Tief unter Wasser - Elke Schwab - E-Book

Tief unter Wasser E-Book

Elke Schwab

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Beschreibung

Ein neuer Leichenfund erinnert an einen alten Mordfall. Vater und Sohn werden im Abstand von zwanzig Jahren getötet. Stehen beide Taten im Zusammenhang? Und welche Rolle spielen die Freundinnen Britta und Cindy dabei? Sie waren vor zwanzig Jahren in der Nähe des getöteten Ernst Gerlach am Burbacher Weiher gesehen worden. Heute findet man die Leiche von Thomas Gerlach in Cindys Wohnung, kurz nachdem der für zwanzig Jahre verurteilte Markus Gronski in die Freiheit entlassen worden ist. Britta Ballhaus arbeitet inzwischen als Kriminalkommissarin. Sie wird mit einer Reihe von tödlichen Unfällen konfrontiert. Jeder der damals zu Markus Gronskis Verurteilung beigetragen hat, stirbt. Als sich Britta und Cindy eigenmächtig auf die Suche nach dem Hauptverdächtigen machen, erleben sie eine Überraschung nach der anderen. Und das Sterben hört nicht auf …

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Elke Schwab

Tief unter Wasser

Südwestdeutscher Krimi

 

 

 

Dieses ebook wurde erstellt bei

Inhaltsverzeichnis

Titel

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Epilog

Impressum neobooks

Prolog

Elke Schwab

Tief unter Wasser

Südwestdeutscher Krimi

.

Anmerkung der Autorin:

Diesen Krimi widme ich meinem Mann Hans-Jürgen Fischer und meinen beiden Freundinnen Sabine und Conny.

Ohne Euch wäre das Buch nicht halb so gut geworden.

Dafür danke ich Euch von Herzen.

Tief

unter

Wasser

Krimi

Elke Schwab

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

© Elke Schwab, 2018

www.elkeschwab.de

Covergestaltung:

….Foto: Manfred Rother

…Motiv: Burbacher Weiher

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten. Dies ist eine fiktive Geschichte. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

August 1995

Die Sonne spiegelte sich im Wasser des Burbacher Weihers. Kein Lüftchen wehte, die Hitze knallte auf Britta Ballhaus herab. Sie konnte es kaum noch erwarten, in das kühle Nass zu gehen. Eine Weile lauschte sie der Stille, die sie umgab. Nichts war zu hören außer dem gelegentlichen Motorengeräusch eines Autos auf der Autobahn A1, die östlich hinter der bewaldeten Böschung verlief.

Sie zögerte.

Zwei ihrer Klassenkameradinnen - Angelika Diemke und Daniela Barthold - gingen ihr durch den Kopf.

Beide waren spurlos verschwunden. Angelika im Juni und Daniela im Juli. Alles war unternommen worden, um die Mädchen zu finden. Doch leider ohne Erfolg.

Noch nie hatte Britta ein derart großes Aufgebot gesehen. Zuerst bei Angelika und vier Wochen später die Wiederholung bei Daniela. Immer noch kreisten gelegentlich Hubschrauber am Himmel. Die Polizei hatte die Hoffnung nicht aufgegeben, die beiden Mädchen doch noch lebend zu finden.

Britta seufzte. Nach vier bzw. acht Wochen? Das war eine lange Zeit. Wenn sie noch lebten, wollte sie nicht wissen, was sie gerade durchmachten.

Die Zeit der Unbeschwertheit war vorbei.

Sie schüttelte den Kopf, als wollte sie diesen trüben Gedanken verscheuchen. Sie war hier, weil sie das Leben genießen wollte. Der Sommer war so schön wie schon lange nicht mehr. Das musste sie ausnutzen. Andersherum könnte sie auch denken, dass das Verschwinden von Angelika und Daniela ihr gezeigt hat, wie schnell alles vorbei sein kann. Also sollte sie jeden Augenblick genießen, solange es ihr noch möglich war.

Sie zog ihr luftiges Sommerkleidchen, Slip und BH aus und ging ins Wasser. Die Abkühlung tat ihr gut. Sie musste nur wenige Schritte gehen, bis der Weiher tief wurde. Sie tauchte unter, schwamm ihre Bahnen und genoss das Gefühl der Freiheit. Sie drehte ihre Runden und stellte fest, dass sie heute ganz allein war. Sogar von dem einsamen Kajakfahrer gab es keine Spur. Das war ihr ganz recht. Sie wusste nicht, wer in dem Kajak saß, ob er sie beobachtete oder einfach nur seinem Sport frönen wollte. Aber das konnte sie nicht ändern und dieses Badeerlebnis ließ sie sich durch nichts und niemanden nehmen.

Nur war es schade, dass sie mal wieder allein war. Ihre beste Freundin Cindy Graf hatte sich abgesetzt. Vermutlich war ein Junge aus der Schule schuld daran. Cindy konnte es einfach nicht lassen. Wer dieses Mal der Auserwählte war, wusste Britta nicht – noch nicht. Vermutlich war bald alles vorbei und Cindy schüttete bei ihr das Herz aus.

Britta schmunzelte, tauchte noch einmal unter und schwamm auf das Ufer zu.

Sie fühlte sich erfrischt. In aller Seelenruhe trocknete sie sich ab, schaute dabei an ihrem schlanken Körper herunter. Die Beckenknochen standen heraus, leicht schimmerten die Rippen durch die gebräunte Haut hindurch und ihr Busen reckte sich keck in die Höhe. Ihr gefiel, was sie sah.

Plötzlich hüllte sie ein Schatten ein. Im gleichen Moment packte sie jemand von hinten in der Taille. Eine Männerstimme zischte: „Habe ich dich, du Luder! Jetzt kannst du dich nicht mehr zieren, jetzt nehme ich mir alles, was ich von dir haben will.“

Der Schreck fuhr ihr durch sämtliche Glieder. Sie schrie wie am Spieß.

„Zier dich nicht, Puppe! Du hast keine Chance gegen mich.“

Er fasste sie überall gleichzeitig an, egal wie heftig sich Britta gegen ihn wehrte. Eine Hand landete über ihrem Mund, sodass der Schrei erstickte. Sie sah in kleine, gierige Augen und spürte, wie ihre Panik noch größer wurde.

Doch was geschah jetzt?

Er riss die Augen so weit auf, dass Britta glaubte, sie müssten ihm aus dem Kopf fallen. Seine Hand rutschte von ihrem Mund ab. Die andere Hand, die gerade ihre rechte Brust umfasst hatte, löste sich. Der Mann fiel zu Boden.

Vor Brittas Augen tauchte Cindy auf.

Mit beiden Händen hielt sie einen schweren Sandstein, an dem Blut klebte. Den warf sie mit schreckgeweiteten Augen in den Weiher.

Britta sah eine Bewegung hinter ihrer Freundin. Bei genauem Hinsehen erkannte sie die dicke Inge Sander, die keinen Versuch unterließ, sich den beiden Freundinnen anzuschließen. Mit schwerfälligen Schritten näherte sie sich ihnen.

„Inge?“, rief sie aus.

Erschrocken drehte sich Cindy um und starrte ebenfalls auf die Frau, die mit Panik in ihrem Blick ihre Badetasche fest vor der Brust umklammert hielt.

„Wo kommst du denn her?“

Inge sagte kein Wort. Sie schaute nur auf den Mann am Boden.

Reglos lag er da.

„Wir müssen hier verschwinden, bevor noch mehr kommen und glotzen“, kreischte Cindy, nahm Britta an der Hand und riss sie von der Unglücksstelle fort.

Inge Sander folgte ihnen.

Kapitel 1

2015

„Mörder nach zwanzigjähriger Haft überraschend auf freiem Fuß.“

So sollte der Arbeitstag nicht beginnen, dachte Kriminalkommissarin Britta Ballhaus, als sie nach Feierabend den Heimweg antrat. Die Zeitungsmeldung hatte nicht nur auf ihrer Polizeidienststelle für Aufregung gesorgt. Viel schlimmer sah es in ihrem Inneren aus. Zwanzig Jahre waren seit dem Mord vergangen. Zwanzig Jahre, die Britta genutzt hatte, zu vergessen. Doch mit diesem einen Artikel waren alle Bemühungen wie ausgelöscht. Sie sah alles wieder vor sich, als sei es gerade passiert. Dabei hatte sie nichts unversucht gelassen, ihr Leben nach diesem schrecklichen Ereignis in den Griff zu bekommen. Sie hatte es geschafft, sich von ihren dominanten Eltern abzunabeln und eine Berufsausbildung zur Polizistin abzuschließen. Nach einigen Jahren bei der Bereitschaftspolizei war es ihr sogar gelungen, eine Stelle in der Abteilung für Tötungs- und Sexualdelikte zu bekommen. Eigentlich ein Grund, stolz zu sein. Wäre da nicht ihr Vorgesetzter Urban Wallbrod.

Er war das Schlimmste, was Britta hätte passieren können. Ein selbstherrlicher Despot, dem man es nie recht machen konnte. Vom Regen in die Traufe – dieser Spruch traf auf Britta haargenau zu.

Sie stöhnte.

Ausgerechnet Wallbrod war es gewesen, der heute Morgen auf den Zeitungsartikel aufmerksam gemacht hatte. Zusammen mit Martin Schelter war er damals an den Ermittlungen beteiligt gewesen, hatte entscheidend zur Verhaftung von Markus Gronski beigetragen. Das wusste Britta besser in der Abteilung als jeder andere – auch wenn sie vor zwanzig Jahren nicht mit der Polizei in Berührung gekommen war.

Ihr Wissen hatte sie auch heute vor den Kollegen für sich behalten – eine innere Stimme hatte ihr dazu geraten. Urban Wallbrod war schon damals frauenfeindlich gewesen. Daran hatten die vielen Jahre Berufserfahrung nichts geändert. Die Zusammenarbeit mit ihm war müßig. Wie sollte sie ausgerechnet ihm erklären, was wirklich passiert war? Die Kommentare konnte Britta schon hören. In Wallbrods Augen waren Vergewaltigungsopfer grundsätzlich selbst schuld. Wie er Leiter dieser Abteilung werden konnte, war Britta schon lange ein Rätsel. Martin Schelters Einstellung dazu kannte sie hingegen nicht. Seit sie in diesem Team arbeitete, nannte ihn jeder „das Fossil“, weil er der Dienstälteste war und nur noch seine Zeit absaß, bis er in Pension gehen konnte. Dass er jemals mehr Diensteifer an den Tag gelegt hätte, konnte sich Britta nicht vorstellen, aber auch nicht beurteilen. Seine Arbeitsmoral ließ für ihren Geschmack einiges zu wünschen übrig.

Ihren Teamkollegen, der junge Oberkommissar Norbert Böker, kannte sie dafür umso besser. Der musste sich noch die Hörner abstoßen. Ihm war der alte Mordfall zwar nicht vertraut; er benahm sich aber überschlau wie immer und tat so, als müsste er Britta über alles belehren. Seine Gönnerhaftigkeit stank Britta gewaltig. Oft überlegte sie, ob es die richtige Entscheidung gewesen war, von der Bereitschaft in den Kriminaldienst zu wechseln. Obwohl sie schon seit drei Jahren als Kriminalbeamtin in dieser Abteilung arbeitete, den Durchlauf durch alle Abteilungen des Kriminaldienstes erfolgreich absolviert hatte, war sie für alle immer noch das Küken.

Vermutlich hatte sie der Stolz angetrieben. Eine Stelle als Kriminalkommissarin war ausgeschrieben worden. Das klang nach Abenteuer und Heldentum, nach Spürnase und Kombinationsgabe. Dinge, die Britta faszinierten. Die ihr das Gefühl gaben, etwas aus ihrem Leben gemacht zu haben – auch ohne Studium, wie es sich ihre Mutter immer gewünscht hatte.

Doch die Wirklichkeit sah anders aus.

Mit diesen Gedanken steuerte Britta ihre Wohnungstür an.

Das Klingeln ihres Telefons drang hinaus bis in den Flur. Sofort fühlte sie sich wie elektrisiert. Was hatte das zu bedeuten? Hatte der Anruf mit dem entlassenen Mörder zu tun?

Hastig versuchte sie, ihre Wohnungstür zu öffnen. Die ersten Versuche scheiterten, weil ihre Hände zitterten. Meine Güte, schimpfte sie mit sich selbst. Zwanzig Jahre hatte sie zur Verfügung gehabt, Abstand zu gewinnen. Aber wie es aussah, war ihr das nicht gelungen.

Endlich traf sie das Schlüsselloch, öffnete die Tür und rannte auf das Telefon zu. Ihre Handtasche ließ sie unterwegs einfach auf den Boden fallen. Das Klingeln bohrte sich schmerzhaft in ihren Kopf. Ebenso die Frage, wer sie nach Feierabend anrief. Denn so oft klingelte es bei ihr zuhause nicht.

Also, wer konnte das sein? Ihre Dienststelle, um sie zu einem Mordfall zu rufen? Oder Markus Gronski, um sich zu rächen?

Die beängstigende Rolle, die Gronski vor zwanzig Jahren in ihrem Leben gespielt hatte, nahm er mit diesem einzigen Zeitungsartikel in Sekundenschnelle wieder ein. Damals war er so etwas wie Brittas böser Geist geworden, der sich immer in ihre Seele schlich, wenn sie am wenigsten damit rechnete. Egal was sie machte, wo sie gerade war oder bei wem – er war immer in ihrem Kopf. Er hatte ihre Gedanken beherrscht. Jahre hatte es gedauert, bis es ihr gelungen war, ihn daraus zu verbannen; besser noch: Irgendwann hatte sie ihn vergessen.

Dabei hatte sie gehofft, dass er auch sie im Laufe der Jahre vergessen würde. Aber – wenn sie ehrlich zu sich selbst war – konnte sie kaum damit rechnen. In Gefängnissen hatten die Insassen alle Zeit der Welt, sich zu informieren. Das wusste Britta durch ihre Berufserfahrung als Polizistin. Viele Sträflinge nutzten ihren Gefängnisaufenthalt, um in ihren Akten zu wühlen, um Fehler im Prozess zu finden. Und manche wurden fündig.

Sollte sich Markus Gronski diese Mühe gemacht haben, hat er mit Sicherheit viele Mängel in seiner Beweisführung gefunden.

Die Vorstellung zermürbte Britta. Alle Einzelheiten dieses verhängnisvollen Tages spukten wieder in ihrem Kopf. Alles war wieder da.

Sie riss den Telefonhörer von der Ladestation und bellte hastig ihren Namen hinein.

„Hast du heute schon die Zeitung gelesen?“, schallte ihr eine bekannte Stimme ins Ohr. Es war ihre Freundin Cindy Graf.

„Ach du bist es“, murmelte Britta.

„Hast du jemand anderen erwartet?“, schoss Cindy sofort zurück. „Markus Gronski vielleicht?“

„Sag doch nicht so was. Wir können nur hoffen, dass er in eine andere Stadt zieht.“

Cindy stieß ihr kehliges Lachen aus und erwiderte: „All die Jahre haben wir gehofft, er würde sich in seiner Zelle erhängen. Aber den Gefallen hat er uns nicht getan. Wer weiß, was ihn wirklich am Leben hält?“

„Mach es nicht noch schlimmer“, forderte Britta auf. „Es ist schon schrecklich genug, dass er wieder auf freiem Fuß ist.“

„Du bist doch Polizistin. Also hast du die Möglichkeit, alles über ihn herauszufinden, damit wir immer vorgewarnt sind.“

„Klar. Der Chef lässt mich urplötzlich an sämtliche Akten heran.“ Britta schnaubte.

„Aber in dieses Internet wirst du doch wohl noch gehen können – dieses INPOL oder wie das heißt.“

„Dort erfahre ich aber nicht das, was für uns wichtig ist.“

Lautes Klirren und Rumoren war im Hintergrund zu hören.

„Hast du versucht, Inge zu erreichen?“, fragte Cindy.

Inge! Das war kein gutes Stichwort. Inge Sander war damals wie ein Schatten hinter Britta und Cindy hergelaufen, hatte ihnen ständig aufgelauert und gehofft, sich ihnen anschließen zu können. Ebenso an diesem verhängnisvollen Tag.

„Nein! Ich weiß gar nicht, wo sie lebt“, gestand Britta. „Sie ist damals – direkt nach dem Mord – mit ihrer Familie weggezogen und hat keinem von uns gesagt, wohin.“

„Und gemeldet hat sie sich auch nicht“, fügte Cindy murrend an.

Der Lärm im Hintergrund wurde stärker. Britta hatte Mühe, ihre Freundin noch zu verstehen.

„Von wo rufst du an?“

„Von meiner Noch-Arbeitsstelle, dem Basilisk natürlich.“

„Noch-Arbeitsstelle?“

„Ja. Deshalb rufe ich dich an. Ich fange am Montag wieder bei Thomas Gerlach in der Kanzlei an zu arbeiten. Er hat mir einen Arbeitsvertrag versprochen.“ Cindys Stimme klang fröhlich.

Britta konnte nur mit einem Stöhnen darauf reagieren. Inzwischen kannte sie den Rechtsanwalt Thomas Gerlach, bedingt durch ihre Arbeit. Sie wusste genau, dass er seine Chancen bei den Frauen schamlos ausnutzte. Mürrisch fragte sie: „Was hast du dafür tun müssen? Mit ihm ins Bett gehen?“

„Blödsinn. Er braucht eine gute Rechtsanwaltsgehilfin wie mich. Meine Leistungen und Fähigkeiten sind gefragt.“

„Zumindest die im Bett.“

„Ach was. Du bist nur mies drauf, weil Gronski wieder frei ist. Komm zu mir in die Kneipe und wir feiern meinen neuen Job. Dann kommst du auf andere Gedanken.“

Britta musste nicht lange überlegen. „Okay. Ich bin in fünf Minuten da.“

Ein Blick in den Spiegel genügte, ihre ganze Hoffnung auf einen gelungenen Abend fahren zu lassen. Blass und faltig sah ihr Gesicht aus. Ihre blonden Haare klebten am Kopf, ihr Kostüm war zerknittert und hing an ihrem Körper. Hastig schälte sie sich aus dem dünnen Stoff und stellte sich unter die Dusche. Hinterher zog sie sich eine weite Jeans und eine lange Bluse an, die ihre Problemzonen verdeckte, legte Make-up auf und steckte ihre Haare hoch. Aus ihrem Schuhsortiment wählte sie schwarze Stilettos mit halsbrecherisch hohen Absätzen. Damit gab sie sich selbst das Gefühl langer, schlanker Beine. Einige Schritte hin und her. Es klappte noch. In ihrem Job als Polizeibeamtin kam sie selten in den Genuss solcher Schuhe. Da waren Sportschuhe gefragt.

Für den Feierabend war sie nun mit ihrem Outfit zufrieden.

Das Auto ließ sie auf dem Parkplatz stehen. Dafür hatte Britta einen guten Grund: Sie wollte Alkohol trinken. Also bestellte sie ein Taxi. Egal, wie sehr das ihrem Geldbeutel widerstrebte.

Die Kneipe, in der ihre Freundin Cindy seit ihrer Arbeitslosigkeit aushalf, war wie immer gut besucht. Obwohl der Laden nichts Besonderes hergab, das Mobiliar aus einfachem, dunklem Holz bestand, der Wirt immer griesgrämig in die Gegend schaute, war das „Basilisk“ ein Geheimtipp unter regen Kneipengängern. Der Lärm war ohrenbetäubend. Trotzdem schaffte es Cindy locker, mit ihrer Stimme alles zu übertönen.

„Da bist du ja. Der Sekt steht ab. Beeil dich!“

Britta konnte nicht anders, sie lachte. Sie drängte sich durch die Menschenmenge an die Theke zu ihrer Freundin. Cindy sah umwerfend aus. Ihre roten Haare hatte sie zurückgebunden zu einem Pferdeschwanz, wodurch ihr schmales Gesicht mit den hohen Wangenknochen besonders zur Geltung kam. Ihre Lippen knallrot geschminkt, die grünen Augen mit Kajal betont. Dazu trug sie ein kurzes Kleidchen, das alle Männer an der Theke in den Wahnsinn trieb. Anmutig bewegte sie sich, warf ihren Kopf in den Nacken, womit es ihr gelang, auch dem sprödesten unter den Gästen einen Glanz in die Augen zu zaubern.

„Cindy – du spielst mit dem Feuer“, rief Britta, nahm das hingehaltene Sektglas und stieß mit ihrer Freundin auf ihren neuen Job an.

„Klar. Sonst wäre das Leben viel zu langweilig.“

„Unser Leben ist bestimmt nicht langweilig“, hielt Britta dagegen.

„Trinken wir auf meinen Job bei Thomas Gerlach. Was glaubst du, was ich als erstes mache, wenn ich am Montag dort anfange?“

Britta erkannte, dass sie schon einige Gläser intus hatte. Also musste sie eine Menge nachholen. Sie beugte sich nach vorne, um zu hören, was Cindy in Thomas Gerlachs Kanzlei zu tun gedachte – anstelle ihrer Arbeit.

„Ich werde mir die Akte von seinem Alten raus suchen.“

Damit meinte sie die Akte des damaligen Rechtsanwalts Ernst Gerlach, dem Mann, der vor zwanzig Jahren ermordet am Burbacher Weiher aufgefunden worden war – der Mann, für dessen Ermordung Markus Gronski hinter Gittern war.

„Wir haben alles in der Hand.“ Wieder stieß Cindy mit Britta an. „Du bei der Kriminalpolizei – ich beim Rechtsanwalt für Strafrecht. Markus Gronski kriegt uns nicht.“

„Richtig! Wir haben ihm damals schon ein Schnippchen geschlagen – das schaffen wir heute wieder.“

Die beiden Frauen tranken ihre Gläser in seinem Zug leer und stießen anschließend ihre gewohnt unappetitlichen Töne aus, als habe ihnen der Sekt gut geschmeckt. Dabei war es ein billiger Fusel, was Britta schon gleich beim ersten Schluck gemerkt hatte.

Der Lärm nahm zu. Die Männer an der Theke riefen Cindys Namen. Doch als Antwort kam nur der Stinkefinger. Die beiden Frauen schenkten sich aus der Flasche nach, die Cindy in weiser Voraussicht für sie und ihre Freundin reserviert hatte. Sie ließ sich durch nichts aufhalten.

Plötzlich stand Gerd Bode, der Chef hinter ihr.

Mit einem bösen Blick verdeutlichte er, was er davon hielt, dass seine Bedienung sich selbst betrank. Seine Hände stützte er in seinen massigen Leib, seine dunklen Augen blitzen böse, seinen Mund verzog er grimmig, was unter dem Dreitagebart gefährlich aussah. Dabei wussten die Freundinnen genau, dass er niemals böse gegen Cindy sein konnte. Im Gegenteil. Wie ein Vater fühlte er sich ihr gegenüber. Egal wie oft Cindy schon den Job hingeschmissen hatte, Bode nahm sie immer wieder mit offenen Armen auf.

Auch die Männer, die ihre Blicke gierig über Cindys schlanken Körper wandern ließen, hüteten sich davor, Bodes Bedienung zu nahe zu rücken. Alle wussten um diese Freundschaft.

„Hast du vergessen, wofür du bezahlt wirst?“, fragte er so grimmig, dass jede Frau vor Angst davongerannt wäre.

Doch nicht Cindy.

Sie gab ihrem Chef einen Klaps auf die Wange und flötete: „Gerd, du bist mein Gewissen und mein Untergang gleichzeitig.“

Rasch machte sie sich an die Arbeit.

Britta schaute ihr dabei zu. Ihre Hände betätigten in rasender Geschwindigkeit die Zapfanlage, die Spülvorrichtung zum Gläserspülen und den Kühlschrank für die Sonderwünsche gleichzeitig. So dauerte es nicht lange, und sie hatte alle Gäste bedient. Der Geräuschpegel sank deutlich.

„Schau dir mal den Typen dort in der Ecke an.“ Mit den Worten gesellte sie sich wieder zu Britta.

Britta drehte sich um und suchte die Ecke ab, in die ihre Freundin gezeigt hatte. Dort stand ein großer, schlanker Mann, den Britta in dem schummrigen Licht nur bemerkte, weil sie genau darauf achtete. Seine Kleidung war so dunkel wie die Kneipe, sein Gesicht von zotteligen, grauen Haaren eingerahmt. Seine Augen hafteten an Cindy. Als er die Blicke der beiden Frauen auf sich spürte, steuerte er die Toilette an.

„Der ist ja unheimlich.“

„Ich nenne ihn den Obelisk im Basilisk“, erklärte Cindy und lachte so laut, dass es in Brittas Ohren schmerzte.

„Macht er dir keine Angst?“, fragte Britta entrüstet.

„Nein. Seit bestimmt über einem Monat steht er da so rum.“ Cindy fügte mit weit aufgerissenen Augen an: „Man, du warst aber schon lange nicht mehr hier.“ Darauf konnte Britta nur mit einem Schulterzucken reagieren. „Abend für Abend steht er nur da. Wenn ich nicht in der Zeitung gelesen hätte, dass Markus Gronski gerade erst entlassen worden ist, würde ich sagen, dass das Gronski ist. Aber das kann nicht sein.“

„Dem Bericht zufolge wurde Gronski erst gestern entlassen“, stimmte Britta zu. Eine Weile überlegte sie, bis sie anfügte: „Ich weiß außerdem gar nicht mehr, wie er aussah.“

Cindy verdrehte ihre grünen Augen, ein Zeichen, dass sie konzentriert nachdachte, bis sie zugab: „Ich kann mich auch nicht mehr erinnern. Aber das ist der Obelisk - nicht Gronski. Der glotzt mir schon eine ganze Weile hinterher.“

Britta schüttelte sich. „Zeig ihn doch an.“

„Ganz die Polizistin“, zwitscherte Cindy. „Und was soll ich ihm vorwerfen? Dass er im Weg herumsteht und mich in meiner Arbeit behindert?“

Britta stöhnte.

„Oder wegen Untätigkeit könnte ich ihn auch anzeigen. Während ich mich hier überschlage und mit der Arbeit nicht nachkomme, steht er nur tatenlos herum.“

„Ist ja gut. Ich habe verstanden.“

Es war schon ein Uhr vorbei, als das „Basilisk“ seine Pforte schloss. Arm in Arm verließen Britta und Cindy die Kneipe und schwankten über den Bürgersteig. Warme Nachtluft umfing sie, obwohl es bereits Oktober war.

„Kommst du mit zu mir?“, fragte Cindy. „Dann können wir gemeinsam unseren Rausch ausschlafen und morgen einen Plan aushecken.“

„Einen Plan wofür?“

„Keine Ahnung. Wie wir Gronski gleich nochmal hinter Gitter bringen, zum Beispiel“, schlug Cindy vor und begann herzhaft zu lachen. „Einmal haben wir es ja schon geschafft.“

„Rede doch keinen solchen Unsinn. Wir waren damals gerade fünfzehn Jahre alt und haben nicht gewusst, dass Gronski hinter uns her geschlichen ist.“

„Aber was hat Gronski dort am Weiher gemacht?“, fragte Cindy und antwortete selbst darauf: „Vermutlich in den Hecken gesessen und sich einen runtergeholt. Dafür zwanzig Jahre im Knast? Das ist verdammt hart.“

„Er wurde beschuldigt, Ernst Gerlach umgebracht zu haben“, erinnerte Britta unwirsch. „Und aus irgendeinem Grund bekam er nachträglich Sicherheitsverwahrung nach seiner Haft, die dann durch den Europäischen Gerichtshof aufgehoben wurde. Eigentlich dumm gelaufen für uns, dass dieser Gerichtshof sich eingemischt hat. Denn bis vor kurzem war überhaupt nicht damit zu rechnen, dass er jemals wieder freikommt.“

„Stimmt. Das war keine gute Idee von diesem europäischen Dingsda.“

„Gerichtshof.“

„Egal wie der Verein heißt. Durch den kommt Gronski wieder frei und wir haben den Ärger.“

„Ich wundere mich, dass Inge sich noch nicht gemeldet hat“, gestand Britta. „Immerhin war sie damals auch dabei.“

„Kannst du dich noch an ihren Bruder erinnern?“, fragte Cindy kichernd. „Der hat mich immer angehimmelt. Als ich ihn mal ansprechen wollte, ist er weggelaufen wie von der Tarantel gestochen.“

Britta erinnerte sich: „Dietmar Sander. Ein hübscher Mann. Er hatte die schönsten, schwarzen Haare, die ich jemals an einem Typen gesehen habe. Und so eine melodische Stimme. Klang total sanft. Und dann so schüchtern.“

Als sie einen Strauch passierten, der zwischen zwei dicht nebeneinander stehenden Häusern wucherte, rief Cindy: „Ich muss mal.“

„Das wirst du jetzt schön bleiben lassen. Das ist viel zu gefährlich.“

„Ach was. Schau dir den Busch mal an“, forderte Cindy auf. „Wir haben bereits Bekanntschaft gemacht. Er freut sich schon auf meinen Dünger.“

Schwupps, Cindy war im Gestrüpp verschwunden.

Britta blieb nichts anderes übrig, als zu warten. Nervös trippelte sie auf dem Bürgersteig hin und her, wobei sie darauf achten musste, mit ihren spitzen Absätzen nicht in einem Spalt im Kopfsteinpflaster stecken zu bleiben. Damit wären ihre teuren Schuhe ruiniert. Sie schaute sich um. Alles war menschenleer. Zum Glück. Als sie hörte, wie Cindy wieder aus der Hecke herausgeklettert kam, atmete sie erleichtert durch.

Arm in Arm schlenderten sie weiter. Der Weg bis zu Cindys Wohnung in der Bergstraße in Burbach war nicht mehr weit. Nur noch wenige Reihenhäuser, die diese stark befahrene Straße säumten, schon waren sie am Ziel.

Sie betraten das Haus.

Cindys Wohnung lag im Erdgeschoss. Ihre Wohnungstür war vom Eingang aus sofort zu sehen.

Sie stand offen.

„Das gefällt mir gar nicht“, murmelte Cindy.

Britta schob sie beiseite und meinte: „Lass mich zuerst reingehen. Wenn mir etwas Ungewöhnliches auffällt, rufe ich die Kollegen an.“

„Du bist genauso besoffen wie ich. Wie soll dir da was auffallen?“

Britta hörte nicht auf sie. Vorsichtig stieß sie die Tür auf, damit sie ins Innere sehen konnte. Alles lag in Chaos und Trümmern. Die ganze Wohnung war auf den Kopf gestellt worden.

Doch das war nicht das Schlimmste.

Inmitten dieses Chaos lag eine blutüberströmte Leiche.

Britta wollte nach hinten ausweichen, da erst bemerkte sie, dass Cindy ihr gefolgt war. Mit weit aufgerissenen Augen starrte die Freundin auf den Toten und begann zu würgen. Eilig rannte sie in die Wohnung hinein und auf die Toilette, wo sie sich übergab. Als sie mit bleicher Gesichtsfarbe und zitternden Knien zurückkam, schimpfte Britta: „Ich habe dir doch gesagt, du sollst warten. Jetzt kontaminierst du einen Tatort.“

„Tatort?“, kreischte Cindy los. „Ich wohne hier. Ich werde doch wohl noch in meiner Wohnung kotzen dürfen.“

„Aber nicht, wenn hier ein Verbrechen geschehen ist.“

Die beiden Frauen schauten wieder auf den toten Mann.

Er lag mit dem Gesicht nach unten. Eine große Blutlache hatte sich unter ihm gebildet. Blutspritzer bedeckten sämtliche Bücher, Ordner, Regale und Wände. Sogar bis zur Decke reichten sie.

„Oh mein Gott“, stöhnte Cindy laut los. Ihre Augen füllten sich mit Tränen.

„Was ist mit dir? Erkennst du den Mann?“

„Ja klar doch. Das ist Thomas, der Rechtsanwalt, bei dem ich am Montag antreten sollte.“

„Das darf doch nicht wahr sein“, jammerte Britta. „Jetzt hat es den Sohn des alten Gerlach zwanzig Jahre später ebenfalls erwischt. Das kann kein Zufall sein.“

„Natürlich nicht“, wimmerte Cindy. „Gronski wurde gestern entlassen. Und heute ist Thomas tot. Das ist kein Zufall.“

„Aber, was hatte Gronski mit Thomas zu tun?“, fragte Britta. „Thomas war damals noch Student, als das mit seinem Vater passiert ist.“

„Seit diesem Zeitungsbericht erinnere ich mich wieder ganz genau an alles“, antwortete Cindy. „Diese verdammte Sache mit Ernst Gerlach ist in den Semesterferien passiert. Thomas war zu dem Zeitpunkt zuhause.“

Innerhalb kurzer Zeit herrschte in Cindys Wohnung Hochbetrieb. Die Tatortbereitschaft sicherte Spuren in sämtlichen Zimmern. Dafür liefen sie in astronautenähnlichen Schutzanzügen herum. Nur die Gesichter der Beamten waren zu erkennen. Polizeifotografen lichteten den Toten von allen Seiten ab. Ein Mediziner kniete über ihn gebeugt.

Cindy und Britta saßen am Küchentisch, der inzwischen freigegeben worden war, und warteten.

Plötzlich hörte Britta eine bekannte Stimme fragen: „Britta? Bist du das?“

Es war die Stimme ihres früheren Kollegen der Bereitschaftspolizei Udo Berg. Er stand im Türrahmen und warf ihr einen ganz erstaunten Blick zu. Seine schwarzen Haare kräuselten sich auf seiner Stirn, seine krumme Nase stach hervor, seine dunklen Augen funkelten.

Er sah wie immer umwerfend aus, dachte Britta. Ein seltsames Gefühl von Schwermut überkam sie. Warum hatte sie diese Abteilung verlassen? Um sich in der Abteilung für Tötungsdelikte schäbig behandeln zu lassen?

Udo war ihr immer ein besonders guter Kollege und ein echter Freund gewesen. In seiner Nähe hatte sie sich wohl gefühlt - sicher und mutig. Empfindungen, die sie nicht mehr erlebte, seit sie in der Abteilung des Cholerikers Urban Wallbrod arbeitete.

„Was tust du denn hier?“, fragte sie unwirsch zurück, um ihre Gefühle zu kaschieren. „Das ist ein Tötungsdelikt. Dafür ist die Bereitschaftspolizei nicht zuständig.“

„Wir sichern den Tatort ab. Als ich hörte ‚Polizistin in Not‘ war ich einfach nur neugierig. Wäre aber niemals darauf gekommen, dass es sich um dich handelt.“

Cindy stieß ihre Freundin in die Seite und fragte: „Wer ist das?“

„Das ist Udo Berg, mein Arbeitskollege aus der Zeit, als ich noch bei der Bereitschaftspolizei war.“

Sofort leuchteten Cindys Augen auf. Sie richtete ihren Blick auf den Beamten in Uniform und schnurrte: „Dann kannst du uns bestimmt helfen. Wir möchten nämlich nicht die ganze Nacht hier festsitzen.“

Udo lachte und antwortete ohne dabei Britta aus den Augen zu lassen: „So viele Befugnisse habe ich leider nicht. Ich muss wieder rausgehen, denn dort werde ich verlangt.

Kurz bevor er aus dem Türrahmen verschwand, wandte er sich noch einmal an Britta und sagte: „Wenn du Hilfe brauchst, weißt du, dass du jederzeit auf mich zählen kannst.“

„Danke, Udo.“ Britta lächelte schwach.

Als er aus ihrem Sichtfeld verschwunden war, meinte Cindy: „Warum hast du mir diesen aufregenden Mann die ganze Zeit verschwiegen?“

„Ich hielt es nicht für wichtig, mit dir über meine Arbeitskollegen zu reden.“

„Arbeitskollege. Dass ich nicht lache. Udo ist verliebt in dich - bis über beide Ohren.“

Britta spürte, wie ihr ganz heiß wurde.

„Hey. Du läufst ja rot an.“ Cindy grinste. „Ist doch keine Schande. Udo sieht klasse aus.“

„Ich trenne Berufliches und Privates. Was glaubst du, wie schnell man als Frau bei der Polizei in Verruf gerät, wenn herauskommt, dass man mit einem Kollegen schläft?“

„Blöder Verein“, konnte Cindy dazu nur feststellen.

Sie wurden abgelenkt. Sie spürten, dass die Stimmung im Wohnzimmer umschlug. Das geschäftige Gemurmel verstummte. Neugierig näherten sich die beiden der Tür zum benachbarten Raum, um zu schauen, was passiert war. Ein alter, knochiger, hagerer Mann stand inmitten der vielen Polizeibeamten. Sein Gesicht wirkte mürrisch, seine Augen blitzten böse, während er sich jeden einzelnen genau ansah.

„Der hat uns gerade noch gefehlt“, flüsterte Britta.

„Warum? Wer ist das?“

„Das ist Staatsanwalt Rousselange. Der war damals schon für den Fall Ernst Gerlach zuständig. Er hat Markus Gronski festnehmen lassen.“ Britta schnaubte. „Der wird sich an alles erinnern. Die Hoffnung auf eine schnelle Auflösung des Falles können wir damit vergessen.“

„Solche Kollegen hast du? Da bediene ich ja lieber im Basilisk.“

Plötzlich traf Rousselanges Blick auf Britta.

„Meine Güte“, zischte Cindy erschrocken. Sie wollte Britta wegziehen, doch die Freundin stand wie angewurzelt da.

Der Staatsanwalt steuerte sie an und sagte in lautem, unfreundlichen Tonfall: „Sie kenne ich doch.“

„Ich bin Britta Ballhaus und arbeite als Kriminalkommissarin in der Abteilung für Sexual- und Tötungsdelikte.“

„Bei Hauptkommissar Urban Wallbrod, wenn ich mich recht erinnere“, fügte Rousselange an.

„Richtig.“

„Was haben Sie mit dem Fall des getöteten Thomas Gerlach zu tun?“

„Hier wohnt meiner Freundin Cindy Graf. Wir waren auf dem Heimweg vom Arbeitsplatz meiner Freundin und haben Thomas Gerlach so vorgefunden.“

Rousselange ließ sich das Gesagte durch den Kopf gehen. Dabei rollte er seine Augen, dass er noch gefährlicher aussah.

„Wussten Sie, dass der Vater dieses jungen Anwalts vor zwanzig Jahren ebenfalls ermordet worden ist?“

Jetzt musste Britta verdammt gut aufpassen, was sie sagte. Fast hätte sie sich verschluckt, als sie zu sprechen begann: „Auf meiner Dienststelle habe ich heute Morgen davon erfahren.“

Rousselange fixierte Britta mit zweifelndem Blick und fügte an: „Vermuten Sie einen Zusammenhang?“

Das könnte eine Fangfrage sein. Britta überlegte fieberhaft, was sie antworten sollte. Sie beschloss, sich dumm zu stellen und meinte: „So weit habe ich nicht gedacht.“

„Ich frage mich natürlich, was Thomas Gerlach ausgerechnet hier zu suchen hatte und wie er in diese Wohnung hineingekommen ist.“ Rousselange rümpfte die Nase.

Cindy trat aus der Küche und antwortete: „Er wollte einen Arbeitsvertrag mit mir abschließen. Deshalb war er hier.“

„Während Sie nicht zuhause waren?“

Cindy schaute hilflos in Brittas Richtung. Doch die Freundin konnte ihr nicht helfen.

„Sie sollten mir besser antworten“, warnte Rousselange. „Sonst stehen Sie im Verdacht, Thomas Gerlach umgebracht zu haben.“

„Thomas Gerlach und ich haben die Wohnung zusammen verlassen, als ich zur Arbeit ging. Ich weiß nicht, wie er wieder reingekommen ist.“

„Das wird die Abteilung für Tötungsdelikte herausfinden“, antwortete Rousselange mit eiskalter Stimme. „Hauptkommissar Wallbrod ist schon informiert. Er wird den Fall übernehmen. Und Urban Wallbrod entgeht nichts.“

Britta stöhnte innerlich. Schlimmer hätte es nicht kommen können.

Die Dämmerung brach schon herein, als Britta und Cindy die Wohnung voller Polizeibeamter verlassen durften. Britta hatte beschlossen, ihre Freundin nach Hause mitzunehmen, damit sie endlich zur Ruhe kamen. Sie traten hinaus und erschraken bei dem Anblick der vielen Menschen, die auf dem Bürgersteig standen und gafften.

„Ich glaube, wir sollten hier ganz schnell verschwinden“, flüsterte Cindy verunsichert.

„So einfach wird das nicht“, erwiderte Britta. „Das Taxi ist noch nicht da.“

„So ein Mist. Wann hast du es denn bestellt?“

„Rechtzeitig. Ich wundere mich, dass es immer noch nicht eingetroffen ist.“

Plötzlich schälte sich ein schreiender Mann aus der Menge.

Britta wollte sich schützend vor ihre Freundin stellen, doch Cindy wehrte sich gegen ihren Griff. Was hatte das zu bedeuten?

Da erst erkannte die Polizeibeamtin Gerd Bode in dem Unruhestifter, der Wirt des Basilisks.

„Mensch Cindy. Dir ist nichts passiert“, rief er laut. „Ich habe mir solche Sorgen gemacht.“

„Das ist ja wirklich lieb von dir“, flötete Cindy. „Aber deine Sorge war umsonst. Mich kriegt man nicht so leicht dran.“

„Rede keinen solchen Unsinn. Was ist hier passiert?“

„Mein zukünftiger Chef wurde ermordet.“

Bode fragte ungläubig: „Thomas Gerlach?“

„Genau der.“

Aus seinem Schweigen wurde ein Grinsen. Dann meinte er leise: „Also kann ich deine Kündigung in den Ofen schmeißen.“

„Danke Gerd. Du weißt, wie sehr ich den Job brauche.“ Cindy umarmte den massigen Mann und drückte ihm einen Kuss auf die unrasierte Wange.

Gerds Augen bekamen ein Glänzen.

Plötzlich gab es ein gewaltiges Blitzlichtgewitter, sodass sich alle geblendet fühlten.

„Polizei in einen Mord verwickelt“, drang eine bekannte Stimme an Brittas Ohr. Vor ihren Augen schimmerte alles schwarz, so geblendet fühlte sie sich. „Wenn das mal nicht Pulitzerpreisverdächtig ist.“

Der Menschenauflauf stieß „Ahs“ und „Ohs“ aus, als sei damit der Fall aufgeklärt.

Als Britta endlich wieder etwas sehen konnte, fiel ihr Blick auf ein Gesicht, auf das sie liebend gern verzichtet hätte. Vor ihr stand der freie Journalist Pietro Pardi. Dieser Mann war lästiger als eine Laus im Pelz. Sie stöhnte. Musste ausgerechnet Pardi auf diesen Mordfall aufmerksam werden? Er war ein alter Fuchs und wusste, wie er an Geheimnisse herankam, die niemals ans Tageslicht kommen sollten. Schon damals, vor zwanzig Jahren, war Pardi im Fall Ernst Gerlach aktiv gewesen. Vermutlich hatte sich die alte Garde um diesen Fall gerissen, weil sie alle dasselbe ahnten – nämlich dass der aktuelle Mord mit Ernst Gerlach zusammenhing.

Das Taxi kam vorgefahren. Genau zum richtigen Zeitpunkt.

Der cremefarbene Mercedes fuhr ungewöhnlich schnell durch die Menschenmenge. Alle sprangen mit entsetzten Schreien auseinander. Doch anstatt vor Britta, Cindy und Bode anzuhalten, drückte der Fahrer noch einmal auf das Gaspedal, bis der Kühlergrill hart gegen das Schienbein des Wirtes stieß.

Bode schrie laut. Er hob seine zur Faust geballte Rechte, womit er dem Taxifahrer drohte.

Auch diese Szene wurde mit Blitzlicht eingefangen.

Britta ahnte schon, wie der Artikel am Montagmorgen auf der ersten Seite der Zeitung aussehen würde.

Der Taxifahrer hingegen machte sich gar nicht erst die Mühe auszusteigen. Das Auto stand geheimnisvoll inmitten der vielen Menschen. Durch die getönten Scheiben und die Dunkelheit war es unmöglich, etwas im Inneren des Wagens zu erkennen.

Britta und Cindy kämpften sich durch den Menschenauflauf zu den Hecktüren und öffneten sie. Keine Innenbeleuchtung schaltete sich ein. Alles blieb finster im Taxi. Schnell stiegen sie in den Fond des Wagens, um sich vor der aufdringlichen Meute zu schützen. Britta nannte ihre Adresse in der Lebacher Straße in Saarbrücken. Anschließend fielen sich die beiden Frauen erschöpft in die Arme und schliefen augenblicklich ein.

Die verzweifelte Suche des Taxifahrers nach der richtigen Straße nahmen sie nicht wahr. Auch bemerkten sie nicht, dass der Taxifahrer trotz Dunkelheit eine fast schwarze Sonnenbrille trug. So war nicht zu erkennen, dass er seine Augen ständig durch den Rückspiegel an den beiden Damen haften ließ. Das verstohlene Grinsen auf seinen dünnen Lippen verschliefen sie.

Kapitel 2

Was gab es Schlimmeres, als Montagmorgen und Regen? Ein Montagmorgen mit Regen und der Aussicht auf ein Gespräch unter vier Augen mit dem Chef.

Mit diesen Gedanken schleppte sich Britta Ballhaus ins Büro.

Den Sonntag hatte sie fast komplett verschlafen. Cindy, ihre Freundin ebenfalls. Da konnte Britta noch von Glück reden, dass der Dienststellenleiter Urban Wallbrod selbst nicht zu den Hyperaktiven gehörte, der sich für einen Toten den Sonntag vermiesen ließ. Für Wallbrod galt zuerst das eigene Wohl. Nur leider hatte er diese Priorität zu spät erkannt, nämlich erst, als seine Frau ihn verlassen hatte. Seitdem wurde seine Laune von Tag zu Tag schlechter.

Vom Workaholic zum Choleriker.

Für Britta war das eine so schlimm wie das andere. Urban Wallbrods Anfälle im Büro waren inzwischen legendär. Die älteren Kollegen machten sich schon lange nichts mehr daraus. Nur Britta konnte trotz ihrer drei Jahre in dieser Abteilung immer noch nicht zwischen einem harmlosen und einem gefährlichen Anfall unterscheiden.

Mit diesen entmutigenden Gedanken betrat sie das monströse Gebäude, das einmal eine Verheißung für sie gewesen war. Inzwischen empfand sie es nur noch als Vorsehung. Im Aufzug atmete sie noch einmal tief durch. Dann betrat sie das Büro.

Schlagartig setzten alle Geräusche aus. Kein Klappern der Tastatur, kein Gemurmel unter Kollegen, kein Klirren von Kaffeetassen – nur Stille. Alle Blicke hafteten auf Britta, wie sie ihren Schreibtisch inmitten der vielen Tische ansteuerte. Das hatte sie schon kommen sehen. Inzwischen wusste jeder, was ihr am Wochenende widerfahren war. Es hatte groß und breit in der Zeitung gestanden. Direkt auf der ersten Seite. Mit Bild. Pietro Pardi hatte kein Detail ausgelassen – ob es der Wahrheit entsprach oder nicht, war ihm egal. Hauptsache Schlagzeile.

Sie durchwühlte die Schublade, in der Hoffnung ihre Kaffeetasse zu finden, als sie Wallbrods Fistelstimme hörte: „Britta Ballhaus. Bitte in mein Büro.“

Erschrocken ließ sie alles aus ihren Händen fallen und folgte dem Ruf des Chefs. Kaum war die Tür hinter dem kleinen, übergewichtigen Mann geschlossen, vernahm Britta gedämpftes Gemurmel der Kollegen. Auch glaubte sie, wieder das vertraute Klappern von flinken Fingern auf Tastaturen zu hören.

„Zählen wir die Ereignisse des Wochenendes auf“, begann Wallbrod mit bedrohlich leiser Stimme zu sprechen, „Markus Gronski wird entlassen. Wir alle in der Abteilung wissen von dem Mord an Ernst Gerlach, den er begangen hat. Auch wenn wir damals noch nicht alle im Polizeidienst waren.“

Britta nickte.

„Einen Tag nach Gronskis Entlassung wird der Sohn des damals Ermordeten ebenfalls getötet. Und Sie stolpern zufällig über seine Leiche. Und das zufällig in der Wohnung Ihrer Freundin, die behauptet, zufällig bei diesem Mann zu arbeiten. Ein bisschen viel Zufall, finden Sie nicht auch?“

Britta fühlte sich wie versteinert. Jetzt nur nichts Falsches sagen, ermahnte sie sich. Also legte sie eine dümmliche Miene auf, was ihr glänzend gelang, wie sie der nächsten Bemerkung ihres Chefs entnahm. „Dumm gucken können Sie schon mal. Jetzt will ich endlich sehen, dass Sie als Frau tatsächlich für die Arbeit in einer Mordkommission taugen. Ich werde Sie nämlich diesen Fall bearbeiten lassen.“

Brittas Augen bekamen ein Strahlen. Mit allem hatte sie gerechnet, nur nicht damit.

„Aber freuen Sie sich nicht zu früh.“ Der Dämpfer musste ja kommen. „Ich werde Sie keinen Schritt alleine machen lassen. Sollten Sie nämlich versuchen, Ihre Freundin zu schützen, werden wir das herausfinden. Norbert Böker wird Sie auf Schritt und Tritt begleiten.“

Britta spürte, wie ihre anfängliche Euphorie schrumpfte. Aber - wenn sie es sich richtig überlegte - hätte es schlimmer kommen können. Norbert Böker war ein Schwätzer und Schwerenöter. Aber harmlos. Den steckte sie zehnmal in die Tasche.

„Sie werden jetzt zusammen mit Böker zur Rechtsmedizin fahren. Soweit ich weiß, wartet der Arzt schon auf Sie, damit er endlich beginnen kann, den Toten aufzuschneiden.

Der Rechtsmediziner erwies sich als Frau. Den weiblichen Begriff für bestimmte Berufe oder Ämter wandte Wallbrod grundsätzlich nicht an, weil er diese Formulierungen strikt ablehnte. Hinzu kam, dass Britta diese Rechtsmedizinerin besonders gut gefiel. Sie war einen Meter achtzig groß, fast genauso breit und galt als Urgestein in der medizinischen Forensik. Außerdem hatte sie Gefallen an Britta gefunden.

Norbert Böker wirkte neben dieser dominanten Frau blass und eingeschüchtert. Kein ordinärer Witz kam über seine Lippen, keine anzüglichen Bemerkungen. Sogar Britta ließ er in Ruhe, wenn Dr. Hilde Gesser in der Nähe war. Allein diese Tatsache genügte ihr, eine Autopsie positiv zu betrachten. So musste sie sich zwar Innereien von Ermordeten anschauen, brauchte sich aber nicht ständig gegen Bökers Annäherungsversuche zu wehren. In diesem Räumen war Böker kaum wahrzunehmen.

„Erst der Vater – dann der Sohn“, lautete die Begrüßung.

„Kanntest du den Fall Ernst Gerlach?“, fragte Britta überrascht.

„Oh ja. Das war mein erster Fall in meiner Assistenzzeit. So etwas vergisst man nicht.“ Angenehm vibrierte die dunkle Stimme der Ärztin durch die gekachelten Räume. Ihr Körper war bereits in grüne Kittel gehüllt, die vermutlich Zeltgröße hatten, um auch die gesamte Fülle abdecken zu können.

Britta und Norbert bekamen ebenfalls ihre Schutzkleidung gereicht. Sie traten auf den Stahltisch zu, auf dem Thomas Gerlach lag.

Britta erschrak.

Nackt und tot wirkte Thomas Gerlach hilflos und unscheinbar. Nichts war mehr von seiner Schönheit, seiner Ausstrahlung und seinem Charisma zu sehen. Er war einfach nur noch eine Hülle, die jetzt aufgeschnitten werden musste.

Sie fühlte sich nicht wohl bei dem Gedanken, weil sie Thomas gekannt hatte. Aber nicht nur sie. Auch Norbert und die Rechtsmedizinerin hatten mit diesem Mann zu tun gehabt. Als Anwalt für Strafrecht war er ihnen jederzeit in die Quere gekommen.

Britta schaute sich verstohlen um. Niemand außer ihr schien das so zu empfinden. Dr. Gesser sprach in geschäftigem Tonfall in ihr Diktiergerät, Norbert suchte sich einen Platz, der weit genug entfernt war, damit ihm die Gerüche nicht unmittelbar in die Nase stiegen. Assistenten legten Skalpelle, Scheren, Oszillationssägen und sonstige Utensilien bereit.

Die Arbeit ging los.

„Nach der äußeren Untersuchung kann ich bereits eine Stichwunde in der Herzgegend feststellen. Den Stichkanal habe ich ausgefüllt, um die Waffenart und den Stichverlauf bestimmen zu können. Die Waffe ist ein Messer mit zweischneidiger Klinge. Der Wundkanal zeigt an, dass auf der rechten Seite des Herzens die Arteria coronaria dextra verletzt wurde. Durch diese Verletzung ist ein hoher Blutverlust entstanden, weil es sich um eine Koronararterie handelt. Das ist ein Blutgefäß im Herzen, das ständig sauerstoffreiches Blut in die Hinterwand und die rechte Herzkammer pumpt. Jetzt gilt es für mich festzustellen, ob er verblutet oder an einem Infarkt gestorben ist. Fakt ist jedoch, dass diese Stichwunde indirekt tödlich war.“

„Heißt das, er hat noch gelebt, als ihm das Messer wieder aus der Brust herausgezogen worden ist?“, fragte Britta erschrocken.

„Ja. Ich weiß aber nicht, wie sein Bewusstseinszustand war – also ob er noch mitbekommen hat, was mit ihm passiert ist.“

„Die Todesursache wissen wir also schon“, mischte sich Norbert in das Gespräch ein. „Dann können wir wieder zurückfahren.“

„Ich bin mit meinen Untersuchungen noch nicht fertig“, stellte die korpulente Frau klar. „Noch können wir keine abschließenden Schlussfolgerungen ziehen.“

Norbert gab sich geschlagen.

Als die Oszillationssäge angeworfen wurde, um die Hirnschale zu öffnen, konnten Britta und Dr. Gesser den jungen Mann nur noch von hinten sehen, wie er den Sezierraum fluchtartig verließ.

„Und so was arbeitet bei der Polizei“, murmelte Hilde Gesser, während sie ihre Arbeit fortsetzte.

Britta gab sich Mühe, standhaft zu bleiben, obwohl ihr Magen auch schon rebellierte. Aber sie wollte sich keine Blöße geben. Weder vor Dr. Gesser noch vor den Kollegen.

Zum Abschluss ihrer Untersuchungen sagte die Ärztin: „Die Todesursache ist der hohe Blutverlust durch Herzstich. Der Todeszeitpunkt liegt zwischen zwanzig und einundzwanzig Uhr.“

Britta schrieb mit.

„Die einzige Überraschung, die ich finden konnte, ist die Vasektomie. Warum lässt ein junger, aufstrebender Anwalt einen solchen Eingriff an sich vornehmen.“

„Vasektomie?“, hakte Britta nach.

„Sterilisation. Oder genauer gesagt, Durchtrennung der Samenleiter im Hodensack.“

„Heißt das, Thomas Gerlach war nicht mehr zeugungsfähig?“

„Genau das.“

„Und der Eingriff konnte nur mit seiner Einwilligung gemacht werden?“

Dr. Gesser nickte.

Britta bedankte sich bei der Rechtsmedizinerin und verließ den Sektionsraum. Der Anblick ihres leichenblassen Kollegen auf dem Besucherstuhl ließ sie schmunzeln.

„Na. Heute schon gekotzt?“

„Jedenfalls kotze ich nicht vom Saufen“, murrte Norbert.

„Ich auch nicht“, gab Britta schlagfertig zurück. „Dafür ist das Zeug viel zu teuer.“

„Und wer hat Freitagnacht die Toilette in Cindy Grafs Wohnung vollgekotzt?“

Britta sah überhaupt keine Veranlassung, drauf zu antworten.

Cindys Aufregung wuchs. Sie würde endlich Brittas Arbeitsplatz sehen. Und die Kollegen ihrer Freundin kennenlernen, von denen Britta immer sprach, als seien sie alle aus dem Gruselkabinett entflohen. Sie stand vor dem Spiegel und sah, dass ihr Gesicht gerötet war. Sie war total stolz auf ihre Freundin, die einen anspruchsvollen und wichtigen Job machte. Dafür hatte Britta auch viel investiert, wenn Cindy darüber nachdachte. Sie hatte ihre Freizeit mit Lernen verbracht, während Cindy durch die Saarbrücker Altstadt gezogen war. Sie liebte schon immer das Abenteuer, die Überraschungen im Leben. Je unvorhergesehener, desto spannender. Damit hatte sie sich auch schon manchen Ärger eingehandelt. Und Britta hatte ihr oftmals aus dem Schlamassel raus geholfen.

Bis zu jenem Tag.

Da war Cindy zur Stelle gewesen, als Britta mal Hilfe gebraucht hatte. Aber was war daraus geworden?

Heute sollte Cindy zur Polizei, um einige Fragen zu beantworten. Fragen, die gefährlich nahe an die Ereignisse von damals herankommen konnten. Sie nahm sich fest vor, gut aufzupassen, was sie sagte. Keine unbedachten Reaktionen zu zeigen, nichts, was Britta in noch größere Schwierigkeiten bringen könnte. Sollte herauskommen, welche Rolle sie beide damals gespielt hatten, als Ernst Gerlach getötet worden war, könnte Brittas Arbeitsplatz gefährdet sein. Und das war das Letzte, was Cindy wollte.

Sie stand vor dem Kleiderschrank ihrer Freundin und begutachtete mit enttäuschter Miene die Auswahl an Schuhen, die Britta dort sortiert hatte. Da sie beide die gleiche Schuhgröße hatten, war Cindy der glänzende Einfall gekommen, sich für ihren Besuch bei der Kriminalpolizei ein Paar von Britta auszuleihen. Ihre eigenen lagen in ihrer Wohnung in Burbach, die sie seit Samstag nicht mehr betreten hatte – nicht betreten durfte, weil dort Spuren gesichert wurden.

Damit kam Cindy klar.

Diese Wohnung war für sie ohnehin tabu geworden. So ein Ereignis zerstörte ihr jeglichen Wohnkomfort. Aber ihre Klamotten und Schuhe wollte sie wiederhaben. So schnell wie möglich. Denn mit flachen Turnschuhen fühlte sie sich nicht wohl. Sie brauchte ihre Individualität, die sie gern mit dem demonstrierte, was sie trug.

Doch was entdeckte sie da? Schwarze Stilettos lagen achtlos in der hintersten Reihe. Sie könnte Britta knutschen. Die zog sie an. Sofort fühlte sie sich bereit für das bevorstehende Abenteuer. Mit einem Taxi ließ sie sich in die Mainzer Straße in Saarbrücken fahren. Am Eingang zu dem großen Gelände, auf dem das Gebäude des Landespolizeipräsidiums stand, wurde Cindy angehalten. Ihre Angaben wurden überprüft. Ein Polizeibeamter trat herbei, um sie in das Gebäude zu begleiten. Cindy fühlte sich wie eine Verbrecherin.

Kaum hatte sie das Großraumbüro betreten, gingen die Unannehmlichkeiten weiter. Alle starrten sie an.

Normalerweise liebte sie es, wenn man ihr bewundernde Blicke zuwarf. Doch diese Blicke wirkten abschätzend, so als wollten die Polizisten an ihrem bloßen Äußeren erkennen, ob sie schuldig war oder nicht.

Als ihre Freundin ihr entgegenkam, konnte sie endlich wieder durchatmen.

„Da bist du ja“, rief Britta. „Ich werde bei der Befragung dabei sein.“

„Das ist aber auch das Mindeste, was du für mich tun kannst“, stellte Cindy mürrisch klar.

„So einfach ist das nicht. Wenn du meinen Chef kennengelernt hast, weißt du, was ich meine.“

„Mach es nicht noch schlimmer als es schon ist.“

Die beiden Frauen betraten das Chefbüro. Der Mann, der dort auf dem Schreibtisch saß, sah wie ein entflohener Häftling aus. Unrasiert, ungepflegt, mit hässlichen Schweißrändern unter den Achselhöhlen. Das Hemd hing aus seiner Hose, der dicke Bauch wölbte sich darüber. In einer Hand hielt er eine Akte. Mit der anderen machte er ein Zeichen, dass sie sich setzen sollten.

Cindy bekam vor Schreck ganz große Augen. Als Britta ihr einen Stoß in die Seite gab, ließ sie sich schnell auf den freien Stuhl sinken.

„Wie gut haben Sie Thomas Gerlach gekannt?“, lautete seine erste Frage, nachdem die Personalien geklärt waren.

„Er war mein zukünftiger Chef.“

„Mehr nicht?“

„Auch mein Ex-Chef. Ich hatte schon mal bei ihm gearbeitet.“

„Und weiter?“

„Nichts weiter.“

„Jetzt wird es peinlich.“ Wallbrod grinste böse. „In Ihrem Bett wurden Spermaspuren und Spuren anderer Körperflüssigkeiten gefunden, als habe dort Geschlechtsverkehr stattgefunden.“

„Wir haben hinterher miteinander geschlafen, weil wir uns so gefreut haben, dass ich bald wieder bei ihm arbeiten werde“, gab Cindy zu.

„So haben wir geklärt, wessen Spuren in dem Bett sind. Ist der Sex freiwillig geschehen?“

„Natürlich“, bestätigte Cindy. „Oder wollen Sie mir unterstellen, ich hätte Thomas getötet, weil er mich zu etwas gezwungen hat? So blöd bin ich nicht. Ich säge doch nicht den Ast ab, auf dem ich sitze.“

„Welcher Ast?“

„Dass ich bei Thomas ab Montag wieder als Rechtsanwaltsgehilfin in seiner Kanzlei arbeiten sollte.“

„Schläft man heute mit dem zukünftigen Chef, wenn man eine neue Arbeitsstelle haben will?“ Wallbods Grinsen wurde breiter.

„Thomas und ich kennen uns schon lange. Wir haben uns über den Vertragsabschluss gefreut und so ergab es sich eben. Ist doch nichts dabei.“

„Ist doch nichts dabei“, äffte Wallbrod die letzten Worte nach. „Ist doch nichts dabei.“

Britta und Cindy schauten sich nur vielsagend an.

„Natürlich ist etwas dabei“, tobte Wallbrod plötzlich los. „Vor allen Dingen, wenn der Mann verheiratet ist und hinterher erstochen in der Wohnung seiner Geliebten aufgefunden wird. Also sagen Sie mir nicht, wie ich Ihre Situation beurteilen soll.“

Eine Welle schlechten Geruchs wehte über Cindy. Aus Wut über den unhöflichen Mann fächelte sie demonstrativ den Gestank von sich.

„Wir haben immer noch Zweifel an Ihrer Darstellung des Abends“, sprach Wallbrod weiter. „Sie behaupten, Thomas Gerlach habe mit Ihnen gemeinsam Ihre Wohnung verlassen.“

Cindy nickte.

„Wissen wir inzwischen den Todeszeitpunkt?“ Mit der Frage wandte sich Wallbrod an Britta, die erschrocken ihren Notizblock heraus kramte, nachschaute und antwortete: „Zwischen zwanzig und einundzwanzig Uhr.“

„Und wann haben Sie gemeinsam mit Thomas Gerlach die Wohnung verlassen?“

„Kurz vor acht. Ich fange um acht Uhr im Basilisk an zu arbeiten. Mein Weg dorthin dauert höchstens eine Viertelstunde.“

„Knapp“, stellte Wallbrod grimmig fest.

„Aber es reicht für ein Alibi“, hielt Britta dagegen, wofür sie einen bösen Blick erntete.

„Hat Thomas Gerlach einen Zweitschlüssel zu Ihrer Wohnung?“, fragte Wallbrod weiter.

„Nein. Er war höchstens zweimal bei mir zuhause. Ich hatte gar keinen Grund, ihm einen Zweitschlüssel zu geben.“

„Dann verraten Sie mir bitte, wie er in Ihre Wohnung zurückkehren konnte.“

Cindy zuckte mit den Schultern.

„Ihren Vermieter haben wir in dieser Angelegenheit auch schon gesprochen. Er hat einen Schlüssel, der für alle Wohnungen in diesem Haus passt. Aber ihn hat niemand nach Ihrem Wohnungsschlüssel gefragt.“

Cindy überlegte eine Weile, bis sie sagte: „Ich habe einen Ersatzschlüssel. Der hängt immer am Schlüsselbrett neben der Haustür. Vielleicht hat er sich den genommen, als ich gerade nicht aufgepasst habe.“

Das feiste Grinsen in Wallbrods Gesicht wuchs sich zu einer hämischen Grimasse aus. Langsam griff er in die Akte und zog ein Foto in DIN-A4-Größe heraus. Darauf war in aller Deutlichkeit das besagte Schlüsselbrett zu sehen. Drei Schlüssel hingen daran.

„Fehlt dort etwas?“, fragte er in schneidendem Tonfall.

Cindy schaute auf das Foto und konnte nicht anders. Ihre Augen wurden ganz groß, dann zornig, als sie brüllte: „Dann hat er ihn wieder zurückgehängt, damit ich nicht merken soll, dass er nach unserem Date in meine Wohnung zurückgegangen ist.“

„Zu schade, dass wir ihn nicht mehr fragen können, was?“

Britta nahm das Foto und fragte: „Hat die Spurensicherung diese Schlüssel nach Fingerabdrücken abgesucht?“

„Sagen Sie mir nicht, wie ich meine Arbeit machen soll!“, stellte Wallbrod bissig klar.

„Wenn Thomas Gerlach diesen Schlüssel an sich genommen hat, weil er die Absicht hatte, heimlich in Cindys Wohnung zurückzukehren, sobald sie weg war, hat er mit Sicherheit keine Handschuhe getragen. Er hatte bestimmt nicht die Absicht gehabt, sich ermorden zu lassen.“

Das ließ sich Wallbrod durch den Kopf gehen. Ohne Worte griff er nach seinem Handy und rief tatsächlich bei der Spurensicherung an. Nach dem er das Gespräch beendet hatte, murmelte er: „Sie nehmen sich die Schlüssel vor.“

Britta fühlte sich erleichtert. Sie ahnte, dass dort die Auflösung lag, nämlich dass Thomas tatsächlich diesen Schlüssel an sich genommen hatte. Damit wäre Cindy entlastet.

„Wie lange kennen Sie Thomas Gerlach schon?“ Mit dieser Frage setzte Wallbrod seine Vernehmung fort.

„Lange. Wir sind alle in Saarbrücken-Burbach aufgewachsen.“

„Sie auch?“, wandte er sich an Britta.

Britta bestätigte mit einem Nicken.

„Kannten Sie auch seinen Vater?“ Wallbrod richtete sich wieder an Cindy.

„Ich weiß nur, was dem Alten passiert ist. Aber zu Ernst Gerlach hatte ich keinen Kontakt. Und zu Thomas damals auch nicht. Erst als er nach dem Studium zurückkam und die Kanzlei seines Vaters übernommen hat.“

„Und Sie?“

„Kann es sein, dass ich jetzt auch vernommen werde?“, fragte Britta ungehalten zurück.

„Das kann durchaus sein“, antwortete Wallbrod gereizt. „Sie stecken bis zum Hals in dem Fall.“

Britta riss den Mund weit auf vor Schreck.

„Sie beide wissen, was mit Ernst Gerlach passiert ist?“

„Er wurde ermordet“, antwortete Cindy. Dabei tat sie gelassen, obwohl sie sich innerlich wie aufgespießt fühlte. Was wollte der stinkende Fettsack? Er stellte Fragen, mit denen Cindy nicht gerechnet hatte. Warum blieb er nicht einfach beim Thema, nämlich dem Mord an Thomas Gerlach? Und schlimmer noch: Warum zog er Britta mit hinein?

„Ernst Gerlach ist im Burbacher Weiher ertrunken.“

„Ertrunken?“, fragten Cindy und Britta wie aus einem Mund.

„Genauer gesagt, ertränkt worden“, präzisierte Wallbrod. „Markus Gronski wurde dabei erwischt. Jede Hilfe kam für Ernst Gerlach zu spät.“

Cindy fühlte sich wie elektrisiert. Sie versuchte, Brittas Blick aufzufangen, doch die Freundin wich ihr aus. Stattdessen hörte sie wieder die helle, bohrende Stimme dieses grässlichen Bullen, wie er herablassend sagte: „Aber, um wieder auf unseren aktuellen Fall zurückzukommen, Frau Graf. Trotz all Ihrer Beteuerungen habe ich Zweifel an Ihrer Darstellung der Ereignisse. Wir waren nämlich heute Morgen in Thomas Gerlachs Kanzlei. Dort arbeiten zwei junge Damen als Rechtsanwaltsgehilfinnen. Wussten Sie das?“

Cindy zuckte mit den Achseln.

„Die beiden wussten nichts von einem Arbeitsvertrag zwischen Ihnen und Rechtsanwalt Gerlach. Einen Engpass beim Personal hat es angeblich nicht gegeben.“

„Die kapieren sowieso nichts“, konterte Cindy.

„Aber Sie?“

Darauf gab Cindy lieber keine Antwort. Die Fratze dieses Mannes drückte nur Verachtung aus.

„Kennen Sie Thomas Gerlachs Frau Andrea?“

„Ich weiß, wer sie ist.“

„Und wer ist sie?“

„Eine Langweilerin.“

„Aha! Rivalin, wie ich sehe.“ Wallbrod lachte böse. „War es nicht zufällig so, dass Sie in Thomas Gerlach verliebt waren und ihm ein Ultimatum gestellt haben, er solle sich von seiner Frau trennen, damit er frei für Sie ist?“

„So ein Blödsinn. Einen Mann wie Thomas wollte ich niemals ganz für mich haben.“

„Warum nicht?“

„Weil Thomas alles vernascht, was nicht schnell genug auf dem Baum ist. Seine Ehe war ihm egal.“

„Wollen Sie damit sagen, dass Sie nicht die Einzige waren, mit der er seine Frau betrogen hat?“

„Genau das.“

„Und das hat Sie nicht gestört?“

„Nein. Ich habe bestimmt nicht ans Heiraten gedacht, wenn ich mit Thomas zusammen war.“

„Dafür denken Sie daran, den Verdacht auf andere zu lenken.“ Wallbrod grinste, wobei kleine, spitze Zähne zum Vorschein kamen. „Aber das klappt nicht. Denn wir haben Thomas Gerlachs Kanzlei komplett durchsucht. Die Angestellten waren so nett und haben nicht auf einen Durchsuchungsbeschluss bestanden. Wir fanden nirgendwo einen Arbeitsvertrag zwischen Ihnen und Thomas Gerlach. Er hat sie verarscht.“

„Das hat er nicht. Sie haben nicht überall gesucht.“

„Wo sollten wir noch suchen?“

„Tja. Das hat Ihnen wohl niemand gesagt, was?“ Cindy feixte.

„Sagen Sie schon, was Sie wissen!“, drängte Wallbrod, dessen Gesicht grimmige Züge annahm.

„Thomas hat eine Wohnung in der Stadt gemietet, nur um sich mit seinen Frauen zu treffen. Fickstübchen hat er die Bude genannt.“

„Fickstübchen?“ Wallbrod verschluckte sich fast. Dann brach er in ein grelles Lachen aus, dass es Cindy und Britta in den Ohren schmerzte.

„Wo ist dieses Fickstübchen?“, fragte Wallbrod, als er sich wieder beruhigt hatte.

„Ganz in der Nähe – in der Mainzer Straße.“

„Dann werden wir uns das Fickstübchen mal genauer anschauen. Ich stelle fest, man lernt nie aus.“

Die Befragung war beendet. Cindy durfte gehen.

„Was redet der Fettsack über Ernst Gerlach?“, fragte sie, kaum, dass sie im Flur angekommen waren, wo sie auf den Fahrstuhl warteten.

„Psst. Es könnte uns jemand hören“, bremste Britta den Redefluss ihrer Freundin.

Im Flüsterton sprach Cindy weiter: „Ernst Gerlach ist doch nicht ertrunken.“

„Ich werde die Rechtsmedizinerin fragen“, schlug Britta vor. „Hilde Gesser wird mir die gewünschte Auskunft geben ohne gleich Verdacht zu schöpfen.“

„Ja, tu das.“

Cindy drückte auf den Fahrstuhlknopf. An der Beleuchtung sahen sie, dass die Kabine gerade ganz unten war.

„Ich hätte nicht gedacht, dass ich über diese Sache von damals ausgefragt werde“, schimpfte sie, während sie auf den Fahrstuhl wartete. „Wie kommt der Bulle dazu?“

„Das hat eindeutig mit deinem Verhältnis mit Thomas Gerlach zu tun“, spekulierte Britta. „Musstest du dir ausgerechnet ihn für deine amourösen Abenteuer aussuchen?“

„Du weißt warum ...“

„Und heute – zwanzig Jahre später – kommt der alte Mist wie ein Bumerang auf uns zurück.“

Endlich!

Die heiße Cindy verließ das Polizeigebäude.

Pietro Pardi hatte schon befürchtet, sie sei verhaftet worden. Damit hätte der Fettsack Wallbrod sicherlich keinen Fehler gemacht, wie er inzwischen aus zuverlässiger Quelle wusste. Aber er hätte ihm jede Chance gestohlen, weitere reißerische Aufmacher für die Zeitung zu schreiben.

Pietro verfügte über ein gutes Gespür für Menschen, die Dreck am Stecken hatten. Und Cindy Graf gehörte dazu. Ebenso ihre Freundin Britta. Schon damals, als Ernst Gerlach ermordet worden war, hatte er diese Frauen nicht weit vom Tatort entfernt gesehen. Gelaufen waren sie. Wie von der Tarantel gestochen. So rannte man nur, wenn man vor etwas davonlief.

Nie hatte er herausfinden können, wovor Cindy, Britta - und noch eine dritte, deren Name ihm nicht mehr einfiel - damals geflüchtet waren. Seine Bemühungen, dem Mord an Ernst Gerlach etwas Geheimnisvolles zu entlocken, waren gescheitert. Über sein eigenes Drogendelikt war er gestolpert und für diese Dummheit einige Jahre im Knast gelandet. Seitdem strampelte er mühsam, um seinen alten Ruf als Fuchs unter den Journalisten wieder herzustellen. Der Mord an Thomas Gerlach war die absolute Chance. Zuviel hing daran.

Es war kein Zufall, dass Thomas Gerlach der Sohn des vor zwanzig Jahren ermordeten Ernst Gerlach war. Erst recht nicht für Pardi, der dieses Ereignis für einen neuen Karriereschub hielt. Kaum war er wieder auf der Bildfläche aufgetaucht, hatte sich auch schon ein Informant bei ihm gemeldet und ihm genau das angeboten, wonach Pardi schon lange lechzte. Aus dem Mordfall Ernst Gerlach nach zwanzig Jahren eine erneute Sensation zu machen.

Der Mord an dessen Sohn war das Tüpfelchen auf dem i.

Und ausgerechnet in Cindy Grafs Wohnung wurde er ermordet.

Für Pietro stand fest: Diese Weiber hatten schon seit zwanzig Jahren etwas zu verbergen. Er war auf der richtigen Spur.

Ein Taxi kam vorgefahren. Cindy stieg ein. Ganz schön luxuriös für eine arbeitslose Rechtsanwaltsgehilfin. Das sah ebenfalls vielversprechend aus.

Die Fahrt konnte losgehen.

Pietro Pardi startete seinen alten Ford-Escort, ein Relikt aus seiner Zeit, bevor er im Knast gelandet war. Er hing an dem alten Stück, auch wenn die Geräusche inzwischen mehr als bedenklich waren. Aber die alte Karre erinnerte ihn an bessere Zeiten – an Zeiten, die er wieder erleben wollte. Also hütete er sie, pflegte sie, tankte auch bereitwillig den teuersten Sprit – nur um nicht zugeben zu müssen, dass das Geld für ein neues Auto nicht reichte.

Doch was sah er da?

Cindy fuhr nicht zurück in Britta Ballhaus’ Wohnung in der Lebacher Straße. Auch nicht ins Basilisk zu Gerd Bode, dem Trottel, der immer herhalten musste, wenn Cindy Mist gebaut hatte. Sie steuerte den Triller an, eine Wohngegend am Rand von Saarbrücken. Die Straßen wurden immer enger und steiler. Pardi musste aufpassen, dass er nicht gesehen wurde. Er ließ sich zurückfallen. Plötzlich war das Taxi verschwunden. Verdammt. Diese verwinkelten Straßen waren wie verhext. Wo steckte Cindy nur? Er schaute sich nach allen Seiten um, bis er gerade noch das Hinterteil des Taxis erkennen konnte, das rechts abbog.