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Ein Politiker braucht ein dickes Fell und muss einen Shitstorm aushalten können. Wer dem Unmut der Bürger nicht durch geschickte Selbstvermarktung begegnen kann, dem bleibt nur, seinen Hut zu nehmen. Was aber, wenn ein Rücktritt ausgeschlossen ist – wie bei einem Kaiser des römischen Weltreichs? Tiberius (14–37 n. Chr.) hatte nicht dieses »dicke Fell«. Ein Rückzug ins Privatleben war für ihn nicht vorgesehen, und so entzog er sich nicht seinen Pflichten, wohl aber der Öffentlichkeit, flüchtete sich nach Capri. Aber war der Augustus-Nachfolger tatsächlich ein schlechter Regent? Was ist dran an den Exzessen, über die römische Geschichtsschreiber berichten? Holger Sonnabend zieht in dieser Biografie Bilanz. Er ergründet die politischen Leistungen des zweiten römischen Kaisers und verfolgt seinen Lebensweg. Es entsteht das Bild eines klugen und weitsichtigen, zugleich aber komplizierten und unglücklichen Mannes, der wegen seiner mangelnden kommunikativen Fähigkeiten das Volk verlor.
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wbg Philipp von Zabern ist ein Imprint der wbg.
© 2021 by wbg (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt
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Lektorat: Melanie Kattanek, Hemmingen
Satz: Arnold & Domnick, Leipzig
Frontispiz: Blick auf Marina Piccola an Capris Südküste.
Foto: akg-images/picture alliance/Paul Mayall.
Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier
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Innentitel
Inhaltsverzeichnis
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Impressum
Vorwort des Herausgebers
Tiberius – Herrscher ohne Volk
1. Konstrukt oder Realität?
2. Abschied aus Rom
3. Der lange Weg zur Macht
4. Herrschaftsantritt
5. Kaiser Tiberius – Die ersten zwölf Jahre
6. Capri – Die letzten elf Jahre
7. Tiberium in Tiberim! – Der Tod des Kaisers Tiberius
8. Wer war Tiberius?
9. Tiberius 21
Anmerkungen
Daten und Fakten
Stammbaum: Die julisch-claudische Familie
Abkürzungen
Quellen und Literatur
Register der Personen und Orte
„Biographien haben Konjunktur“, schrieb vor einiger Zeit der Autor einer sehr erfolgreichen Lebensbeschreibung. Er hätte auch schreiben können: Biographien hatten und haben immer Konjunktur; denn dies gilt seit der griechisch-römischen Antike.
Herausragende Gestalten interessieren den Menschen seit über zwei Jahrtausenden. Viele Autoren sind schon damals als Biographen berühmt geworden, wie der römische Schriftsteller Sueton, der in der ersten Hälfte des 2. Jahrhunderts n. Chr. wirkte. Sueton stellte ein großes Werk „Über bedeutende Persönlichkeiten“ zusammen, das in fünf Abteilungen Dichter, Redner, Historiker, Philosophen und Grammatiker umfasste. Es gab allerdings auch ein Buch über berühmte Hetären. Sueton trug zusammen, was er in den unterschiedlichsten Quellen fand: Literarische und inschriftliche Belege, Archivmaterial – er war zeitweise Sekretär des Kaisers Hadrian (117– 138 n. Chr.) gewesen –, offizielle Verlautbarungen mit amtlichen Nachrichten und Memoirenliteratur. Und er interessierte sich für Klatsch und Gerüchte und hatte geradezu eine Vorliebe für Wundergeschichten aller Art. Dem antiken Autor ist später immer wieder vorgeworfen worden, er erfasse nicht das Innere des Menschen – wie sollte dies überhaupt möglich sein? – und interessiere sich nicht für die großen Zusammenhänge, ja es ist sogar von einem Verfall der antiken Geschichtsschreibung die Rede, die sich bei ihm drastisch bemerkbar mache. Ob dies alles so zutrifft, sei dahingestellt. Was auf jeden Fall nicht zu bestreiten ist: Suetons Darstellungsweise sollte in Zukunft zur herrschenden Form der Geschichtsschreibung werden.
In seiner Wirkung auf die Nachwelt steht der griechische Philosoph und Biograph Plutarch aus Chaironea diesem Sueton nicht nach. Aus seinem gewaltigen Werk, das er um die Wende vom 1. zum 2. nachchristlichen Jahrhundert verfasste, ragen seine historischen Biographien heraus. Als Grundkonzeption ging Plutarch davon aus, dass Griechen und Römer ebenbürtig seien. Daher stellte er die Lebensläufe je eines Griechen und eines Römers zu Parallel-Biographien zusammen, insgesamt 23 Paare. Damit wollte er auch zur Verständigung der beiden, jeweils von zahlreichen Vorurteilen belasteten, Bevölkerungsgruppen beitragen.
Das Schema, dass die antike Biographen ihren Darstellungen zugrunde legten, war einfach, denn es entsprach dem Ablauf des menschlichen Lebens: von der Herkunft und Geburt, über Kindheit mit Erziehung und Bildung, der öffentlichen Karriere und den damit verbundenen historischen Taten, bis zum Tod. Im Zentrum standen die politischen, in christlicher Zeit kirchen-politischen, militärischen und gegebenenfalls intellektuellen Leistungen.
Während die antiken Autoren die Zeit- und Lebensumstände ihrer Helden bei ihren Lesern weitgehend voraussetzen konnten, ist dies für die Gestalten der Antike längst anders. Der heutige Historiker muss gegenüber dem antiken Geschichtsschreiber seine Personen stärker in ihre Zeit und deren Gesellschaft einbinden. Doch dies hat auch einen Vorteil: Auf diese Weise werden spannende Lebensgeschichten vorgestellt, und zugleich entsteht ein Panorama der damaligen Zeit.
Das menschliche Leben, jedes menschliche Leben, ist ein Roman, an dem der Betroffene selbst ‚schreibt‘ und sein Biograph dies fortsetzt. Lebensbeschreibungen müssen also, dies gilt für die Antike mehr als für neuere Zeiten, wie ein Roman geschrieben werden, denn die Biographen antiker Persönlichkeiten stoßen bei ihren Arbeiten immer wieder auf Leerstellen.
Für vieles, vielleicht sogar für das meiste, was heutige interessieren, besitzen wir keine Quellen, die kaum mehr als Splitter des vor langer Zeit verflossenen Lebens bieten. Hier ist der Historiker gefordert, hier sind dann seine Erfahrung und Phantasie gefragt, geht es doch oft, wie Pierre Bourdieu es formulierte, um eine „biographische Illusion“. Und da die so geforderte Phantasie, auch wenn sie auf systematischer Kenntnis der antiken Zeugnisse beruht, nicht gelehrt werden kann, gibt es immer wieder neue Lebensbeschreibungen ein und derselben Persönlichkeit.
Jede Biographie zu einer bestimmten Person ist anders, weil die schreibenden Historiker unterschiedliche Schwerpunkte setzen und unterschiedliche methodische Zugänge wählen. Historische Erkenntnis hängt wesentlich von den Zeitumständen ab, in denen die Fragen gestellt werden, und von den Personen, welche die Fragen stellen. So erklärt sich auch, dass immer wieder neue Biographien verfasst werden, ja verfasst werden müssen. Jeder schreibt seinen eigenen Alexander, Caesar, Augustus, Konstantin oder seinen eigenen Tiberius.
Hossenberg, im Herbst 2020
Manfred Clauss
Porträt des Tiberius aus Caere (Cerverteri)
Tiberius war nach Augustus der zweite römische Kaiser. Seine Nachfolger hießen Caligula, Claudius und Nero. Augustus war eine Lichtgestalt. Caligula und Nero gelten als Exzentriker, als Despoten und Tyrannen. Claudius regierte ordentlich und ohne großes Aufsehen. Und welche Rolle spielt Tiberius? Welchen Platz unter den ersten römischen Kaisern soll man ihm zuweisen? In der allgemeinen Wahrnehmung, die sich auch an einer nicht besonders hohen Zahl moderner Biographien ablesen lässt, tritt er hinter Augustus, Caligula und Nero zurück. Das hat damit zu tun, dass er nicht über die dauerhaften Ruhm begründende Strahlkraft verfügte. Und auch damit, dass er nicht das nötige Glück hatte. Aber er war ein solider, gewissenhafter, pflichtbewusster Arbeiter. Doch das kam bei den Römern nicht so an.
Schon der Anfang seines Lebens hätte in eine bessere Zeit fallen können. Als Tiberius geboren wurde, herrschte Krieg. Einige Monate zuvor war der Dictator Iulius Caesar einem Attentat zum Opfer gefallen. Seine Anhänger und seine Gegner führten daraufhin einen erbitterten Bürgerkrieg. Tiberius, kaum auf der Welt, war auf der falschen Seite, weil sich sein Vater für die späteren Verlierer entschieden hatte. Zum Glück heiratete der Sieger seine Mutter. So gelangte Tiberius, ohne sein Zutun, in den engsten Zirkel der Macht. Und hier bewährte er sich vor allem in militärischer Hinsicht. Viele Triumphe, die Kaiser Augustus feierte, hatte er seinem Feldherrn Tiberius zu verdanken. Doch dann verließ der gefeierte Triumphator Rom und verbrachte mehrere Jahre fern der Hauptstadt im selbstgewählten Exil auf der griechischen Insel Rhodos.
Erst mit 55 Jahren wurde er Kaiser, als Nachfolger seines Stief-, Schwieger- und Adoptivvaters Augustus, der die alte römische Republik in eine Monarchie verwandelt hatte. Durch seine militärischen Erfolge hatte sich Tiberius den Ruf eines herausragenden Soldaten erworben. Doch die Herrschaft über das römische Imperium war von anderem Kaliber. Für Augustus war die Alleinherrschaft maßgeschneidert, für Tiberius nicht. Lange, zu lange hatte er warten müssen, und er war auch nicht erste, nicht einmal zweite Wahl. Er kam deutlich zu spät an die Macht. Das war keine gute Ausgangsposition, zumal sein Vorgänger eine ansehnliche Leistungsbilanz aufzuweisen hatte. Außerdem war Augustus ein Meister der Selbstdarstellung gewesen. In einer Gesellschaft, in der Formen wichtiger waren als Inhalte, war diese Begabung eine wesentliche Voraussetzung für erfolgreiches Herrschen. Tiberius gab sich alle Mühe. Eine Fehlbesetzung war er nicht. Im Gegenteil: Er brachte politisch einiges in Bewegung, mehr als viele andere römische Kaiser nach ihm. Er sorgte allein dadurch, dass er die Nachfolge des Augustus antrat, für Stabilität und Kontinuität des neuen politischen Systems. Aber die Herzen des Volkes flogen ihm nicht zu. So blieb er ein unglücklicher, ein »trauriger« (Zvi Yavetz) Kaiser und zog sich für die letzten Jahre seines Lebens auf die Insel Capri zurück.
Als er im Alter von 77 Jahren starb, freute sich das Volk und forderte, den Leichnam des Tiberius in den Tiber zu werfen. Dies blieb ihm letztlich erspart. Erspart blieb ihm auch, lesen zu müssen, was antike Schriftsteller und auch moderne Historiker später über ihn schrieben. Ein Kaiser ohne Charakter und Moral sei er gewesen, brutal, grausam, heuchlerisch und zu Exzessen aller Art neigend. Christliche Autoren urteilten milder. Tiberius war Kaiser, als Jesus Christus wirkte und starb. Und so erklärten sie ihn zu einem Freund und Förderer der Christen.
Warum kam Tiberius beim Volk nicht an – weder bei den oberen noch bei den unteren Schichten? Was hat er für Rom getan, welchen Platz nimmt er in der römischen Geschichte ein? Warum gehört er nicht wie Augustus oder Nero zu jenen, die sofort genannt werden, wenn von römischen Kaisern die Rede ist? Welchen Anteil hatte er daran, dass unter seiner Herrschaft der Siegeszug des Christentums begann?
Die Antworten auf diese Fragen ergeben das Porträt einer klugen, verantwortungs- und pflichtbewussten, menschlich und kommunikativ jedoch komplizierten Persönlichkeit sowie das faszinierende Bild einer ereignisreichen und wichtigen Phase der Geschichte des antiken Rom. Und die Biographie des Kaisers Tiberius offenbart als aktuelle Botschaft aus der Vergangenheit das Dilemma eines führenden Politikers, dem das Volk abhanden kam. Vor dem Hintergrund heutiger Diskussionen um Nähe und Ferne zwischen Regierenden und Regierten ist eine Beschäftigung mit Tiberius also mehr als eine bloß geschichtliche Lektion.
Die Quellenlage zu Tiberius ist einerseits günstig, andererseits problematisch. Es gibt vier ausführliche literarische Hauptquellen. Keine von ihnen zeichnet sich durch Objektivität aus. Die eine stammt von einem Anhänger des Tiberius, die drei übrigen Verfasser standen ihm skeptisch, kritisch und negativ gegenüber. Der Anhänger war Zeitgenosse, die anderen schrieben später in der Retrospektive, wobei sie sich auch zeitgenössischer Quellen bedienten.
Der Zeitgenosse ist Velleius Paterculus. Er veröffentlichte im Jahr 29 oder 30, also acht oder sieben Jahre vor dem Tod des Tiberius, eine kurz gefasste Römische Geschichte, gedacht als Vorarbeit zu einem ausführlicheren Werk, das jedoch nicht erhalten oder nicht zur Ausführung gelangt ist. Am ausführlichsten behandelt Velleius die Zeit der späten Republik und das von ihm selbst erlebte frühe Prinzipat. Tiberius wird von ihm außerordentlich positiv dargestellt, als idealer Herrscher ohne jeden Fehler. Das Buch endet sogar mit einem Gebet für Tiberius: Velleius ruft die Götter an, sie mögen den Staat, den Frieden und den Prinzeps beschützen, bewahren und behüten, und man möge diesem möglichst spät einen Nachfolger schenken, jedoch einen, der wie er in der Lage sei, auf den Schultern die Last eines Weltreichs zu tragen.1
Wegen seiner geradezu hymnischen Verehrung des Tiberius wird Velleius in der Forschung gerne als Schmeichler und Opportunist herabgewürdigt. Tatsächlich kannte er Tiberius persönlich. Er stammte aus dem Ritterstand, einer privilegierten Schicht der Gesellschaft, die die Kaiser als Reservoir für das zivile und militärische Führungspersonal nutzten. Insofern gehörte er zu einer sozialen Gruppe, die von den politischen und administrativen Verhältnissen im Prinzipat profitierte. Das schließt jedoch nicht aus, dass seine öffentlich artikulierten Sympathien für den Prinzeps nicht tatsächlich echt gewesen sind. Angesichts einer massiven Phalanx von Kritikern und Anklägern nimmt sich die kontrastive Haltung eines Velleius, gleichgültig, welche Motivation dahinter stand, mitunter geradezu wohltuend aus.
Die Reihe der Gegner des Tiberius führt der Historiker Publius Cornelius Tacitus an.2 Seine Verdikte hatten den größten Einfluss auf das neuzeitliche Tiberius-Bild.
Tacitus wurde um das Jahr 55 geboren. Zu diesem Zeitpunkt war Tiberius bereits achtzehn Jahre tot. Er kannte ihn also nicht mehr persönlich. Jedoch schöpfte er aus Quellen aus der Zeit des Tiberius. Den Informationen, die er aus diesen Quellen bezog, verlieh er seine ganz eigene Note. Tacitus war Historiker, er war aber auch Politiker und Senator. Er absolvierte unter den flavischen Kaisern Vespasian, Titus und Domitian eine erfolgreiche Laufbahn, die ihn bis zum Konsulat und zur Statthalterschaft in der Provinz Asia führte. Die Geschichtsschreibung war für Tacitus eine Fortsetzung der politischen Arbeit mit anderen Mitteln. Seine beiden Hauptwerke waren die Historien und die Annalen. In den Historien beschrieb er die Geschichte der römischen Kaiserzeit vom Tod Neros (68) bis zum Tod des letzten flavischen Kaisers Domitian (96). Die Annalen widmete er der Zeit davor, der frühen Kaiserzeit vom Tod des Augustus bis Nero, und damit auch der Zeit des Tiberius.
Der von Tacitus gezeichnete Tiberius ist der Tiberius, wie ihn die Senatoren sahen, die mit seiner Art der Herrschaft nicht zufrieden waren. Die Reputation eines Kaisers bei den Senatoren, von denen viele auch unter den Bedingungen der Monarchie ihre alten republikanischen Ideale nicht aufgegeben hatten, hing entscheidend von der Art und Weise ab, wie dieser Kaiser mit ihnen umging. Der Senat wollte noch gehört und gebraucht werden. Das Ideal der Senatoren war die Verbindung von principatus und libertas, von monarchischer Herrschaft unter Bewahrung der Freiheitsrechte des Adels.3 Dem Tiberius stellt Tacitus in dieser Hinsicht ein schlechtes Zeugnis aus. Seine Kritik hatte ihre Ursache vor allem in den sogenannten Majestätsprozessen, die sich in der Zeit des Tiberius häuften und bei denen tatsächliche oder vermeintliche Oppositionelle aus den höheren Kreisen wegen Beleidigung des Prinzeps oder der Würde seines Amtes angeklagt und hingerichtet wurden.
Tacitus war ein guter Historiker. Er erzählt nichts Falsches. Alle Fakten stimmen. Seine besondere, nicht ungefährliche Begabung besteht darin, den Fakten in subtiler Weise eine von ihm gewünschte Deutung zu geben. So gelingt es ihm, zu suggerieren, dass Tiberius nie ehrlich, sondern immer ein Heuchler gewesen sei, der sich permanent verstellt habe. Bei allem, was Tiberius tat, wittert Tacitus eine üble, perfide Idee. Der Historiker und Senator Tacitus hatte den Kaiser von Anfang an so konzipiert, wie er uns in seinem Werk begegnet: Tiberius hatte also gar nicht die Chance, anders gesehen zu werden.
Etwa zeitgleich mit Tacitus legte Gaius Suetonius Tranquillus – kurz: Sueton – eine Sammlung von Biographien römischer Kaiser vor. Er begann bereits mit Iulius Caesar, dem Ahnherrn der ersten Dynastie, und endete mit Domitian, dem letzten Vertreter der flavischen Kaiserfamilie, der 96 starb (sein als tyrannisch empfundenes Regime war übrigens für Tacitus der Anstoß gewesen, sich mit der Geschichtsschreibung zu befassen).
Sueton, um 70 geboren und um 130 gestorben, kannte sich bei den römischen Kaisern gut aus. Er verfügte über hervorragendes Material, da er im Hauptberuf kaiserlicher Archivar in Rom war. Genauer gesagt bekleidete er unter den Kaisern Traian und Hadrian das Amt eines ab epistulis, das heißt: Er hatte die kaiserliche Korrespondenz zu erledigen, und in dieser Eigenschaft hatte er freien Zugang zu den Archiven. Hier fand er nicht nur politisch relevantes Material, sondern auch manches zum Privatleben der Caesaren. Auf diese Weise mag er auch überhaupt auf den Gedanken gekommen sein, Biographien der Kaiser schreiben.
Einen hohen literarischen Wert hat man den Kaiserbiographien Suetons in der philologischen und historischen Forschung nicht beimessen wollen. Das ist angemessen, ein solcher war aber auch gar nicht der Anspruch des Autors. Sueton wollte unterhalten, Kaiser auch aus der Schlüssellochperspektive betrachten, womit er einem in der ersten Hälfte des 2. Jahrhunderts vorherrschenden Publikumsgeschmack entsprach. Das römische Kaisertum war in dieser Zeit, anders als zu den Zeiten eines Augustus oder Tiberius, institutionell fest etabliert. Daher interessierte sich die Bevölkerung auch und vor allem für Persönliches, für Aussehen, Charakter, Vorlieben, Schwächen. Und bei Sueton wurden die Leser und Hörer gut bedient, nicht zuletzt weil er in seinen Biographien ein übersichtliches Darstellungsschema wählte. Eingerahmt von den Eckdaten zu Geburt, früher Karriere, Zeit als Kaiser und Tod präsentiert er in festen Rubriken eine Reihe prägnanter Eigenschaften des jeweiligen Herrschers. Seine Tiberius-Vita hat vom faktischen Gehalt her einen hohen Wert. Wie Tacitus neigte auch Sueton nicht zu Erfindungen oder zur bewussten Verbreitung von Falschmeldungen. Jedenfalls gilt dies für die Informationen, die er in den Archiven entdeckt hat. Er zog allerdings auch andere Quellen heran, die in ihrer Glaubwürdigkeit nicht über jeden Zweifel erhaben sind. Die Biographien des Augustus und des Tiberius sind ausführlicher als die der anderen Kaiser. Das liegt daran, dass Sueton im Jahr 121 seinen Posten als Kanzleichef wegen Unstimmigkeiten und Unbotmäßigkeiten räumen musste und ihm für die späteren Kaiserviten somit nicht mehr so viel exzellentes Material zur Verfügung stand. Für die frühen Kaiser aber konnte er Kostbarkeiten wie Zitate aus der Korrespondenz von Augustus mit Tiberius verwerten.
Sueton war wie Tacitus kein Freund des Tiberius, allerdings aus anderen Gründen. Er sah den Kaiser nicht aus der Perspektive des Senators, sondern aus der des Hofbeamten. Seine Vorbilder waren die Kaiser Augustus, der Begründer des Prinzipats, und Hadrian, unter dem er arbeitete. Hadrian war neben Mark Aurel der profilierteste Vertreter des sogenannten »humanitären Kaisertums«, also »guter« Kaiser, die mit den Oberschichten kooperierten, allgemein akzeptierte Werte repräsentierten und zudem bestrebt waren, auch für »das Volk« da zu sein. Tiberius entsprach nach Ansicht Suetons diesem Ideal nicht. Dass er die letzten elf Jahre seiner Herrschaft auf der Insel Capri verbrachte, war für Sueton ein schwerer Verstoß gegen die von ihm vertretenen Prinzipien der römischen Monarchie.
Cassius Dio ist der späteste der »Großen Vier«, die die schriftliche Überlieferung zu Tiberius geprägt haben. Von seiner Haltung und seiner Ausrichtung her steht er Tacitus am nächsten. Wie sein frühkaiserzeitlicher Kollege war er Senator und viel beschäftigter Politiker, der sich gleichzeitig mit Geschichte und Geschichtsschreibung befasste.
Er stammte aus der Stadt Nikaia, dem heutigen İznik, im Nordwesten Kleinasiens. Somit gehörte er zum griechischen Kulturkreis. Unter seinen vielen Werken ragt die monumentale Römische Geschichte heraus, in der er die frühe Kaiserzeit und damit auch die Herrschaft des Tiberius ausführlich beschrieben hat. Allerdings sind nicht alle Partien erhalten. Das Werk wurde nach 230 publiziert, fast zweihundert Jahre nach dem Tod des Tiberius. Dios Quellen für diese Phase der Geschichte waren, wie bei Tacitus, heute nicht mehr erhaltene zeitgenössische Schriften. Wahrscheinlich gehörte auch Tacitus zu seinen Vorlagen.4
Jedenfalls hat Dios Tiberius große Ähnlichkeit mit dem Tiberius des Tacitus. Auch Dio hält ihn für einen schwachen, grausamen, heuchlerischen Herrscher. Dabei handelt es sich jedoch nicht um eine bloße literarische Adaption. Vielmehr spielte bei dieser Bewertung auch der Zeithintergrund eine Rolle: Dios Karriere als Politiker fiel in die Zeit der Kaiser aus der Dynastie der Severer (193–235). Es war eine unruhige Zeit. Innenpolitische Instabilität und außenpolitische Bedrohungen sorgten für ein Klima der Verunsicherung. Gefragt waren starke Herrscher und fähige Feldherren. Das war, gepaart mit stabilen staatlichen Strukturen, die Idealvorstellung des Senators Cassius Dio, und er legte sie in seinem Geschichtswerk auch als Folie über die Vergangenheit. Die Herrschaft des Tiberius schnitt dabei nicht sonderlich gut ab, auch wenn es Rom unter seiner Regierung wesentlich besser ging als zur Zeit der Severer. Doch auch das ambivalente Verhältnis des Tiberius zum Senat und seine Schwierigkeit, einen direkten Draht zum Volk zu finden, hatten einen Anteil daran, dass Dio den zweiten Prinzeps als einen insgesamt schlechten Kaiser präsentierte.
Neben den vier Hauptquellen gibt es eine Reihe weiterer literarischer Quellen, in denen Tiberius und seine Zeit Erwähnung finden. Allerdings handelt es sich dabei nicht um zusammenhängende historische oder biographische Darstellungen, sondern um Einzelinformationen in anderen Kontexten, wie etwa bei Strabon, Plinius dem Älteren oder Seneca. Substanziell tragen sie zu einer Biographie des Tiberius indes wenig bei. Hervorzuheben sind jedoch die christlichen Autoren Tertullian und Eusebius – sie waren für die Vereinnahmung des Tiberius durch die christliche Publizistik von eminenter Bedeutung.
Weitere Quellengattungen, die über das Leben und die Herrschaft des Tiberius Auskunft geben können, sind Inschriften, Münzen und archäologische Überreste. Die Inschriften und Münzen bewegen sich, was Bildmotive und Legenden angeht, im konventionellen, von Augustus vorgegebenen Rahmen. Durch Bauten insbesondere repräsentativer Art ist Tiberius, anders als die meisten anderen römischen Kaiser, kaum in Erscheinung getreten. Sowohl in der Hauptstadt Rom als auch in den Provinzen des Römischen Reiches ist sein Beitrag zur imperialen Architektur überschaubar. Auch das ist einer der Gründe dafür, warum Tiberius heute allgemein wenig Aufmerksamkeit findet. Hätte er, wie zum Beispiel sein späterer »Kollege« Caracalla, der römischen Bevölkerung eine prächtige Thermenanlage geschenkt, wäre sein Name auch bei heutigen Rom-Besuchern noch sehr präsent. Aber Tiberius schonte lieber die Staatskasse – was sich für seine Reputation als nicht besonders förderlich erwies.
Es war an sich kein besonders aufregendes, die Menschen aufrührendes oder gar elektrisierendes Ereignis, als Kaiser Tiberius im Jahr 26 n. Chr., dem 13. Jahr seiner Regierung, die Hauptstadt Rom verließ, um Kampanien, der am Golf von Neapel gelegenen Landschaft, einen Besuch abzustatten. Und anfangs sah es auch so aus, als handele es sich um eine ganz normale Dienstreise. Professionell und routiniert spulte der Kaiser sein Programm ab. Die erste Station war Capua. Hier, wo fast hundert Jahre zuvor der berühmte Aufstand der Sklaven unter ihrem Anführer Spartacus begonnen hatte, weihte Tiberius das Kapitol ein, den Tempel für die drei Gottheiten Jupiter, Juno und Minerva. In Nola, der zweiten Station seiner Reise, nahm er an der feierlichen Eröffnung einer Kult- und Gedenkstätte für seinen Vorgänger Augustus teil, der zwölf Jahre zuvor hier gestorben war. Ein ganz normales Programm also.
Doch nach der Abwicklung der protokollarisch vorgeschriebenen Pflichtveranstaltungen nahmen die Dinge eine unerwartete Wende. Tiberius überraschte seine Begleiter mit der Mitteilung, er habe seine Planungen geändert. Er werde nicht nach Rom zurückkehren. Er wolle nach Capri weiterreisen. Nach Capri? Sicher doch nur für einen kurzen Aufenthalt? Oder doch nur für ein paar Monate – schließlich hatte sich der Kaiser fünf Jahre vorher schon einmal für längere Zeit nach Kampanien zurückgezogen und war dann wieder in die Metropole am Tiber zurückgekehrt. Nein, gab der Kaiser zu verstehen, nicht nur für einen kurzen Aufenthalt, oder um dort den Sommer oder den Winter zu verbringen. Sondern für länger, vielleicht sogar für immer. Der Kaiser ließ, wie die konsternierten Berater zur Kenntnis nehmen mussten, keinen Zweifel an seiner Entschlossenheit.
Die malerisch vor der Küste Neapels gelegene Insel wusste zu diesem Zeitpunkt noch nicht, dass sie einmal zum Sehnsuchtsort von Künstlern, Gelehrten und Bildungsreisenden aus aller Welt werden würde. Schon gar nicht ahnte sie, dass sie dereinst schier endlose Ströme von Touristen würde ertragen müssen. Wäre sie bereits im Jahr 26 so überlaufen gewesen wie heute, wäre Tiberius sicher nicht auf die Idee gekommen, sie als Regierungs-Refugium auszuwählen. Dann hätte es ihn vielleicht nach Rhodos verschlagen, wohin er sich schon einmal für mehrere Jahre zurückgezogen hatte – damals, als Augustus noch Kaiser gewesen war. Capri war zu dieser Zeit noch ruhig, beschaulich, einsam, kurzum: ein perfekter Rückzugsort.
Tiberius, zu diesem Zeitpunkt 67 Jahre alt, tauschte den Moloch Rom gegen das Kleinod Capri ein. Jedoch war es nicht sein Plan, dort seine Tage als Pensionär zu verbringen und die zweifellos schönen Sonnenuntergänge zu genießen. Zwar war er erst der zweite Kaiser, seitdem Rom sich von einer Republik in eine Monarchie gewandelt hatte. Doch er wusste: Zurücktreten war keine Option. Der Kaiser musste »Flagge zeigen«, auch wenn er die Geschäfte lieber anderen übergeben hätte. Aber war das nicht bereits längst geschehen? Viele Bürger in der Hauptstadt hatten den Eindruck, dass Seian, der mächtige Präfekt der Prätorianergarde, faktisch die Zügel in der Hand hielt. Gerade erst hatte er dem Kaiser das Leben gerettet, als bei einem Bankett in einer Höhle bei Sperlonga Felsbrocken auf die Gesellschaft gestürzt waren. Seian sollte Tiberius auch zum Rückzug nach Capri gedrängt haben, weil, wie diejenigen, die sich zu den gewöhnlich gut unterrichteten Kreisen zählten, behaupteten, er dann in Rom seine Macht ungehindert ausleben könne. Manche wunderten sich, dass er Tiberius nicht schon längst aus dem Amt entfernt hatte. Doch Tiberius war verantwortungsbewusst und ein harter Arbeiter. Er räumte zwar den Arbeitsplatz in Rom, nicht aber den Platz des Herrschers. Und Tiberius war in der Realität auch nicht so abhängig von Seian, wie man es behauptete. Die Zügel hielt er, wenn es darauf ankam, immer noch selbst in den Händen.
Andere versicherten, Tiberius habe Rom wegen seiner Mutter Livia verlassen. Schon als Augustus noch lebte, hatte sie als dessen Frau großen Einfluss genommen, auch auf die Politik. Nach Augustus’ Tod hatte sie keine Anstalten gemacht, diese Rolle abzulegen. Im Gegenteil: Als Kaisermutter hatte sie noch dominanter agiert als zuvor als Kaisergattin. Mehrfach war es, wie es hieß, zwischen Mutter und Sohn zu heftigen Auseinandersetzungen gekommen.
Und dann gab es einige, die meinten, Tiberius habe Rom aus Eitelkeit verlassen. Er habe im Alter mit seiner äußeren Erscheinung gehadert.1 So, wie Tiberius zu dieser Zeit ausgesehen haben soll, bekamen ihn die Zeitgenossen auf den Münzporträts oder den Statuen jedenfalls nie zu sehen, wo er – wie es auch bei Augustus der Fall gewesen war – altersmäßig auf einer bestimmten Stufe der entwickelten Jugend »eingefroren« war. Tacitus beschreibt den Tiberius des Jahres 26 mit den Worten: »Seine hohe Gestalt war sehr hager und gebeugt, sein Scheitel kahl, sein Gesicht voller Geschwüre und gewöhnlich mit Pflastern übersät.«2 Diesen Anblick wollte er, wie Tacitus suggeriert, den Menschen ersparen.
Der prominente künftige Inselbewohner war entschlossen, seine Regierungstätigkeit von Capri aus fortzusetzen. In Rom fühlte er sich nicht mehr wohl – wie, seit er Kaiser war, eigentlich nie so richtig. Doch Pflicht war Pflicht, und so hatte er bis dahin all seine Aufgaben in der Millionenmetropole am Tiber gewissenhaft, wenn auch nicht immer mit der nötigen Fortune und schon gar nicht mit der Anerkennung, die er eigentlich erwartete, erfüllt. In den letzten Jahren hatte ihm auch der Senat das Leben schwergemacht. Eigentlich hatte Tiberius von Anfang an versucht, ein gutes Verhältnis zu den Mitgliedern jenes Gremiums aufzubauen, das, bevor Augustus aus der Republik eine Monarchie gemacht hatte, oberste Regierungsinstanz gewesen war. Doch viele Senatoren wussten sein Bemühen um kollegiale Zusammenarbeit nicht zu schätzen. Immer häufiger war es zu Auseinandersetzungen gekommen.
Capri war keine zufällige Wahl. Der Historiker Tacitus erzählt, Tiberius sei insbesondere von der Lage der Insel angetan gewesen. »Ihre Abgeschiedenheit sagte ihm am meisten zu«, führt er aus,3 »weil das Meer ringsum keinen Hafen und kaum für kleinere Fahrzeuge einige Anlegeplätze bietet. Auch könnte dort niemand landen, ohne dass es die Wache bemerkt.« Das günstige Klima soll ein weiterer Grund für die Wahl Capris gewesen sein: »Das Klima ist im Winter mild, aufgrund des vorgelagerten Gebirges, durch das die rauen Winde abgehalten werden. Der Sommer ist sehr angenehm, da die Insel dem Westwind zugewandt ist und das Meer ringsum offen liegt.« Zu dem Zeitpunkt, als Tiberius seinen Umzug vollzog, lag die schwere Naturkatastrophe, die 53 Jahre später den Golf von Neapel heimsuchen sollte, noch in weiter Ferne: »Die Insel bot auch Aussicht auf einen herrlichen Golf, bevor der Ausbruch des Vesuvs das Gesicht der Landschaft veränderte.«
Aber Capri war nicht die einzige schöne Insel im Mittelmeer. Mögen die von dem gewöhnlich gut unterrichteten, gern aber auch spekulierenden Historiker Tacitus genannten Gründe auch eine Rolle gespielt haben, so kam als ganz praktischer Aspekt hinzu, dass Tiberius die Insel gehörte. Augustus hatte Capri einst mit den Neapolitanern gegen Ischia getauscht. Und da Tiberius der Erbe seines Vorgängers war, der in Personalunion auch noch sein Stief- und Adoptivvater gewesen war, befand sich Capri in seinem persönlichen Besitz. Dort hatte er einige prächtige Villen – eine lange Wohnungssuche war also nicht notwendig. Laut Tacitus sollen es insgesamt zwölf gewesen sein.4 Eine von ihnen trug den Namen Villa Iovis, die Villa des Jupiter.5 Die Ruinen einer Villa im Nordosten der Insel werden den Besuchern heute als die Reste dieser Tiberius-Villa präsentiert. Wer möchte, darf genau hier in Erinnerungen an den seltsamen Inselherrscher schwelgen, der die letzten elf Jahre seines Lebens an diesem schönen Platz hoch über den Klippen des Meeres verbrachte. Ganz sicher ist das jedoch nicht. Ein zuverlässiger archäologischer oder historischer Beweis dafür, dass die Villa Iovis von heute die Villa Iovis von damals ist, existiert nicht.6
Der Abschied des Kaisers kam für die Bevölkerung Roms überraschend. Natürlich, ein Augustus, der es perfekt verstanden hatte, mit Menschen umzugehen und sie für sich einzunehmen, war Tiberius nicht. Jedenfalls nicht, seitdem er Nachfolger des Augustus geworden war. Und dass für ihn die Herrschaft eher Pflicht und Bürde als Freude bedeutete, war ebenfalls kein Geheimnis. Aber einen solchen Schritt hatte man ihm dennoch nicht zugetraut.
Rekonstruktion der Villa Iovis
Handelte es sich um eine spontane Entscheidung? Oder hatte er diesen Schritt schon lange vorbereitet? Die Quellen sind bei der Beantwortung dieser Fragen keine große Hilfe. Sie sind von der Tendenz geprägt, die Dinge von ihrem Ausgang her und nicht in ihrer Entwicklung zu betrachten. Sueton behauptet, Tiberius habe die Termine in Capua und Nola nur als Vorwand benutzt, um unverdächtig nach Kampanien reisen und seinen Capri-Traum verwirklichen zu können.7 Das ist natürlich pure Vermutung, denn wenn es so gewesen wäre, hätte Tiberius darüber kaum offen Auskunft gegeben. Mitteilsam war der Kaiser, was seine Person, seine Pläne, sein Denken anging, grundsätzlich nicht. Damit öffnete er Spekulationen und Mutmaßungen jedweder Art Tür und Tor. Über den eigenwilligen Kaiser konnte man daher alles behaupten, ohne in die Verlegenheit zu geraten, den Beweis dafür erbringen zu müssen. Und so kursierten in Rom, wo die Gerüchteküche immer besonders heftig brodelte, bald die wildesten Spekulationen über das, was sich in der kaiserlichen Villa auf Capri abspielte – Orgien, die alles in den Schatten stellten, was man sonst an spektakulären Veranstaltungen in den oberen Kreisen kannte. Zustände wie im alten Rom, wie es sprichwörtlich heißt – nur eben auf Capri.
Die „Villa Iovis“ auf Capri
Auf jeden Fall war Tiberius kein Freund schneller Entschlüsse. Sorgfalt vor Eile, lautete seine Devise. Seine Denkprozesse vollzogen sich, was die Geschwindigkeit angeht, in limitierten Dimensionen. Er hatte seinen Umzug, wie man sicher annehmen darf, akkurat geplant. Jetzt, wo er wegen offizieller Termine ohnehin in der Gegend war, bot sich die Gelegenheit. Nach zwölf Jahren an der Spitze des Römischen Reiches wollte er nicht mehr Kaiser sein. Jedenfalls kein Kaiser, wie ihn sich die Menschen wünschten: immer da, umgänglich, fürsorglich, spendabel, mit offenem Ohr für die Sorgen und Wünsche der Bürger und mit wachem Auge für alles, was in der Welt passierte.
Die gegenseitige Entfremdung hatte sich deutlich abgezeichnet. Rom verlor Tiberius und Tiberius verlor Rom lange vor Capri. Der Politikbetrieb in der Hauptstadt lag ihm nicht, war ihm sogar zuwider geworden wie überhaupt schon jedwede Ansammlung von Menschen. So war er nicht von Anfang an gewesen, so war er als Kaiser geworden. Als er Rom verließ, um nach Kampanien zu reisen, bat er sich, wie es heißt, aus, von niemandem belästigt werden.8 So etwas hätte ein Augustus nie gesagt. Nach den letzten Programmpunkten in Capua und Nola ließ er ganz offiziell verkünden, er wolle ungestört bleiben.9 Ein an sich überflüssiger Hinweis: Jubelnde Massen, die um seinen Prunkwagen herumtanzten, waren ohnehin nicht zu erwarten. Manche erinnerten daran, dass Tiberius sich schon einmal aus der Öffentlichkeit zurückgezogen hatte, im Jahr 6 v. Chr., als er die Insel Rhodos als Refugium gewählt hatte, wo er letztlich fast acht Jahre lang fern aller Geschäfte verbrachte. Erst Rhodos, dann Capri? Tiberius schien eine besondere Affinität zur insulären Abgeschiedenheit zu haben.
Wie aber war es dazu gekommen, dass Tiberius sein Volk und das Volk seinen Kaiser verlor – in einer Gesellschaft, die entscheidend von der Kommunikation zwischen Herrscher und Beherrschten lebte, in der Transparenz, Berechenbarkeit und Sicherheit über allem standen, in der der Kaiser seine Macht und seine Legitimation zu einem guten Teil aus der Akzeptanz bei den wichtigen Gruppen der Bevölkerung bezog? Um diese Frage zu beantworten, müssen wir zurückgehen zum Anfang.
Tiberius hatte kein Glück. So war es ganz am Anfang seines Lebens, und so war es auch später immer wieder. Manchmal trug er selbst die Schuld an den Fehlschlägen und den unglücklichen Konstellationen, die seinen Weg begleiteten. Aber dass schon das Datum seiner Geburt unter keinem günstigen Stern stand, daran hatte er natürlich keine Schuld, auch wenn manche Quellen gerne alles, was in diesen Zeiten an Negativem passierte, Tiberius persönlich zur Last legten. Als er geboren wurde, befand sich die römische Welt in heftigen Turbulenzen. Es herrschte Bürgerkrieg. Die alte Republik, durch die Rom groß geworden war, war am Ende. Eine neue, nun monarchische Ordnung begann sich zu etablieren. Es ist symptomatisch für Tiberius’ weiteres Leben, dass er zu einem derart unpassenden Zeitpunkt geboren wurde. Nicht nur, dass die Zeiten an sich schwierig waren: Tiberius hatte zu allem Überfluss einen Vater, der die Begabung besaß, politisch konsequent auf der falschen Seite zu stehen. Besser hatte er es mit seiner Mutter getroffen. Sie hatte das nötige Geschick und das Glück, dass sich der kommende Mann Roms für sie interessierte, sich in sie verliebte – und auf ebenso ungewöhnliche wie unkonventionelle Weise den bisherigen Ehemann dazu überredete, ihm seine Frau zu überlassen. Womit Tiberius einen zweiten Vater bekam, der für ihn Traum und Trauma werden sollte. Traum, weil es der neue Vater bis zum ersten Mann in Rom brachte, Trauma, weil er ihn in eine undankbare Rolle drängte.
Die Zeiten, in die Tiberius hineingeboren wurde, waren schwierig. Sie waren aber auch gefährlich – gefährlicher als die meisten Epochen, die Rom bis dahin erlebt hatte. Ruhig und beschaulich war es in der römischen Geschichte allerdings nie zugegangen, auch wenn jede Generation der Meinung war, früher sei alles besser gewesen. Als Rom dreihundert Jahre vor der Geburt des Tiberius in den Kriegen gegen den Rivalen aus Karthago, den Punischen Kriegen, begonnen hatte, sich auf das Parkett der großen Politik zu begeben und eine Weltmacht zu werden, stellten sich der Republik und ihren aristokratischen Protagonisten ganz neue Aufgaben und Herausforderungen. Diese Herausforderungen hatten die regierenden Aristokraten über Jahrhunderte hinweg gemeinsam gemeistert. Nun eroberten sie mit ihren Legionen die gesamte Mittelmeerwelt, und sie verstanden es, die unterworfenen Gebiete dauerhaft an Rom zu binden. Der auf den Staat, den die Römer res publica, »die öffentliche Sache«, nannten, fokussierte Wettbewerb der Eliten war ein wichtiger Garant für diese erfolgreiche imperiale Bilanz. So wurde Rom Zentrum eines Reiches, das sich von Spanien bis nach Syrien, von Nordafrika bis nach Gallien erstreckte.
Doch dann war es mit der Einigkeit vorbei. Lange, gut hundert Jahre bevor Tiberius zur Welt kam, verstrickten sich die politischen Eliten in Rom in Streitigkeiten, Rivalitäten, Konkurrenzkämpfe. Diese Auseinandersetzungen zeigten, dass die Exponenten des politischen Systems der Republik nicht mehr willens und bereit waren, die gewaltigen Aufgaben, die sich aus der Herrschaft über ein Weltreich ergaben, gemeinsam und konstruktiv zu bewältigen. Jeder sah nur noch auf sich, eifersüchtig wachten die Aristokraten über ihre Privilegien, ihren Status, ihre Macht. Wer als Statthalter in eine Provinz geschickt wurde, sei es nach Gallien, Syrien oder Griechenland, wurde mit dem Verdacht konfrontiert, sich persönlich bereichern zu wollen. Wer als Feldherr an die Spitze einer Legion gestellt wurde, galt als potentiell verdächtig, diese Waffe für den Ausbau einer innenpolitischen Machtstellung verwenden zu wollen. Wer bei dem morgendlichen Empfang für die Anhängerschaft, die die Römer Klienten nannten, mehr Leute mobilisieren konnte als die anderen, galt als Gefahr für Staat und Gesellschaft.
Erst spät registrierte, nur unzureichend diagnostizierte und schon gar nicht therapierte Rückwirkungen der Weltherrschaft auf die sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse in Italien sorgten für weiteres Konfliktpotential. Bauern, die für Roms Ehre als Soldaten in den Krieg zogen, bildeten nach der Rückkehr das stadtrömische Proletariat, weil während ihrer Abwesenheit ihre Höfe nicht bewirtschaften worden waren. Auf der anderen Seite bedienten sich ambitionierte Aristokraten gern der Soldaten und Veteranen als Druckmittel, um ihre politischen Ziele durchzusetzen. Immer häufiger waren die innenpolitischen Kämpfe von gewaltsamen Auseinandersetzungen begleitet. Bei der Bevölkerung wuchs die Sehnsucht nach dem »starken Mann«, der Sicherheit und Ordnung wiederherstellen würde. Die Senatoren wiederum fürchteten gerade diesen starken Mann, denn das hätte bedeutet, dass das oberste Gebot der Gleichheit, von dem eine Aristokratie lebte, zerbrechen würde.
Die Krise der späten römischen Republik war nicht, wie die Zeitgenossen dachten, eine moralische, sondern eine strukturelle. Sie war letztlich bedingt dadurch, dass die nötigen politischen und mentalen Kapazitäten fehlten, um auf die Tatsache der Weltherrschaft mit angemessenen Reformen auf politischem und administrativem Gebiet reagieren zu können. Die Denkweise der römischen Politiker war und blieb die Mentalität eines römischen Stadtbürgers. Man dachte immer noch wie die Vorfahren dreihundert Jahre vorher. Dass sich der Staat in einer handfesten Krise befand, war zwar allen klar und auch nicht zu übersehen. Tragischerweise aber wussten die Römer selbst nicht so viel über das, was sich bei ihnen abspielte, wie die heutigen Historiker, die eben in der glücklichen Lage sind, zu wissen, wie es ausging. Die Zeitgenossen interpretierten die krisenhaften Zustände als Verfall von Disziplin und Moral.1 Nachdem Rom in den Punischen Kriegen mit Karthago seinen größten Gegner besiegt hatte, gab es nichts mehr auf der Welt, was gefürchtet werden musste. Die Folge sei Gier nach Reichtum, Luxus und Macht gewesen. Man habe sich nicht mehr um das Wohl des Staates, sondern nur noch um das Anhäufen von Reichtümern gekümmert und ansonsten Orgien gefeiert. Natürlich waren die viel zitierten »Zustände wie im alten Rom« im alten Rom in Wirklichkeit nicht so, doch dienten solche Zerrbilder dazu, an ein vermeintlich kerniges Römertum von früher zu erinnern, als alles noch gut gewesen sei und Anstand, Moral und Disziplin geherrscht hätten.
Tiberius wurde am 16. November des Jahres 42 v. Chr. in Rom geboren, auf dem Palatin oberhalb des Forum Romanum. Gerade einmal zwanzig Monate lag zu diesem Zeitpunkt ein Ereignis zurück, das die römische Politik mehr als alle anderen Geschehnisse dieser an Turbulenzen reichen Krisenzeit erschütterte. Am 15. März des Jahres 44 v. Chr. – an den Iden des März, wie die Römer sagten – war der Dictator Gaius Iulius Caesar einem Attentat zum Opfer gefallen. Rund sechzig Senatoren waren an der Verschwörung beteiligt gewesen, angeführt von Marcus Iunius Brutus (»Auch du, mein Sohn Brutus?«) und Gaius Cassius Longinus. Die Attentäter hatten unterschiedliche Motive, hatten sich aber offiziell die Befreiung von einem Tyrannen auf die Fahnen geschrieben. Tatsächlich war Caesar, gestützt auf seine Soldaten, die er im Gallischen Krieg zu einer verschworenen Gemeinschaft geschmiedet hatte, sowie die Sympathien der Bevölkerung von Rom und Italien, aus dem Bürgerkrieg, der nach seiner Rückkehr aus dem Krieg in Gallien ausgebrochen war, als Sieger hervorgegangen. Im Sommer 48 v. Chr. hatte er seinen Gegner Pompeius in der Schlacht von Pharsalos besiegt. Im Februar 44 v. Chr. hatte er sich zum Dictator auf Lebenszeit ernennen lassen, ohne zu ahnen, dass diese Lebenszeit nur noch wenige Wochen dauern würde.