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1981 herrscht in Mailand Angst vor linksextremem Terrorismus. Ein Politiker der Christdemokraten wird umgebracht, der junge Staatsanwalt Colnaghi soll die Mörder jagen. Schon bald gelingt ihm ein Coup: die Verhaftung des Topterroristen Gianni Meraviglia. Doch je länger sich Colnaghi mit dessen Motiven und mit der Frage der Schuld beschäftigt, desto mehr will er diese merkwürdige Ethik verstehen, die das Vernichten von Menschenleben rechtfertigt. Warum wählen zwei Menschen, die, wie er und Meraviglia, von Gerechtigkeit träumen, zwei so gegensätzliche Wege? Mit vibrierender Intensität lässt Fontanas kluger und hochspannender Roman das Italien der "bleiernen Jahre" wiederauferstehen.
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Seitenzahl: 290
Nagel & Kimche E-Book
Giorgio Fontana
Tod eines
glücklichen Menschen
Roman
Aus dem Italienischen
von Karin Krieger
Nagel & Kimche
Titel der Originalausgabe: Morte di un uomo felice
Sellerio editore, Palermo, © 2014 Giorgio Fontana
Published in agreement with the Piergiorgio
Nicolazzini Literary Agency (PNLA)
© 2015 Nagel & Kimche
Im Carl Hanser Verlag München
Umschlag: Hauptmann & Kompanie, Zürich
© Nico Piotto / Getty Images
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Kreutzfeldt digital, Hamburg
Für meine Mutter
«Vergesst nicht», hatte er gesagt: «Wir dürfen
keine Menschen des Zorns sein.»
1
SIE WOLLTEN ALSO RACHE. Colnaghi nickte einige Male nachdenklich, als wollte er Gedanken sammeln, die er nicht hatte oder die noch zu verworren waren. Dann stützte er die Hände auf den Tisch und sah wieder zu dem Jungen, der gesprochen hatte.
In dem Raum, den der Kindergarten des Viertels zur Verfügung gestellt hatte, herrschte Schweigen: Schweißflecken unter den Achseln, dazu die sich langsam drehenden Flügel des Ventilators. Alle warteten auf seine Antwort, auf das x-te gute Wort.
Die Verwandten und Freunde des Opfers waren etwa dreißig an der Zahl. Vissani war Chirurg gewesen, ein prominenter Vertreter des äußersten rechten Flügels der Mailänder Christdemokraten, zweiundfünfzig Jahre alt, aschblond, dicklich. Das Foto vor dem Rednerpult war von Blumensträußen umgeben.
Colnaghi mochte ihm in den letzten Jahren ein-, zweimal begegnet sein. Er hatte im «Corriere» etwas über ihn gelesen, vielleicht einen Artikel im Lokalteil, über die Stellung, die er sich damals innerhalb der Partei erobert hatte. Colnaghi hatte für jene DC nichts übrig, doch wer weiß: Vielleicht hatten sie sich in der Vergangenheit sogar einmal die Hände geschüttelt, waren einander von einem Kollegen vorgestellt worden, der Karriere machen wollte, vielleicht an einem Abend Mitte Mai, wenn Mailand von Schwalben durchzogen wird und das Licht eine unfassbare Farbe hat. Vielleicht waren sie damals beide gutgelaunt gewesen, vielleicht hatte Vissani über einen Witz Colnaghis gelacht und sich auf die Schenkel geklopft, und ebenso schnell hatte der Arzt dem Staatsanwalt die gute Laune mit einer unangebrachten Bemerkung verdorben, einer von vielen, die er in den Ermittlungsakten hatte nachlesen können – etwas Unangenehmes über die Jugend von heute oder dass die Regierung hart durchgreifen müsse.
Wie dem auch sein mochte, Folgendes war geschehen: Dieser gewöhnliche, abstoßende, doch unschuldige Typ war am späten Abend des 9. Januar 1981 in der Nähe der Piazza Diaz erschossen worden. Zwei Projektile, Kaliber 38 Special. Vor sechs Monaten. Ein Mord, zu dem sich der Proletarische Kampfverband bekannte, eine Splittergruppe der Roten Brigaden. Ein noch nicht abgeschlossener Fall auf Staatsanwalt Colnaghis Schreibtisch.
Er hatte lange darüber nachgedacht, ob es eine gute Idee sei, an der Gedenkfeier teilzunehmen. Schließlich war seine Aufgabe, sich von solchen Leuten fernzuhalten, und nicht, sich ihnen auszusetzen. Doch am Ende hatte er aufgegeben. Es ging nicht darum, zu beurteilen, was angebracht sei und was nicht. Für ihn gehörte es auch zu den Pflichten der Richterschaft, auf eine recht unorthodoxe Art mit einem Verlust umzugehen. Er war in gewisser Weise ein Parasit des Leids. Ohne Verbrechen gäbe es keine Strafe, und folglich auch keine Staatsanwälte. Es erschien ihm richtig, der Welt noch etwas anderes zurückzugeben – die einfache, reine Frucht seines Verständnisses.
Und so war er nun hier, sechs Monate später, um jener Ereignisse zu gedenken und sich sinnlose, wortreiche Ausführungen über die angebliche Gutherzigkeit dieses Mannes anzuhören und über die Zeiten, die man gerade durchmachte. Und alles war gutgegangen, alles war nach Plan gelaufen, die Erinnerung an die Tat, an die Leere, die jeder Mord hinterlässt, hier und da ein Gähnen (Schmerz wird nach kurzer Zeit langweilig, außer für den, der von ihm verzehrt wird) und schließlich die Versicherung, dass er und seine Kollegen ihre Pflicht tun werden.
Es war gutgegangen, bis der Junge das Wort ergriff, nachdem er artig, doch energisch die Hand gehoben hatte, und Colnaghi mitteilte, er wolle Rache. Als der Sohn von Dottor Vissani wolle er Rache. Wortlos wechselten die Erwachsenen Blicke, jemand drehte seinen Hut in den Händen, und die Frauen setzten ein unangebrachtes Lächeln auf. Dieser Wunsch schien allgemein auf Zustimmung zu stoßen.
Schließlich antwortete Colnaghi: «Für Rache bin ich nicht der Richtige», sagte er schlicht und versuchte nun seinerseits, die Spannung mit einem Lächeln zu lösen.
«Also gut», erwiderte der Junge. Er war blond wie sein Vater, Pagenfrisur, Nase und Mund zuckten. «Nehmen wir mal an, Sie erwischen die, die meinen Vater ermordet haben. Und was dann?»
«Dann wird ihnen der Prozess gemacht.»
«Und dann?»
«Wenn man sie für schuldig befindet, werden sie verurteilt.»
«Und sie kommen lebenslänglich hinter Gitter?»
«Garantiert für viele Jahre. Sie werden niemandem mehr Schaden zufügen können.»
«Das reicht nicht», sagte der Junge kopfschüttelnd. «Das reicht nicht.»
Wieder nickte Colnaghi.
«Du heißt Luigi, nicht wahr?», fragte er.
«Ja.»
«Wie alt bist du, Luigi?»
«Fünfzehn.»
«Fünfzehn. Gehst du aufs Gymnasium?»
«Auf das naturwissenschaftliche, ja. Ich beginne jetzt mit dem zweiten Jahr.»
«Gut. Dann sag mir doch, was sollen wir mit dem Mörder deines Vaters machen?»
Unwilliges Gemurmel. Kopfschütteln. Colnaghi merkte, dass er zu weit gegangen war, doch er hatte jetzt eine Vermutung. Und dieser Vermutung musste er nachgehen. Den Jungen schien die Frage allerdings nicht zu überraschen. Er sah nur zur Tür und kniff die Augen zusammen, um besser nachdenken zu können. Dann wandte er sich wieder dem Staatsanwalt zu.
«Ich würde ihn umbringen», sagte er. «Ich würde ihn auf der Stelle umbringen, mit meinen eigenen Händen.»
Nun gab es ein lautes Raunen, und die Mutter des Jungen zog ihn heftig an der Hand. «Luigi!», zischte sie, doch ohne Nachdruck.
Er achtete nicht auf sie. Er hielt Colnaghis Blick stand, und Colnaghi begriff, dass dies keine Provokation war, sondern etwas sehr viel Größeres, Komplizierteres, das Schicksal einer ganzen Nation, die versuchte, eine Tragödie aufzuarbeiten, eine lange Geschichte voller gegenseitigem Unrecht und Verletzungen. Denn letztlich reduzierte sich alles auf die übliche, absolut simple Frage: Wie erklärst du einem Kind den Tod seines Vaters? Was nützen Erläuterungen und Begründungen angesichts eines solchen Verlustes? Wir ziehen Kinder voller Rachegefühle groß, sagte er sich. Wir ziehen Waisen groß, die neue Väter brauchen werden, und ich kann nichts tun.
Also seufzte er tief und legte sein Nichts dar.
«Was du da sagst, ist … verständlich», begann er. «Wirklich. Wie würde ich an deiner Stelle reagieren? Diese Frage stelle ich mir immer wieder. Wie würde ich reagieren, wenn ich in eurer Haut steckte?» Er breitete die Arme aus. Jetzt hörten ihm alle aufmerksam zu. Colnaghi sah diese Menschen an, die zwischen Abkehr und Mitgefühl schwankten, und spürte, wie seine Stimme von allein in Fluss kam. Zunächst waren es einzelne Worte, wie die Soldaten eines nächtlichen Spähtrupps, dann die ganze Armee der Argumentationen und zum Schluss alles, was er seit langem mit sich herumtrug. «Rache ist die erste Lösung, die uns einfällt. Das ist naheliegend und nur natürlich: das Recht, Gleiches mit Gleichem zu vergelten, nicht wahr? Auge um Auge, Zahn um Zahn. Aber das funktioniert nicht.» Er atmete tief durch. «Mir ist klar, dass ich mir das alles an eurer Stelle vielleicht nicht einmal anhören würde, doch Rache ist ein unbrauchbares Mittel, zuallererst für euch selbst. Und ja, natürlich, ich weiß, dass einige von euch gar keine besseren Menschen sein wollen, sondern einfach nur den Mann, der euch so viel Leid zugefügt hat, ergreifen und vernichten möchten, ihn spüren lassen möchten, wie viel Schmerz ihr ertragen musstet. Doch ein Komplize dieses Mannes wird seinerseits auf Rache sinnen und einen anderen unschuldigen Menschen töten, und immer so weiter. Am Ende ist da nur noch Tod. Da ist kein Platz mehr für ein Kennenlernen, für die Liebe, für eine Pizza, für einen Spaziergang. Die Welt verschwindet total, die Welt, die du retten wolltest. Es bleibt nichts außer Kälte und Rache. Aus dieser Besessenheit führt kein Weg heraus.» Er blinzelte. «Das sage ich euch als Vater und Christ. Ich weiß, dass meine Pflicht mit einer gerechten Strafe für die Schuldigen endet. Doch ich weiß auch, dass das nicht genügt. Dass nichts das Unrecht wiedergutmacht, das ihr erlitten habt. Nichts wird dir deinen Vater zurückbringen, Luigi, und nichts wird auch nur einen der Menschen zurückbringen, die uns genommen wurden. Das ist entsetzlich. Das ist entsetzlich, und ich weiß wirklich nicht, was ich tun soll, ich habe keine Antwort auf euren Schmerz. Ihr müsst sehr tapfer sein, denn das, was euch passiert ist – das, was dir passiert ist, Luigi –, entzieht sich jeder Erklärung. Ich glaube fest daran, dass Gott eines Tages alles richten wird, jede Verletzung wie auch jede Schuld, doch jetzt, in diesem Augenblick, ist mir bewusst, dass ich nichts weiter sagen kann. Es tut mir leid, dass das geschehen ist», sagte er abschließend. «Es tut mir wirklich leid.»
Beim Hinausgehen schüttelte Colnaghi einige Hände und erwiderte den einen oder anderen Gruß. Einige der Anwesenden waren in Tränen ausgebrochen und bedankten sich für seine Rede. Andere schienen irritiert zu sein oder sogar gereizt. Als er vorüberging, wichen sie aus, senkten den Blick und kramten suchend in ihren Taschen. Luigi hielt sich abseits. Er sah Colnaghi aus dem hinteren Teil des Raumes still an. Ich kenne deine Wut, hätte dieser ihm am liebsten gesagt. Ich kenne sie nur zu gut, ich kann sie entschlüsseln wie eine persönliche Sprache. Doch mein Schmerz ist besser als deiner, dachte er weiter – und schämte sich dafür. Dann schüttelte er den Kopf und ging hinaus, er war erschöpft.
Auf der Straße zog er sich trotz der Hitze das Jackett wieder an, putzte sich die Brille mit dem Zipfel seiner Krawatte und machte sich auf den Weg zur Straßenbahn. Die Anspannung saß ihm noch in den Gliedern, und er wollte jetzt nichts weiter als ein Stückchen Stadt, durch ein Bahnfenster betrachtet.
Er schaute auf, acht Uhr abends, Station Porta Genova: Zwischen den Dealern, den Zuhältern und einigen Stadtstreichern hasteten die letzten Pendler zu ihren Zügen. Über ihnen allen senkte sich die Abenddämmerung herab, und die Luft roch, wer weiß warum, nach Lakritze. Colnaghi zündete sich automatisch eine Pfeife an, und nach wenigen Zügen kam die Straßenbahn, gerade als er zu spüren begann, wie der Rauch seinen Mund füllte.
Der Staatsanwalt sah sich im Wagen um. Drei Frauen seines Alters, eine ältere Dame mit einem rosa Hütchen und zwei junge Kerle in Jeans, die sich lachend einen Haltegriff der Straßenbahn zuwarfen. Vielleicht hatte er sich von selbst gelöst, vielleicht hatten sie ihn abgerissen.
Colnaghi senkte das Kinn auf die Brust. Seit längerem stellte er sich vor, dass auch er so eine Leiche wie Vissani werden könnte oder wie seine in den vergangenen Jahren ermordeten Kollegen. Die Verwandlung war schon im Gange, und es war sonderbar, ganz als würde man ein zweites Ich mit sich herumtragen, einen kleinen Tod, der herankeimte und darauf wartete, aufzublühen. Würde das wirklich geschehen? Und wann, und wo? Einige Monate zuvor hatte ein Kollege aus Turin zu ihm gesagt, ihre Aufgabe bestehe nun darin, zu lernen, wie man eine gute Leiche abgebe. Colnaghi hatte seinen Blick zum Himmel gehoben und geantwortet, dass es doch vielleicht, nun ja, nicht unbedingt nötig sei, so düster zu werden.
Einmal hatte sein Chef ihm Personenschutz angeboten, doch er hatte abgelehnt. Er war noch nicht in der Verfassung, ihn anzunehmen, und offen gestanden war er seit dem Tod von Aldo Moro davon überzeugt, dass Leibwächter nur dazu dienten, noch weitere Leben in Gefahr zu bringen. Außerdem gab es keine konkreten Anhaltspunkte: kein Steckbrief von ihm in den ausgehobenen Schlupfwinkeln, keine Drohungen von dieser oder jener Organisation. Trotzdem eignete er sich gut als Zielscheibe: ein brillanter Staatsanwalt, der seit drei Jahren gegen den bewaffneten Kampf vorging, noch jung, gesprächsbereit, Demokrat und erzkatholisch obendrein.
Die zwei Jungen stiegen an der nächsten Station aus und nahmen den Haltegriff mit. Die Türen klappten zu, niemand war zugestiegen. Colnaghi streckte sich vor, um die nackte Haut über seiner Socke zu kratzen, wo er ein leichtes Jucken spürte. Die Straßenbahn bog ab, und ein kirschrotes Licht erfüllte plötzlich den ganzen Wagen. Denk an was Lustiges, sagte sich Colnaghi. Treffen sich zwei Anwälte. Fragt der eine: Wie geht’s? Sagt der andere: Ich kann nicht klagen. Nein, nein, das war noch nichts, Giacomino. Das kannst du besser. Sagt der Untersuchungsrichter zum Angeklagten: Wir haben drei Leute, die bezeugen, Sie gesehen zu haben. Darauf er: Na und, ich kann Ihnen hunderttausend bringen, die bezeugen, dass sie mich nicht gesehen haben!
Er lachte leise auf. Das war so bescheuert, dass er es noch mal bei der Franz oder bei Micillo anbringen konnte, oder sogar zu Hause beim Abendbrot. Die Alte mit dem rosa Hütchen starrte ihn verdutzt an, und so nahm er sich zusammen. Die Straßenbahn klingelte an einer Kreuzung. Während sie in Richtung Norden weiterfuhren, lehnte Colnaghi seine Wange an die Fensterscheibe und sah zu, wie sich Mailand fächergleich vor ihm ausbreitete: die schienendurchfurchten Straßen menschenleer, zwei Carabinieri vor einem Palazzo, ein Student mit Büchern unterm Arm, die Formen der Stadt, die in der Dämmerung langsam verloschen.
2
SIE SASSEN SCHON DREI STUNDEN um Micillos Schreibtisch herum, wühlten sich durch die Akten und reichten sich von Zeit zu Zeit das Feuerzeug. In der schwülen Hitze des vierten Stocks atmete Colnaghi schwer. Es war Freitag und schon wieder spät. Seit mehr als zehn Minuten schwiegen sie, als wollten sie die Anstrengung von ihren Körpern verdampfen lassen. Er war im Morgengrauen mit dem Fahrrad ins Büro gekommen, als der Tag den Justizpalast noch nicht erhellt hatte. Seitdem hatte er pausenlos gearbeitet, zum Mittag gerade mal ein Brötchen.
Er sah seine beiden Kollegen an, die er für die Zusammenarbeit ausgesucht hatte. Staatsanwalt Micillo, der Spross einer alten Juristenfamilie aus Caserta, der auch im Sommer immer mit einer gebundenen Fliege kam, fächelte sich mit der Hand Luft zu. Und Caterina Franz, die Untersuchungsrichterin aus dem Friaul, las reglos und kein bisschen verschwitzt mit einem Finger an der rechten Augenbraue unverwandt weiter.
«Mir ist übel», sagte Micillo schließlich. «Wirklich übel.» Colnaghi behielt Micillos Kinnlade im Auge. Caterina Franz schnaufte, und eines der Blätter, die sie in der Hand hielt, glitt zu Boden. Bevor es landete, beschrieb es einen kleinen Bogen um sich selbst. Sie schaute ihm nach und kratzte sich ihre lange Hakennase.
«Ich glaube, dir ist da was runtergefallen», sagte Colnaghi. Micillo kicherte und fächelte sich weiter Luft zu. Sie sah ihn scheel an.
«Du bist rot geworden», fuhr Colnaghi lächelnd fort.
Sie presste die Lippen aufeinander.
«Und schon wieder. Schüchterne Menschen erröten noch mehr, wenn man sie darauf anspricht.»
«Bist du bald fertig?», fragte sie.
«Na bitte, jetzt bist du rot wie eine Tomate.»
Caterina Franz schüttelte den Kopf und wandte sich an Micillo. «Wie schaffst du es bloß, mit dem zu arbeiten?»
«Keine Sorge», gab er zurück. «Der kriegt sich schon wieder ein.»
Wieder schüttelte die Friaulerin den Kopf und schnaufte. Colnaghi streckte sich, so dass sein Stuhl auf den zwei hinteren Beinen kippelte, und spähte aus dem Fenster zum Himmel. Dann fiel er wieder nach vorn und schlug mit den Händen auf den Schreibtisch. «Fassen wir noch mal zusammen», sagte er. «Die letzten Aussagen der Berti haben uns auf eine gute Spur gebracht, doch irgendwas übersehen wir. Aber was?»
Anna Berti war siebenundzwanzig Jahre alt und eine Rotbrigadistin, die eingewilligt hatte, mit der Justiz zusammenzuarbeiten. Sie tat es widerstrebend und voller Schuldgefühle, doch zumindest hatte sie ein paar Namen ausgespuckt. Sie redete wortkarg und klar. Colnaghi gehörte zu den wenigen, die den im Vorjahr erlassenen Reue-Paragraphen befürworteten, der den Umgang mit den Pentiti regelte, mit den geständigen Terroristen. Und er stimmte mit Colonnello Bonaventura überein, der der Ansicht war, man müsse die trockenen Äste abschlagen, jedoch einige frische Triebe am Leben erhalten, damit weitere Fährten hervorsprossen – weitere Namen, weitere Verdächtige.
Seinen Kollegen gefiel es nicht, mit Kriminellen zu verhandeln und ihnen Straffreiheit zu garantieren, doch Berti hatte ihnen Informationen geliefert, die sie anders nicht hätten bekommen können. Micillo und Caterina Franz verwendeten sie mit Widerwillen, wie dreckiges Geld, wie Gift, das ihre Arbeit verdarb, während sie für Colnaghi einfach nur Fakten waren. Natürlich fiel es ihm schwer, die Moral aus dem Spiel zu lassen, und allein schon das Wort Pentito – Reumütiger – klang falsch. Also sagte er sich erneut, dass es hier nicht um Gewissensfragen ging, sondern nur um ein simples Tauschgeschäft.
Doch in dieser Hinsicht gab es noch viel zu tun. Die Entführung von Roberto Peci, zum Beispiel, hatte ihn erschüttert. Peci war der Bruder von Patrizio, dem ersten Pentito der Roten Brigaden, der ein Jahr zuvor eine Reihe grundlegender Details über die Organisation verraten hatte. Um sich zu rächen, hatten die Roten Brigaden unter Senzani ihn gekidnappt – und wahrscheinlich würden sie ihn demnächst ermorden. Warum hatte im Umgang mit dem Sinneswandel seines Bruders niemand an ihn gedacht? Weil sie alle eine Horde von Idioten waren, schloss Colnaghi und löste das grüne Gummiband von einem weiteren, dicken Aktenordner auf dem Schreibtisch so wütend, dass es beinahe zerriss.
«Ich will sie im Gefängnis noch mal befragen», sagte Micillo. «Im Laufe der Woche rede ich in San Vittore mit ihr. In Ordnung?»
«Perfekt», sagte Colnaghi. «Ich versuche es noch mal mit der Dell’Acqua.» Eine weitere junge Frau, die erst vor kurzem verhaftet worden war. Nach Auskunft von Berti gehörte sie zu der Gruppe, die sich zum Mord an Vissani bekannt hatte. Die beiden Gruppen hatten eine Zeitlang gute Beziehungen unterhalten und untereinander auch Waffen ausgetauscht, doch dann hatten sie sich zerstritten. Das kam häufig vor, und zu jener Zeit immer häufiger, als der bewaffnete Kampf der Linken zunehmend in Chaos und Desillusion versank.
«Die Dell’Acqua wird dir nichts verraten», sagte die Franz.
«Weil sie aus gutem Hause ist», sagte Micillo. «Das sind die Härtesten. Eine wie die Berti kannst du irgendwie kaufen, auch wenn du etwas mehr auf den Tisch packen musst als geplant.»
«Dieses Gerede gefällt mir nicht.»
«Ausnahmen immer, Fehler nie», sagte Colnaghi, der das Gummiband unwillkürlich wieder um den Aktenordner spannte. Das war sein Motto.
Micillo verdrehte die Augen.
«Ich verstehe immer noch nicht, was du damit meinst», sagte Caterina Franz. Sie drehte sich mit ihrem Stuhl zu Colnaghi und verschränkte die Arme. «Erklärst du mir das endlich mal?»
«Ach, bitte nicht», sagte Micillo. «Ich flehe euch an.»
Colnaghi lächelte. «Einmal wurde der Schachweltmeister Michail Botwinnik gefragt, was das Geheimnis seines unglaublichen Erfolgs sei. Die Antwort lautete: Es wird Sie vielleicht enttäuschen, doch ich versuche vor allem, möglichst wenig Fehler zu machen.»
«Du spielst Schach?»
«Nein, das habe ich in einer Zeitschrift gelesen. Aber es ist ein schöner Satz.»
Die Franz schien das nicht zu überzeugen.
«Wir machen alle Fehler», sagte sie.
«Natürlich. Ich habe in den letzten zwei Jahren ein Verfahren gegen mehrere Mitglieder der Mailänder Autonomen eröffnet, die sich dann als vollkommen unschuldig erwiesen. Einer von ihnen, Professor Corno, hat mir einen langen, zutiefst entrüsteten Brief geschrieben, in dem er mir empfahl, nicht alle über einen Kamm zu scheren und tunlichst zu unterscheiden, wer Gewalt anwendet und wer dies nie getan hat.»
«So ein Arsch», feixte Micillo.
«Er hatte recht. Ich habe mir diesen Brief aufgehoben, denn genau da liegt das Problem. Wenn ein Koch einen Fehler macht, wird die Pasta miserabel, wenn wir einen Fehler machen, wandern Unschuldige hinter Gitter.»
«Gieß jetzt bloß kein Wasser auf seine Mühlen», riet Micillo seiner Kollegin.
«Nein, warte, damit ich das richtig verstehe. Was ist mit den Ausnahmen?»
«Ausnahmen sind all die kleinen Feinheiten, die wir vernachlässigen können, wenn wir die Wahrheit finden und Gerechtigkeit in die Welt bringen wollen.»
«Zum Beispiel?»
«Ich kann – für ein höheres Wohl – über eine Schwierigkeit, in die ein Freund geraten ist, hinwegsehen oder jemandem helfen, auch wenn das einigen kleinen Vorschriften zuwiderläuft. Natürlich muss man da extrem vorsichtig sein und höchst verantwortungsbewusst handeln, sonst läuft man Gefahr, alles zu rechtfertigen. Doch allein schon die Tatsache, dass es Ausnahmen gibt, erinnert uns daran, dass wir uns immer irren können, dass die Gesetze nie ein für alle Mal festgelegt oder in Marmor gemeißelt sind.»
«Das ist wirklich die Argumentation eines Christdemokraten, Colnaghi.»
«Mein Freund Mario aus Saronno würde das ein ‹Lob des Zweifels› nennen.»
«Und was hat das mit der Berti und der Dell’Acqua zu tun?»
«Keine Ahnung.» Er lächelte. «Nichts.»
«Und warum hast du dann damit angefangen? Warum hast du das gesagt?»
«Vielleicht weil das eigentlich kein Motto ist, sondern nur ein Kehrreim, der mir gefällt. Und du, warum hast du danach gefragt?»
Sie schwiegen eine Weile. Colnaghi zündete sich die Pfeife an und begann wieder mit dem Stuhl zu kippeln. Die Ecken an der Zimmerdecke waren schwarz verfärbt, obwohl Micillo nicht viel rauchte. Das ging noch auf seinen Vorgänger zurück und war nie übertüncht worden. Ihre Besprechung näherte sich dem Ende, doch Caterina Franz hing noch ihren Gedanken nach. Hin und wieder zuckten ihre Lippen wie bei einem Tick, und ihre Hände ließen sich keine Sekunde in Ruhe. Doch ihr Blick war starr auf Micillos Olivetti Lettera 22 gerichtet. «Du kannst Maschine schreiben?», fragte sie.
«Ja.»
«Ich habe noch nie einen Staatsanwalt gesehen, der Maschine schreiben kann.»
«Ich kenne eine ganze Menge», sagte Colnaghi.
«Wir sollten das alle lernen», konstatierte sie.
Colnaghi stellte seinen Blick unscharf. Es hatte ihn viel Mühe gekostet, diesen kleinen Trupp zusammenzustellen. Von Anfang an hatte man seine Ermittlungsmethoden – alles zusammenzulegen und so eng wie möglich zusammenzuarbeiten, indem man alle Fakten frei austauschte – als einen Angriff auf einen persönlichen Kodex betrachtet, ganz zu schweigen vom geschriebenen Gesetz. Es gab keinerlei Koordinierungsvorschriften. Es gab nichts, was den Informationsaustausch regelte, und folglich praktizierte ihn einfach niemand.
So war Colnaghi fast zwei Jahre lang im Bauch des Justizpalastes herumgewandert und hatte versucht, seine Kollegen davon zu überzeugen, dass die alten Methoden überholt waren, dass dies nicht mehr die Epoche der Ermittlungen im Alleingang war. Dem Verbindungsnetz des Terrorismus mussten sie ein noch viel solideres, stärkeres entgegensetzen. Doch wie oft war er auf eine Mauer der Müdigkeit gestoßen oder sogar auf eine Mauer des Schweigens und der Angst. Bis er schließlich diese beiden gefunden hatte: den Glatzkopf Micillo aus bester Familie in Caserta, der auf Empfehlung gekommen war und deshalb von den meisten wenig geschätzt wurde (dabei verfügte er über eine hervorragende, absolut zwingende Logik), und Franz, die friaulische Kommunistin ohne den leisesten Sinn für Humor, die von wer weiß wo hereingeschneit war und deren Augen wegen des Schlafmangels stets dunkel umrändert waren. Es war nicht leicht, die beiden zur Zusammenarbeit zu bewegen, doch irgendwie schaffte er es.
Sie hörten eine Tür auf dem Gang zuschlagen. Micillo stand auf und tat so, als ordnete er die Unterlagen. Er legte ein Urteil zurück zu den Akten, suchte die Abschriften der Vernehmung Dalla Bona zusammen und knallte sie auf den Schreibtisch, um sie abzugleichen. Der Ventilator verteilte zwischen den dreien das bisschen Luft, das zur Verfügung stand.
Irgendwann murmelte Caterina Franz: «Ich arbeite nicht gern an diesen Fällen. Ist nun mal so.»
Colnaghi und Micillo schauten sich an. Die Gewissenskrise der linken Richter und Staatsanwälte: ein Klassiker, den die zwei nicht ertragen konnten.
«Ich habe ein ungutes Gefühl dabei», rechtfertigte sie sich. Micillo hustete zweimal hintereinander. Es drohte ein langes Bekenntnis.
«Können wir uns darauf einigen, dass keiner von uns noch die Kraft hat weiterzuarbeiten?», fragte Colnaghi schnell.
«Einverstanden.»
«Dann gehen wir jetzt in Frieden nach Hause.»
Die beiden standen auf, doch ihre Kollegin blieb sitzen.
«Du musst dich nicht schlecht fühlen», sagte Micillo und klopfte ihr auf die Schulter. Sie nahm das als Ermutigung, weiterzureden.
«Ich weiß. Ich weiß. Aber ich kann nicht anders.»
«Wir haben doch schon so oft darüber gesprochen, Caterina. Wir sollten nicht über Politik reden.»
«Wir reden doch auch gar nicht über Politik. Aber am Ende läuft es ja zwangsläufig darauf hinaus.»
«Ach, das sind doch private Angelegenheiten.»
«Privat, privat … von wegen das sind öffentliche Angelegenheiten.»
«Nicht in diesem Raum.»
«Gehen wir?», fragte Colnaghi und drehte seine Pfeife in den Händen.
Die Franz starrte ihn an. «Das nervt dich, was?»
«Wie bitte?»
«Ich weiß, dass dich das nervt.»
«Aber was erzählst du denn da?»
«Ich passe dir nicht in den Kram, es ist sinnlos, drum herumzureden. Ich passe euch beiden nicht.» Sie biss sich auf die Lippen. «Ihr wisst, dass wir ein Problem miteinander haben und … Es ist nicht so einfach, jawohl. Und ihr begreift das einfach nicht.»
«Hör mal, Herzchen…», begann Micillo.
«Nenn mich nicht Herzchen. Du weißt, dass ich das nicht mag.»
Colnaghi seufzte und mischte sich ein. «Leute, bitte. Es ist schon spät, es ist heiß, und wir sind alle müde. Es hat doch keinen Sinn, sich jetzt zu streiten. Gehen wir nach Hause?»
Die drei musterten sich noch einen Moment und sahen sich plötzlich als das, was sie waren: verhärmte, erschöpfte Gestalten. Das Surren des Ventilators war das einzige, worauf sie sich noch konzentrieren konnten. Dann schüttelten sie gleichzeitig den Kopf und gingen stumm einer nach dem anderen hinaus auf die Flure des Palazzos.
3
COLNAGHI BLIEB NOCH EINE WEILE im Waschraum auf der Etage, mit dem Handtuch und der Zahnbürste, die er im Büro aufbewahrte. Er putzte sich gründlich die Zähne und hielt seine Handgelenke lange unter das kalte Wasser, während er sich im Spiegel betrachtete. Wurde er langsam alt? Seine Wangen waren eingefallener als sonst. Als er sich die Hände abtrocknete, streckte er sich die Zunge heraus. Erst als er sich vergewissert hatte, dass seine Kollegen weg waren, öffnete er die Tür und ging die Treppe hinunter.
Draußen schimmerte noch etwas Licht, und die Gegend rings um das Gerichtsgebäude bekam an diesem Sommerabend eine abstraktere Färbung. Sie war menschenleer, als hätte man den Palazzo plötzlich in ein Morgenland oder in eine unbewohnte Stadt versetzt: die Mailänder vor dem Fernseher in ihren Wohnungen verschanzt und nicht einmal ein Verrückter, der auf der Straße die Hauswände ansang.
Colnaghi schloss auf dem Hof sein Fahrrad los und hielt auf der Straße einige Minuten inne, um wie üblich seine persönliche Theorie zu überprüfen: Dieser Augenblick war ideal für einen Hinterhalt, und wenn sie es nicht jetzt hier draußen taten, war er in Sicherheit. Nichts geschah. Experiment geglückt, ungefähr zum zweihundertsten Mal.
Er fuhr auf dem inneren Stadtring bis zur Porta Venezia und von dort aus den Corso Buenos Aires hinauf bis zum Piazzale Loreto und weiter. An der Piazza Durante bog er rechts ab. Er hatte eine günstige Zweizimmerwohnung in der Via Casoretto anmieten können, in einer ärmlichen Gegend an der Grenze zu Lambrate. Vor einigen Jahren hatte die Arbeitsbelastung überhandgenommen, was seine ständige Anwesenheit in der Stadt erforderlich gemacht hatte. Daher hatte er sich für die Werktage eine Unterkunft suchen müssen und konnte nur an den Wochenenden nach Hause in die Provinz fahren. Seine Frau war nicht gerade begeistert davon, doch da gab es nicht viel zu diskutieren.
So hatte Colnaghi mit einem Dutzend Jahren Verspätung das Leben eines pendelnden Studenten begonnen – ein Junggesellenleben, wie er es nannte. Und obwohl ihm die Familie und die ländliche Umgebung fehlten, hatte die Sache doch auch ihr Gutes. Vor allem die Isolation. Und die Stadtlandschaft. Man hatte ihn für verrückt erklärt, weil er sich ausgerechnet dort einquartiert hatte. Und natürlich wusste er, dass der Ruf dieser Gegend nicht zu ihm passte. Es war das Viertel der Bellini-Bande, von «denen aus Casoretto», die Zone der roten Schläger.
Doch ihm gefiel es hier. Was sollte er machen? Es gab eine Handvoll unspektakulärer Straßen, die hier und da mit Geschäften, Autowerkstätten und winzigen, an eine Ecke gezwängten Lebensmittelläden durchsetzt waren, dazu Toreinfahrten, die sich sonntags auftaten und wie durch Zauberei den Blick auf einen alten Hof freigaben, auf einen Baum, auf ein Blumenbeet. Und immer saß irgendein Taugenichts an einem der Aluminiumtische einer Bar, immer gab es eine Signorina, die dich anhalten und um Feuer bitten wollte. Da waren die Straßen von der Grenze zu Lambrate bis zum Straßenbahndepot an der Ecke zur Via Teodosio, aus dem im Morgengrauen die Züge kamen, im Nebel oder im ersten Tageslicht klingelnd, und in das sie zur Nachtruhe zurückkehrten.
Colnaghi stellte sein Rad im Hauseingang ab und ging im welken Licht noch ein wenig spazieren, um den Kopf freizubekommen. In der Via Mancinelli, nur ein paar Schritte von seiner Wohnung entfernt, hatten Faschisten zwei Jugendliche des autonomen Sozialzentrums Leoncavallo erschossen, Fausto und Iaio. Colnaghi ging oft an diesen Mauern vorbei – das war ein so schrecklicher, so präsenter Vorfall, dass er von Zeit zu Zeit das Bedürfnis hatte, sich daran zu erinnern – doch diesmal ging er lieber Richtung Süden. Er schlenderte an den Bahngleisen entlang und verlor sich in den Schattierungen des Graus. Im Zickzack folgte er den Straßen, bis er in die Bahnhofsgegend kam, wo sich ein Grüppchen Prostituierter vor dem purpurroten Licht eines Lokals stritt. Er wandte sich nach rechts und ging in entgegengesetzter Richtung durch dasselbe Straßengeflecht zurück.
Ein dumpfer Knall ließ ihn zusammenzucken. Abrupt drehte er sich um, doch da war nur ein Rentner, der den Müll weggebracht und den Deckel des Containers zugeschlagen hatte. Er musste an die Worte seines Kollegen aus Turin denken, über die Möglichkeit, zur Leiche zu werden. Er fuhr sich mit der Hand über den Nacken und lachte in der menschenleeren Straße auf.
Seine Wohnung fand er unberührt und verstaubt vor. Das Zeichen der Einsamkeit, die keine Spuren hinterließ und sich wohl gerade darin offenbarte. Er hatte den Kühlschrank mit Joghurt und Aufschnitt gefüllt und den Vorratsschrank mit Trockenobst und Gemüsekonserven – auch wenn er dann fast immer etwas bei dem apulischen Pizzabäcker an der Ecke aß, einem alten Mann, der (zumindest nach dem, was man so hörte) in Amerika als Sohn von Auswanderern geboren war und nach fünfzehn Jahren Minnesota beschlossen hatte, in die Heimat zurückzukehren. Auf seinem Ladenschild stand Mailands beste Pizza. Colnaghi wusste nicht, ob seine Geschichten stimmten, doch er hörte ihm ausgesprochen gern zu, wenn er von seiner verrückten Heimreise erzählte, von den endlosen Ebenen im Norden New Yorks, von der langen Schiffsüberfahrt, die er mit einem Kellnerjob finanziert hatte, und von seiner Ankunft in Genua ohne einen roten Heller in der Tasche.
Colnaghi setzte sich aufs Bett und starrte die gegenüberliegende Wand an. Er hatte keinen Fernseher, er hatte überhaupt nichts. Das ist nun also mein Schlupfwinkel, dachte er. Das ist die Sorte von Orten, an denen sich meine Feinde verkriechen: Auge in Auge im selben Gefängnis, weit weg von denen, die wir lieben, als würde uns das unbeirrbarer machen. Gewiss, die klösterliche Seele dieses Ortes – die abgestoßenen Fliesen, der pflaumenblaue Resopaltisch, das Fenster zum Hof, auf dem sich nur Katzen tummelten – war so etwas wie eine Entschuldigung. Die Kinder und seine Frau fehlten ihm und sogar die ständigen Pendelfahrten mit den Zügen der Ferrovie Nord. Und doch gab es an diesem Leben auch etwas, das ihn unablässig reizte.
Er zog sich aus, mit dem Blick auf das Kruzifix, das er sich übers Bett gehängt hatte, das einzige Detail an einer vollkommen kahlen Wand. Im Pyjama kniete er nieder und betete zwei Vaterunser und zwei Ave-Maria, das gebotene Minimum für einen guten Schlaf, wie Don Luciano es ihn gelehrt hatte. Als Kind hatte er lieber im Stehen gebetet. Das Niederknien war ihm vorgekommen wie ein allzu auffälliges Ritual, es stank geradezu nach Götzendienst. Doch in dieser Wohnung hatte er es wieder schätzen gelernt. Ohne Zuschauer war es ein schlichtes Demutsbekenntnis. Der Schöpfer ist unendlich viel größer, und du – du bist gerade mal ein Klümpchen beseelten Lehms.
Er betete mit Hingabe und andachtsvoll, so wie er immer gebetet hatte: die Formeln halblaut, die Hände im Schoß gefaltet, die Augen geschlossen. Er spürte, wie die Stadt rings um diese Worte kraftlos in die Ferne rückte, jede Silbe eine Stufe, auf der er weiter hinabstieg, in die Tiefe. Und in der nun folgenden Stille – kurz nach dem letzten Amen, kurz vor der zweiten Bekreuzigung – gab es nur noch das, was er sich gewünscht hatte: ein Mensch allein vor seinem Gott.
Wie erklärt man einem Kind, dass sein Vater ermordet wurde?
Gewiss, man kann mit einer langen Vorrede voller Probleme und Perspektiven beginnen, kann die Dinge verwischen, Halt bei vielen geschriebenen Zeilen suchen und auch sagen, dass der Mord zu einem komplexeren Bild gehört. Doch die Tat selbst wird niemals eine Erklärung finden, die dich beruhigen könnte. Und dieser Verlust des einen Menschen, der dir entrissen wurde – dieser Schmerz, der nur dir gehört –, wird niemals wiedergutzumachen sein. Er entzieht sich der Kette aus Ursache und Wirkung und hängt gleichsam im leeren Raum.
Oder man kann die Geschichte erzählen. Bei ihm war das so. Es gab ohnehin keinen anderen Weg, der Krieg hatte alles mit sich fortgerissen, zuallererst die Einzelheiten. Es war, als spitzten sich die Dinge mit der Zeit zu: reduziert auf etwas anderes, auf Teilstücke, die seine Mutter zuweilen zusammensetzte, wobei sie die Fakten mit dem alleinigen Ziel, sie auf eine Moral zu beschränken, auf immer knappere Weise wiederholte. Wichtig fürsie war, dass ihr Sohn nachts schlafen konnte, weiter nichts. Die alten Genossen dagegen sprachen stets gern eine andere Sprache. Vor den Gläsern in der Kneipe wollten sie eine andere Gestalt in Stein meißeln: einen Mann, der nicht aufgegeben hatte, ein Opfer, das man ehren konnte.
Sein Leben lang versuchte Giacomo, diese beiden Enden zusammenzufügen, um ein Bild seines Vaters zu erhalten, das möglichst wenig verschwommen war, das möglichst viel mit dem Gesicht in Schwarz-Weiß zu tun hatte, das ihn aus einem Rahmen auf der Anrichte ansah. Und dort, wo die Erinnerungen der anderen keinen Zugang hatten, sollte seine Phantasie walten. Er wollte sich seinen Vater so erfinden, wie es nach seinem Gefühl richtig war, wollte seine Hand ergreifen, ihn der Vergessenheit entreißen, in die er geraten war, und endlich zurück nach Hause holen.
Denn nichts würde ihn nun noch vor dieser Einsamkeit retten oder seinen Schmerz heilen können, doch es gab vielleicht noch etwas, das ihn vor der Wut bewahren konnte.
Nun also die Geschichte.
Ernesto Colnaghi stand bei Bertarelli in Saronno an der Drehbank, in einer Fabrik für Schrauben und andere mechanische Kleinteile. Er war einer von vielen, einer wie alle. Zwanzig Jahre alt, schwarze Haare, und seine blauen Augen, die einzige Besonderheit, die ihn etwas von seinen Kollegen abhob, machten ihn nicht schöner, sondern nur auffälliger. Er kam aus Cassina, bei Solaro: eine Bauernfamilie, drei Schwestern, eine Ehefrau – Lucia Ferrari, die Tochter des Friedensrichters – und ein wenige Monate altes Töchterchen.
Das Ehepaar war auf den Hof im Zentrum gezogen, auf dem die Ferraris wohnten, und das gefiel Ernesto nicht besonders – sein Schwiegervater trank viel und war allzu eng mit dem Podestà befreundet, und seine Verwandten waren widerliche Frömmler –, doch er ließ es gut sein. Seine Tochter Angela, die den Namen der einige Jahre zuvor verstorbenen Großmutter trug, war bei guter Gesundheit.
Es hätte also schlimmer sein können. Ernesto war ausgemustert worden, weil er klapperdürr war und auf einem Bein leicht hinkte (was ihn aber praktisch kaum behinderte). Sein älterer Bruder war