ATLAN Rudyn 1: Die Psi-Kämpferin - Achim Mehnert - E-Book

ATLAN Rudyn 1: Die Psi-Kämpferin E-Book

Achim Mehnert

0,0

Beschreibung

August 3102 alte Terranische Zeitrechnung: Die Milchstraße ist ein gefährlicher Ort. Verschiedene Organisationen kämpfen gegen das Solare Imperium der Menschheit, Sternenreiche entstehen neu, und überall ringen kleine Machtgruppen um mehr Einfluss. In dieser Zeit geht die United Stars Organisation - kurz USO genannt - gegen das organisierte Verbrechen vor. An ihrer Spitze steht kein Geringerer als Atlan: Perry Rhodans bester Freund. Der ca. 9000 Jahre v. Chr. geborene Arkonide ist dank eines Zellaktivators relativ unsterblich. Als junger Kristallprinz erkämpft er sich die rechtmäßige Nachfolge und besteigt als Imperator Arkons Thron, bis er im Jahre 2115 abdankt und die Leitung der neu gegründeten USO übernimmt. In der Einsatzzentrale der USO werden seltsame Signale empfangen. Atlans Interesse ist schlagartig geweckt, als er erkennt, dass sie von einem bisher verloren geglaubten Zellaktivator stammen. Augenblicklich beginnt die Jagd nach der Unsterblichkeit. Atlan heftet sich an die Fersen zweier abtrünniger USO-Agenten. Doch es gibt noch weitere Interessenten: die starke Kämpferin Trilith Okt, die ihre erstaunlichen Fähigkeiten rücksichtslos einsetzt ...

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Erster Band der Rudyn-Trilogie

Die Psi-Kämpferin

von Achim Mehnert

Kleines Who is Who

Atlan – der Lordadmiral will einen Zellaktivator ergattern

Decaree Farou – Atlans engste Mitarbeiterin

Lemy Danger – der alte USO-Spezialist dämmert seinem Ende entgegen

Daylcrancz – ein Überschwerer mit eigener Drogenküche

Ken Jinkers – Kommandant der STABILO

Tan Kolom – der vierschrötige Plophoser ist der Pilot der STABILO

Wulfen Naukkonen – ein Funker finnischer Abstammung an Bord der STABILO

Dars Gochtan – der Epsaler fungiert als Rammbock bei Umzügen

Shéklan – ferronischer Erbsenzähler

Mulan-Ser – Ara auf der DAYLCRANCZ

Reuben Timbuna – USO-Agent auf Abwegen

Saul Ratcliffe – der USO-Agent begleitet Timbuna auf Abwegen

Cromba Langush – dieser USO-Agent setzt per Funk die Geschichte in Gang

Kel Merrener – der Soldat des Wachforts vom Xanthab-System denkt nur ans Feiern

Thon Dacco – der Beamte der Raumüberprüfungszentrale Caso ist dagegen ein Miesepeter in Reinform

Nimmermehr – Atlans gefiederter Freund verfolgt einen Plan

Trilith Okt – ein verängstigtes Mädchen wird zur überlegenen Kriegerin

Orin Wark – Kapitän der PIRATENBRAUT

Anen Gal – Orin Warks Ratgeber

Kiridorn Dasch – lacht am liebsten über Kopflose

Karim und Warin – zwei beschränkte Brüder

Lor – ein tätowierter Schlangenbeschwörer, der kochen kann

Hetkan – Stadtsoldat und Räuberhauptmann

Herr – maskierter Herr und Ausbilder Triliths

Libertin – galanter Kutscher

Madame Batida – renommierte Puffmutter

Klerod – König der Katschuken

Jorid – der Sohn des Königs kämpft am liebsten nach der Schlacht

Ulyss Grief – der Söldner ist ein Kampfgefährte von Trilith

Romeus Abrom – weiterer Ausbilder von Trilith Okt

Lalia Bir – Triliths Freundin und Begleiterin zum Ort der Wahrheit

Madame Loyane – Leiterin der Schule Lalias

Andemir Pes – Lalias Gefährte

Prolog

Die STABILO wartete im Ortungsschatten eines Roten Riesen, der einsam am Rand des Trupik-Sektors stand, knappe 17.000 Lichtjahre von Quinto-Center entfernt. Die Ortungseinrichtungen des Leichten Kreuzers der USO arbeiteten auf Hochtouren.

»Zwei Tage ist er schon unterwegs«, murmelte Ken Jinkers, der hochgewachsene Kommandant.

Gemeint war der Regierende Lordadmiral Atlan, der im Alleingang in einen Einsatz gegangen war. Noch dazu mit einem akonischen Kampfaufklärer, der seit Monaten in den Hangars von USO-1 gestanden hatte. Atlan hatte davon geredet, einen »alten Freund« suchen zu müssen, der ohne Auftrag, Legitimation und Rückendeckung zu einer Mission aufgebrochen war, die ihn womöglich das Leben gekostet hatte. Und der Aktivatorträger musste es ihm auch noch nachmachen.

Die Geschichte wiederholt sich, und das tut sie selten in positiver Hinsicht, dachte Jinkers und nuschelte: »Zwei Tage ohne Nachricht. Das hält der stärkste Ertruser nicht aus.«

»Irrtum«, korrigierte Wulfen Naukkonen. Der Terraner finnischer Abstammung hockte vor den Funkeinrichtungen wie eine Spinne im Netz, die auf Beute lauerte. »Die Nachricht kommt so sicher wie das Amen in einem Kirchenholo. Der gerichtete Hyperfunkimpuls trifft mit schöner Regelmäßigkeit ein.«

Alle sechzig Sekunden kam der Impuls herein, und zwar auf einer ungebräuchlichen Frequenz mit so schwacher Intensität und zielgerichtet, dass er durch puren Zufall kaum zu entdecken war. Seit zwei Tagen wurde übermittelt, dass Atlan sein Ziel noch nicht erreicht hatte. Er flog es nicht auf direktem Weg an, sondern über zahlreiche Umwege, die keine Rückschlüsse zuließen, von wo er aufgebrochen war.

»Ich wüsste zu gern, wer dieser verantwortungslose Freund ist, für den der Lordadmiral Kopf und Kragen riskiert.« Jinkers kratzte sich am stoppeligen Kinn. »Sich allein in die Höhle des Löwen zu begeben, zeugt nicht von der Weitsicht eines Unsterblichen. Ich möchte Atlan ungern in den Einsatz gebracht haben, aus dem er nicht zurückkehrt. Wenn nur endlich …«

»… der Impuls enden würde? Das ist soeben geschehen. Das Sendeintervall ist verstrichen, Hyperkom schweigt.«

Der Kommandant presste die Lippen zu zwei schmalen Strichen zusammen. Na endlich! Doch war das nun Grund zur Erleichterung oder zur Besorgnis? Es konnte zwei Gründe für Naukkonens Meldung geben. Der Lordadmiral war am Zielort angekommen, oder er war aufgeflogen, und der akonische Aufklärer existierte nicht mehr.

»Erhöhte Aufmerksamkeit auf den Transmitter!«

Starwynd

Ein melodisches Summen drang aus dem stählernen Leib der DAYLCRANCZ. Die Energieerzeuger arbeiteten im Bereitschaftsmodus, die Ortungseinrichtungen liefen auf Hochtouren. Die torpedoförmige, 400 Meter lange Walze trieb mit geringer Geschwindigkeit an der Peripherie eines namenlosen Fünf-Planeten-Systems im Rumal-Sektor. Beim kleinsten Zwischenfall würde sie auf Fluchtgeschwindigkeit gehen und mitsamt den beiden Schwesterschiffen, die sie in einem Abstand von wenigen Lichtsekunden flankierten, in den Tiefen des Raums verschwinden.

Zwischenfall, das konnte nur eins bedeuten: Intervention durch die USO, die sich als Galaktische Feuerwehr unter der Führung von Lordadmiral Atlan in alles einmischte, was sie nichts anging. Daylcrancz, der Kommandant des gleichnamigen Walzenraumers, ließ keinen Zweifel daran aufkommen, dass darunter so ziemlich alles fiel, was den Interessen der Terraner und ihrer speichelleckenden Verbündeten widersprach. Er trug eine dünne Stoffhose mit durchsichtigen Einsätzen, die die Muskelbündel seiner Oberschenkel präsentierten. Sein in sämtlichen Farben des Regenbogens leuchtendes Hemd bauschte sich über dem breiten Brustkorb und emittierte einen irisierenden Schimmer, der in den Augen schmerzte, wenn man zu lange hinsah.

»Die Randwelten des Solaren Imperiums sind ein ideales Testfeld für die neue Version von Starwynd.« Der Überschwere sprach mit grollender Bassstimme. »Ihre Effektivität übertrifft sämtliche früheren Versionen. Eine einmalige Einnahme führt zur geistigen und körperlichen Abhängigkeit.«

»Das war auch früher so«, zeigte sich sein Besucher Tapura Ronar wenig beeindruckt. »Die Bemühungen der CONDOS VASAC, das Reich der Menschheit mit Drogen zu überschwemmen, ist schon vor fünfhundert Jahren gescheitert. Was macht dich so sicher, diesmal mehr Erfolg zu haben?«

»Die CONDOS VASAC?« Daylcrancz machte eine abschätzige Handbewegung. »Sie ist Geschichte. Es gab viel zu viele, die in ihrer Hierarchie etwas zu sagen hatten. Die Kompetenzverteilung orientierte sich an den Spezialgebieten der einzelnen Mitglieder. Dabei gehört sie in eine steuernde Hand. Die Springer sehen in uns Überschweren bis heute nicht viel mehr als ihren kämpfenden Arm, und den Báalols mit ihren hypnosuggestiven Fähigkeiten traue ich nicht. Von denen kommt mir keiner an Bord.«

»Deine persönlichen Aversionen in allen Ehren, doch sie beantworten meine Frage nicht.«

Dem Akonen entging nicht, dass sein Geschäftspartner ihn intensiv musterte. Ein Mann wie Ronar war es gewohnt, angestarrt zu werden. Der fehlgeleitete Thermostrahl eines Kolonialarkoniden, der nicht ihm gegolten hatte, hatte ihn vor Jahren auf Eysal den halben Unterkiefer gekostet. Natürlich war das kein Problem, das sich nicht mit ein paar chirurgischen Eingriffen regulieren ließ. Man war nicht einmal auf künstlich gezüchtetes Gewebe angewiesen. Mittels eines Stammzellen-Mutators waren die Galaktischen Mediziner in der Lage, einen zu neunzig Prozent zerstörten Körper zu regenerieren, da hätte es bei ihm nicht mehr als einer Schönheitsoperation bedurft. Ronar hatte darauf verzichtet und trug seinen stählernen Unterkiefer seit damals als Trophäe und Drohung gleichermaßen.

Seht her, ich mag angreifbar sein, aber mich bringt nichts um.

»Starwynd wirkt intensiver und verhängnisvoller als je zuvor«, rang sich Daylcrancz endlich zu einer Antwort durch. Die Worte klangen wie die Anpreisungen einer aufdringlichen Werbedrohne auf Lepso. »Wir haben Versuche mit den Klonen verschiedener Völker angestellt, auch mit denen von Menschen. Es gibt keinen Weg zurück aus der Abhängigkeit.«

»So weit lassen die Terraner es nicht kommen. Ihre Spezialisten werden rasche Gegenmaßnahmen ergreifen, um die Bedrohung in den Griff zu bekommen.«

»Sie werden es versuchen, mehr nicht. Meine Ara-Mediziner haben auf submolekularer Ebene eine Reihe von Sicherungen eingebaut, die die Entwicklung eines Gegenmittels ausschließen. Wer Starwynd ausprobiert, kommt nicht mehr davon los. Du wirst mit dem Zählen der Crediteinheiten, die deine Kleinhändler für dich verdienen, nicht nachkommen.«

Ein Lächeln huschte über die samtbraune Haut des Akonen. Der Teint und die dunklen, ins Rötliche spielenden Haare erinnerten an die Abstammung von den Lemurern, die Akonen mit Terranern, Tefrodern und vielen weiteren Humanoiden in der Milchstraße, in den Magellanschen Wolken und in Andromeda gemein hatten. An seiner Seite schwebte auf einem Prallfeldkissen ein Käfig mit der Bezahlung für die synthetische Designerdroge, die ursprünglich auf dem Planeten Zirkon entwickelt worden war.

»Deine Ara-Mediziner?«, hakte der Akone nach.

»Ich verlasse mich ausschließlich auf meine eigenen Leute. Zu denen zählen ein paar Aras. Sie haben im Kesnar-System gewisse Arten der Grundlagenforschung betrieben, die nicht mit den ethischen Vorgaben des Medizinischen Rates von Aralon konform gingen. Sie schlossen sich mir an, um einer Neuausrichtung ihrer Zerebralstruktur zu entgehen. Wer an Bord meines Schiffes kommt, weiß, dass er nicht einfach wieder gehen kann. Wir sind wie eine große Familie, in der interne Probleme auch intern geregelt werden.«

»Wobei du der Entscheidungsträger bist und das letzte Wort hast.«

»Selbstverständlich.«

»Eine gute Lebensversicherung«, lobte der Akone. Die zweifellos schon so manches deiner Besatzungsmitglieder den Kopf gekostet hat.

»Vor allem eine gute Versicherung, dass Geheimnisse auch geheim bleiben. Wir verdingen uns bei keiner Springer-Sippe. Selbst vom Patriarchen haben wir uns losgesagt. Wir sind auf uns allein gestellt und dazu gezwungen, unsere unabhängige Sippe selbst zu finanzieren. Wie schwierig das ist, brauche ich dir nicht zu erklären. Seit fünf Jahrhunderten erschweren die Freihändler die Geschäfte. Sie sind weder wirtschaftlich noch militärisch zu schlagen.«

»Du produzierst die Droge an Bord?«

»In den chemischen Labors unserer Medostation«, bestätigte der Überschwere. »Hier ist der einzige Ort, an dem ich sicher sein kann, dass mir niemand in die Produktion hineinpfuscht.«

»Was einem einzelnen Mann offenbar trotzdem gelungen ist.«

»Spar dir deinen Spott. Weit ist er nicht gekommen.«

Nein, dachte Ronar bitter. Leider nicht.

Die beiden Männer liefen durch einen Kreiskorridor. In regelmäßigen Abständen passierten sie Türen, die mit Schriftzeichen der Springer versehen waren. Hinter einer von ihnen lag der Mann im Wachkoma, wegen dem Tapura Ronar das Geschäft eingefädelt hatte und an Bord der DAYLCRANCZ gekommen war. Der Alte hatte den Fehler begangen, sich allein auf die Spur der Drogenhändler zu setzen, und war dabei enttarnt worden. Es grenzte an ein Wunder, dass er noch lebte.

»Mir scheint, du hast mehr Feinde als ich, was eigentlich gar nicht möglich ist.«

»Ich werde nicht in so vielen Systemen gesucht wie du.«

»Das kommt noch, mein Freund. Warte ab. Wenn die USO von deinem Treiben erfährt, ist dein Leben keinen Credit mehr wert.«

»Das hat sie schon, wie du weißt. Sonst hättest du nicht deine Zusatzforderung gestellt. Darum akzeptiere ich auch keine Credits, sondern nur Howalgonium.« Ein dämonischer Zug trat in Daylcrancz’ lindgrünes Gesicht.

Tapura Ronar schaute auf seinen Geschäftspartner hinab. Der Überschwere war deutlich kleiner als der Akone, nämlich nur 1,60 Meter. Dafür war er so breit wie hoch und wog gut und gern seine 500 Kilogramm. Seine mächtigen Hände hätten den Besucher mit einer beiläufigen Bewegung töten können. Tapura Ronar hegte keine Sorgen, dass ihm ein derartiges Missgeschick zustoßen würde, schließlich waren sie seit Jahren gute und verlässliche Geschäftspartner, die mehr als ein Dutzend Transaktionen zu beiderseitigem Vorteil abgewickelt hatten. Neben ihrer Vorliebe für gewinnbringende Unternehmungen teilten sie die Verachtung für die terranischen Emporkömmlinge, die vor einem Jahrtausend begonnen hatten, die Vorherrschaft über die Galaxis anzutreten. Das war nichts gegen die Hochkulturen von Springern und Akonen, die ungleich länger existierten.

»Was willst du mit dem Howalgonium anfangen?«

»Dafür gibt es eine Menge Einsatzmöglichkeiten.«

»Wie ich dich kenne, hast du etwas ganz Bestimmtes damit vor.«

»Ich werde es an die Terraner verkaufen.« Daylcrancz lachte vergnügt auf, was Ronars Einschätzung bestätigte. »Sie benötigen es zum Betrieb ihrer Transformkanonen.«

Die Erwähnung der Waffe rührte etwas in dem Akonen an. Niemand außer den Menschen, die sie einst von den Posbis erhalten hatten, besaß die Konstruktionsunterlagen dafür.

»Du willst die Terraner stärken?«

»Gewiss nicht. Bekommen sie das Howalgonium nicht bei mir, beziehen sie es anderswo, und die Ironie dieses Handels ginge verloren. Ist es nicht amüsant? Die Terraner kaufen das von mir produzierte Starwynd, bezahlen so das Schwingquarz, das ich von dir erhalte, und erwerben es von mir über eine Vielzahl von Umwegen, die sich nicht zurückverfolgen lassen. Ich verdiene doppelt an den Emporkömmlingen und darf mich zudem rühmen, sie reihenweise unter die Erde zu bringen, in die sie sich nach ihrem Tod so gern eingraben lassen.«

Der Kommandant blieb vor einer Tür stehen und drückte seine Hand auf ein Kontaktfeld. Sirrend fuhr das Schott beiseite, und die beiden Männer traten ein. In einem Halbkreis standen vier Pneumoliegen, deren Kopfenden mit diversen medizinischen Geräten bestückt waren. Holomonitore schwebten darüber. Eine der Liegen war belegt.

Ein Ara in einem weißen Umhang erwartete die Männer in der Medostation. Das Kleidungsstück schlotterte um die hagere Figur des Galaktischen Mediziners.

»Wie ist der Zustand unseres Patienten, Mulan-Ser?«, erkundigte sich Daylcrancz.

»Sein Zustand ist unverändert. Er macht keine Schwierigkeiten.«

»Das dürfte ihm in seinem Zustand schwer fallen.« Der Kommandant wandte sich an Tapura Ronar. »Was willst du eigentlich mit ihm? Es ist uns nicht gelungen, seine Identität zu klären, doch sein Vorgehen entsprach dem eines USO-Spezialisten. Er muss sich auf Celtrum-IV im Schutz eines Deflektorfeldes an Bord geschmuggelt haben.«

»Heißt es nicht, USO-Spezialisten lassen sich nicht fangen ?«

»Unter normalen Umständen hätten wir ihn auch nicht entdeckt«, warf der Ara ein. In seinen albinotisch roten Augen, die mit der hellen Haut und den spärlichen weißen Haaren kontrastierten, blitzte Respekt auf. »Ich wage nicht daran zu denken, was dieser Winzling für einen Schaden hätte anrichten können.«

»Wie habt ihr ihn erwischt?«

»Er wurde hier gefunden, gleich vor den Labors. Bewusstlos. Mulan-Ser hat ihn untersucht.«

»Und ich habe festgestellt, dass er alt ist, sehr alt sogar. Er hat einen Anfall bekommen und wurde ohnmächtig. Es scheint nicht gut um die USO bestellt, wenn sie Greise in den Einsatz schickt, die nicht mehr lange zu leben haben. Vielleicht handelt es sich um eine neue Strategie. Wen schreckt ein tödliches Risiko, wenn er ohnehin das baldige Ende vor Augen hat?«

»So etwas würde Atlan niemals gestatten«, behauptete der Akone.

»Der Arkonide gestattet alles, um sich bei Perry Rhodan beliebt zu halten«, widersprach Daylcrancz. »Nach der Auflösung der Galaktischen Allianz und des Vereinten Imperiums finanziert das Solare Imperium Atlans Agentenhaufen.«

Ronar beugte sich über die Liege und betrachtete den reglos daliegenden Siganesen. Dessen geöffnete Augen waren zur Decke emporgerichtet.

»Bekommt er mit, worüber wir sprechen?«

»Vermutlich. Er reagiert auf bestimmte visuelle Stimulantia, beispielsweise auf einfache Lichteffekte. Ich weiß nicht, was Sie mit ihm vorhaben. Jedenfalls darf er niemals die Gelegenheit erhalten, sein erlangtes Wissen weiterzugeben. Er würde uns verraten. Unter Umständen lassen sich selbst kurz nach dem Tod noch gewisse Informationen aus seinem Gehirn extrahieren.«

»Kannst du dafür garantieren, dass er für immer schweigt?«, drängte Daylcrancz besorgt. Zweifel zeichneten sich in seinem Gesicht ab.

»Würdest du Geschäfte mit mir machen, wenn du dich nicht auf mich verlassen könntest?«, gab Ronar tonlos zurück.

Der Überschwere zögerte. »Das hier ist mehr als ein Geschäft. Es geht um die Existenz meiner kleinen Sippe, auch wenn diese anderen nicht viel bedeuten mag. Ich verstehe nicht, warum ich mich auf den Handel eingelassen habe. Mulan-Ser, wieso hast du mich nicht darauf hingewiesen, dass der Agent eine solche Gefahr darstellt?«

»Ein Wachkoma ist ein Wachkoma«, verteidigte sich der Ara.

Daylcrancz warf ihm einen scharfen Blick zu.

»Du lässt unser Geschäft platzen?«, fragte Ronar.

»Nein, ich definiere es lediglich neu. Der Agent wird aus der Vereinbarung gestrichen. Das Risiko, ihn in einem Stück laufen zu lassen, ist mir zu groß.«

»Er bleibt mein Gefangener und wird niemals frei sein. Nach allem entziehst du mir jetzt dein Vertrauen?«

»Ich vertraue dir.«

Natürlich, dachte der Besucher. Aber nur weil du mich ausgiebig durchleuchtet hast. Beim Betreten der DAYLCRANCZ waren seine Zellschwingungen erfasst und mit denen der genetischen Proben des Akonen verglichen worden. Bei der geringsten Abweichung hätte der Überschwere kurzen Prozess gemacht. Zudem schwebte ein fußballgroßer Kugelroboter in Kopfhöhe einen Meter hinter Ronar. Das aufgemalte Gesicht, das einen Sanddünenlächler von Swofoon darstellte, sprach dem Zweck des waffenstarrenden Leibwächters Hohn. Ronar fokussierte eine stecknadelkopfgroße Kamera aus siganesischer Mikrotechnik auf den Kugelrobot und löste mit einer Kieferbewegung die Bestätigung für die schlafenden Instrumente aus. Der Schwingquarz, in das sie eingebettet waren, schluckte den Aktivierungsimpuls, die in den Hyperkristall eingelagerte fünfdimensionale Energie überlagerte jegliche Emission.

»Andernfalls würde ich dir nicht bei jedem Besuch an Bord das Tragen deiner Waffen gestatten. Aber ich vertraue nicht dem da.« Daylcrancz griff nach der Waffe, die in einer Tasche an seiner Hüfte steckte. Bevor er sie ziehen konnte, hielt der Akone einen Energienadler in der Hand und zielte auf seinen Kopf.

»Eine Waffe von Deightons Solarer Abwehr! Das ist nicht Tapura Ronar!«, schrie Mulan-Ser gellend.

Die Überraschung kostete nicht nur ihn, sondern auch seinen Kommandanten die halbe Sekunde, die in einem solchen Fall ausschlaggebend sein konnte. Nicht so den Robot, der folgerichtig und ohne Zeitverlust handelte. Ein Teil seiner Verkleidung verwandelte sich übergangslos in die flirrende Abstrahlmündung einer Waffe. Aufblitzend löste sich ein Energiestrahl und wurde von dem grünlich aufflimmernden Hochenergie-Überladungs-Schirm, der sich um den elektronischen Leibwächter legte, in den Halbraum abgeleitet. Gleichzeitig aktivierte die Kieferkontraktion des falschen Akonen eine in den Unterkiefer eingebettete Mikrofusionsbombe, die mit dem HÜ-Schirm harmonierte und ihn mühelos durchdrang.

Der Robot wurde in Millionen Stücke zerrissen.

Der Vorgang hatte nur einen Wimpernschlag in Anspruch genommen.

Mulan-Ser machte Anstalten, sich auf seinen hilflosen Patienten zu stürzen. Eine Hohlnadel aus Stahl bohrte sich in seine Brust und trieb ihn zurück. Das freigesetzte Toxin tötete ihn auf der Stelle. Er sackte mit verkrümmten Gliedern über einer Liege zusammen.

Bewegung kam in den Überschweren. Er beging nicht den Fehler, nach seinem Strahler zu greifen, was ihn wertvolle Zeit gekostet hätte, sondern schlug mit einer Faust nach dem Kopf des Angreifers. Tapura Ronar hatte seine Schuldigkeit getan.

Das Versteckspiel war beendet.

Ich warf mich zur Seite, um dem mörderischen Schlag zu entgehen. Es gelang mir nur teilweise. Daylcrancz besaß nicht nur die Körperkräfte eines 500-Kilogramm-Kämpfers, er war auch verdammt schnell. Ich brachte meinen Kopf aus dem Trefferbereich, dafür wurde meine Schulter getroffen. Es fühlte sich an, als würde mein Oberarm aus der Gelenkkapsel gerissen.

Trotz der Schmerzen konzentrierte ich mich auf die Quintessenz der Dagor-Lehre. Der Körper ist nichts, der Geist ist alles. Er hat die völlige Herrschaft über das Fleisch.

Beide Beine voraus, flog ich gegen die Brust des Überschweren. Der spezielle Dagor-Tritt reichte nicht aus, ihn außer Gefecht zu setzen, brachte ihn aber ins Wanken. Er machte einen unkontrollierten Schritt rückwärts und wischte mit dem Handrücken über mein Kinn. Die flüchtige Bekanntschaft mit seinen schaufelgroßen Pranken zauberte blutrote Schlieren vor meine Augen. Wenn ich das Bewusstsein verlor, war ich ein toter Mann.

Ich schüttelte mich und zog den Abzug des Nadlers durch. Ein unterdrücktes Stöhnen verriet mir, dass ich getroffen hatte.

Als mein Blick sich klärte, lag Daylcrancz tot auf dem Boden. Seine gebrochenen Augen starrten ins Leere. Die von einem extrem starken Magnetfeld beschleunigte Hohlnadel, hauchdünn und nicht mehr als einen Zentimeter lang, hatte sich in die Stirn des Überschweren gebohrt. Es war kein Blut zu sehen. Ich bedauerte nicht, statt eines Betäubungsmittels ein tödlich wirkendes Gift verwendet zu haben. Mit ihrer Drogenküche hatten der Überschwere und der Ara aus Profitgründen Abhängigkeit und Tod unzähliger Opfer nicht nur einkalkuliert, sondern vorsätzlich geplant.

»Ich hole Sie hier raus, mein Freund«, versprach ich Lemy Danger und fügte hinzu, was der alte Mann im Wachkoma sich ohnehin denken konnte. »Ich bin Atlan.«

Höchste Eile war geboten. Es war keine Seltenheit, dass in Kampfschiffen der Überschweren bei Waffengebrauch ein automatischer Alarm in die Kommandozentrale übermittelt wurde. In dem Fall würde es hier gleich von Gegnern wimmeln.

Achtlos warf ich das Howalgonium beiseite und aktivierte den Transportkäfig. Das Gestänge entfaltete sich und setzte sich neu zusammen. Es konfigurierte einen rechteckigen Rahmen mit einem Gittergrund, über dem sich zwei Ausläufer zu einem Bogen vereinigten. Der Vorgang lief in völliger Stille und in Sekundenschnelle ab, trotzdem hatte ich das Gefühl, dass eine halbe Ewigkeit verging. Mein Blick ruhte auf der Bereitschaftsanzeige. Sie flackerte rot. Sende- und Empfangsfrequenzen von Sender und Empfänger und Tausende weiterer Parameter wurden ausgetauscht, verglichen und die Geräte aufeinander justiert.

Der Energieerzeuger, der das Prallfeldkissen gebildet hatte, fuhr hoch und potenzierte seine Leistung. Gleichzeitig stellte die Abstrahlautomatik Kontakt zur Gegenstation auf dem Leichten Kreuzer STABILO her.

Ich feuerte, als das Schott beiseite fuhr und in der Wandung verschwand. Ein gurgelnder Aufschrei, der nur einen Moment andauerte und dann verstummte, verriet mir, dass ich tödlich getroffen hatte. Sonnenheiße Energiebahnen fuhren über meinen Kopf dahin und verwandelten die Luft in kochendes Plasma. Meine Nackenhaare richteten sich auf angesichts der drohenden Gefahr. Einzig die Unkenntnis, was in der Medostation geschah, hielt die eintreffenden Überschweren davon ab, mit rücksichtslosem Einsatz vorzugehen.

»Kommandant?«, rief einer von ihnen.

Sie vertändelten wertvolle Zeit. Über dem Transmittergitter bildete sich der Abstrahlbogen. Das fünfdimensionale Feld baute sich auf, die Bereitschaftsanzeige sprang von Rot auf Grün.

Ich jagte drei Schüsse in den Korridor und griff nach dem Agenten. Er kam mir leicht wie welkes Laub vor. Ich trug ihn in das schwarze Glühen, das uns in der gleichen Sekunde zur Gegenstation abstrahlte. Der eingeleitete Transport löste zwei Explosionen aus. Inmitten der Labors detonierte der energetisch überflutete Transmitter mit verheerender Wirkung und vernichtete sämtliche Spuren meines Eingreifens, und der akonische Kampfaufklärer, mit dem ich gekommen und der magnetisch an der Hülle der DAYLCRANCZ verankert war, wurde in Millionen Stücke zerrissen.

Herberge der Auserwählten

Trilith Okt ging stolpernd. Mitten in ihrem Leib klaffte ein Loch, groß genug, um die Jogan-Findlinge aufzunehmen, die die Hafenmole säumten. Es war leer und es wuchs, breitete sich über ihren schmächtigen Körper aus wie ein Geschwür. Das Mädchen konnte bald an nichts anderes mehr denken, auch nicht die Stimme aus ihrem Inneren ignorieren.

Hunger!, schrie diese fortwährend. Hunger!

Die Straße aus grob behauenen Steinen wand sich zwischen den zumeist zweistöckigen Häusern. Dicht standen sich die trostlos wirkenden Bauten gegenüber. Die Spannweite von zwei Männern reichte aus, um die Gasse zwischen ihnen zu überbrücken. Deshalb kam es hier und da zu Engstellen. Männer und Frauen eilten mit leeren Händen zum Hafen hinunter, wo Markt war, oder kamen mit Fleisch, Fisch, Taru-Knollen, lebendem Federvieh, Früchten, unterschiedlichen Gemüsesorten und exotischer Nahrung zurück, die Trilith noch nie gesehen hatte. Zumindest glaubte sie das, doch vielleicht hatte sie irgendwann davon gekostet und die Erinnerung daran vergessen. Es war ihr gleichgültig. Sie hätte alles gegessen, mochte es auch noch so fremdartig aussehen.

Trilith drückte sich dicht an den Fassaden entlang, um nicht über den Haufen gerannt zu werden. Niemand achtete auf sie, niemand half ihr auf die Beine, wenn sie hinfiel. Sie war auf sich allein gestellt.

In ihrem Verstand blitzte die Frage auf, ob das immer so gewesen war. Es gab keine Antwort. Sie konnte sich nicht an ihre Vergangenheit erinnern, nicht an ihre Herkunft, nicht an ihre Eltern und nicht daran, wie sie in den erbärmlichen Ort gekommen war, der den Namen Stadt nicht verdiente, aber in maßloser Selbstüberschätzung Dachaya-Daya genannt wurde, was soviel bedeutete wie »Herberge der Erwählten«. Einzig ihr Name war ihr geblieben und die Kenntnis, dass sie elf Jahre alt war. Unter normalen Umständen waren zumindest das wichtige Informationen, die jedoch zur Bedeutungslosigkeit verkamen, wenn das eigene Denken ausschließlich vom Hunger beherrscht wurde.

Verstohlen blinzelte sie zu den gefüllten Körben und Beuteln, die an ihr vorbeigetragen wurden. Wohlgerüche drangen an ihre Nase, vermischten sich mit denen, die mit einer sanften Brise vom Hafen heraufzogen. Sie ertappte sich bei dem Drang, einfach zuzugreifen, etwas an sich zu reißen und im Gewirr der Gassen unterzutauchen.

Sie hielt inne, stellte sich mit dem Rücken gegen eine geöffnete Fensterlade, von der die Farbe abblätterte, und hielt nach einem lohnenden Opfer Ausschau. Sie brauchte nicht lange zu warten, bis sie eine gebeugt gehende alte Frau mit verhärmtem Gesichtsausdruck bemerkte, die ohne Begleitung war. Die Alte trug einen verknoteten Sack über der dürren Schulter, der nur deshalb nicht abrutschte, weil die vorstehenden Knochen ihn wie Haken hielten.

Eine solche Chance würde so schnell nicht wiederkommen. Um das verräterische Knurren ihres Magens zu übertönen, begann Trilith eine Melodie zu summen, die ihr spontan in den Sinn kam.

Ein kehliges Geräusch entstand. Das Hutzelweib zeigte zwei unvollständige Reihen schwarzer Zahnstümpfe, die hektisch aufeinander mahlten. Ihre Wangen, rissig wie brüchiges Pergament, bebten bei jedem Atemstoß. Sie musterte Trilith aus einem Paar gelblicher Augen, aus denen zäh eine eitrige Flüssigkeit lief, die in den Hautfurchen versickerte. Fürwahr eine Erwählte, wie der Ortsname verheißungsvoll vorgaukelte. Ihr Blick durchbohrte das Mädchen und verlor sich im Nirgendwo. Schierer Wahnsinn lag darin.

Trilith wollte antworten, etwas sagen, zumindest um einen Fladen Brot bitten. Ihre Stimme versagte, während der Duft der in dem Sack verstauten Speisen sie beinahe um den Verstand brachte. Sie musste ihre ganze Willenskraft einsetzen, um einen Arm auszustrecken. Umso schneller zog sie ihn zurück, als Schritte in ihre Richtung kamen.

Die Alte kicherte und eilte auf spindeldürren Beinen weiter.

»Verschwinde von hier!«

Sind die Worte an mich gerichtet oder an die Alte?

Zwei Dachayaner stapften auf stämmigen Säulenbeinen heran, grobe Kerle, das erkannte Trilith sofort. Der eine war lang wie ein Baum, der andere einen ganzen Kopf kürzer; dafür war er breiter und schob einen beachtlichen Wanst vor sich her: Zweifellos hatte er noch nie Hunger gelitten.

»Bist du mit dem Boden verwachsen?«

»Erschreck sie nicht! Die Kleine ist ganz niedlich.«

Als die Männer sie erreichten, vergaß Trilith sogar ihren Hunger. Sie rochen nach Alkohol, und einer von ihnen hatte ein blutverschmiertes Gesicht. Wahrscheinlich kamen sie aus einer Taverne, wo sie nicht nur getrunken, sondern sich zudem geprügelt hatten.

»Hast du dich verlaufen, Kleine? Wo sind deine Eltern?«, fragte der Fette. Sein Atem stank wie die Kloaken in der Unterstadt, wo sich die Verrichtungsrinnen von ganz Dachaya-Daya vereinigten, bevor sie abseits des Hafens ins Meer führten.

Rasch drehte Trilith den Kopf zur Seite. Ihr wurde übel. Sie suchte nach einer Antwort. Vor Furcht war ihre Kehle wie zugeschnürt. Was sollte sie antworten, wenn ihre Herkunft schon für sie selbst ein Rätsel war?

»Sie hat ihre Eltern verloren«, sagte der Lange grinsend. »Oder sie hat gar keine.«

»Ist das so, Kleine? Bist du allein?«

Trilith legte den Kopf schief, ein Zeichen der Zustimmung. »Habt ihr etwas zu essen für mich?«

»Zu essen?«, echote der Lange, wobei er sich hinunterbeugte und sein von blutigem Schorf verunziertes Gesicht vor das des Mädchens schob. »Ich glaube, die Kleine hat schon lange nichts mehr zu essen bekommen.«

»Warum nehmen wie sie nicht einfach mit und kümmern uns um sie?«

»Hältst du das für eine gute Idee? Hetkans Schergen patrouillieren durch Dachaya.«

»Die meisten sind unten beim Markt. Die kommen uns nicht in die Quere.«

»Ich staune immer wieder über die Klarheit deiner Überlegungen.«

Das Gelächter der beiden Männer jagte Trilith einen Schauer über den Rücken. Vor Angst war sie wie gelähmt. Sie begriff nicht, wovon die Scheusale sprachen. Etwas Gutes konnte es nicht sein. Als der Große sie packen wollte, handelte sie instinktiv. Sie duckte sich und tauchte unter seiner massigen Pranke hindurch. Ihre Beine liefen wie von allein. Sie wich entgegenkommenden Passanten aus und schlug den Weg hinunter zum Markt ein.

Hetkans Schergen, erinnerte sie sich. Sie hatte keine Ahnung, wer damit gemeint war. Doch die beiden Kerle hatten Angst vor ihnen und würden ihr nicht folgen.

»Lauf nur und verhungere!«, rief einer der Männer, zweifellos der Lange, ihr nach. »Nur achte darauf, mir nie wieder zu begegnen, sonst wirst du es bereuen!«

Gehetzt sah das Mädchen sich um. Unentschlossen standen die beiden Männer vor dem Haus mit den zerschlissenen Läden, dann drehten sie sich abrupt um und gingen in entgegengesetzter Richtung davon.

Trilith lief weiter bis zu einer Seitengasse, in der sie untertauchte. Sie blieb erst stehen, als sie sicher war, den derben Kerlen wirklich entkommen zu sein. Ihr kurzes stoßweises Atmen rührte gleichermaßen von der Anstrengung und der Verängstigung her.

Du hast keine Angst, sagte sie sich.

Sie wusste es besser. Ganz Dachaya-Daya war gesättigt mit Bosheit und Hinterlist. Es gab keine Güte, keine Hilfsbereitschaft und keine Nächstenliebe. Dieser Ort würde sie über kurz oder lang umbringen. Es war an der Zeit, ihn zu verlassen. Doch so wenig, wie Trilith ihre Herkunft kannte, hatte sie Ahnung, wohin sie sich wenden sollte.

Die Gasse, in die sie geflüchtet war, führte zum Markt und der zu einem Hafen ausgebauten, natürlich entstandenen Landungsbucht. Auf dem Meer waren weiße Segel zu sehen. Ein Schiff steuerte die Herberge der Auserwählten an.

Das Mädchen kaute so konzentriert, als verrichtete es eine Aufgabe, die höchste Aufmerksamkeit erforderte. Die aufgelesene Hälfte eines Kanten Brots, den jemand achtlos weggeworfen hatte, erschien ihr als der größte Schatz, den sie jemals gesehen hatte. Da sie keine Erinnerung besaß, stimmte diese Einschätzung in gewisser Weise sogar. Zwischen den einzelnen Bissen klammerte sie sich an das Brot wie an einen Rettungsanker. In ihrer Verzweiflung hätte sie es selbst gegen die beiden groben Kerle verteidigt.

Sie saß auf dem sanft ansteigenden Hügel und schaute auf die Oberstadt. Dicht an dicht standen die buckligen Häuser. Wie eine Spirale, die am Fuß des Hügels gleich hinter dem Markt begann, schmiegten sie sich an den Hang. Die zahlreichen Gassen, die von der einzigen sich durch den ganzen Ort ziehenden Hauptstraße abzweigten, waren von unten nicht zu sehen, was die Erscheinung eines Labyrinths verstärkte, aus dem keine Flucht möglich war, wenn man sich darin verlief. In den unteren Häusern gab es zahlreiche Spelunken, Bars und finstere Läden, in denen mit Dingen gehandelt wurde, die es auf dem öffentlichen Markt nicht zu kaufen gab.

Wie lange lebe ich hier? Unter welchen Umständen bin ich nach Dachaya-Daya gekommen?

Die Fragen verschwanden mit den letzten Krumen Brot. Das Mädchen erschrak über sich selbst. Es hatte einen Rest für später aufheben wollen. Ihr ausgehungerter Körper hatte sich dagegen entschieden. Für den Abend musste Trilith etwas anderes zu essen finden, doch einstweilen war ihr Hunger gestillt. Sie löste sich aus der Betrachtung der Oberstadt und widmete ihre Aufmerksamkeit dem Markt, der zwischen Hafenbecken und Stadt eingekeilt lag. Nun, da sie einigermaßen gesättigt war, brachen die Eindrücke mit Macht über sie herein.

Tausend Stimmen und Marktgeräusche verschwammen zu einem überbordenden Durcheinander aus Ausgelassenheit und Frohsinn, Zank und Hader. Schreiende Kinder tobten zwischen den Ständen, fiepende Falipas, kleine pelzige Nager, balgten um Abfälle. Ganze Schwärme silbrig schimmernder Aasfliegen, die erst am frühen Morgen geschlüpft waren und den kommenden Sonnenuntergang nicht erleben würden, labten sich an rohem Fleisch und Fisch und legten ihre Eier ab. Von mehreren Stellen drang im Widerstreit liegende Musik, durchbrochen vom Blöken und Grunzen der Yukas, die vor die Karren der fliegenden Händler gespannt waren, die von einem Ort zum nächsten reisten. Die säuerlichen Ausdünstungen der Zugtiere vermischten sich mit den Gerüchen von feilgebotenen Früchten und Gewürzen aus aller Herren Länder.

Das Geschäftsgebaren der Händler war wenig rücksichtlosvoll. Sie priesen ihre Auslagen in höchsten Tönen und mit lauten Organen. In ihrem Bemühen, ihre Waren an den Mann oder die Frau zu bringen, überboten sie sich stimmgewaltig mit Angeboten, die man nur schweren Herzens ignorieren konnte.

»Drei Taru-Knollen zum Preis von zwei, und wer sie an Ort und Stelle verzehrt, erhält eine weitere kostenlos für daheim.«

»Flugunfähige Boleo-Vögel aus der Provinz Mando, speziell für Minenarbeiter. Kein anderer Vogel eignet sich so als Frühwarnsystem gegen tödliches Untertagegas. Werden sie ihm ausgesetzt, fallen Boleos in einen Scheintod. Ihre Organe filtern die Gifte und scheiden sie wieder aus. Boleo-Vögel aus Mando. Garantiert bis zu zehn Mal wiederverwendbar.«

»Parparinsalbe gegen Haarausfall, schlechte Zähne, Kurzatmigkeit, Juckreiz, Zehenfäulnis und zur Stärkung des Mannes. Nicht für drei, nicht für zwei, sondern nur für einen Kertos.«

Trilith besaß keine einzige der fingergliedgroßen Münzen. Sie drückte sich durch die engen Gänge zwischen den Aufbauten der Händler in Richtung Wasser. Der typische Geruch von Salzwasser zog landeinwärts. Drei Masten erhoben sich aus dem Hafen. Matrosen waren mit dem Raffen der Segel beschäftigt.

Das Schiff, das Trilith von weiter oben gesehen hatte, war vor Dachaya-Daya vor Anker gegangen. Sie beschloss, es aus der Nähe anzusehen.

Kisten mit Fischen versperrten ihr den Weg und zwangen sie, einen Umweg zu wählen. Die toten Meeresbewohner schillerten in allen Farben des Regenbogens. Dürre, nur fingergroße Exemplare lagen neben violetten und blauen Giganten, die annähernd so groß waren wie das Mädchen. Einige erinnerten mit ihrer Kugelform an aufgeblasene Ballons, andere waren schlank und hatten die Länge von Lilienschlangen oder kräftige Leiber mit Flossen, die jeden Meeresfeind mit einem Schlag zerschmettern konnten. Die gefährlichsten Jäger besaßen beeindruckende Reihen messerscharfer Zähne oder Schwerter, die jedem Säbel Konkurrenz machen konnten. Ihre offenen Augen blickten anklagend und schienen Trilith, als sie daran vorbei ging, zu folgen. In Wannen tummelten sich Krustentiere und Panzerkrebse mit armlangen Fühlern und mächtigen, zusammengebundenen Scheren, proteinhaltige Schlickwürmer, deren hervorstehende Stilaugen aus dem Wasser lugten und sich bei jeder hektischen Bewegung blitzschnell zurückzogen, mit vielen Fangarmen und feuerroten Saugnäpfen bewehrte Kraken sowie Muscheln in allen Größen und Farben.

Ein paar der sackartigen Oktopoden sahen furchterregend aus und lieferten eine Vorstellung, was für Monstren sich in den Tiefen der Meere verbargen. Trilith schnupperte. Einige der Meeresfrüchte rochen nicht gut. Das änderte sich, wenn sie gekonnt zubereitet wurden.

Schnatternd stelzten Gelblöffler auf dünnen Beinen umher, schnappten zu, wenn ein kleines Krabbentier von einer Auslage fiel, stieben mit hektischen Flügelschlägen auseinander, wenn es den Verkäufern zu bunt wurde und sie nach den Vögeln, deren Körper fast nur aus Schnabel bestanden, traten, um sie zu vertreiben. Weit flogen sie nicht, gehalten von der törichten Aussicht auf einen richtig dicken Fisch, der in ihren Magen wanderte.

Ein paar Meter vor Trilith Okt teilte sich die Menge der Schaulustigen und um gute Preise Feilschenden. Vier Männer kamen vom Steg herauf, an dem ein Beiboot vertäut lag. Da man ihnen bereitwillig Platz machte, brauchten sie sich keinen Weg zu bahnen. Das Mädchen sah ihnen an, dass sie das ohne Zögern getan hätten. Allein ihr Auftreten verriet, dass sie es gewohnt waren, sich durchzusetzen. Alle vier trugen Kniehosen und Leinenhemden, waren von der Sonne gebräunt und legten eine Körpersprache an den Tag, als gehörten die Stadt und der Markt ihnen.

Der größte von ihnen, der seinen Begleitern voranging, war eine beeindruckende Erscheinung mit einem Gardemaß von annähernd zwei Metern. Lange schwarze Haare, die von einem Stirnband nur unzureichend im Zaum gehalten wurden, umrahmten seinen Schädel, aus dem stahlblaue Augen und ein an den Enden nach oben gezwirbelter Schnauzbart hervorstachen. Der Kopf war etwas langgezogen und ging nach oben hin in die Breite.

Sie sahen anders aus als das Mädchen, anders auch als die Bewohner der Stadt.

Mit vor der prächtigen Brust verschränkten Armen stolzierte der Anführer durch die Reihen der Marktstände und musterte die dargebotenen Waren, geringschätzig, wie Trilith fand. Er wölbte die Augenbrauen und blieb vor einem Karren stehen, auf dessen Ladefläche hölzerne Gestelle prangten. In Schlaufen hing gedörrter Trockenfisch.

»Kann ich behilflich sein?«, bot der Händler an. Dem Mädchen entging nicht der unsichere Unterton.

»Konnte mir jemals einer von euch Krämern behilflich sein?« Der Hüne besaß eine sonore, fast weiche Stimme, die nicht zu seinem äußeren Erscheinungsbild passte. »Wir waren lange unterwegs und brauchen Bordvorräte für die nächste Fahrt.«

Seine Worte bestätigten, was Trilith sich gleich gedacht hatte. Er gehörte zur Besatzung des Schiffs, das vor Dachaya-Daya ankerte.

Unwillkürlich hielt sie inne, neugierig auf das Geschehen, das sich vor ihren Augen anbahnte. Dabei hielt sie sich weit genug von den Männern entfernt, um nicht durch einen dummen Zufall darin verstrickt zu werden. Die Seeleute trugen Steinschlosspistolen, Säbel und Messer bei sich.

»Wir geben uns stets alle Mühe, euch zufrieden zu stellen, Kapitän Orin.«

»Dann frage ich mich, wieso euch das nie gelingt.«

»Niemand hatte jemals Anlass, sich über meine Waren zu beklagen«, antwortete der Händler weinerlich. Sein schwammiges Gesicht mit den Knopfaugen, die sich unaufhörlich bewegten, war rot von der Sonne und offensichtlichem Respekt vor seinem Kunden. »Ihr bekommt stets nur das Beste vom Besten, Kapitän.«

»Ich will gar nicht wissen, wie es um die anderen armen Hunde steht. Ich schätze, ihre Kinder sterben an den Lepreln, weil sie mit deinem Aas gefüttert werden.«

Der zweite der Männer, um Haupteslänge kleiner als sein Kapitän, brach in schallendes Gelächter aus. Sein Schädel war rasiert, ebenso das von Narben verunstaltete Gesicht, das pure Schadenfreude ausdrückte. Der Händler schnappte nach Luft, ohne Widerspruch zu wagen. Einerseits waren ihm seine Kunden wohl nicht geheuer, andererseits versprach er sich einen guten Profit, wenn er mit ihnen ins Geschäft kam.

»Ich bin der einzige, der genügend Vorräte besitzt, um eure Speisekammer zu füllen«, behauptete der Händler listig.

»Was sagst du dazu, Kiridorn?«, fragte Orin seinen kahlköpfigen Begleiter.

»Dass unser guter Tachman ein Schlitzohr ist«, sagte der Angesprochene und kicherte vergnügt dabei. »Und dass er Recht hat, jedenfalls was unsere Belange angeht.«

»Ja, das sehe ich ebenso.« Nachdenklich zwirbelte der Hüne das Ende seines Schnurrbarts. Mit einer plötzlichen Bewegung zog er seine Pistole.

Die umstehenden Zuschauer, die wie Trilith den Wortwechsel verfolgten, sprangen auseinander, um sich in Sicherheit zu bringen. Das Mädchen selbst war wie gelähmt vor Schreck. Unfähig, sich zu rühren, verfolgte sie, wie Orin die Pistole unter den Karren richtete und den Abzug durchzog. Ein ohrenbetäubender Knall übertönte jeden anderen Laut. Die Musik brach ab, die Gelblöffler flatterten davon, und selbst die Yukas verstummten.

»Ich hasse diese Viecher«, zischte der Kapitän.

Endlich gelang es Trilith, sich zu rühren. Unter dem Karren lag eine tote Falipa, oder zumindest das, was von ihr übrig war. Das Geschoss hatte den pelzigen Nager zerfetzt. Seine Eingeweide lagen über den Boden verstreut, auf dem sich blutige Lachen bildeten.

»Können wir nun zum Geschäft kommen? Ich will sämtliche Vorräte vor Anbruch der Dämmerung an Bord haben.«

»Natürlich … gerne … was immer ihr wollt, Kapitän«, stotterte der Händler.

»Kapitän Orin Wark, ich hätte es mir denken können. Du hast uns schon zu lange mit deiner Abwesenheit beglückt. Ich habe erwartet, dass du früher oder später wieder auftauchst, auch wenn ich fast jeden Tag zur heiligen Jungfrau Hildadora gebetet habe, dass irgendwer die PIRATENBRAUT mit dir und deinem ganzen Gesindel auf den Grund des Meeres schickt.«

Freibeuter, dachte Trilith und fragte sich, wieso der Gedanke sie so faszinierte.

Sie musterte den korpulenten Mann mit der platten Boxernase, in dessen Gefolgschaft sich ein halbes Dutzend weiterer Kerle befanden. Unversehens waren sie, zweifellos durch den Schuss angelockt, aus der flüchtenden Menschenmenge aufgetaucht. Sie trugen einheitliche blaue Hosen und Jacken. An ihren Seiten steckten Waffen.

»Hetkan«, sagte der Kahlkopf. »Hauptmann von eigenen Gnaden. Wir hätten uns denken können, dass du mit deinen selbst ernannten Ordnungshütern noch immer über diesen idyllischen Ort wachst.«

Hetkans Schergen, erinnerte sich das Mädchen an die Worte des Langen aus der Oberstadt. Ihre Vernunft riet ihr, sofort das Weite zu suchen, doch ihre Neugier hielt sie zurück.

Der Wortführer der Blaujacken spuckte verächtlich aus. »Kiridorn Dasch. Dich wähnte ich als einen der ersten in der Hölle. Dieser Speichellecker steht also immer noch in deinen Diensten, Orin.«

»Beleidige nicht meinen ersten Offizier«, antwortete der Kapitän ungerührt und wandte sich an den Kahlkopf »Kümmere dich mit den Männern um den Proviant. Bringt an Bord, was wir brauchen. Wir treffen uns nach Einbruch der Dunkelheit in Lilis Taverne.«

»Jawohl, Kapitän! Wenn ihr ihn tötet, bringt mir seine Ohren als Andenken.«

»Sollte er mich dazu zwingen, werde ich daran denken.«

Orin Wark zog den Uniformierten mit sich, bevor der Streit eskalierte. Erstaunt verfolgte Trilith, dass die beiden Männer miteinander tuschelten. Sie verstand nur Bruchstücke der Unterhaltung. Sie hatte einen Kampf zwischen Piraten und Ordnungshütern erwartet. Der Kapitän zog einen kleinen Lederbeutel unter seinem Hemd hervor und reichte ihn an Hetkan. Trilith spitzte die Ohren und bekam das Ende des Gesprächs mit.

»Damit dürften unsere Einreiseformalitäten erledigt sein.«

Der Hauptmann machte eine herzliche Armbewegung. »Wie immer bist du mit deinen Leuten in Dachaya-Daya willkommen. Tu mir nur einen Gefallen, beschränk deine Schießübungen auf die Falipas. Die Bewohner der Stadt bezahlen mich nämlich gut für die Sicherheit, die meine Leute und ich ihnen bieten. Nicht so gut wie du zwar, wenn du dich alle paar Jahre hier blicken lässt, aber immerhin.«

»Die Besatzung will nichts außer etwas Spaß«, winkte Orin ab. »Diesen Wunsch kann ich ihr nach den Monaten auf See nicht abschlagen.«

»Monate? Dann sind deine Laderäume mit reicher Prise gefüllt.«

»Nicht mehr lange. Während wir hier reden, wird die Ladung gelöscht. Bevor ich in Lilis Taverne Einkehr halte, sind meine Geschäfte abgeschlossen.« Der Hüne lächelte verbindlich. »Komm am Abend dorthin, und du erhältst zusätzlich zum üblichen Preis den Zoll für die problemlose Einfuhr.«

»Es ist immer wieder eine Freude, mit dir Geschäfte zu machen.«

»Die ich nun angehe.«

Die Männer trennten sich grußlos. Trilith schaute zum Hafen hinunter, in dem die PIRATENBRAUT lag. Als sie sich wieder umdrehte, war vom Kapitän nichts mehr zu sehen. Etwas haftete ihm an, was das Mädchen anzog. Sie bedauerte, nicht mehr über ihn erfahren zu können.

Falsch, dachte sie entschlossen. Er wollte in Lilis Taverne. Sie kannte die Spelunke im Hafenviertel, in das der Markt eingebettet lag. Es hieß, dass Piraten durch übermäßigen Alkoholgenuss leutselig wurden. Ob das stimmte, vermochte Trilith nicht zu beurteilen, da sie sich nicht daran erinnerte, jemals mit Piraten zu tun gehabt zu haben.

Auf dem Markt normalisierten sich die Verhältnisse, nachdem es zu keinem ernsthaften Zwischenfall gekommen war, rasch wieder. Die Händler schrien um die Wette, die Gelblöffler schnatterten und kreischten, die Yukas blökten, und ein paar Musiker lärmten auf ihren Holzinstrumenten. Nur für Trilith Okt hatte sich etwas geändert. Sie streunte nicht mehr ziellos umher. Mit großen Augen lief sie zum Hafen und begutachtete die PIRATENBRAUT.

Das Plätschern des Wassers gegen die Hafenmauern drang an Trilith Okts Gehör. Der Markt war verlassen, die Geräusche des Tages verstummt. Die Stimmen, die zu hören waren, stammten aus den Gassen der Stadt, aus dem Vergnügungsviertel, in dem das Nachtleben eingesetzt hatte, und von zwischen Hafen und Markt patrouillierenden Blauuniformierten. Es war hell genug, dass das Mädchen sie schon von Weitem sehen und ihnen aus dem Weg gehen konnte. Zwei Monde dominierten den sternenklaren Himmel und tauchten die Stadt in einen weichen Schein. An manchen Häuserwänden brannten Fackeln. Aus den Fenstern, die nicht durch Läden verschlossen waren, drang das Licht von Öllampen.

Am Ende einer Gasse tanzten Flammen vor der Fassade eines Hauses. Sie wirkten wie Irrlichter, die angeblich in manchen Nächten am Horizont übers Meer tanzten. Die Kerzen aus Pech beleuchteten einen gewaltigen Schädel, dem Kopf eines Yukas ähnlich, aber mit Hörnern verziert und um ein Vielfaches größer. Er war aus mächtigen Holzbohlen geschnitzt und umrahmte eine Tür, hinter der Stimmen lärmten.

Trilith duckte sich in eine Nische und hielt den Eingang zu Lilis Taverne im Auge.

Für Passanten war durch das Fenster nicht zu sehen, was sich im Inneren abspielte. Die Scheiben waren längst blind, Rauch waberte dahinter.

Den Blick des Mädchens hinderte das nicht. Sie sah in dem Glas nicht ihre schwarzen Haare, nicht die schlanke Nase und die hellroten, wässerigen Augen, auch nicht den vollen Mund oder den schlanken, langen Hals mit der kräftigen Erhebung, die jedermann für einen ausgeprägten Kehlkopf gehalten hätte. Sie sah vielmehr durch das angelaufene Glas und den Nebel hindurch. Es gelang, ohne dass sie etwas dazutat. Sie verdrängte das aufkeimende Schuldbewusstsein, das entstand, weil sie zu etwas fähig war, was ihres Wissens niemand sonst beherrschte. Instinktiv ahnte sie, dass die Gabe äußerst selten, wenn nicht gar einmalig war.

Die Taverne war gut besucht, überwiegend von Männern. Die wenigen Frauen, die sich zwischen ihnen aufhielten, waren noch ausgelassener als ihre Begleiter. Vergeblich hielt Trilith nach Orin Wark Ausschau. War der Kapitän noch nicht hier oder schon wieder gegangen? Oder hatte er es sich anders überlegt und würde gar nicht kommen? Die PIRATENBRAUT lag noch im Hafen. Sie war in den vergangenen Stunden ent- und dann wieder beladen worden.

Ein Lichtvorhang fiel in die Gasse, als die Tür sich öffnete und ein Betrunkener ins Freie stolperte. Er sah sich um und hatte offenbar Schwierigkeiten, sich zu orientieren. Er sah in Richtung des Mädchens, das sich mit wild pochendem Herzen in die Nische drückte und darum flehte, nicht entdeckt zu werden. Ein paar derbe Worte ausstoßend, zog der Gast die Tür hinter sich zu und torkelte stadtaufwärts davon.

Auf dieser Seite kam Trilith nicht weiter.

Sie lief in die entgegengesetzte Richtung bis zu einem schmalen Durchlass zwischen zwei Häusern. Unter ihren Füßen platschte das Wasser, das keinen Zugang zu einer der Verrichtungsrinnen gefunden hatte und in einem dünnen Rinnsal Richtung Hafen rann. Um eine zur Unkenntlichkeit zerrissene Beute kämpfende Falipas stoben auseinander und huschten in Löcher im Mauerwerk, als Trilith die enge Gasse passierte. Die Nager waren zu ängstlich, um die Stadtbewohner anzugreifen. Gefährlich waren sie, weil sie Krankheiten übertrugen.

Hinter dem Haus lag ein enger, vom Mondschein nicht erreichter Platz, auf den die Hinterausgänge mehrerer Etablissements mündeten, auch der von Lilis Taverne. Der Lärm aus dem Inneren war hier viel lauter, weil er aus einem offen stehenden Tor drang. Der betörende Geruch von Ladis-Nelken, Catayaschoten, Schwarznusspfeffer, Brimbisbeeren und weiteren undefinierbaren Gewürzen lag in der Luft. Er konkurrierte mit dem durchdringenden Gestank von Küchenabfallen, die zu einem Berg gestapelt waren. Ringsum brannten Fackeln, denen allein zu verdanken war, dass sich keine Falipas um das Futterparadies balgten. Offene Flammen fürchteten sie noch mehr als Zweibeiner.

Sofort machte sich Trilith Okts Magen bemerkbar. Es konnte nicht alles verdorben sein. Auch frische Abfälle vom Abend waren dabei. Niemand war in der Nähe, der sie beim Stöbern darin stören würde.

Dachte sie, bis sie kaum wahrnehmbare Schritte vernahm. Sie kamen vom gegenüber liegenden Ausgang des Platzes, wo ein paar halb zerfallene Karren abgestellt waren. Eine Gestalt, nicht größer als das Mädchen, das hinter den Abfällen kauerte, schob sich zwischen ihnen hindurch. Trilith war überrascht, dass sie nicht das einzige Kind war, das sich in dieser heruntergekommenen Gegend durchschlug. Sie wollte aus ihrem Versteck treten und den Leidensgenossen ansprechen. Erschrocken unterließ sie es, als die Gestalt vom Lichtschein der Fackeln enthüllt wurde.

Es war ein Gnom, sogar noch etwas kleiner als sie, aber mindestens dreimal so alt. Er trug Sandalen und aufgeplusterte Hosen. Sein Oberkörper war nackt und über und über mit Tätowierungen versehen, die selbst im fahlen Licht auf eine unerklärliche Art lebendig wirkten. So schnell ihn seine kurzen Beine trugen, überquerte er die offene Fläche und huschte an den Rand des Tores. Er streckte den Kopf vor, drückte sich um die Ecke und verschwand im Inneren der Taverne.

Er war nicht entdeckt worden, nahm Trilith an.

Der Weg hinein war frei. Darüber dass sie, erst einmal drin, gleich wieder hinausgeworfen werden würde, machte sie sich keine Gedanken.

Sie sprang aus ihrem Versteck, folgte dem Gnom. Vor ihr lag ein unbeleuchteter, schmaler Gang, abgetrennt von der zur Linken anschließenden Küche, in der der Koch mit der Zubereitung seiner Speisen über einem schwelenden Feuer viel zu beschäftigt war, um etwas anderes um sich herum wahr zu nehmen. Der Korridor beschrieb eine Krümmung und führte zu einer angelehnten Tür.

Trilith spähte durch den Spalt. Ihr Herz machte einen Sprung. Die Taverne lag dahinter, ein unübersichtlicher Schankraum mit zu Sitzgruppen arrangierten Bänken und Tischen, auf denen Öllampen flackerten. Es roch nach Essen, Alkohol und Rauchwaren. Das Mädchen wunderte sich, dass bei den angeregten Gesprächen, den derben Scherzen der Männer und dem fohlen und Lachen der in der Menge nicht auszumachenden Weiber überhaupt irgendwer sein eigenes Wort verstand. Vergeblich hielt sie nach dem Gnom Ausschau. Bei seiner Größe ging er zwischen all den Dachayanern buchstäblich unter.