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Diese werkgetreue Umsetzung als Roman umfasst den Inhalt des dritten Abenteuers aus den Piccolo-Comicheften 14-25 von Hansrudi Wäscher. - Aus einem Dorf verschwinden junge Krieger, weil ein Zauberer doppeltes Spiel treibt. Selbstlos macht Tibor sich auf die Suche nach den Unglücklichen. Die Spur führt in ein verborgenes Tal, in dem der Sohn des Dschungels zu einem Gefangenen der Urungi wird. Nun muß Tibor nicht nur um seine Freiheit kämpfen, sondern auch um das Leben seines Freundes Kerak.
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Seitenzahl: 240
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Originalausgabe September 2012
Charakter und Zeichnung: Tibor © Hansrudi Wäscher / becker-illustrators
Text © Achim Mehnert
Copyright © 2016 der eBook-Ausgabe Verlag Peter Hopf, Petershagen
Lektorat: Edelgard Mank
Umschlaggestaltung: etageeins, Jörg Jaroschewitz
E-Book-Konvertierung: Thomas Knip | Die Autoren-Manufaktur
ISBN ePub 978-3-86305-192-1
www.verlag-peter-hopf.de
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Hansrudi Wäscher wird vertreten von Becker-Illustrators,
Eduardstraße 48, 20257 Hamburg
www.hansrudi-waescher.de
Alle Rechte vorbehalten
Die in diesem Roman geschilderten Ereignisse sind rein fiktiv.
Jede Ähnlichkeit mit tatsächlichen Begebenheiten, mit lebenden oder verstorbenen Personen wäre rein zufällig und unbeabsichtigt.
WAS BISHER GESCHAH
EINS
ZWEI
DREI
VIER
FÜNF
SECHS
SIEBEN
ACHT
Der junge Millionenerbe Gary Swanson erfüllte sich den Traum seiner Jugendzeit. Er begab sich zu einer halbjährigen Safari auf den schwarzen Kontinent Afrika, der in weiten Teilen noch unerforscht war. Bevor er aufbrach, versprach er seiner Verlobten Judy Summers, sie nach seiner Rückkehr nach New York zu heiraten und dann nie mehr zu verlassen.
Er verließ seine Jacht STELLA MARIS und flog mit einem Propellerflugzeug Richtung kenianische Grenze, da bestes Wetter angekündigt war. Doch er ahnte nicht, dass der eifersüchtige Chuck den meteorologischen Bericht gefälscht hatte, um sich seines Vetters zu entledigen und als nächster Verwandter selbst in den Genuss des Millionenerbes zu kommen.
Nach einem Abstecher zum Kilimandscharo geriet Gary Swanson in eine ausgedehnte Schlechtwetterzone, aus der es kein Entrinnen gab. Sein Flugzeug stürzte im Dschungel ab. Als er nur mit ein paar Prellungen wieder zu sich kam, erinnerte er sich weder an seinen Namen noch an seine Vergangenheit. Er hatte sein Gedächtnis verloren.
Er schlug sich durch den Urwald und traf auf einen Gorilla, der unter einem umgestürzten Baum eingeklemmt war und sich nicht allein befreien konnte. Swanson rettete ihn, wofür ihn der Affe Kerak mit dem Namen Tibor bedachte, was so viel bedeutet wie »Der Hilfsbereite«. Tibor und Kerak wurden Freunde.
Die nach Gary Swanson fahndenden Suchmannschaften waren bald von seinem Tod überzeugt und stellten die Suche ein. Unterdessen brachte Kerak Tibor zu seinem Stamm der großen Affen. Doch statt den weißhäutigen Zweibeiner in ihre Reihen aufzunehmen, wollten die Gorillas ihn opfern. Tibor musste sich in einem Zweikampf mit dem Anführer Bulgo beweisen. Es gelang ihm, Bulgo zu besiegen, doch er musste gemeinsam mit Kerak in die Verbannung fliehen. Von nun an waren die beiden unzertrennlich.
Während ihrer langen Wanderung nach Nordwesten brachte Kerak dem Zweibeiner all das bei, was für das Leben in der Wildnis wichtig ist. Tibor lernte die Sprache der Tiere und die Gesetze des Dschungels. Die ungleichen Freunde meisterten zahlreiche Gefahren. Bei den toten Sümpfen musste Tibor gegen einen mächtigen Saurier antreten, der die ganze Tierwelt in Angst und Schrecken versetzte. Es gelang Tibor, den »Herrn der toten Sümpfe« zu überwinden, wofür er die Hochachtung und den Dank aller erntete. Die Dschungeltiere waren von nun an seine Freunde.
Bulgo tauchte ein weiteres Mal auf, und wieder musste Tibor sich ihm stellen. Zum zweiten Mal besiegte er den Anführer der Gorillas in einem fairen Kampf. Nachdem Bulgo ihn daraufhin feige aus dem Hinterhalt angegriffen hatte, wurde er von seiner eigenen Gefolgschaft gerichtet. So war das Gesetz des Dschungels.
Als Folge des Kampfes erlangte Tibor plötzlich sein Erinnerungsvermögen zurück. In Wirklichkeit war er Gary Swanson und gehörte nicht in die Wildnis. So begab er sich in die Station der Dschungelpolizei von Major Deakins, um von dort aus seine Rückkehr in die zivilisierte Welt in die Wege zu leiten. Der Major empfing ihn mit schlechten Nachrichten: Nachdem Gary Swanson für tot erklärt worden war, hatte sich sein Vetter Chuck den Familienbesitz angeeignet. Innerhalb eines halben Jahres hatte der ungeschickte Chuck die Firma in den Ruin getrieben und anschließend Selbstmord begangen. Von dem Familienvermögen war nichts übrig geblieben. Zudem hatte Garys Verlobte Judy einen anderen Mann geheiratet, um über seinen Tod hinwegzukommen.
In diesem Moment entschied Gary Swanson, es bei diesem scheinbaren Schicksal zu belassen. Er war bei dem Flugzeugabsturz ums Leben gekommen. Von nun an war er Tibor, der Sohn des Dschungels.
Von Major Deakins ließ er sich ein Messer geben, um den Tieren in der Wildnis mit ihren Fängen, Krallen und Zähnen ebenbürtig zu sein und sich besser verteidigen zu können. Er verließ die Polizeistation und kehrte zu seinen Freunden im Dschungel zurück.
Wenig später kreuzten sich die Wege von Tibor und Major Deakins abermals. Deakins beauftragte den jungen Sergeant Gray mit der geheimen Mission, mehrere Goldsäcke der Minengesellschaft nach Nairobi zu bringen. Doch das Schicksal wollte es anders. Deakins und Gray wurden von dem Polizisten Dan Cramer belauscht. Cramer, mit seinem Dienst bei der Dschungelpolizei unzufrieden, wollte sich das Gold unter den Nagel reißen. Er weihte zwei Kumpane in seinen Plan, den Goldtransport zu überfallen, ein. Daraufhin überfielen die Komplizen den ahnungslosen Gray und brachten das Gold in ihren Besitz.
Tibor fand den verletzten Gray und erfuhr von dem Raub. Mit dem Versprechen, das gestohlene Gold wiederzubeschaffen, setzte sich Tibor auf die Fährte der Ganoven und bekam die beiden Kumpane zu fassen. Von ihnen erfuhr er, dass Cramer hinter dem Überfall steckte.
Cramer, der sich unerkannt wähnte, war inzwischen in die Polizeistation zurückgekehrt und mimte den Arglosen. Doch Tibor deckte die Wahrheit auf. Cramer wurde überführt, und Sergeant Grays Ruf war gerettet.
Tiergeräusche, die nicht in den Dschungel passten, drangen an Tibors Ohren. Er hielt inne und spähte nach der Herkunft der Laute. Sein Freund Kerak verharrte neben ihm. Der Gorilla kratzte sich am Schädel.
»Was ist das, Tibor?«
»Es kommt aus dieser Richtung.«
Sie liefen durch das Unterholz, vorbei an mächtigen Urwaldriesen, bis sie Bewegungen ausmachten. Auf einer kleinen, mit Gras bewachsenen Lichtung ästen zwei Vierbeiner. Die Freunde duckten sich hinter ein paar Büsche.
»Sieh dir das an, Kerak! Sind das nicht zahme Rinder?«
»Ja, diese Tiere leben bei den Zweibeinern«, bestätigte der Affe. »Wie sind sie hierhergekommen?«
»Wahrscheinlich sind sie ihren Herren davongelaufen. Es muss ein Dorf in der Nähe sein.«
»Was hast du vor?«
Der Sohn des Dschungels sah sich nach Lianen um. Sie wuchsen überall. »Wir fangen die Rinder ein. Ich will sie ihren Eigentümern zurückbringen, bevor sie von Raubtieren gerissen werden. Warte hier! Wenn sie dich sehen, nehmen sie sonst Reißaus.«
In aller Eile schnitt Tibor einige starke Lianen ab, wobei ihm das Messer, das er von Major Deakins erhalten hatte, wertvolle Dienste leistete. Die Rinder ästen ruhig weiter, als er sich ihnen näherte. Das bewies, dass sie die Gesellschaft von Zweibeinern gewohnt waren. Er legte den Tieren die Lianen um und band sie fest. Sie ließen es gleichmütig über sich ergehen.
»Du kannst herauskommen, Kerak!«, rief Tibor seinem Freund zu.
Der Gorilla verließ sein Versteck und gesellte sich zu ihm. Die Rinder scheuten ein wenig, doch sie beruhigten sich schnell wieder, als sie merkten, dass ihnen von dem großen Affen keine Gefahr drohte. Tibor reichte Kerak die losen Enden der Lianen.
»Gib acht, dass sie nicht wieder davonlaufen. Ich klettere auf einen Baum. Vielleicht kann ich das Dorf von oben sehen.«
Er stieg auf den nächsten Urwaldriesen und hockte sich in eine Astgabel. Von seiner Position aus hatte er einen guten Überblick über das Land. Zwischen sanft geschwungenen Hügeln erstreckte sich eine Talsenke, in der tatsächlich ein Dorf lag. Es war zu weit entfernt, um Einzelheiten erkennen zu lassen. Tibor kletterte vom Baum herunter und teilte Kerak seine Entdeckung mit.
»Wir brauchen keinen Umweg zu machen«, sagte er. »Das Dorf liegt genau in unserer Richtung.«
»Dann lass uns aufbrechen. Bestimmt werden die Zweibeiner uns freundlich empfangen, weil wir ihnen ihre Tiere zurückbringen.«
Tibor nickte und ergriff die als Zügel dienenden Lianen. »Das denke ich auch.«
Die beiden Freunde setzten ihren Weg durch den lichter werdenden Dschungel fort. Die Rinder trotteten gehorsam hinter ihnen her. Auf ihrem Weg zum Dorf begegnete den Freunden niemand.
»Eigenartig«, wunderte sich Tibor.
»Was denn?«
»Anscheinend sind keine Eingeborenen auf der Suche nach den Rindern.«
»Ob ihr Verschwinden unbemerkt geblieben ist?«
»Das kann ich mir nicht vorstellen. Die Tiere sind sehr wertvoll für die Dorfbewohner.«
Die Bäume blieben hinter ihnen zurück. Schließlich stießen die Gefährten auf einen Trampelpfad. Die Ansammlung von Hütten war von einem Palisadenzaun umgeben, der davor liegende Landstreifen gerodet.
»Fällt dir etwas auf, Kerak?«
»Nein, Tibor.«
»Das ist es eben. Aus dem Dorf ist kein Laut zu hören. So still sind die Eingeborenen doch sonst nicht.«
Der Eindruck bestätigte sich, als die Freunde das Hüttendorf betraten. Die einfachen Katen lagen scheinbar verlassen vor ihnen. Kein Mensch war zu sehen. Vielleicht hatten die Bewohner sich an anderer Stelle versammelt, auf dem meist zentral gelegenen Dorfplatz möglicherweise. Tibor lauschte angestrengt nach Stimmen. Es war vergeblich. Er deutete auf einen in den Boden gerammten Pfahl.
»Binde die Rinder dort drüben an, Kerak! Ich sehe mich im Dorf um.«
Tibor machte sich auf den Weg. Er fragte sich, wo die Bewohner stecken mochten. Sein Blick ins Innere einiger Hütten blieb erfolglos. Niemand hielt sich darin auf, deshalb ging er weiter. Als er den Rand des Dorfplatzes erreichte, blieb er wie vom Donner gerührt stehen.
In der Mitte des Platzes standen zwei mächtige, mit Schnitzereien verzierte Stelen, zwischen deren oberen Enden eine Querstange befestigt war. Ein Schwarzer war an den Handgelenken an dem Gerüst aufgehängt. Seine Füße schwebten einen halben Meter über dem Boden.
Heiß brannte die Sonne auf ihn herab, und er rührte sich nicht. Wenige Schritte entfernt standen zwei weitere Dorfbewohner im Schatten eines Sonnendachs. Sie trugen Speere und Schilde.
Es sind Wachen, überlegte Tibor. Was mochte das alles zu bedeuten haben?
Vielleicht handelte es sich bei dem Aufgehängten um einen Verbrecher, und die Dorfgemeinschaft bestrafte ihn auf diese grausame Weise. Die Eingeborenen unterstanden zwar dem Distriktsbeamten, doch was auf Papier geschrieben stand, ließ sich noch lange nicht überall durchsetzen. In dem entlegenen Gebiet, in das es Tibor verschlagen hatte, handelten die Einheimischen womöglich nach alten Stammesgesetzen, obwohl das streng verboten war. Noch hatten die Wachen ihn nicht bemerkt.
Er brauchte nicht lange zu überlegen. Er konnte es nicht zulassen, dass ein Mensch unter der glühenden Sonne einen qualvollen Tod starb, ganz gleich was er getan hatte. Entschlossen trat er auf den Platz hinaus und hob einen Arm als Geste der Freundschaft.
»Tibor, der Sohn des Dschungels, grüßt euch.«
Die beiden Wachen fuhren herum. Für einen Moment starrten sie ihn ungläubig an.
»Ein Fremder«, brachte einer von ihnen überrascht hervor.
»Tod dem Fremden!«, stieß der andere aus.
Ehe Tibor sich versah, schleuderten sie ihre Speere. Geistesgegenwärtig duckte er sich und entging den tödlichen Waffen.
»Auf ihn! Der Fremde darf das Dorf nicht verlassen.«
Schon griffen sie an. Von zwei Seiten gingen die Eingeborenen auf Tibor los. Nur seiner Schnelligkeit hatte er es zu verdanken, dass er keinen Hieb einsteckte. Es entwickelte sich ein heftiger Kampf, und Tibor verteidigte sich nach Leibeskräften. Er gewann zwar die Oberhand, doch es gelang ihm nicht, einen entscheidenden Treffer anzubringen. Ein Lächeln huschte über sein Gesicht, als er tiefes Grollen vernahm.
Kerak griff in den Kampf ein. Der Schreck fuhr den beiden Angreifern in die Glieder, und Tibor brachte einen von ihnen mit einem harten Schlag unters Kinn zu Fall. Den anderen schickte Kerak ins Reich der Träume. Es dauerte nur Sekunden, bis der Kampf entschieden war und die Wachen regungslos am Boden lagen. Tibor sah sich um. Es ließen sich keine weiteren Schwarzen sehen. Der Lärm des Kampfgetümmels war ungehört verklungen.
»Fessele die beiden, Kerak, und bringe sie in eine Hütte!«, rief der Sohn des Dschungels seinem Freund zu. »Ich befreie den Unglücklichen von seinen Fesseln.«
Während der Gorilla tat wie ihm geheißen, durchschnitt Tibor die Stricke, mit denen der Gefangene festgebunden war. Vorsichtig ließ er den Bewusstlosen zu Boden gleiten. Rasch untersuchte Tibor ihn. Er hatte keine erkennbaren Verletzungen davongetragen.
»Ist er am Leben?«, fragte Kerak, der wenig später zurückkam.
»Ja, aber lange hätte er in der brennenden Sonne nicht mehr durchgehalten.«
Tibor hatte die Worte kaum ausgesprochen, als sich der Eingeborene zu rühren begann. Seine Lider flackerten, dann öffnete er die Augen zu zwei schmalen Schlitzen. Er riss sie weit auf, als er den großen Affen entdeckte. Er schrie entsetzt auf.
»Ein böser Geist! Bonto ist bereits im Land der Toten.«
»Ruhig, Bonto! Du bist nicht im Land der Toten. Du lebst«, redete Tibor auf ihn ein. »Und das ist kein böser Geist, sondern ein Gorilla. Kerak ist mein Freund. Du brauchst keine Angst vor ihm zu haben.«
»Wirklich nicht?« Bonto beäugte den Affen misstrauisch. »Und ich lebe noch?«
»So ist es. Warum wollten dich deine Stammesgenossen an dem Gerüst sterben lassen?«
»Wir müssen schnell fort, bevor die anderen zurückkommen«, überging der Befreite die Frage. Er versuchte sich aufzurichten und sackte stöhnend wieder in sich zusammen.
Bontos Furcht ließ es Tibor ratsam erscheinen, vorerst das Weite zu suchen. Für Fragen war später noch Zeit. Zunächst mussten sie den Geretteten in Sicherheit bringen. Anschließend konnte er herausfinden, ob er es tatsächlich mit einem Schurken zu tun hatte.
»Trage ihn, Kerak! Er ist noch schwach.«
»Was machen wir mit ihm?«
»Wir gehen hinaus in den Dschungel. Dort kann er uns berichten, was geschehen ist.«
Nachdem Kerak Bonto aufgenommen hatte, verließen sie das Dorf, ohne auf jemanden zu treffen.
*
Tibor hatte den verängstigten Schwarzen in eine Baumkrone gebracht. In einer Astgabel liegend, kam er allmählich wieder zu Kräften. Angst hatte sich in seine Gesichtszüge gegraben. Er fürchtete sich vor mehr als nur den anderen Kriegern.
»Jetzt erzähle!«, forderte Tibor ihn auf. »Was ist in deinem Dorf geschehen?«
»Der tödliche Schatten ist schuld an unserem Unglück«, krächzte Bonto, wobei er sich voller Verzweiflung an den Kopf fasste.
Der Sohn des Dschungels horchte auf. »Der tödliche Schatten? Was ist das?«
»Ein riesiger Büffel, der jeden Menschen ohne Grund angreift. Er kommt immer aus dem Hinterhalt und in der Dämmerung. Deshalb nennen wir ihn den tödlichen Schatten.«
»Ein einzelner Büffel? Warum verteidigt ihr euch nicht gegen ihn?«
»Seit Wochen haben wir versucht, ihn zu töten. Es ist uns nicht gelungen. Er ist einfach zu schlau für uns. Mehr als einmal sind die Jäger zu Gejagten geworden. Nicht wenige mussten ihren Mut mit dem Leben bezahlen.«
Das klang wirklich nicht gut. Mit einem Kopfnicken forderte Tibor Bonto auf, weiterzureden.
»Gestern Nacht hat unser Zauberer Umbu die Geister angerufen und sie um Hilfe für unseren Stamm angefleht.«
»Er hätte besser einen Boten zum Distriktkommandanten schicken sollen.«
»Wir wollen nichts mit den Weißen zu tun haben.«
»Sie helfen euch, wenn ihr euch an sie wendet.«
»Die Geister haben zu unserem Zauberer gesprochen«, überging Bonto die Behauptung.
»Was haben sie gesagt?«
»Sie haben bestimmt, dass mein Sohn Kolu heute Nacht dem heiligen Krokodil geopfert werden muss.«
»Was?« Tibor erschrak heftig. »Wozu soll das gut sein?«
»Der Zauberer sagt, das heilige Krokodil wird aus Dankbarkeit den Büffel töten, wenn er zum Fluss kommt, um seinen Durst zu stillen.«
Tibor antwortete nicht. Natürlich würde kein Krokodil seine Dankbarkeit zeigen, nur weil man ihm ein Kind opferte. Der Aberglaube war nur schwer aus den Köpfen der Einheimischen herauszubekommen, aber er hatte kein Recht, darüber zu urteilen.
»Warum solltest du sterben?«, wollte er wissen. »Weshalb haben deine Stammesgenossen dich an dem Gerüst aufgehängt?«
»Weil ich verblendet war«, murmelte Bonto. Er schlug die Augen nieder. »Kolu ist mein einziger Sohn. Ich wollte verhindern, dass er stirbt. Deshalb widersetzte ich mich dem Opfer.«
»Du warst nicht verblendet. Unter keinen Umständen muss dein Sohn sterben. Auch ohne dass er geopfert wird, wird das Krokodil den Büffel angreifen, wenn er ihm die Gelegenheit dazu gibt.«
»Der Zauberer behauptet etwas anderes.«
»Ihr wisst doch, dass das Gesetz des weißen Mannes Menschenopfer verbietet und unter schwere Strafe stellt.«
»Wir wissen es.« Bonto ließ den Kopf hängen. »Aber die Weißen sind weit weg. Es ist über ein Jahr vergangen, seit der letzte hier war.«
Und das nutzten die Eingeborenen aus. Tibor konnte es ihnen nicht einmal verdenken.
»Die Männer haben Kolu zum Fluss geschafft?«
»Ja.«
Tibor dachte nicht daran, den Jungen seinem Schicksal zu überlassen. »Ich will versuchen, deinen Sohn zu retten und den tödlichen Schatten unschädlich zu machen.«
»Das willst du für mich wagen?«, fragte Bonto erstaunt. Auf einmal keimte ein Hauch von Hoffnung in ihm auf.
»Nicht nur für dich. Ich möchte, dass ihr Vertrauen zu den weißen Männern fasst und in Zukunft von den schrecklichen Menschenopfern ablasst. Ich möchte genau wissen, wo die anderen Dorfbewohner sind.«
»Sie sind alle am Fluss, um der Opferung beizuwohnen. Alle außer den jungen Kriegern.«
»Wieso? Was ist mit ihnen?«
»Sie haben sich auf Anweisung des Zauberers im Felsental im Norden versammelt. Dort sollen sie sich auf den großen Freudentanz vorbereiten. Er wird beginnen, nachdem der Schatten von dem heiligen Krokodil getötet worden ist.«
Die jungen Krieger des Stammes waren also von den anderen getrennt worden. Das kam Tibor merkwürdig vor. Er hatte ein ungutes Gefühl. Bestimmt ging es nicht nur um den Freudentanz. Führte Umbu noch etwas anderes im Schilde? Tibor verdrängte den Gedanken. Er musste sich sputen, um Kolu zu retten. Bis zum Sonnenuntergang blieben ihm zwei Stunden. Er wandte sich an den Gorilla und schilderte ihm, was er soeben erfahren hatte.
»Bleibe hier und beschütze Bonto, Kerak!«
»Wirst du lange wegbleiben?«
»Hoffentlich nicht. Ich komme zurück, sobald ich Bontos Sohn befreit habe.«
»Sei vorsichtig, Tibor! Die Pfeile der Zweibeiner sind schnell«, warnte Kerak seinen Freund.
»Ich werde daran denken«, versprach Tibor und machte sich auf den Weg.
*
Tibor schwang sich von Ast zu Ast. So kam er viel schneller voran als am Boden. Seit seinen anfänglichen Ausflügen mit Kerak hatte er diese Art der Fortbewegung perfektioniert. Sie war ihm in Fleisch und Blut übergegangen. Er beherrschte sie so selbstverständlich, wie er früher zu Fuß durch New York gegangen war.
Während er unterwegs zum Fluss war, dachte er über das Verhältnis zwischen Weißen und Schwarzen in Afrika nach. Es war schwer für die Weißen, das Vertrauen der Eingeborenen wiederzugewinnen. Sie hatten sich in der Vergangenheit einige Sünden zuschulden kommen lassen. Nur allzu oft hatte man die Einheimischen mit schönen Worten geködert und sie anschließend ausgeplündert, vertrieben oder sogar getötet. Als man das begangene Unrecht eingesehen hatte, war es fast zu spät gewesen. Die Vorstellung belastete Tibor, der sich als Freund aller Bewohner des schwarzen Kontinents betrachtete, von dem er als Kind und Jugendlicher geträumt hatte. Er hoffte, dass er einen kleinen Beitrag dazu leisten konnte, das verloren gegangene Vertrauen wiederherzustellen. Wenn das gelang, war schon viel gewonnen. Dass er allein die Völkerverständigung nicht erreichen konnte, war ihm klar. Doch wenn andere so dachten wie Major Deakins und er und alle guten Willens waren, ließ sich auf Dauer viel bewerkstelligen.
Er legte den Weg zum Fluss zurück, so schnell es ihm möglich war. Endlich spürte er den Geruch des Wassers in der Nase. Tibor ließ sich von den Bäumen herab und lief die letzten Meter bis zum Waldrand zu Fuß. Hinter einem Baumstamm suchte er Deckung und spähte zum Ufer hinunter.
Eine große Menschenmenge hatte sich versammelt. Tibors Hoffnung, den Jungen befreien zu können, schwand schlagartig. Es war unmöglich, Kolu aus der Mitte der vielen Menschen zu holen. Unter den Anweisungen ihres Zauberers würden sie mit Tibor genauso verfahren, wie sie es mit Bonto getan hatten. Womöglich kämen sie auf die Idee, auch ihn zu opfern.
Aufmerksam beobachtete der Sohn des Dschungels das Geschehen. Ein paar Männer rammten einen Pfahl in das seichte Uferwasser. Wahrscheinlich sollte der Junge daran festgebunden werden. Von dem Krokodil war nichts zu sehen, doch das besagte nichts. Tibor war sicher, dass Umbu genau wusste, was er tat. Wenn er das Krokodil an dieser Stelle des Flusses vermutete, dann war es auch da.
Trotzdem lasse ich nicht zu, dass du dein schmutziges Handwerk zu Ende bringst und den unschuldigen Kolu opferst.
Tibor grübelte und legte sich einen Plan zurecht. Er würde sich im Wasser verborgen halten und das Krokodil töten, sobald es auf sein vermeintliches Opfer zusteuerte. Zunächst einmal musste es ihm jedoch gelingen, unbemerkt in den Fluss zu gelangen. Eine Idee nahm in seinem Kopf Gestalt an. Auf dem Wasser trieben oft Büsche. Diesen Umstand gedachte er sich zunutze zu machen. Er entfernte sich ein Stück vom Opferplatz, wobei er sich in der Nähe des Waldrandes hielt. Hinter einer Flussbiegung grub er einen Busch aus, den er für seine Zwecke für geeignet hielt. Wenn er seinen Kopf in dem Blattwerk verbarg, würde das keinen Verdacht erregen.
Er arbeitete schnell und konzentriert, um keine Zeit zu verlieren. Ein beiläufiger Blick zum Himmel zeigte ihm, dass es bald dunkel werden würde. Zu guter Letzt klopfte er die Erde von dem Busch, damit er im Wasser nicht unterging, sondern an der Oberfläche schwamm. Schließlich nickte Tibor zufrieden. Die Vorbereitungen waren abgeschlossen. Nun kam es darauf an, dass sich in der Praxis umsetzen ließ, was er sich ausgedacht hatte.
Er tastete nach dem Messer, das jetzt wieder in seinem Lendenschurz steckte. Die Waffe würde ihm hoffentlich gute Dienste bei seinem bevorstehenden Kampf leisten. Ohne den von Major Deakins erhaltenen Dolch hatte er gegen ein ausgewachsenes Krokodil kaum eine Chance. Entschlossen schritt er auf das Wasser zu. Hinter der Biegung war er den Blicken der Opferprozession entzogen.
Plötzlich vernahm er verhaltenes Schnauben. Tibor reagierte mit den im Dschungel erworbenen Instinkten. Er ließ den Busch fallen und warf sich zur Seite, gestreift von einem flüchtigen Luftzug. Aus den Augenwinkeln registrierte er Bewegungen. Ein mächtiger Büffel, dessen spitze Hörner ihn nur um Millimeter verfehlten, stapfte an ihm vorbei, ohne ihn zu erwischen.
Der tödliche Schatten, vor dem die Eingeborenen zittern, jagte es durch Tibors Kopf, während er sich aufrappelte und wieder auf die Beine kam. Das musste er sein.
Der Büffel warf sich herum und ging zum nächsten Angriff über. Diesmal war Tibor auf die Attacke vorbereitet. Regungslos stand er vor einem Baum und sah dem herbeistürmenden Tier entgegen. Er wartete, bis der Vierbeiner fast heran war. Erst im letzten Moment wich er ihm aus und brachte sich hinter dem Baum in Sicherheit. Vom eigenen Schwung getrieben, krachte der Büffel mit dem Schädel gegen den Stamm. Er schüttelte sich kurz, ließ sich aber nicht irritieren. Offensichtlich war er nicht gewillt, sein auserkorenes Opfer entkommen zu lassen.
Tibor wunderte sich über sein Verhalten. Normalerweise führten sich Büffel nicht so feindselig auf. Dieser hier raste geradezu vor Wut. Schnaubend stürmte er heran. Seine Augen glühten vor Angriffswut.
Tibor hatte nicht vor, dem Kampf aus dem Weg zu gehen. Ihm bot sich eine Gelegenheit, mit der er nicht gerechnet hatte. Gelang es ihm, den Büffel zu töten, würden die Eingeborenen von ihrem Opfer ablassen, und Tibor blieb der Kampf mit dem heiligen Krokodil erspart. Er zog sein Messer und spannte jeden Muskel an.
Schon war der wütende Vierbeiner abermals heran. Tibor wand sich geschickt an ihm vorbei, glitt herum und packte die Hörner des Büffels. Bevor das Tier begriff, wie ihm geschah, hatte der Zweibeiner sich schon auf seinen Rücken geschwungen.
»Jetzt habe ich dich!«, stieß Tibor aus. Er holte zum tödlichen Stoß aus, doch er kam nicht dazu, ihn zu führen.
Brüllend richtete der Büffel sich auf. Mit gewaltiger Kraft schleuderte er seinen Plagegeist in die Höhe. Tibor war viel zu überrascht, um sich festzuklammern, und wurde mit Wucht davongeschleudert. Geistesgegenwärtig griff er nach einer Liane. Mit einer Hand bekam er sie zu fassen, steckte sich die Klinge des Messers zwischen die Zähne und griff mit der freien zweiten Hand nach der Liane. Durch die Äste schwang er sich in Sicherheit. In einer Krone verharrte er, um nach Luft zu schnappen.
»Was ist nur los mit dir?«, murmelte er nachdenklich. Ein dermaßen aggressives Verhalten hatte er bei einem solchen Tier noch nicht erlebt.
Während er noch überlegte, was er unternehmen sollte, tauchte das unheimliche Tier schattengleich im Dickicht unter. Es trug den Namen, den Bonto genannt hatte, völlig zu Recht. Es verhielt sich still und verriet mit keiner Bewegung, wo es sich verborgen hielt. Wahrscheinlich lauerte es nun darauf, dass er von dem Baum herabstieg, um erneut über ihn herzufallen. Den Gefallen gedachte Tibor ihm nicht zu tun. Er entschied, sich mit Lianen so weit vorzuarbeiten, bis er den Vierbeiner entdeckte und ihn von oben angreifen konnte.
Das Einsetzen von Trommeln riss ihn aus seinen Überlegungen. Ihr rhythmischer Klang kündigte die Opferzeremonie an. Tibor blieb keine Zeit mehr für einen weiteren Kampf mit dem Büffel, daher steckte er sein Messer weg. Er musste sofort zum Fluss hinunter, oder der Junge war verloren. Jede Sekunde zählte nun. Er schwang sich an einer Liane zum Boden, um im Flug nach dem Busch zu greifen. Er war noch nicht ganz heran, da erhielt er die Bestätigung für seine Vermutung. Der Büffel hatte nicht die Flucht ergriffen, sondern lauerte im Dickicht. Er stürmte aus dem Unterholz hervor, um sich auf den Zweibeiner zu stürzen.
Tibor hielt die Luft an. Er konnte nur hoffen, dass sein Schwung ausreichte, um ihn über den Rücken des Tieres hinwegzutragen, sonst war er verloren. Er glaubte den Atem der Bestie zu riechen, ihr Rückenfell zu spüren, dann schwang er wieder nach oben, den Busch in einer Hand haltend. Er hatte es geschafft.
Wir sehen uns wieder, tödlicher Schatten, dachte er.
Er ließ sich von den Lianen bis zu einem vorgeschobenen Baum tragen, der nahe dem Flussufer stand. Tibor löste seine Hände und hechtete in die Fluten.
*
Mit kräftigen Schwimmstößen strebte Tibor vom Ufer fort. Die Strömung, der er sich anvertraute, war nur gering und behinderte ihn nicht. Er arbeitete sich zur Flussbiegung vor, hinter der sich die Menschenmenge versammelt hatte. Unentwegt hielt Tibor nach einem Krokodil Ausschau, ohne es zu entdecken.
Der Klang der Trommeln wurde übers Wasser getragen. Der Rhythmus war schneller geworden, hektischer und wilder.
Zu seiner Erleichterung entdeckte Tibor den Jungen. Kolu war an den Pfahl gebunden. Das Krokodil hatte sich das ihm zugedachte Opfer noch nicht geholt. Es stemmte sich gegen seine Fesseln, konnte aber nichts gegen sie ausrichten. Der Zauberer hatte dafür gesorgt, dass sie festsaßen und Kolu die Flucht unmöglich machten.
Tibors Spekulation ging auf. Holz und ein paar Büsche trieben auf dem Wasser, von der schwachen Strömung kaum vorangetragen. Der Umstand spielte ihm in die Hände. Die Versammelten achteten nicht auf den Busch, der mit mäßiger Geschwindigkeit auf das Ufer zutrieb. Die Zweige und das Blattwerk verbargen Tibors Kopf.
Die Blicke der Eingeborenen waren auf den Fluss gerichtet. Mit erhobenen Armen stand der Zauberer am Ufer und rief etwas. Durch seinen Umhang und den Kopfschmuck war er unter den nur mit einem Lendenschurz bekleideten Eingeborenen leicht zu erkennen. Der Klang der Trommeln übertönte seine Litanei, mit der er wahrscheinlich versuchte, das heilige Krokodil anzulocken. Es wäre ziemlich peinlich für ihn, wenn es trotz seiner Versprechungen und des Aufwands, den er betrieb, nicht kam, um das Opfer anzunehmen.
In Tibors Nähe begann sich das Wasser zu kräuseln. Sofort richtete er seine Aufmerksamkeit dorthin. Tatsächlich wurde für einen Moment ein schuppiger grüner Rücken sichtbar. Das heilige Krokodil tauchte aus den Fluten auf, versank aber gleich darauf wieder. Es hatte Witterung aufgenommen und wandte sich in die Richtung, wo der Opferpfahl errichtet war. Am Ufer erklang vielstimmiges Geschrei, das an Lautstärke mit den Trommeln wetteiferte.
Noch immer war der Sohn des Dschungels nicht bemerkt worden. Er ließ den Busch los und holte einige Male tief Luft. Mit gezücktem Messer tauchte er im Fluss und orientierte sich. In dem klaren Wasser entdeckte er das Krokodil Sekunden später. Es schwamm auf den Pfahl mit dem hilflosen Jungen zu, der verzweifelt an seinen Fesseln zerrte. In seiner Gier achtete es nicht auf die Umgebung.
Mit kräftigen Zügen holte Tibor auf. Dann war er heran. Ohne zu zögern, stieß er mit dem Messer zu. Das Krokodil wälzte sich im Wasser herum und schnappte nach dem Zweibeiner. Tibor erblickte zwei Reihen scharfer Zähne, die geeignet waren, einen Menschen in zwei Teile zu reißen. Geschickt wich er den tödlichen Waffen aus und setzte zum entscheidenden Streich an. Mit aller Kraft rammte er seinem Gegner das Messer in den weichen Hals. Ein Blutstrom färbte das Wasser rot. Im Todeskampf drehte sich das Krokodil um sich selbst, ohne Tibor gefährlich zu werden. Nach ein paar letzten Zuckungen stieg es tot an die Wasseroberfläche.