbst wenn er nur die Wochenenden einkalkulierte, waren das gefühlte Jahre. Wie sollte er das nur aushalten? Die Alte kam einer Landplage gleich.
»Wo willst du denn hin, Rotfeder?«, jammerte er, als habe er Angst, auch nur ein paar Minuten mit seiner Schwiegermutter allein sein zu müssen. Und so war es ja auch.
»Ich richte unser Bett her«, rief sie aus dem Schlafzimmer. »Wir können Mutti ja schlecht auf dem Sofa schlafen lassen.«
Aber mich, dachte Bernsen verkniffen.
»Jetzt steh nicht so nutzlos rum und tu, was deine Frau dir aufgetragen hat. Für mich Schonkaffee und frische Sahne. Die werdet ihr ja wohl haben«, befahl seine zahnlose Schwiegermutter eigentümlich undeutlich, während ihr der Speichel über das Kinn lief. »Und schaff mein Gepäck ins Schlafzimmer.«
Mit einem dumpfen Knall landete die Reisetasche vor Bernsens Füßen.
»Scheiß dienstfreier Samstag«, nuschelte er mürrisch, ohne dass sie es hören konnte. »Wochenendbeginn und kein Mord in Sicht. Nur einer an einer Gehbehinderten. Bei dem dürfte ich aber mit Sicherheit nicht ermitteln.«
ZWEI
»Ein herzliches Willkommen, Ihr edlen Damen und Herren! Lasset Euch verzaubern, denn die Stadt Bad Langensalza hat zum großen Mittelalterstadtfest geladen.« Berthold von der schönen Aue, im wahren Leben der Bürgermeister der hübschen Kur- und Rosenstadt, stand mitten auf der großen Bühne und begrüßte die zahlreichen, teils illustren Gäste. Während er sprach, wackelte die Straußenfeder, die in seinem ausladenden weinroten Samtbarett steckte, fröhlich auf und ab. Der Schweiß rann ihm die Schläfen hinunter, und seine Wangen glühten. Selten hatten die Bad Langensalzaer zu ihrem Mittelalterstadtfest am letzten Augustwochenende eine derartige Hitze erlebt. Doch heute brannte die Sonne erbarmungslos vom Himmel.
Am frühen Nachmittag waren die Gaukler, Musikanten, Ritter, Händler, Stelzenläufer, Fahnenschwinger und allerlei Gefolge in der Stadt eingefallen und hatten unter den Klängen von Dudelsäcken, Trommeln und Flöten das Stadtoberhaupt nebst der schönen Rosenkönigin und dem Herold der Thüringer Landgrafen, Randolf zu Duringen, vom Rathaus abgeholt und über die belebte Marktstraße zur großen Bühne auf dem Töpfermarkt begleitet. Nun stand der Bürgermeister unter den schwarzen Planen der Bühnenverkleidung und schwitzte aus allen Poren. Die weinrote Samtweste mit den aufgenähten hellgrauen Fellapplikationen, das geschlossene Leinenhemd und die dicken Hosen taten dabei ihr Übriges.
Randolf zu Duringen, der wie jedes Jahr mit frecher Zunge durch das Programm führte, nickte mit wichtiger und übertrieben ehrerbietiger Miene zu den Worten des Stadtoberhauptes und animierte das Publikum mittels seines Heroldstabes zum Applaudieren. Dabei verrutschte ihm fortwährend das rot-schwarze Chaperon, das er auf dem Kopf trug. Mit zackigen Handbewegungen richtete er es ein ums andere Mal und warf die lange herabhängende Spitze verwegen zur Seite. Der stattliche Mann steckte bis zu den Waden in einem rot-blau-gelben Wappenrock, der mit dem Thüringer Löwen, Sternen und Kreuzen verziert war. Darunter blitzte eine dunkelblaue Strumpfhose hervor. An den Füßen trug er abgewetzte dunkelbraune Schnabelschuhe, in denen er beschwingt hin und her tänzelte. Er vermittelte nicht den Eindruck, als würden ihm die hohen Temperaturen etwas ausmachen. Dagegen schien die Rosenkönigin, die unschwer daran zu erkennen war, dass ihr ein Korb mit dunkelroten Rosen über dem Arm hing, in ihrem hellgrünen langen Samtkleid und mit ihrem breiten, Ton in Ton gehaltenen Stirnreif förmlich wegzufließen. Sie presste die Lippen zusammen und lächelte tapfer.
»Das sechsundzwanzigste Mittelalterstadtfest ist eröffnet«, rief der Bürgermeister voller Überschwang. Er entledigte sich seines großen Hutes und fächelte sich und der Rosenkönigin damit abwechselnd etwas Luft zu, denn jetzt kamen die Gaukler und Spielleute dran, die unter lautem Getöse vor der Bühne aufzogen, um dem Stadtoberhaupt ihre Aufwartung zu machen. Berthold von der schönen Aue lachte fröhlich, während das Spielmannsduo »Pampatut« in gestreiften Hosen und bunten Gewändern nach vorn trat und, begleitet von Drehleier und Cister, lautstark derbe Lieder zum Besten gab. Mühelos gelang es den beiden stadtbekannten Musikanten, die Zuhörer zu begeistern, sodass kurze Zeit später der gesamte Töpfermarkt am Ende jeder Strophe die Arme nach oben riss und ein schallendes »Hey!« hören ließ.
Nur wenige Minuten nach der offiziellen Eröffnung befand sich Bad Langensalza im berüchtigten Mittelalterstadtfestfieber.
Michelle Silbermann hörte von alledem nichts. Hastig hatte sie den Damen im Zollhäuschen die abgezählten acht Euro hingelegt und ihnen ihren schmalen Arm entgegengestreckt, damit sie ihr das rote Papierarmbändchen, die weithin sichtbare Eintrittskarte, umlegen konnten. Ohne ein Wort an die beiden Frauen zu richten, war sie über den Töpfermarkt in Richtung Marktstraße davongestürmt.
Michelle war mit einer mintgrünen Strickjacke bekleidet, deren vordere Teile sie auf Höhe ihrer flachen Brüste krampfhaft zusammenhielt, als würde sie sich vor einem eisigen Wind schützen wollen. Mit gesenktem Haupt eilte sie durch die Bad Langensalzaer Innenstadt, vorbei an Ständen mit Töpferwaren, Salzprodukten, mittelalterlichem Kinderspielzeug, den Auslagen der Kürschner, Silberschmuck, den Kesseln der Färberinnen und unzähligen anderen Ständen von Händlern und Handwerkern, die ihre Waren feilboten. Um sie herum schlenderten die Besucher, viele von ihnen in mittelalterlichen Kostümen, neugierig von Bude zu Bude, ließen sich an den Tischen und Bänken vor den Bratereien, Weinschenken oder Hütten mit leckerem Naschwerk nieder oder suchten sich Plätze auf den Tribünen der zahlreichen Bühnen. Immer wieder musste Michelle Entgegenkommenden ausweichen, sich durch starre Massen zwängen, aufpassen, dass sie nicht in abrupt stehen bleibende Besucher hineinlief. Das Gedränge war so groß, dass sie niemandem auffiel.
Ihr Blick klebte am Kopfsteinpflaster. Sie wollte keine Bekannten treffen, vielleicht gar mit ihnen reden müssen. Vor der Marktkirche wäre sie fast in die Flugbahn des Messers eines kleinen Jungen gelaufen, der sich beim Axt- und Messerwerfen auf eine mit einem wilden Bären bemalte Spanholzplatte versuchte. Der entsetzte Schrei der Mutter ließ das Kind innehalten, sodass Michelle unversehrt, aber ohne weiter Notiz davon zu nehmen, passieren konnte. Vor dem in direkter Nachbarschaft stehenden Badehaus, einem überdachten Podest, auf dem für alle sichtbar zwei große runde Zuber mit Badewasser standen, drängten sich die Leute so dicht, dass Michelle Mühe hatte vorbeizukommen. Zwei vollbusige, nur mit einem Leinentuch um die schlanken Hüften bekleidete Schönheiten hatten den Anfang gemacht und waren kichernd in einen der Bottiche gestiegen. Da noch mindestens acht weitere Personen Platz darin finden konnten, herrschte derzeit reger Andrang vonseiten der männlichen Festbesucher. Als jedoch eine korpulente Dame mit viel zu engen gelben Bermudas, einem ausgeleierten Muskelshirt, schiefen Zähnen und einer billigen Tätowierung auf ihrer behaarten Wade an die Reihe kam, ihre brennende Zigarette mit ihren Flipflops austrat und bereits auf der kleinen Treppe zum Podest damit begann, sich komplett zu entkleiden, schwand das Interesse an der Abkühlung im Badezuber auffällig.
Michelle bemerkte auch das nicht. Zielsicher steuerte sie auf ein kleines, unscheinbares Rundzelt zu, dessen weißer Baldachin von einer Bordüre aus auf dem Kopf stehenden Zinnen gesäumt wurde. Kurz verharrte sie vor dem mit hellblauen Tüchern verschlossenen Eingangsbereich und schaute nachdenklich auf das seitlich daneben hängende verwitterte Holzbrett, auf dem in dicken dunkelroten Buchstaben das Wort »Handlesen« geschrieben stand. Dann drückte sie den Stoff beiseite und trat ein.
Die Luft im Zelt war heiß und stickig. Es herrschte ein etwas diffuses, aber angenehm warmes Licht, denn die Seitenwände waren mit riesigen gelben Tüchern ausstaffiert worden. An der hinteren Wand hing eine dunkelblaue Stoffbahn, auf der ein golden leuchtender Horoskopkreis, eingerahmt von Tausenden Sternen, zu sehen war. Davor stand ein mit einer roten Decke eingeschlagenes niedriges Bänkchen, auf dem zwei dicke weiße Kerzen brannten, deren Flammen sich in einer Kristallkugel von der Größe eines Handballs spiegelten. Direkt neben den Kerzen stand ein braunes aufgeklapptes Holzkistchen, in das ein Deck Tarotkarten einsortiert war, und ebenso ein tönernes Trinkgefäß mit ringsherum eingebrannten Runen. In der Mitte des mit dicken Teppichen ausgelegten Holzbodens gab es drei Fußbänke, auf denen jeweils ein braunes Schaffell lag, die sich um einen niedrigen Tisch gruppierten. Eine dunkelblaue Samtdecke mit einer aufgenähten strahlend hellen Sonne lag darauf. Eine zweite, kleinere Glaskugel und ein Salzstein mit Teelicht nahmen etwa ein Drittel der Tischplatte ein.
An der linken Seite saß eine Frau mit angewinkelten Beinen auf der Erde. Ihren Ellenbogen hatte sie halbschräg auf der hinter ihr stehenden Fußbank abgestützt. Der derbe Stoff ihres langen, am Oberkörper gerafften dunkelroten Kleides überdeckte wallend einen Teil ihrer nackten Füße. Ihre dunklen langen Haare hatte sie mit einem bunten Tuch zu bändigen versucht, an ihren Ohrläppchen trug sie Ohrringe in Form von Halbmonden. Um ihren schmalen Hals baumelten einige Lederbänder, an denen jeweils ein Edelstein aufgefädelt war. Rosenquarz, Malachit, Lapislazuli, Amethyst, Opal und Hämatit. Die Dame war höchstens Mitte vierzig, ausnehmend hübsch, hatte dunkle, warme Augen und lächelte Michelle freundlich an. Sie nickte auffordernd und gab ihrem Gast mit einer Handbewegung zu verstehen, dass sie direkt gegenüber Platz nehmen sollte.
»Möchtest du, dass ich dir die Karten lege?«
»Aus der Hand lesen, Karten gehen auch. Ich weiß nicht recht«, sagte Michelle hastig, während sie sich etwas unbeholfen auf einer der Fußbänke niederließ und ihr Kleid richtete. »Bitte.« Ihre Wangen erröteten leicht. Sie wagte es nicht, der Frau in die Augen zu sehen. Unsicher knispelte sie am obersten Knopf ihrer Strickjacke.
Die Dame nickte verständig, beugte sich nach vorn, nahm Michelles Hand, zog sie ein wenig zu sich herüber, drehte ihre Handfläche nach oben und streichelte sanft darüber. »Was möchtest du wissen?«
Michelle zuckte mit den Schultern. Ihr Gesicht war ausdruckslos, absolut gleichgültig. Sie fror.
Die Handleserin senkte den Kopf und betrachtete ausgiebig Michelles schmale Hand. »Du hast mit etwas Neuem begonnen. Es macht dir viel Freude.«
Michelle unterdrückte ein Nicken.
»Du bist sehr gut in dem, was du tust. Sehr gewissenhaft und ausdauernd. Du bist ein starker, glücklicher Mensch, das ist schön. Und du hast Pläne. Aber…« Sie stockte. Mehrmals strich sie über Michelles Hand, als könnte sie das Gesehene wegwischen, und ließ ihren Zeigefinger behutsam über die Handlinien gleiten. Dann etwas fester. »Du…« Sie kämpfte mit sich. »Du…« Die Worte schienen ihr im Hals stecken zu bleiben. Regungslos starrte sie auf die Handfläche.
Minuten vergingen ohne ein Wort. Irgendwann ließ sie Michelle abrupt los und wandte sich ab. »Ich kann nichts sehen. Geh jetzt«, sagte sie abweisend.
Als Michelle sich nicht rührte, wiederholte sie das Gesagte noch einmal energischer. Schließlich verschwand das Mädchen grußlos.
»Lieber Gott, steh ihr bei«, murmelte die Seherin leise, ehe der hellblaue Vorhang vor dem Eingang erneut zur Seite geschoben wurde und der nächste Kunde das Zelt betrat.
***
Timo Kohlschuetter stand am Fenster und schaute hinab auf den Bad Langensalzaer Kornmarkt. Es war Sonntagmorgen, und er war noch nicht angezogen, sah man von dem Paar enger schwarzer Shorts ab, in das er nach dem Duschen gestiegen war. In einer Hand hielt er ein großes Glas lauwarmes Wasser, von dem er immer wieder kleine Schlucke nahm, mit der anderen fasste er nach den unerwünschten Speckfalten an seinem Bauch. Dabei beobachtete er interessiert das Treiben unter dem Fenster. Eine Gruppe junger Männer, mehrere davon voll kostümiert mit Brust- und Rückenpanzern, Wappenröcken und Kettenhemden, trug eine ganze Batterie ziemlich echt aussehender Waffen in Richtung Rathaus. Schwerter, Streitäxte, Lanzen und Langdolche, zu Kohlschuetters Erstaunen wurde hier nahezu das ganze Spektrum mittelalterlicher Waffenschmiedekunst aufgeboten.
Schräg gegenüber, vor einem grünlichgelben Fachwerkhaus, welches das »K3Café und Restaurant« beherbergte, legte ein Gerber seine Waren aus. Beim Umrunden seines Standes wäre er beinahe über ein paar Strohballen gestolpert, die das Café als Begrenzung für seinen Außenbereich ausgelegt hatte. Der Mann fing sich wieder, plauderte angeregt mit ein paar Gästen, die sich nebenan zum Frühstück niedergelassen hatten, und fuhr mit seiner Arbeit fort. Kurz darauf gesellte sich ein junges Paar zu ihm an den Stand. Der glatzköpfige Mann war barfuß, nur mit einer Art Pumphose und einem riesigen schwarz-weißen Fell bekleidet, das über seinen nackten Schultern hing. Er erinnerte eher an einen Wildhüter aus der Mongolei als an einen mittelalterlichen Knecht. Die Frau sah mit Jeans und kurzem Hemd ganz normal aus.
Beim Bad Langensalzaer Mittelalterstadtfest ist anscheinend alles erlaubt, dachte Kohlschuetter schmunzelnd. Er war noch nie dabei gewesen, auch wenn er schon viel davon gehört hatte. Die Langensalzaer warben jedes Jahr landesweit für das angeblich größte und schönste Fest dieser Art in Thüringen. Irgendetwas musste da laut Lea, die er vor sechs Wochen auf einer Party bei einem Freund kennengelernt hatte, wohl auch dran sein. Die schnuckelige kleine Notfallsanitäterin aus dem hiesigen Hufeland Klinikum war gebürtige Bad Langensalzaerin und bekennender Fan des Mittelalterstadtfestes. Zu Kohlschuetters Erstaunen verstanden sie sich nach zwei Wochen gemeinsamem Urlaub an der holländischen Nordseeküste immer noch super, und das, obwohl sie täglich vierundzwanzig Stunden zusammen gewesen waren. Nach der anstrengenden Kiste mit Manuela, der Ernährungsberaterin aus seinem alten Fitnessstudio, die wie eine Klette an ihm geklebt und ihn mit ihrem permanenten Drängeln nach einer gemeinsamen Wohnung zur Weißglut gebracht hatte, empfand er die ungezwungene Nähe zu Lea als sehr angenehm. Die Kleine war irgendwie tough und schien eine ähnlich lockere Vorstellung von einer Beziehung zu haben wie er. Deswegen hatte er nicht eine Sekunde gezögert, ihre Einladung zum Mittelalterstadtfest anzunehmen. Obwohl sie gerade erst von der Nordsee zurückgekehrt waren.
»Hey, Süßer, warum hast du mich nicht geweckt?« Lea stand hinter ihm und legte zärtlich den Arm um seine Brust. Kohlschuetter zog instinktiv seinen Bauch ein, der vor dem Urlaub kein Gramm Fett aufgewiesen hatte, von ihm inzwischen aber zähneknirschend zur Problemzone herabgestuft wurden war. Ohne von ihm abzulassen, trat Lea neben ihn, küsste seine unrasierte Wange und schaute ihn kritisch von der Seite an. »Du siehst ziemlich fertig aus. Hast du schlecht geschlafen?«
Er grinste etwas verschämt. »Ich war laufen und bin jetzt wohl etwas ausgepowert. Nach dem Urlaub kein Wunder.«
Sie lächelte, gab ihm einen Klaps auf den Hintern, bewunderte ausgiebig den von ihm gedeckten Frühstückstisch und hockte sich mit hochgezogenen nackten Beinen auf einen der Stühle. Ohne zu warten, bis er sich ebenfalls gesetzt hatte, griff sie sich einen Apfel und biss herzhaft hinein. Die schwarzen Ringe unter ihren Augen verrieten, wie müde sie war.
Lea hatte im Anschluss an ihren Urlaub kurzfristig den samstäglichen Nachtdienst für eine Kollegin übernehmen müssen. Kurz nachdem sie heute Morgen gegen sechs zu ihm ins Bett gekrochen war, hatte er seine Laufschuhe angezogen und sich aus der Wohnung geschlichen. Ohne Probleme hatte er den Weg durch den Kurpark zur Promenade gefunden, die direkt an der mittelalterlichen Stadtmauer entlangführte. Dank der zwei trainingsfreien Wochen in Holland war er kaum bis zum Klagetorturm gekommen, als er das erste Mal verschnaufen musste, was ihm jedoch ausreichend Zeit bot, an einem Hinweisschild zu erfahren, dass der über dreißig Meter hohe Turm zu den wenigen noch vorhandenen Tortürmen Thüringens zählt. Er hatte sich erinnert, dass er irgendwann mal von der gut erhaltenen alten Stadtmauer gehört hatte, und spontan beschlossen, sein heutiges Sportprogramm daran auszurichten. Auch wenn er, untrainiert wie er war, Gefahr lief, beim letzten Turm vor Erschöpfung zusammenzubrechen.
Nach etwa fünf Kilometern hatte er, bei nur einer längeren Pause, die er mit schwerem Seitenstechen auf einer Bank vor dem Arboretum verbracht hatte, den gesamten mittelalterlichen Altstadtkern umrundet gehabt und dabei sechzehn Türme und ein Stadttor gezählt. Seine Beine waren so schwer gewesen, dass er Mühe gehabt hatte, sich unter Leas Dusche zu schleppen und das Frühstück zuzubereiten. Jetzt kam langsam wieder Leben in seine schlaffen Muskeln, und ein Hungergefühl machte sich in ihm breit.
»Du bist sicherlich nicht böse, dass ich heute Morgen nicht den Grill angeschmissen habe. Nach vierzehn Tagen Dauergrillen können wir mal eine Pause machen, oder?«, witzelte er, während er ihr gegenüber Platz nahm und den Deckel der Thermoskanne aufschraubte, um Kaffee einzuschenken.
Sie lachte auf und nahm erneut einen Bissen von ihrem Apfel. Der Saft lief ihr über das Kinn. Sie bemerkte es, errötete leicht und wischte ihn schnell mit dem Handrücken weg.
»Du hast kaum vier Stunden geschlafen. Wieso bist du nicht noch liegen geblieben?«, wollte Kohlschuetter wissen. Er schälte einen Kohlrabi und verfluchte insgeheim die Völlerei der letzten beiden Wochen, die seinen Magen dazu gebracht hatte, jetzt nach Rührei und Schinken anstatt nach Obst und Gemüse zu verlangen.
Lea winkte ab. »Ist schon okay. Ich bin einfach nicht zur Ruhe gekommen. Der Dienst war nicht so berauschend. Eine schwere Verbrennung am Spanferkelgrill auf dem Schlosshof, ein Kreislaufkollaps einer Hochschwangeren im Zelt der Wahrsagerin, ein gebrochenes Bein durch einen Sturz von der Bühne am Neumarkt, Verdacht auf Herzinfarkt am Badehaus…« Sie seufzte schwer.
Kohlschuetter hörte aufmerksam zu und war froh, dass er diesen Knochenjob nicht machen musste. Nicht weil ihn der Anblick von Blut, Eiter, Erbrochenem oder anderweitigen menschlichen Exkrementen abgeschreckt hätte. Davon bekam er als Kriminalhauptkommissar mehr als genug zu sehen– und das mitunter in den abartigsten und grausamsten Ausprägungen, die sich ein Mensch vorstellen konnte. Erstaunlicherweise, und das hätte er am Anfang seines Berufslebens nicht für möglich gehalten, entwickelte man als Kriminalist beinahe automatisch eine seltsam distanzierte Sicht auf die Opfer, vor allem, wenn es sich um Morddelikte handelte. Zumindest ging es Kohlschuetter so. Obwohl er nach wie vor mit einem mulmigen Gefühl im Bauch zu einem Tatort kam, wandelte sich dieses Gefühl, sobald er dort eintraf und ein toter Mensch vor ihm lag. Das Mitleid mit dem gewaltsam ausgehauchten Leben, der Schock und jeglicher Ekel traten in den Hintergrund und machten nackter Wut und dem unerbittlichen Streben nach Gerechtigkeit Platz. Eine Mordermittlung ließ keinen Raum für Sentimentalitäten. Der Ermordete, wie schlimm zugerichtet er auch sein mochte, hatte ein Recht darauf, dass sie jede normale menschliche Regung unterdrückten und seinen Peiniger der verdienten Strafe zuführten. Der Kollege Bernsen beherrschte dieses Spiel perfekt, er ermittelte nahezu kaltblütig, war rücksichtslos, kaltschnäuzig gegenüber Zeugen und Angehörigen und voller schwarzem Humor. Für Kohlschuetter war das manchmal etwas zu abgefahren, aber jeder hatte seine eigenen Methoden, mit dem Job zurechtzukommen. Was Leas Arbeit anging, so würde es ihm dabei ganz entscheidend an Geduld mangeln. Und vielleicht auch am Verständnis für die Kranken und Verletzten. Damit hatte er schon gegenüber Bernsen so seine Probleme.
»Und dann auch noch der Autounfall. Auf der B247 kurz vor Schönstedt hat sich einer um einen Baum gewickelt.«
Der Apfelkrebs landete auf ihrem Teller, und sie machte sich an der noch ungeöffneten Tüte mit dem Müsli zu schaffen.
»Wie viele Unfallbeteiligte?«, fragte Kohlschuetter interessiert und so abgeklärt, wie das nur ein Kripobeamter tun konnte.
»Nur der Fahrer des Wagens, ein Mann aus Weberstedt, Blarns oder so. Ich kannte ihn nicht«, antwortete sie nachdenklich. Etwas leiser ergänzte sie: »Komisch irgendwie.«
»Wieso komisch? Du kennst die Patienten doch sonst auch nicht.« Kohlschuetter steckte sich ein Stück Kohlrabi in den Mund und kaute langsam. Als sie nicht antwortete, hakte er nach. »Ist der Unfall auf freier Strecke passiert?«
Lea nickte. »Bei der Menge Alkohol, die der Mann im Blut hatte, wundert es mich, dass er in der Lage war, den Zündschlüssel herumzudrehen. Ich verstehe die Typen einfach nicht, die sich die Kante geben und meinen, sie müssten danach noch ins Auto steigen.«
»Das wird er sich demnächst vielleicht noch mal überlegen«, bemerkte Kohlschuetter gleichmütig.
»Er wird keine Gelegenheit mehr dazu haben. Er ist auf dem Weg in die Klinik gestorben.«
»Oh Mist. Das tut mir leid«, entgegnete Kohlschuetter verständnisvoll und griff nach ihrer Hand. Dabei streifte er versehentlich ihre Kaffeetasse, und ein großer Schwapp des Getränkes landete auf dem Set aus hellem Bast. Verlegen nahm er seine Serviette und tupfte alles auf. Lea schien das Malheur gar nicht zu registrieren.
»Lass mal, Timo, das passiert mir nicht zum ersten Mal. Das ist mein Job«, antwortete sie gereizt, wobei ihr leicht verzerrter Mund erkennen ließ, dass sie seinen versuchten Trost als unnötig empfand. »Aber willst du wissen, was echt scheiße war?« Sie wartete nicht auf seine Antwort. »Dieser Arsch von Notarzt. Talter. Du weißt schon.«
Kohlschuetter wusste nicht, er war sich sicher, dass sie den Namen noch nie erwähnt hatte, sparte sich aber die Nachfrage, aus Sorge, er könnte irgendetwas überhört haben, was sie als mangelndes Interesse auslegen würde.
»Damit die Feuerwehr den Mann aus dem Auto hieven konnte, musste seine Hose dran glauben. Von dem Auto war aber auch wirklich nicht mehr viel übrig, alles komplett eingedellt.« Sie warf Kohlschuetter einen unsicheren Blick zu, so als fragte sie sich, ob er derartige Details beim Frühstück ertragen konnte. Er verzog keine Miene. »Das war so ein knielanges Joggingteil mit ausgeleiertem Gummizug«, sagte sie geistesabwesend.
Kohlschuetter dachte daran, dass er einige ihrer Ferienhausnachbarn während des gesamten Urlaubes nie anders gekleidet gesehen hatte als in dieser Art Schlabberbermuda, die der halben Welt Gelegenheit gab, bei jeder Bückbewegung ausgiebig die behaarte Gesäßspalte ihrer Träger begutachten zu können. Angewidert schob er den Gedanken beiseite und nickte. »Modell holländische Nordseeküste.«
Lea verzog den Mund zu einem flüchtigen Lächeln. »Talter nannte es ganz ungeniert einen Proletenlumpen. Na ja, der Mann war schwer verletzt und blutete stark. Wir mussten die Blutung lokalisieren und haben ihm auch die restlichen Klamotten aufgeschnitten.« Sie hielt einen Moment inne, um konzentriert die Rosinen aus ihrem Müsli zu puhlen. Als sie alle restlos aus ihrer Schüssel entfernt hatte, goss sie Milch darüber.
Kohlschuetter fragte sich, wieso sie ihr Müsli nicht gleich ohne Rosinen kaufte.
»Der hatte keine Hoden«, ergänzte Lea unvermittelt.
Kohlschuetter, den diese Information kaltließ, griff nach ihrem Teller mit den Rosinen und dem Apfelrest, entsorgte Letzteren im Tischmülleimer und kippte die Rosinen in seine Müslischale. »Vielleicht hatte der Mann Krebs? Oder einen Unfall? So etwas ist zwar nicht alltäglich, aber auch nichts komplett Ungewöhnliches.«
»Ich habe das noch nie erlebt«, entgegnete Lea sichtlich irritiert.
»Was? Männer mit amputierten Eiern?«, platzte es etwas zu hämisch aus ihm heraus.
»Quatsch.« Sie schaute ihn gekränkt an. »Natürlich weiß ich, wie so etwas aussieht. Ich habe aber noch nie erlebt, dass sich ein Notarzt darüber lustig macht. Mensch, Timo, der Mann hat noch gelebt, und der blöde Talter spricht die ganze Zeit vom Kastraten. Das war widerlich. Da hättest du auch die Krise gekriegt. Das geht absolut gegen meine Berufsehre. Und der Typ ist Arzt.«
»Stimmt. Da wäre ich auch sauer geworden«, sagte Kohlschuetter und dachte an Bernsen, dem derart pietätlose Sprüche ebenfalls zuzutrauen waren. »Aber du weißt doch, wie Männer sein können, vor allem, wenn sie auf einen schwächeren Geschlechtsgenossen treffen. Und ein Entmannter, na ja…«
»…ist kein richtiger Mann?«, vollendete sie verärgert Kohlschuetters Satz.
»Blödsinn«, widersprach er energisch. »Das habe ich nicht gemeint. Es gibt eben Männer, die sich über ihre Geschlechtsorgane definieren, und wenn dein Talter so einer ist und auf einen Gehandicapten trifft, macht er sich wichtig.«
»Ist mir egal, was er für einer ist. Solche Sprüche gehen gar nicht, wenn derjenige verletzt vor einem liegt und um sein Leben kämpft.« Sie schaute ihn wütend an.
»Keine Frage. Ist dieser Talter immer so?«
Sie nickte, und ihr Blick schweifte wieder in die Ferne. »Dieses Verhalten ist nicht zu entschuldigen. Dann war die Narbe auch noch ziemlich alt und nicht besonders schön. Der Mann war um die fünfzig und muss schon ewig damit rumgelaufen sein. Das sah alles einfach nur schrecklich aus. Seine arme Frau.«
»Aha«, machte Kohlschuetter lakonisch und versuchte, gegen sein Kopfkino anzukämpfen. Selbst ein hartgesottener Polizeibeamter hatte seine Grenzen, vor allem bei so was. »Wann wollen wir eigentlich auf das Fest?«, erkundigte er sich, um vom Thema abzulenken.
Sie schwieg.
»Hallo, schöne Frau. Der Sonntag ist viel zu herrlich, um ihn sich von diesem niveaulosen Notarzt verderben zu lassen.« Er hielt ihr lockend eine Erdbeere vor den Mund, und als sie die Lippen öffnete, schob er sie hinein.
»Du hast recht«, antwortete sie mit einem strahlenden Lächeln, das ihm den Anblick der zermatschten Frucht ermöglichte.
»Kipp etwas Milch nach, dann sieht es noch appetitlicher aus«, witzelte er.
Sie lachte auf.
Der Tag war gerettet. Vorerst.
***
Das entsetzte Aufschreien der Leute war schon aus der Ferne deutlich zu hören gewesen. Lea hatte Kohlschuetter an der Hand gefasst und ihn geradewegs durch den Pulk der Menschen gezogen, die sich im Schatten der großen Marktkirche versammelt hatten. Um sie herum kreischten und lachten die Schaulustigen, manche legten erstaunt eine Hand vor den Mund, andere wandten sich angeekelt ab. Zwei Frauen juchzten auf: »Das ist ja noch besser als die Feuershow gestern Abend auf dem Töpfermarkt!«
Ein danebenstehendes Paar stimmte ihnen lautstark zu.
In der Mitte der Massen stand weithin sichtbar ein Mann auf Stelzen, der auch ohne die Holzstangen ein Riese sein musste. Er trug einen weiten blauen Umhang, der bis zu den Querstangen reichte, auf denen seine Füße positioniert waren, und der mit Goldapplikationen und Phantasiesymbolen bestickt war. Seinen Kopf zierte ein ebenfalls blauer Zaubererhut, der kerzengerade rund einen Meter in den Himmel ragte und Kohlschuetter mit seiner überbreiten Krempe ein wenig an die Kostüme aus dem Musical »Wicked– die Hexen von Oz« erinnerte. Die Wangen des Mannes leuchten dunkelrot, so viel Rouge hatte er aufgetragen. Auch seine Augenbrauen waren übermäßig breit mit tiefschwarzer Farbe nachgezeichnet und wanden sich an den äußeren Enden nach oben wie der Schnurrbart eines Zirkusdirektors aus den 1920er Jahren. Immer wieder griff er in seine linke Hand, zog eine gelbe Bohne hervor, hielt sie dem Publikum zur Begutachtung entgegen, verneigte sich mit salomonischem Gemurmel und ließ sie unter den lauten Ah- und Oh-Rufen der Menschen in den Öffnungen seines Kopfes verschwinden. Eine Bohne nach der anderen landete in seinen Ohren und in den Nasenlöchern. Als die Tränendrüsen an die Reihe kamen, nahm das Lärmen der Zuschauer deutlich zu. Es endete in tosendem Applaus, als der Zauberer die Bohnen nacheinander durch seinen Mund wieder ausspuckte. Mit flinken Fingern wiederholte er das Kunststück noch einmal, um sich anschließend tief zu verneigen und mit unübersehbarer Genugtuung die Begeisterungsstürme der Menge zu empfangen.
Kohlschuetter schaute mit einer Mischung aus Bewunderung und Mitleid auf den Künstler und überlegte, was der Mann wohl in seinem richtigen Leben von Beruf war, vorausgesetzt, er hatte noch ein anderes. Aber dass es eine Berufung sein konnte, sich Bohnen in die Nase zu schieben, wollte dem zuweilen durchaus als konservativ zu bezeichnenden Kohlschuetter beim besten Willen nicht einleuchten. Der Mann praktizierte eine Unart, die jede Mutter ihren Kindern bereits im Kindergartenalter strengstens untersagte.
Obendrein war das, was er in den letzten zwei Stunden gesehen hatte, alles in allem ziemlich abgefahren gewesen. Erwachsene Männer und Frauen, die aufwendig verkleidet tanzten, musizierten oder mit den Besuchern Schabernack trieben, kreischende Marktweiber mit hervorquellenden Brüsten, Gaukler und Ritter sowie kräftige Burschen, die eifrig längst vergessen geglaubte Handwerkskunst präsentierten, Falkner, Henker, Bettler und allerlei Scharlatane waren darunter gewesen. Durch alle Straßen und Gassen strömten die unterschiedlichsten Düfte, die wenig mit den Ausdünstungen der modernen Zivilisation gemein hatten. Es roch nach Kräutern, Bienenwachs, Räucherwerk und Ölen, zuweilen übertüncht von dem verlockenden Duft nach gebratenem Spanferkel, Würsten, Sauerkraut, frischem Sauerteigbrot und dem süßlich-schweren Aroma mittelalterlichen Mets. All das präsentierte sich vor der Kulisse farbenprächtiger Patrizierhäuser und wirkte so echt, als hätte man die Bad Langensalzaer Innenstadt in eine andere Zeit versetzt. Kohlschuetter kam sich mit seiner Jeans, dem T-Shirt und den Sneakers zuweilen etwas deplatziert vor. Er ertappte sich sogar dabei, wie er verstohlen zu den kleinen Fenstern der Fachwerkhäuser hinaufschielte, in der Erwartung, jemand könnte versuchen, einen Nachttopf über ihm zu entleeren. Es hätte ihn keinesfalls gewundert.
»Jetzt aber los«, forderte Lea entschlossen. »Wir verpassen sonst das Finale der Salzaer Spiele auf dem Töpfermarkt.« Sie drehte ab.
Kohlschuetter, der sich von ihrer Begeisterung langsam anstecken ließ, legte seine Hand auf ihren schmalen Rücken und führte sie durch das dichte Gedränge. Im Augenwinkel sah er, wie keine zwei Meter von ihm entfernt zwei Ritter mit Morgensternen aufeinander einschlugen, während ein Dudelsackspieler neben ihnen herlief und seine Weisen spielte. Mit Sicherheit war das die Werbetruppe für die auf dem Kornmarkt stattfindende Rittershow, deren Vorbereitungen er heute Morgen von Leas Küchenfenster aus beobachtet hatte.
Der Töpfermarkt lag auf der anderen Seite der Marktkirche und war ein kleiner, mit Granit und Travertin gepflasterter Platz, der von Linden mit kastenförmig gestutzten Kronen umsäumt wurde und an dessen abschüssiger Seite ein sanft plätschernder Wasserlauf lag. Überall in der Altstadt fanden sich diese kaum einen halben Meter breiten Rinnen, die aus den wieder geöffneten historischen Mühlströmen des Flusses Salza hervorgingen oder als neu angelegte Bachläufe an Bad Langensalzas Zeit als bedeutender Mühlenstandort erinnerten.
An normalen Tagen war der Töpfermarkt ein beschauliches Plätzchen innerhalb der eng bebauten Altstadt. War Mittelalterstadtfest, wurde er mit seiner großen Bühne und dem abwechslungsreichen Musik- und Showprogramm zu einer der Hauptattraktionen des Marktes. Und zur Arena, für deren authentisches Aussehen die Stadtväter tonnenweise Sand aufschütten und Tribünen aufstellen ließen.
In der Mitte des Turnierplatzes fiel Kohlschuetter sofort ein seltsames Gerät ins Auge, das ihn an den Teil seines Schulsportunterrichtes erinnerte, den er lieber ausblendete. Es handelte sich um einen extralangen Schwebebalken, der sich von dem Turngerät allerdings dadurch unterschied, dass etwa zwei Meter über dem Balken eine Holzstange angebracht war, an der an dicken Hanfseilen und in einigem Abstand zueinander sechs prall gefüllte Mehlsäcke baumelten. Auf das Kommando eines Zisterziensermönches, dem zwei Adjutanten in Kniehosen zur Seite standen, postierten sich jeweils drei junge Männer auf der rechten und linken Seite und ergriffen jeder einen Sack, den sie so weit wie möglich zu sich heranzogen. Ein siebter Mann bestieg den Balken und schaute erwartungsvoll in die Runde. Der Mönch gab das Zeichen, und der Bursche rannte los, während die anderen versuchten, ihn mit den kraftvoll zur Mitte gestoßenen Säcken zu Fall zu bringen.
»Es geht um die Zeit, die man braucht, und natürlich darum, durchzukommen«, erklärte Lea und drängelte sich zwischen den Zuschauern hindurch. »Sechs Mannschaften aus den Bad Langensalzaer Ortsteilen Illeben, Grumbach, Nägelstedt, Ufhoven, Wiegleben und vom Kulturverein Stadtmauerturm treten in vier Disziplinen gegeneinander an. Als da wären: Mehlsackhochwurf über eine stetig höher wandernde Stange, ›Über und unter die Schnur‹, wobei zwei Mannschaften versuchen müssen, so viele Kohlrabis und Mehlsäcke wie möglich ins gegnerische Spielfeld zu werfen, und die Nadel im Heuhaufen suchen. Das ›Teufelswerk‹, so heißt das Teil dort«, sagte sie, auf den Schwebebalken zeigend, »ist der Höhepunkt des Turniers.«
Kohlschuetter scannte die Tribünen in der Hoffnung, irgendwo zwei freie Plätze zu ergattern. Ohne Erfolg. Er hatte die ganze Zeit Leas Hand gehalten und stand dicht neben ihr, als sich ein anderer Mann, der ein brabbelndes Kleinkind auf seinen Schultern trug, vor ihn stellte. Kohlschuetter verkniff sich eine Bemerkung und trat einen Schritt zur Seite, um besser sehen zu können. Der erste Läufer hatte es geschafft, sprang mit einem Satz vom Balken, riss die Hände nach oben, rannte zu seiner Mannschaft und klatschte einen nach dem anderen ab. Dabei brüllten sie einander undefinierbare Schlachtrufe zu.
»Der Nägelstedter Recke bleibt wohlbehalten. Pfeilschnell bezwang er als Erster das gefährliche Teufelswerk in nur vier Komma zwei Sekunden. Es trete nun der Wieglebener hervor und beweise seinen Mut«, rief der Mönch mit bebender Stimme, begleitet vom Applaus und den Jubelschreien der Zuschauer. Einer seiner Gehilfen notierte die Zeit. Der andere konnte seine Begeisterung kaum verbergen.
Ein junger Mann, höchstens achtzehn Jahre alt, war an der Reihe. Leichtfüßig hüpfte er auf den Schwebebalken, richtete sich auf, schaute selbstsicher ins Publikum und zwinkerte ein paar jungen Mädchen zu, die ihn aus der ersten Reihe anhimmelten und unaufhörlich kicherten. Nachdem der Bursche die Aufmerksamkeit ausgiebig genossen hatte, gab der Mönch das Startsignal.
»Wiegleben gewinnt!«, rief irgendjemand aus Leibeskräften.
Der Kerl war schneller als sein Vorgänger. Er hatte den dritten Sack schon nach zwei Sprüngen erfolgreich hinter sich gelassen. Der nächste verfehlte ihn nur um Haaresbreite. Ein Raunen ging durch die Menge. Kohlschuetter bemerkte, wie Lea voller Spannung die Luft anhielt. Der fünfte Sack schnellte in erstaunlichem Tempo auf den Jungen zu, erwischte ihn an der Hüfte und schleuderte ihn zu Boden. Bei seinem Aufprall stob der Sand auf. Freudenrufe aus der Nägelstedter Ecke wurden laut. Dazwischen mischten sich Klagelaute des Wieglebener Teams.
Die Kollision mit dem Spieler hatte den Sack erstaunlicherweise nur wenig abgebremst. Er schwang zurück, löste sich aus seiner Befestigung und landete unsanft auf dem jungen Mann, der gerade dabei war, sich unter den Anfeuerungsrufen seines Fanclubs mühsam wieder aufzurappeln. Die unerwartete Wucht streckte ihn erneut nieder. Sein Aufschrei wurde von frenetischem Gejohle übertönt. Gelächter machte sich breit.
Mit dem Aufprall hatte sich der Sack geöffnet. Ein Turnschuh kullerte heraus. Dann kam etwas, das wie eine menschliche Hand aussah, zum Vorschein. Die Zuschauer waren kaum noch zu halten. Bravorufe hallten über den Töpfermarkt. Nur die drei Verantwortlichen und die Teams standen regungslos und schauten sich mit versteinerten Gesichtern verunsichert an.
Der Mönch war der Erste, der reagierte. Kreidebleich umrundete er den Schwebebalken, wobei sich seine Beine immer wieder in der langen Kutte verhedderten und er in dem dicken Sand nur schwerfällig vorankam. »Der Arm ist echt«, schrie er fassungslos, warf sich auf die Knie und zog den Sack mit angewiderter Miene von dem regungslos daliegenden Läufer der Wieglebener Mannschaft. »Das ist keine Puppe. Hört doch, das ist keine Puppe.« Er schaute sich immer wieder hilfesuchend um, während er an den Schultern des Wieglebeners rüttelte, auf dessen Stirn eine blutende Platzwunde zu sehen war. »Wir brauchen Hilfe. Schnell! Der Junge hat eine Leiche an den Kopf bekommen.«
Mit dem letzten Satz geriet das Publikum vollständig aus dem Häuschen, denn es hielt das Ganze für ein ausgezeichnet inszeniertes Schauspiel und war in seiner Euphorie kaum noch zu bremsen.
Kohlschuetter fasste nach Leas Arm und schaute sie beunruhigt an. Sie schloss kurz die Lider, als wollte sie ihm sagen, sie habe ebenfalls das Gefühl, dass hier irgendetwas nicht stimmte. Und so drängelte er sich mit breitem Kreuz, festem Schritt und unter dem immer wieder monoton vorgetragenen Hinweis auf seine Zugehörigkeit zur Thüringer Polizei durch die Menschenmassen hindurch in Richtung Teufelswerk. Der Blick des Mönches, dem die Farbe mehr und mehr aus dem Gesicht wich, schwankte zwischen Verzweiflung und Dankbarkeit, als er ihn auf sich zukommen sah. Kohlschuetter bückte sich zu dem Wieglebener hinunter, fühlte dessen Puls und nickte dem Mönch aufmunternd zu. Während er die Nummer des Rettungsdienstes wählte, versuchte Lea, den bewusstlosen Jungen wieder zum Leben zu erwecken. Der Mönch zog ein Taschentuch aus einem kleinen Beutel, der an seinem Gürtel baumelte, wischte sich über die schweißnasse Stirn und jammerte leise vor sich hin. Zwei Spieler waren nach vorn getreten und fragten, ob sie helfen könnten. Lea schickte sie Wasser und eine Decke holen.
Kohlschuetter, der mit der einen Hand sein Mobiltelefon ans Ohr drückte und den Sanitätern den Standort durchgab, zog mit der anderen Hand das Sackleinen leicht nach oben, um hineinsehen zu können. Zwei starre, leere Augen schauten ihn an. Ohne eine erkennbare Regung zupfte er den groben Stoff zurecht, um so wenig wie möglich von seiner Entdeckung preiszugeben. Dabei bemerkte er Leas verstörten Gesichtsausdruck, schüttelte sanft den Kopf und deutete auf den Mönch, der immer noch apathisch zwischen ihnen hockte und auf den Sack starrte. Lea verstand, wandte sich dem Mann zu und versuchte, ihn in ein Gespräch zu verwickeln, während sie den Wieglebener sanft tätschelte. Kohlschuetter konnte jetzt alles Mögliche gebrauchen, aber keinen hysterischen Zisterzienser, der die Menschenmassen weiterhin auf den Toten im Mehlsack aufmerksam machte.
Angesichts der nunmehr offenkundigen Geschäftigkeit, die sich um das Teufelswerk herum gebildet hatte, verstummte die Heiterkeit der Leute zunehmend. Viele zogen weiter. Wie in einer La-Ola-Welle schien einer nach dem anderen mitzubekommen, dass das Spiel beendet war und hier etwas Schreckliches passiert sein musste. Das hielt einen Großteil nicht davon ab, das Geschehen auf dem Platz mit neugierigen Augen und aufgerissenen Mündern zu verfolgen, als handelte es sich immer noch um eine harmlose Volksbelustigung. Etliche Handys wurden gezückt. Die Helfer des Mönchs erklärten den Wettkampf kurzerhand für beendet, gingen auf die um das Teufelswerk dicht gedrängten Zuschauer zu und forderten sie zum Weitergehen auf. Einige Frauen schrien durcheinander. Ein Mann rief: »Das haben wir nun von den ganzen Flüchtlingen.« Ein anderer stimmte ihm lautstark zu. Ein paar Leute traten mit vorgehaltenen Handys aus dem Pulk hervor, wobei einer von ihnen fast über die Füße des gestürzten Wieglebeners gestolpert wäre. Ganz offensichtlich filmten sie das Ganze.
Kohlschuetter blaffte die Filmenden an, warf den penetranten Gaffern einen scharfen Blick zu und appellierte mit durchdringender Stimme an deren Vernunft. Die Teamkollegen des Wieglebeners und die gegnerischen Mannschaften kamen Kohlschuetter zur Hilfe. Sie verstellten den Zuschauern die Sicht und wiesen auf die anderen Attraktionen des Mittelalterstadtfestes hin, bei denen im Moment viel Interessanteres geboten würde. Die Ränder der Menschentraube fransten zusehends aus, kleine und große Gruppen zogen unter aufgeregten Diskussionen von dannen. Nur ein hartgesottener Kern, der sich weder von Kohlschuetter noch von den Spielern beeindrucken ließ, blieb. Dabei galt die Neugier schon lange nicht mehr dem Verletzten, der inzwischen mittels einer Bewegung seines Armes eindeutige Lebenszeichen gezeigt hatte, sondern dem undefinierbaren Inhalt des Sackes.