Tod in der Schöfferstadt - G. T. Selzer - E-Book

Tod in der Schöfferstadt E-Book

G. T. Selzer

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Beschreibung

Mehr als ein halbes Jahrtausend ist die zweibändige Bibel alt, die Anne Schäfer für einen Kunden vermittelt. Für sie ist es Ehrensache, wurde die Bibel doch 1462 in Mainz von Gutenbergs Nachfolger Peter Schöffer gedruckt, dem bekanntesten Sohn ihrer Heimatstadt Gernsheim am Rhein. Eine solche Summe jedoch ruft nicht nur ehrliche Geister auf den Plan: Die Bibel verschwindet, und es gibt Tote. Davon ahnen die Frankfurter Kommissare Langer und Korp noch nichts; sie müssen sich gerade um zwei tote Frauen kümmern, die im Rebstockpark gefunden wurden. Erst als die Spur der Bibel vom Auktionshaus in Hamburg über Münster in Westfalen in Frankfurt endet, treten sie in Aktion, und es tun sich Verbindungen auf, die den Fall der Lösung näher bringen.

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Inhaltsverzeichnis

Personen

Vorbemerkung

Freitag, 5. Juni: Prolog

Mittwoch, 29. Juli

Freitag, 31. Juli

Samstag, 1. August

Montag, 3. August

Dienstag, 4. August

Mittwoch, 5. August

Donnerstag, 6. August

Freitag, 7. August

Samstag, 8. August

Montag, 10. August

Dienstag, 11. August

Samstag. 15. August

Die Reihe mit Langer & Korp

Peter Schöffer aus Gernsheim: Drucker, Erfinder, Geschäftsmann

Quellen

Abbildungen

Impressum

G. T. Selzer

Tod in der Schöfferstadt.

Ein Kriminalroman aus Südhessen

ISBN 978-3-945343-40-1 ISBN der Printausgabe: 978-3-945343-30-2 1. Auflage 2022 © 2022 by PINTAS-VERLAG, Frankfurt am Main www.pintas-verlag.de

Umschlaggestaltung, Montage, Satz und Layout: Pintas-Verlag, Frankfurt

Rheinisches Fischerfest ist ein eingetragenes Warenzeichen ®

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf als Ganzes und in Auszügen nur mit Genehmigung der Rechte-Inhaber wiedergegeben werden.

Personen

Anne Schäfer Gernsheim, Antiquitätenhändlerin in Frankfurt

Carsten Schäfer, ihr Mann, Schreinermeister in Gernsheim

Vanessa Schäfer, beider Tochter,Studentin in Frankfurt

Leonie Wolters, Assistentin von Anne Schäfer im Laden

Frank Straubel, Geselle bei Carsten in der Schreinerei

Julia Plaschke, Angestellte in Frankfurt

Michaela Bogner, Angestellte in Frankfurt

Vincent Tollinger, ein Schwabe

Theo Erbacher, Spediteur

Angelika Albert, Professorin Universität Heidelberg

Paul Langer, Kriminalhauptkommissar Frankfurt

Johannes Korp, Kriminaloberkommissar Frankfurt

Jens Schmidtbauer, Kriminalobermeister Frankfurt

Sabrina Wildenberger, Kriminalhauptkommissarin Frankfurt

Thomas Bach, Kriminalhauptkommissar Darmstadt

Vorbemerkung

Am 25. November 2019 wurde in Hamburg eine zweibändige Fust-Schöffer-Bibel von 1462, die B48, vollständig auf Pergament gedruckt und in Italien mit Gold und Farben illuminiert, versteigert. Ein unbekannter Schweizer Sammler hatte für die Prachtausgabe zu einem Rekordpreis von 1,05 Millionen Euro den Zuschlag erhalten.

Nach Kenntnis der Autorin ist die Bibel wohlbehalten an ihrem Bestimmungsort angekommen.

Sollte dieser Herr (entgegen jeder Wahrscheinlichkeit) diese Geschichte jemals zu Gesicht bekommen, so möge er mir verzeihen, dass ich mir die Freiheit genommen habe, sein Eigentum zum Spielball eines Kriminalromans gemacht zu haben.

Deshalb gilt es, darauf hinzuweisen: Alle Begebenheiten sind reine Phantasie. Alle handelnden Personen haben nie existiert. Namensgleichheiten sind purer Zufall.

G. T. S.

Freitag, 5. Juni: Prolog

Julia Plaschke trat durch die sich öffnende Glastür hinaus ins Freie und atmete tief ein. Langsam fiel die Anspannung von ihr ab. Noch immer konnte sie es kaum fassen. Sie hatte den Job! Am liebsten hätte sie es laut jedem der gleichgültig dreinblickenden Angestellten in einheitlichen Business-Anzügen und -Kostümen zugerufen, die ihr auf dem Weg zu ihrem Wagen begegneten.

Dabei war es leichter gewesen, als sie befürchtet hatte. Herr Winden, der Personalchef, war selbst ins Foyer gekommen und hatte sie hinaufbegleitet. Das sich anschließende Interview war mehr ein Small Talk gewesen als ein Bewerbungsgespräch. Er hatte ihre Unterlagen auf seinem Schreibtisch ausgebreitet, aber während des Gesprächs keinen einzigen Blick darauf geworfen; trotzdem hatte er jede Einzelheit ihrer Vita im Kopf – nun ja, so viele Stationen waren es auch nicht. Doch ganz offensichtlich war er ein Profi in seinem Gewerbe, höflich, sachlich, routiniert-charmant und perfekt vorbereitet.

Was sie von sich nicht behaupten konnte.

Sicher, sie hatte die nötigen Erfahrungen und auch gute Zeugnisse, doch sie fühlte sich hilflos in seiner professionellen Gegenwart, was natürlich daran lag, dass sie eine solche Situation seit vierzehn Jahren nicht mehr erlebt hatte. Damals war sie zwanzig, und es war ihr erster Job gewesen. Vor fünf Jahren hatte sie Rainer geheiratet und gekündigt, weil er ihr glaubhaft versichert hatte, dass sie es nicht mehr nötig habe zu arbeiten.

Nein, nötig hatte sie es nicht – er verdiente genug. Der Enthusiasmus am Beginn der Ehe hatte sich jedoch schnell zur tödlichen Langeweile gewandelt; er fuhr jeden Tag nach Frankfurt, sie saß in der – zugegeben reizvollen – Kleinstadt in der Wetterau fest. Bis sie sich aus ihrer Lethargie aufraffen und Rainer Contra geben konnte, waren zwei wertvolle Jahre vergangen. Jetzt hatte sie ihn seit einem halben Jahr nicht mehr gesehen, zwar ab und an mit ihm telefoniert; aber die Scheidung war nur noch Formsache.

Herr Winden schien ein Mann schneller Entschlüsse zu sein. Er hatte ihre Papiere in den Hefter geschoben und sie angesehen:

„Sie schreiben, Sie seien sofort verfügbar. Also Montag?“

Ihren perplexen Gesichtsausdruck quittierte er mit einem freundlichen Lachen.

„Ähm – Ja, natürlich – ja!“, beeilte sie sich zu versichern. „Ich hatte nur jetzt nicht …“

Er winkte ab. „Schon gut. Bei uns brennt die Hütte. Und ich habe bereits genug Bewerber und Bewerberinnen gesehen.“ Er stand auf und hielt ihr die Hand hin. „Wir probieren es, ja? Montag um neun melden Sie sich bei Frau Sonntag.“

Jetzt lehnte sie an der Fahrertür ihres alten Twingo, blinzelte in die Frankfurter Sonne, die die Stadt bereits seit Tagen verwöhnte, und schaute an den sich spiegelnden Fassaden der Bürostadt Niederrad hoch. Schon Montag würde sie hier dazu gehören.

Eine Wohnung in Frankfurt zu finden, dürfte ein Problem werden. Sie würde in der ersten Zeit täglich von Bad Nauheim nach Niederrad pendeln müssen, sich einreihen unter die Zigtausende morgens und nachmittags auf der A5. Oder – im Hinblick auf das Alter ihres kleinen Renaults – doch auf die Bahn ausweichen, auch wenn es länger dauerte. Egal – es würde sich alles ergeben. Hauptsache, sie hatte den Job.

Ein neues Leben fing an!

Mittwoch, 29. Juli

Wer an jenem Julimorgen im westfälischen Münster früh genug sein Bett verlassen und die nötige Geduld aufgebracht hätte, wäre im Erphoviertel Zeuge eines merkwürdigen Schauspiels geworden.

Gegen halb fünf Uhr fuhren ein dunkelgrauer Audi Q7 und ein gleichfarbiger gepanzerter Mercedes Sprinter auf den Hof einer der Gründerzeitvillen, blieben dort etwa eine halbe Stunde und verließen den Hof wieder. Am Heck und an den Seitentüren beider Fahrzeuge befanden sich Logos der Firma ErST – Erbacher Sicherheitstransporte, so klein und dezent, dass der Beobachter, hätte er mehr als fünf Meter entfernt gestanden, sie nicht hätte entziffern können.

Nun hätte der Zeuge den Wagen folgen und beobachten können, wie sie den Weg über den äußeren Ring zur A1 nach Norden Richtung Osnabrück nahmen.

Doch dann wäre ihm entgangen, dass dreißig Minuten später ein schwarzer BMW mit Hamburger Kennzeichen den Hof verließ und die gleiche Route wie seine Vorgänger nahm.

Ebenso wenig hätte er den weißen Mercedes GLA gesehen, der eine Stunde, nachdem der BMW das schmiedeeiserne Tor passiert hatte, auf die Straße fuhr, sich Richtung Autobahnkreuz Münster-Süd wandte und auf der A1 südlich in Richtung Dortmund abbog. Merkwürdigerweise wechselte der Mercedes an der übernächsten Abfahrt die Richtung, fuhr nach Norden zurück und an Münster vorbei.

Der Beobachter hatte gut daran getan, weder den Panzerwagen noch den Audi oder den BMW zu verfolgen. Er stand gut versteckt hinter einer großen Platane am Straßenrand und startete den Motor, als der weiße GLA am Tor der Villa auftauchte, legte das Automatikgetriebe auf D – und bremste sofort wieder scharf.

Rasch fuhr er an den Bürgersteig, stellte den Motor ab und griff zum Handy.

„Alles abbrechen! Sofort! Frag nicht – tu, was ich sage! Sofort alles abbrechen! Sie sind zu viert im Wagen!“

Freitag, 31. Juli

Ein schrilles Kreischen durchdrang jäh das kleine Büro. Carsten Schäfer hob den Kopf. Die schallisolierte Tür zur Werkstatt hatte sich geöffnet; Vanessa trat herein, gefolgt von einem jungen Mann und einem Strom heißer Luft. In der Schreinerei war es immer laut, doch bei den herrschenden Außentemperaturen von vierunddreißig Grad kam auch noch die Hitze dazu. Dass die beiden großen Tore bereits den ganzen Tag offen standen, trug nicht zur Kühlung bei.

Hastig schloss Vanessa die Tür hinter sich. Das Geräusch der beiden Kreissägen verstummte schlagartig.

„Puh!“, sagte sie lachend. „Kann mich nie dran gewöhnen, wie laut es hier ist! – Hallo Papa!“ Sie ging um seinen Schreibtisch herum und gab Carsten einen Kuss auf die Wange.

Er lächelte und stand auf. „Ohne Gehörschutz darfst du ja da auch gar nicht rein. Hallo, mein Schatz!“ Dann blickte er fragend zu ihrem Begleiter, der abwartend an der Glaswand neben der Tür stehen geblieben war.

„Das ist Jens“, sagte Vanessa, fasste den Freund an der Hand und zog ihn neben sich. „Er bleibt übers Wochenende bei uns.“

Carsten nickte belustigt. „Alles klar.“

Mehr als den Sachverhalt als gegeben hinzunehmen, konnte er ohnehin nicht tun. Es war nicht der erste Besucher, der „übers Wochenende bei uns“ blieb. Vanessa hatte nie eine übertriebene Zurückhaltung an den Tag gelegt, was das Mitbringen ihrer Freunde und Freundinnen betraf.

Doch dieser Bursche schien mehr als nur ein Freund zu sein, wenn Carsten den Blick richtig deutete, mit dem Jens Vanessa ansah.

„Tag, Jens.“ Er reichte ihm die Hand. „Hoffe, Ihnen gefällt es bei uns.“

„Das denke ich doch, Herr Schäfer.“ Wieder ging ein liebevoller Blick Richtung Vanessa. „Danke für Ihre Gastfreundschaft.“

Carsten hob die Augenbrauen. „Kein Problem.“

Sagten junge Leute heute so etwas noch? Carsten musterte ihn abschätzend. Schien fünf, sechs Jahre älter als Vanessa zu sein. Kommilitone eher nicht. Sportverein? Clubbekanntschaft? Er würde es erfahren, wenn es – oder er – relevant werden sollte.

„Ich nehme an, ihr wollt aufs Fischerfest“, meinte Carsten.

Vanessa grinste. „Ist der Papst katholisch? Was glaubst du denn, warum ich Besuch mitgebracht habe!?“ Sie stieß Jens an die Seite; der zuckte kurz zusammen. „Ist Mama schon in Hamburg, oder kommt sie davor noch mal her?“

„Nein, sie fährt heute direkt von Frankfurt aus.“ Er verschwieg seiner Tochter, dass es einmal mehr eine der unseligen Diskussionen am Telefon gegeben hatte, die er – und da war er ehrlich – immer wieder vom Zaun brach, obwohl er wusste, dass sie zu nichts führten. Er seufzte kurz und fragte: „Was habt ihr sonst noch vor?“ Gleichzeitig biss er sich auf die Zunge. Er sollte aus Erfahrung wissen, dass diese Frage bei seiner Tochter nicht beliebt war. Gelinde ausgedrückt. Es hatte schon Szenen gegeben …

Doch Vanessa antwortete leichthin: „Später am Abend treffen wir uns mit ein paar Leuten am Kiesloch. Einige haben Zelte dabei; wahrscheinlich werden wir da übernachten.“

„Wäre schlau von euch bei dieser Hitze. Das heißt, du – ihr – kommt heute Nacht nicht nach Hause?“

Vanessa tätschelte ihm beruhigend den Arm. „Alles gut Papa. Wir sind doch schon groß.“

„Nur, damit ich Bescheid weiß“, murmelte Carsten. Er wandte sich seinem Schreibtisch zu. „Drüben der Kühlschrank ist voll. Kocht euch was Schönes.“

„Aye, Sir.“ Vanessa und Jens strebten der Tür zu, rissen sie auf und schlüpften schnell hinaus.

„Und lasst mir was übrig!“, rief Carsten ihnen nach, doch der Lärm hatte sie bereits verschluckt.

Carsten beobachtete, wie die beiden rasch durch die Werkstatt schritten. Am Tor drehte sich Vanessa um und ließ die Augen suchend umherschweifen, bis sie auf Frank Straubel, den jungen Gesellen, fielen, der im Hintergrund ein Fenster abschliff, das später in ein restauriertes Fachwerkhaus eingebaut werden sollte. Vanessa winkte ihm zu. Frank schien sie beobachtet zu haben, doch in diesem Augenblick drehte er schnell den Kopf zur Seite. Vanessa zuckte leicht mit den Schultern und ging mit Jens auf das Wohnhaus zu.

Carsten sah, wie Frank sich wieder umwandte und den beiden nachschaute. Es war ein Blick, der Carsten erschreckte.

Über der großen Freifläche des Aussiedlerhofes vor den Toren Gernsheims lag der würzige, anheimelnde Duft nach frisch geschnittenem Holz. Er verdrängte die Schwüle des Tages ein wenig und brachte einen Hauch kühlen Waldes in die stickige Hitze.

Jens atmete tief ein. „Schön wohnt ihr hier.“

„Mein Vater hat den Hof von meinem Großvater nach dessen Tod übernommen; damals haben wir noch bei der Schreinerei in der Stadt gewohnt“, erzählte Vanessa. „Er hat hier das Innere komplett renoviert, die dazu gehörenden Äcker verpachtet und den Betrieb in die umgebaute Scheune verlegt.“ Sie deutete auf das Schild Carsten Schäfer – Schreinermeister.

Wenig später saßen sie bei offenen Fenstern in der gemütlichen Wohnküche vor zwei Tellern mit extra scharfen Arrabiata. Weiter hinten war die Kreissäge zu hören.

„Ich finde deinen Vater ganz cool“, meinte Jens, als er zum zweiten Mal an den Herd ging, um sich noch eine Portion Penne aus dem Topf zu fischen. „Ups!“ Erschrocken schaute er auf. „Wäre es nicht nett, ihm etwas übrig zu lassen? Das sieht nicht mehr sehr üppig aus.“

Vanessa stand auf und schaute in den Topf. „Kein Problem“, sagte sie unbekümmert. „Nimm nur! Soße ist ja noch genug da, und Pasta kann er sich schnell selber kochen. Schmeckt frisch sowieso besser.“

„Wenn du meinst.“ Er schüttete den Rest Nudeln in seinen Teller.

„Ja, er ist schon in Ordnung, mein Vater. Meistens jedenfalls.“ Vanessa saß wieder am Tisch und schaufelte Nudeln in sich hinein. „Manchmal etwas schnell auf der Palme, aber meist ganz okay. Aber …“ Die Gabel verharrte in der Luft. „Aber so richtig ernst nimmt er mich erst, seitdem ich studiere. Hat endlich kapiert, dass ich nicht mehr sein kleines Mädchen bin.“

„Schien nicht sehr erstaunt, dass du jemanden angeschleppt hast …“ Jens ließ den Satz in der Luft hängen und schaute sie fragend an.

„Nö, das ist er gewohnt“, antwortete sie arglos. Dann sah sie erschrocken auf und blickte in sein nachdenkliches Gesicht. „Ach nee, nicht wie du meinst! Ich hab halt öfter Freunde da, verstehst du? Freunde!“

„Hm.“ Er streute großzügig Parmesan über die Pasta.

Sie betrachtete ihn. Nein, das wäre doch wirklich schade, wenn er jetzt etwas Falsches von ihr dächte … Sie mochte ihn wirklich; er wirkte zuverlässig und selbstbewusst, oft ernst, und konnte doch im nächsten Moment auch jungenhaft unbeholfen sein, so dass sie sich wie seine ältere Schwester vorkam. Sie seufzte leise. Mehr als schade …

„Nun komm schon!“ Sie legte ihre Hand auf seinen Arm. „Echt jetzt, mein Vater merkt sofort, was für eine Art Besuch ich habe.“

Er sah sie an und grinste. „Es geht mir jetzt eigentlich nicht um deinen Vater, weißt du.“ Er küsste sie auf den soßenverschmierten Mund. „Hmm, scharf.“

Vanessa wehrte ihn spielerisch ab und lachte.

Sie lacht gern, dachte er und seufzte zufrieden. Und diese Grübchen! Er freute sich auf das Wochenende. Ein heißer Sommertag auf dem großen Festplatz, Schwimmen im See, eine Nacht unter Sternen mit Vanessa … So kann man leben.

„Du hast gesagt, du warst schon mal auf dem Fischerfest?“, fragte Vanessa.

„Na klar. Hab doch hier in Gernsheim Abitur gemacht. Jeden Tag von Goddelau hierher mit dem Zug. War eine lustige Zeit.“

„Deine Schulzeit??“

„Nee, die Zugfahrten.“ Er grinste wieder. „Die Schüler des Gymnasiums Gernsheim hatten bei der Bahn einen gewissen Ruf.“

„Tz, tz, tz.“ Vanessa schüttelte gespielt missbilligend den Kopf, wieder ließen sich Grübchen sehen. Dann stand sie auf und stellte die Teller in die Spülmaschine.

„Komm, nimm deinen Rucksack. Ich zeig dir mein Zimmer.“ Dabei zwinkerte sie ihm zu.

„Schmidtbauer!“

Kriminalhauptkommissar Paul Langer ruderte ins Büro, einen schmalen Aktenordner in der Hand.

Johannes Korp sah verdutzt vom Bildschirm auf. Es war drei Uhr nachmittags – hatte der Alte bis jetzt noch nicht gemerkt, dass einer aus dem Team fehlte?

„Der hat Urlaub, Chef.“

Langer stockte mitten im Zimmer. „Wie bitte?! In den großen Ferien? Es gibt Anweisung, dass …“

„Nur übers verlängerte Wochenende, Herr Langer“, unterbrach Korp. „Am Montag ist er wieder da.“

Langers Stirn umwölkte sich. „Wer hat das genehmigt?“

Korp blickte seinen Vorgesetzten stumm an und wartete.

Der starrte zurück, ging schließlich zu seinem Sessel und ließ sich hineinfallen. „Ach so.“ Er legte den Ordner auf den Schreibtisch. „Na ja, ist ja nur übers Wochenende“, brummte er.

Korp unterdrückte ein Grinsen. „Was gibt’s denn?“ Er zeigte auf die Akte.

„Haben wir vom Kollegen Kannebecher rüberbekommen. Der KR meinte, wir hätten gerade etwas Leerlauf.“ Langer schnaubte.

Womit der Kriminalrat nicht ganz Unrecht hatte. Selbst in Frankfurt herrschte ab und an Flaute in Sachen Kapitaldelikte. Doch das dachte Korp nur, während er nach dem Ordner griff. „Unbekannte weibliche Leiche“, las er. „Gefunden im Rebstockpark am 15. Juli.“ Er sah auf. „Vor zwei Wochen?“

Langer zuckte die Achseln. „Ist wohl nicht recht weitergekommen, der Gute.“ Er bleckte die Zähne, was Eingeweihte als schadenfrohes Grinsen zu interpretieren verstanden – wusste doch jeder im Präsidium um die Animositäten, die zwischen den Hauptkommissaren Langer und Kannebecher herrschten.

Auch Korp grinste jetzt und blätterte die Akte durch. „Die Vermisstenanzeigen haben nichts ergeben – nun ja, da könnte man vielleicht noch mal nachhaken.“

„Soll Schmidtbauer machen, wenn er Montag wieder da ist. Das kann er gut.“

Korp nickte. „Die Frau war etwa drei Tage tot, bevor sie gefunden wurde. Mitte Dreißig, ein Meter zweiundsiebzig groß, dunkle Haare, tödliche Verletzung an der rechten Schläfe. Gefunden im Rebstockpark im Enten…“

„Ich bin des Lesens fähig und habe dies bereits getan, Herr Korp“, unterbrach Langer ihn geziert, um dann griesgrämig in seinem normalen Tonfall weiterzufahren: „Sie kommen mir vor wie die Kommissare im Fernsehen, die immer die Akten vorlesen, damit auch der letzte Zuschauer begreift, um was es geht.“

Jetzt wäre eine süffisante Bemerkung Korps darüber fällig gewesen, woher Langer wusste, wie es in Fernsehkrimis zuging. Statt dessen landete die Akte mit einem Knall auf dem Tisch.

„Herr Langer! Gefunden im Rebstockpark auf der Insel im Ententeich! – Haben Sie das nicht gelesen?“

„Ich sagte doch eben, …“

„Und – klingelt’s da nicht bei Ihnen?“ Korp sah Langer abwartend an.

Der runzelte die Stirn, überlegte und schüttelte langsam den Kopf. „Nein.“

Korps Augen leuchteten. Sollte das sprichwörtliche gute Gedächtnis des Chefs ihn im Stich gelassen haben? Sollte der Alte wirklich alt werden? Sollte er, Korp, tatsächlich mal den Riecher als erstes im Wind haben? Sollte …

Er bemerkte Langers Blick, stoppte seinen Gedankenfluss, wandte sich hastig dem Terminal zu und begann, auf der Tastatur herumzuhacken.

„Hier!“ Er zeigte auf den Bildschirm. Langer war um den Schreibtisch herumgekommen, noch einmal zurückgegangen, um seine Lesebrille zu holen, und stand nun hinter ihm. „Michaela Bogner, geboren am 23. Oktober 1988 in Bensheim, wohnhaft in Sachsenhausen, ein Meter siebzig groß, dunkle Haare, Schädel-Trauma an der rechten Seite. Gefunden am 29. Mai dieses Jahres, gestorben etwa vierundzwanzig Stunden vorher. Und jetzt kommt’s“, er hob die Stimme, „gefunden im Rebstockpark auf der Insel im Ententeich!“

„Sie brauchen nicht so zu brüllen! – Im Mai war ich in Urlaub“, brummte Langer und setzte sich wieder auf seinen Platz.

Korp klickte durch Fotos, Tabellen und Berichte. Dann blickte er auf. „Die Kopfverletzung war nicht die Todesursache bei Frau Bogner damals.“

Langer wartete.

„Sie ist an einem Hirnschlag gestorben“, setzte Korp kleinlaut hinzu. „Ein Schlag auf den Kopf ist nicht auszuschließen, aber nicht erwiesen. Jedenfalls war er nicht tödlich. Sie könnte also auch gefallen sein. Auf einen Stein oder so.“

„Den Schlag hat sie vor ihrem Tod erhalten?“

„Ja, aber wie gesagt, …“

Langer brummte. „Jedenfalls wird sie nicht nach ihrem Tod zur Insel rübergewatet sein. – Wer hat das bearbeitet? Sagen Sie jetzt nicht Kannebecher!“

Korp scrollte. „Nein. Das waren Kollegin Wildenberger und ihr Team.“ Das Leuchten in seinen Augen war wieder da, strahlend wie die aufgehende Sonne über einer Südseeinsel.

Langer bemerkte es und kannte den Grund. Im Februar war Frau Hauptkommissarin Sabrina Wildenberger mit ihrem umwerfenden Aussehen und ihrem verführerischen Charme in das Polizeipräsidium hineingefegt und hatte beim männlichen Teil der Belegschaft Augen und Münder offen stehen lassen. Es war, als sei Catherine Deneuve in ihren besten Jahren wieder auferstanden. Sie schien von casual Mode noch nichts gehört zu haben und sich erst in engen Kostümen und High Heels so richtig wohlzufühlen. Man munkelte, dass eine frisch erfolgte Scheidung der Grund ihres Versetzungsantrags nach Frankfurt gewesen sei. Seitdem gab es etliche – und erfolglose – Anläufe von verschiedenen Kollegen, die Dame wenigstens zu einem harmlosen Glas Bier einzuladen. Doch noch nicht einmal Johannes Korp mit seiner diesbezüglich phänomenalen Statistik war dies gelungen. Sie war, wie man hörte, durchaus bereit, sich mit der Abteilung abends zum Umtrunk zu treffen, doch nie zum Tête-à-Tête. Das Erstaunliche war, dass auch die weiblichen Kolleginnen meist wohlwollend von ihr sprachen.

Langer seufzte. „Nun kriegen Sie sich mal wieder ein, Korp! Ich will die komplette Akte hier auf dem Tisch haben – in Papier, inklusive der Asservate. Und besuchen Sie die Dame! Am besten gleich.“

Korp sprang aus seinem Sessel, nahm den Schnellhefter und verbeugte sich leicht. „Sehr gerne, Herr Langer.“

Als sich die Tür hinter Johannes Korp schloss, ging ein leichtes Schmunzeln über Langers Gesicht.

Carsten Schäfer wandte sich seinem Laptop zu und verglich zum wiederholten Male die letzten Quartalszahlen mit denen des Vorjahres. Besser wurden sie nicht dadurch. Wenn das so weiter ging … Carsten seufzte. Dabei war das Geschäft unter einem guten Stern gestartet. Früh schon hatte Carsten eine Nische in der Branche gefunden, sich auf die Arbeiten an alten, unter Denkmalschutz stehenden Fachwerkhäusern spezialisiert und damit einen Ruf erlangt, der bis in den Rodgau und in den Odenwald hineinreichte. Das lag in erster Linie an seinen Mitarbeitern, allen voran an Wilhelm Meister, dem Altgesellen; aber auch Frank Straubel machte einen sehr guten Job, und die neue Auszubildende Sandra war ein Glücksgriff gewesen. Die Leute wussten solide Handwerksarbeit zu schätzen. Allerdings: Man musste sie sich auch leisten können, denn billig war sie nicht. Und das Geld saß nicht mehr so locker wie noch vor ein paar Jahren.

Frank …

Er blickte durch die Fensterfront im Büro zu ihm hinüber, wo der Geselle geschickt ein restauriertes Fensterkreuz abschliff. Wie sollte man sein Verhalten von eben verstehen? Diesen giftigen, ja hasserfüllten Blick?

Vor einigen Monaten hatte Frank versucht, bei Vanessa zu landen, war aber freundlich und bestimmt zurückgewiesen worden. Er war ein ausnehmend gut aussehender Mann und gewohnt, jede Frau zu bekommen, die er wollte. Er hatte nicht locker gelassen, bis Vanessa ein paar Mal mit ihm ausgegangen war. Dann hatte sie sich endgültig von ihm verabschiedet. Ein Geheimnis war beides – die Werbung und der Korb – nicht geblieben. Jeder in der Werkstatt hatte das Hin und Her bemerkt und – wenn keiner der beiden in der Nähe war – je nach Temperament und Naturell kommentiert.

Frank schien die Situation schließlich akzeptiert zu haben. Doch Carsten hatte dies nie so recht glauben können; die Tochter des Chefs hätte die Krönung von Franks Eroberungen bedeutet. Und wenn Carsten ehrlich war, wäre es ihm so unlieb nicht gewesen: Die Schreinerei musste irgendwie weitergehen, doch Vanessa mit ihrem Betriebswirtschaftsstudium hatte keinerlei Ambitionen in diese Richtung. Warum also nicht ein Schwiegersohn …?

Allerdings … Frank hatte sich verändert. Er war nach wie vor ein guter Schreiner, er war ehrgeizig und fleißig. Doch diese allzu selbstbewusste, siegessichere Forschheit, die er in der letzten Zeit an den Tag zu legen pflegte, stieß nicht nur Carsten ab.

Nun kam Vanessa mit einem jungen Mann daher, der erst auf den zweiten oder gar dritten Blick gewann: Jens war unbestritten ein netter Kerl, wirkte jedoch etwas unbeholfen und schüchtern und hatte bei weitem nicht Franks Ausstrahlung, von dessen Aussehen ganz zu schweigen.

Carsten schüttelte den Kopf. Müßig, darüber zu spekulieren; er würde es ohnehin nicht entscheiden. Außerdem hatte er im Augenblick andere Probleme. Er zog die Schreibtischschublade auf und kramte nach seinen Zigaretten.

Das Smartphone fing an zu klingeln; seine Hände verließen die Schublade und wühlten auf dem Schreibtisch nach dem Handy weiter. Handwerkskammer, las er auf dem Display. Unwillig hob er ab.

„Du sollst doch jetzt nicht anrufen“, brummte er ärgerlich. „… Was heißt wichtig … Nichts, was ich nicht schon wüsste … Nein, das geht nicht. … Ach, lass es einfach. … Nein, ich bin nicht schlecht gelaunt! Wie kommst du darauf? Aber ….“ Er stutzte, schaute aufs Display. Die Leitung war tot.

Dann eben nicht, seufzte er und warf das Handy unwillig in den Ablagekorb. Doch konnte er das kurze Gespräch nicht so schnell abschütteln. Er blieb am Schreibtisch sitzen und blickte zum Fenster hinaus, das auf den Hof führte. Wie immer saß er stark gebeugt, weil er seinen kräftigen, fast einen Meter neunzig großen Körper in einem Schreibtischsessel nie so recht hatte unterbringen können. Auf die meisten Beobachter wirkte er linkisch und ungeschickt – eine Beobachtung, die täuschte. Denn kaum hatte er ein Werkzeug in der Hand, war alles Schwerfällige verschwunden, und unter seinen Händen konnte aus einem Stück Holz ein kleines Kunstwerk entstehen.

Erneut zog er die Schublade auf und fand endlich Zigaretten und Feuerzeug. Dann schnappte er sich das Handy und ging durch die Werkstatt zur hinteren Tür in den Garten hinaus.

Die heiße Luft des frühen Julinachmittags war hier hinten etwas frischer; von ferne sah man den Gernsheimer Wald. Langsam ging er die Blumenbeete entlang, die Anne bereits vor ein paar Jahren angelegt hatte. Mit der Pflege und Instandhaltung allerdings haperte es gewaltig. Das lag zum einen daran, dass der Aufwand zum Erhalt von Blumenrabatten von beiden sehr unterschätzt worden war, und zum anderen an Annes karger Freizeit und seinem mangelnden Interesse. Er hatte ihr von Anfang an klar gemacht: „Keine Blumen, nur Rasen! Der macht fast keine Arbeit.“ Aber sie hatte sich durchgesetzt. Wie immer.

Nun, wie fast immer.

Carsten ließ sich auf der Gartenbank nieder, die er vor Jahren selber gebaut hatte, zündete sich eine Zigarette an und betrachtete das bunte Durcheinander aus Grasbüscheln, blauem Phlox, Hortensien, Brennnesseln, Margeriten, Giersch und weißem Rittersporn. Weiter hinten kämpften duftende Buschrosen, Taubnesseln und Gänsedisteln um den besten Platz.

Anne würde also am Wochenende nicht da sein. Es war die Auktion in Hamburg, auf die sie lange hingearbeitet hatte. Der Termin stand dieses Mal bereits seit zwei Wochen fest, doch Carsten war es auch gewohnt, dass seine Frau von jetzt auf gleich in den Flieger nach Amsterdam, Rom oder London sprang.

Sie arbeitete zu viel. Sie verdiente gutes Geld mit ihrem Antiquitätenladen in der Frankfurter Altstadt direkt hinter dem Dom, doch das war es nicht allein.

Nein, es war nicht das Geschäft in Frankfurt, das ihre Zeit gnadenlos auffraß. Es war die Jagd nach neuen alten Stücken, das Fieber, das Anne jedes Mal erfasste, wenn sie einem besonders raren Objekt auf der Spur war und auf der anderen Seite einen Interessenten dafür suchte. Sie konnte dann tagelang in der Versenkung verschwinden, Carsten wusste oft nicht, wo sie sich gerade befand. Bis dann Vanessa vielleicht anrief und sagte: „Übrigens, Mama ist heute in Paris. Hab grad mit ihr telefoniert. Sie kommt übermorgen zurück.“

Vor drei Monaten hatte sie eine Sammlerfamilie in Münster/Westfalen aufgestöbert, die ihre alte Bibel auf den Markt bringen wollte. Genau das Richtige für sie, die die nötigen Kontakte hatte. Der Verkäufer wollte anonym bleiben; die Bibel sollte mindestens einen sechsstelligen Betrag im oberen Bereich erzielen; bei allem anderen hatte Anne freie Hand. Eine entsprechend hohe Provision würde folgen.

Carsten erinnerte sich, wie sie ihm aufgeregt davon erzählt hatte.

„Eine Fust-Schöffer-Bibel, stell dir vor!“ Er sah ihr strahlendes Gesicht noch vor sich. „Ist doch Ehrensache, dass ich die unbedingt haben will!“

„Schöffer? Unser Peter Schöffer?“

„Genau! Die 48-zeilige lateinische Bibel auf Pergament von 1462! Handkoloriert in Italien, mit reinem Gold illuminiert.“

„Wow!“ Carsten war sprachlos. „Meinen Glückwunsch!“ Er freute sich ehrlich für sie, gleichzeitig ließ ihn die Summe, bei der es hier ging, schwindeln. Das war eine völlig neue Dimension, in die Anne sich da begeben würde.

„Ja! Und die Hamburger interessieren sich dafür! Aber erst muss ich nach Münster, sie mir ansehen und den Verkäufer kennenlernen. – Mein Gott, wenn das klappen würde!“

Jedes Kind in Gernsheim kannte den Namen Peter Schöffer, war er doch als bekanntester Sohn der Stadt am Rhein, die sich Schöfferstadt nennen durfte, allgegenwärtig. Und jeder kannte sein Denkmal auf dem Schöfferplatz: das Abbild eines ehrwürdigen Gelehrten und Meisters mit einem Letternkasten im Arm, der vor fast sechshundert Jahren von Gernsheim nach Mainz ging und dort mit Gutenberg den Buchdruck revolutionierte, dessen Werkstatt übernahm und die Schwarze Kunst weiterentwickelte.

In Münster war mit den Sammlern, Ludwig Albert und seiner Tochter Angelika, alles glatt gelaufen, die notwendigen Expertisen waren eingeholt worden; die Auktion würde morgen stattfinden.

Carsten zückte das Handy und wählte Annes Nummer.

„Carsten! Ich bin etwas in Eile, mein Zug …“

„Ja, schon klar. Wollte dir nur toi, toi, toi wünschen!“

„Danke dir, das ist lieb. Ist Vanessa schon da?“

„Ja, mit Anhang.“

„Jens ist nett, nicht?“

Carsten stutzte. „Ach, du kennst den jungen Mann schon?“

„Wir waren vorgestern zusammen Mittag essen, hier in Bockenheim beim Italiener. Hatte ich dir doch erzählt!“

Er fuhr sich mit der Hand durch das frühzeitig ergraute Haar. „Mein Gott, ja!“ Natürlich hatte sie davon gesprochen; wie konnte er das nur vergessen! Vielleicht weil gleich wieder von der Bibel die Rede gewesen war, weil er sich Bilder ansehen musste, Seiten im Internet – und Vanessas Freund war verdrängt worden.

Anne drückte das Gespräch weg und wandte sich wieder Leonie Wolters zu, die abwartend an einem hohen Biedermeier-Sekretär sitzen geblieben war, als Anne zum Telefonieren ein paar Schritte zur Seite ging.

„Könnte sein, dass Dr. Minnich heute noch mal kommt, um sich die Vitrine anzusehen“, sagte Anne und setzte sich wieder. „Er wird sicher nochmals versuchen zu handeln. Geh nicht unter vier neun!“

„Wie besprochen.“ Leonie lächelte und blickte auf die Liste, die vor ihr lag „Die zwei Regency-Stühle sollen morgen abgeholt werden.“ Sie zeigte nach hinten. „Die sind bezahlt?“

„Ja, die können weg. Bernd kommt morgen und hilft dir einpacken.“

Ihr Handy klingelte wieder. Sie sah auf die Uhr.

„Hallo, Herr Albert! Ja, morgen ist der große Tag … Ich wollte Sie auch schon längst angerufen haben. Mit der Bibel ist alles in Ordnung. Gut angekommen. … Wäre ja auch noch schöner bei der Versicherungsprämie! … Natürlich sage ich Ihnen sofort Bescheid! … Versprochen! Sobald der Hammer fällt. … Ach so? Schön, ich freue mich, sie zu sehen. … Machen Sie sich keine Sorgen; die Zeichen stehen gut! Ich habe da einiges im Vorfeld läuten hören. … Ja, das wünsche ich Ihnen auch. Bis morgen.“

Sie legte auf. „Er schickt seine Tochter nach Hamburg.“

„Die merkwürdige Angelika?“, grinste Leonie. „Will er dich kontrollieren?“

„Hör auf,“ lachte Anne. „Sie ist nicht merkwürdig, nur nicht ganz … ähm … in dieser Welt. Und ob ausgerechnet sie zur Kontrolle geeignet ist … “

„Bist du nervös?“ Leonie legte den Stift hin und sah Anne an.

Unterschiedlicher hätten die beiden Frauen nicht sein können. Leonie war kräftig, hatte lange dunkle Locken und ein rundes Gesicht mit hohen Wangenknochen. Sie war eine gute Mitarbeiterin, zuverlässig und loyal, doch etwas träge. Es fehlte ihr das, was eine erfolgreiche Geschäftsfrau ausmachte: Ehrgeiz, innere Unruhe und Leidenschaft für die Sache. Diese Eigenschaften hatten Anne Schäfer zum Erfolg geführt. Mit knapp einem Meter sechzig, eher dünn als schlank sah man ihr nicht an, welche Energie in ihr steckte. Und wenn sie mit Carsten und seinen einhundertneunzig Zentimetern zusammen auftauchte, waren sie mit Sicherheit der Blickmagnet jeder Gesellschaft.

Früher zumindest. In der letzten Zeit gab es kaum noch Gelegenheit, miteinander auszugehen.

„Nervös?“, fragte sie zurück. „Ein bisschen schon, obwohl jetzt alles geregelt ist und wir nur noch zuschauen und abwarten können. Es wird spannend werden in Hamburg.“

Leonie meinte: „Das Wichtigste für uns und Albert war, dass die Bibel gut in Hamburg angekommen ist. Obwohl Erbacher und seine Leute schon öfter einen Transport für uns gemacht haben, ist es doch jedes Mal wieder beruhigend, wenn alles klappt, oder?“

„Was für ein Husarenstück!“ Anne lachte leise. „Gleich mit vier Autos von Münster zu starten! Und im vierten war Erbacher selber – mit der Bibel!“

„Eigentlich wollte er ja ganz allein fahren, hat er mir erzählt. Dann war er doch froh, dass Albert ihm kurzerhand noch drei Security-Leute in den Mercedes gesetzt hat.“

„Ja, bei dem Objekt …“

„Ich habe ErST weiterempfohlen, damit sie den Auftrag zum Rücktransport bekommen.“

„Gut. Und was hat der Mann vom Auktionshaus gesagt?“

„Dr. Weinrich war nicht abgeneigt und ist bereit, sie dem Käufer oder der Käuferin zu empfehlen. Kommt natürlich darauf an, wie er oder sie disponiert hat.“

„Wahrscheinlich noch gar nicht, denn er oder sie kann ja nicht sicher sein, dass er oder sie den Zuschlag bekommt.“ Anne grinste. „Und damit genug gegendert für heute.“ Sie stand auf. „Würde mich freuen, wenn Erbacher den Auftrag bekäme. Er macht einen guten Job.“ Wieder sah sie auf die Uhr. „So, jetzt muss ich aber los. Rufst du mir ein Taxi?“

„Herr Korp, schön Sie zu sehen.“ Sabrina Wildenberger kam dem verdutzten Oberkommissar lächelnd entgegen und reichte ihm die Hand. „Bitte setzen Sie sich.“

Mit einem solch herzlichen Empfang hatte er nicht gerechnet. Das letzte Gespräch mit ihr in der Kantine, bei dem er sie gefragt hatte, ob man vielleicht nach Feierabend etwas gemeinsam unternehmen könne, hatte so frostig geendet wie ein Januartag in Nowosibirsk.

Er sah sich um. Wildenbergers Büro war kleiner als das von Langer und Korp, dafür hatte sie es für sich allein. Es war nüchtern, fast kahl; es fehlten Blumen, Bilder, persönliche Gegenstände; lediglich der obligatorische großformatige Stadtplan von Frankfurt nebst Rhein-Main-Gebiet hing an der Wand. Und ein kleiner Fotorahmen stand auf dem Schreibtisch.

„Danke, Frau Wildenberger. Haben Sie ein paar Minuten?“

„Ja klar. – Was führt Sie zu mir?“, fragte sie, als beide saßen.

Korp erzählte von dem neuen Fall, den sie auf den Tisch bekommen hatten, und von den Parallelen zu Wildenbergers Fall Michaela Bogner.

„Sie meinen den Fundort?“

Korp nickte. „Auch die Beschreibung der Frau: Mitte Dreißig, dunkle Haare, etwa ein Meter siebzig groß … Beide haben eine Wunde an der rechten Seite.“

„Sie meinen, es lässt auf einen Linkshänder schließen?“

Korp nickte.

„Aber bei Frau Bogner war die Wunde nicht tödlich.“ Sie nahm den schmalen Aktenordner, den Korp ihr reichte, blätterte ihn rasch durch und sah dann auf. „Ihr Leichenfund ist zwei Wochen alt!“

„Wir haben ihn erst seit heute.“

Sie nickte. „Verstehe. – Vielleicht gibt es wirklich einen Zusammenhang …“ Sie war nicht ganz so euphorisch, wie Korp es gehofft hatte, und bei näherem Hinsehen musste er zugeben, dass die Parallelen doch nicht so offensichtlich waren.

„Aber wir hatten noch nie eine Leiche dort auf der kleinen Insel. Und jetzt gleich zwei Frauen, die sich ähnlich sehen!“ – Er sah sie fast trotzig an. Als keine Reaktion kam, setzte er hinzu: „Hat Kollege Kannebecher Sie nicht kontaktiert? Oder Sie ihn?“

„Nein. Ihm sind die Parallelen wohl nicht aufgefallen.“ Sie lächelte. „Und mir auch nicht.“ Sie schob ihm den Aktenordner wieder zu und stand auf. „Einen Kaffee?“

Korp hatte längst den exquisiten Kaffeeautomaten neben ihr auf dem Sideboard entdeckt und als ein Gerät identifiziert, das seines – auch nicht gerade von schlechten Eltern – noch um Längen zu schlagen versprach.

„Aber gerne. Soll ich?“ Er stand rasch auf und wollte an den Apparat gehen, dann hätte er sich umdrehen und einen Blick auf den Bilderrahmen auf dem Schreibtisch werfen können …

„Bleiben Sie nur sitzen. Ich mach das schon.“

Nachdem das Gerät diskret und leise sein Werk getan und dabei ein anregendes Aroma verbreitet hatte, lehnte Wildenberger sich, ihr Tässchen in der Hand, im Sessel zurück. „Wir haben damals das Umfeld von Frau Bogner bis in die losesten Kontakte durchforstet – nichts, was auch nur im Ansatz auffällig gewesen wäre. Wir konnten sie leicht identifizieren; in ihrer Jeanstasche befanden sich Führerschein und Kreditkarten.“ Sie warf ihm einen Blick zu. „Noch etwas, was gegen Ihre Theorie spricht. Schlüssel und Handy waren allerdings nicht da. – Sie war Gruppenleiterin bei der Protect-As-Versicherung“, fuhr sie dann fort, „finanziell ausreichend gesichert. Single, die üblichen Freizeitaktivitäten mit Freundinnen, Kino, Fitness, gemeinsames Joggen. Ab und zu Elternbesuche an der Bergstraße. Kein Mann weit und breit nach Aussagen von Kollegen, Freunden und Eltern. Auch keine Frau, die für eine Beziehung in Frage gekommen wäre. Wenn es eine Verbindung zwischen Täter und Opfer gegeben haben sollte, ist sie sehr gut verborgen worden. Und ohne eine solche Verbindung, Herr Korp, das muss ich Ihnen nicht erst sagen, gehen die Chancen gegen Null.“

Korp nickte. „Haben Sie den Tatort gefunden?“ Er hatte in der Kürze der Zeit nicht die ganze Akte lesen können – und war es nicht viel angenehmer, sich alles von Sabrina Wildenberger erzählen zu lassen?

„Im Rebstockpark.“

„Ach? – Im Park?“ Damit hatte Korp nicht gerechnet. „So nah dran?“

„Ja. Wenn man es genauer überlegt, auch ganz logisch. Theoretisch wäre es zwar möglich, mit dem Auto in den Park hinein zu fahren – Sie kennen die Örtlichkeiten? –, und dort die Tote abzuladen, aber es würde zu jeder Tageszeit sehr auffallen.“ Sie nahm Korps Akte wieder in die Hand und zog einen Plan des Rebstockparks hervor, in den Kannebecher den Fundort der anderen Frau auf der Insel eingezeichnet hatte. „Es war genau hier, sehen Sie?“ Sie zeigte auf ein kleines Gebüsch westlich des Weihers. Ein Hauch Parfum wehte herüber, als sie sich vorbeugte. „Dort haben wir ein Papiertaschentuch und einen Stein mit ihrer DNS gefunden. Und Schleifspuren zum Weiher.“

„Nicht gerade sehr abgeschieden.“ Korp deutete auf den Weg, der an der Stelle vorbeiführte.

„Und wenn’s dunkel war?“ Sie hielt den Kopf schief und sah ihn leise lächelnd von unten an. Dabei deutete sie auf den Obduktionsbericht.

Korp wurde warm. Das war ein kleiner Patzer. Natürlich hatte sie Recht: An dieser Stelle war im Frühling, wo Unmengen von Besuchern unterwegs waren, eine Frau sicher nicht am hellen Tag ermordet worden.

Allerdings …

„Ende Mai ist es sehr lange hell“, sagte er nachdenklich. „Es muss weit nach zehn Uhr abends gewesen sein. Und das heißt“, sagte er schnell, „das hieße ja, dass es doch eine Beziehung zwischen Opfer und Täter geben könnte. Denn welche Frau geht schon mit einem Fremden bei Dunkelheit in einen Park?“

„Punkt für Sie!“ Sie lachte leise. „Das deckt sich mit dem Obduktionsbericht.“ Sie machte eine Pause. „Wenn sie denn freiwillig mitgegangen ist.“ Noch immer sah sie ihn an. Dann setzte sie sich gerade hin. „Aber Sie haben Recht. Es wäre nicht so einfach gewesen, eine sich sträubende Frau von einem Meter siebzig vom Parkplatz bis hierher zu schaffen. Das sind sicher dreihundert Meter quer über die Wiese. Es gab keine Kampfspuren, wenn sie sich erinnern.“

„Und wenn sie betäubt war?“ Jetzt legte Korp den Kopf schief und beugte sich vor.

„War sie nicht. Außerdem: Sie wog knapp siebzig Kilo.“

„Schubkarre?“ Er grinste, wurde aber gleich wieder ernst und zeigte auf Kannebechers Kreuz auf der Insel. „Der Fundort Ihrer Leiche war übrigens fast an der selben Stelle, wenn ich mich richtig erinnere.“

„Stimmt. Ist auch die nächste Stelle zum Ufer. Der Teich ist ja klein, und die Insel ist winzig. Man kann leicht rüberkommen. Was werden das sein? Zwanzig, fünfundzwanzig Meter? Steht irgendwo im Bericht, ich hab’s vergessen.“

Tatsächlich?, war Korp versucht zu fragen, der sich die ganze Zeit schon gewünscht hatte, auch seine Fälle nach mehr als einem Vierteljahr noch so präsent zu haben.

„Gut.“ Er stand auf. „Sie haben nicht zufällig eine Kopie der Akte, die Sie nicht brauchen?“

„Aber …“ Sie zeigte auf den Bildschirm.

„Für meinen Chef.“ Korp verdrehte die Augen. „Er will es in Papier vor sich liegen haben.“

„Ja, der Kollege Langer und seine Eigenheiten!“ Sie griff neben sich auf das Sideboard und reichte Korp einen dicken Aktendeckel. „Aber er hat Recht. Es liest sich besser. Deshalb habe ich das auch noch hier. Sie können die Kopie haben; die Asservate sind schon unten.“

„Alles klar. Vielen Dank.“

„Gerne.“

Da sie keine Anstalten machte aufzustehen und ihm die Hand zu reichen, nickte er kurz und ging zur Tür.

Dort wandte er sich um. „Wir bleiben in Verbindung, Frau Wildenberger.“

Sie war bereits wieder am Bildschirm zugange, drehte sich herum und lächelte.

„Aber sicher, Herr Korp.“

Das Rheinische Fischerfest, unbestritten der Höhepunkt im Jahresablauf der Gernsheimer, zieht an jedem ersten Augustwochenende etwa eine Viertel Million Besucher in die südhessische Stadt am Rhein. Die Vorfeiern in der Woche davor nicht mitgerechnet, reiht sich von Donnerstag bis Montag eine Veranstaltung an die andere, während auf dem großen Festplatz zwischen den Auen, dem Hafen und der Rheinspitze, wo das markante Riesenrad den imposanten Endpunkt setzt, unzählige Fahrgeschäfte, Markthändler, Schausteller und natürlich Imbiss- und Getränkestände ihr gutes Geschäft machen. Den offiziellen Abschluss bildet das Höhenfeuerwerk über dem Rhein am Montagabend – das zweite nach dem großen Pyrospektakel im Hafen am Sonntag.

Kein Gernsheimer, der auf sich hält, würde dies alles verpassen wollen.

Gegen acht Uhr war Vanessa mit Jens zu ihrer Freundin Laura gefahren, die in der Biebesheimer Straße wohnte. Dort konnten sie den Wagen stehen lassen und bequem zum Festplatz laufen; einen Parkplatz auf den öffentlich dafür hergerichteten Bereichen zu finden, wäre illusorisch gewesen. Neben Laura war deren Freund Lukas mit von der Partie. Beide kannte Jens bereits aus Frankfurt, wo sie mit Vanessa studierten.

Treffpunkt mit noch zwei weiteren jungen Leuten war das altehrwürdige Denkmal Peter Schöffers auf dem nach ihm benannten Platz; von da wollte man gemeinsam zum Rhein ziehen und sich in den Trubel stürzen.

Es herrschte ein chaotisches Gewimmel auf Straßen und Bürgersteigen. Unverdrossene Autofahrer hatten bis kurz vor der Rheinstraße immer noch nicht die Hoffnung aufgegeben, in unmittelbarer Nähe der Festmeile parken zu können, mussten eines Besseren belehrt werden und wieder umkehren, um die Suche in immer weiteren Kreisen wieder neu zu starten. Dazu kamen die Benutzer der Fähre nach Rheinhessen hinüber, für die eine Spur zum Anlegeplatz freigehalten worden war, und die ungeduldig hupten, weil sich trotzdem Fußgänger darauf verirrten. Die Kreuzung Wormser Straße – Magdalenenstraße war verstopft wie der Frankfurter Alleenring zur besten Hauptverkehrszeit.

Jens hatte sich mit dem Anflug von Arroganz, wie sie den Bewohnern von Metropolen zuweilen eigen ist, gerade gefragt, ob er wirklich erst in eine hessische Kleinstadt hatte fahren müssen, um sich das anzutun, als er hinter sich eine Stimme hörte.

„Hi, Vanessa!“

Vanessa, die sich neben ihm auf den Stufen zu Füßen des steinernen Druckermeisters niedergelassen hatte, sah sich um. Für einen kurzen Moment ging ein Schatten durch ihre Miene.

„Hallo Frank,“, sagte sie ohne große Begeisterung. „Wusste gar nicht, dass du auch mitkommst.“

Auch die anderen begrüßten den Neuankömmling etwas verhalten, und Jens entging nicht, wie Lauras Blick rasch zwischen ihm und Frank hin und her ging.

Frank pflanzte sich unbekümmert an Vanessas andere Seite auf die Stufe unter dem Denkmal und legte vertraulich seine Hand um ihre Hüfte. „Ich freu mich, dich zu sehen, echt!“ Seine Augen waren von einem tiefen Blau und leuchteten sie verzückt an.

„Lass das.“ Unwillig fasste sie hinter sich und drehte seinen Arm zurück. Dann wandte sie sich Jens zu. „Das ist Frank. Frank – Jens.“

Jens nickte knapp, brummte etwas, das nach „Hallo“ klang, doch Frank hatte sich bereits abgewandt und redete auf Lukas ein. Dabei schob sich sein Arm wie ungefähr erneut um ihre Taille.

Wütend schob sie ihn weg. „Ich hab gesagt, du sollst das lassen!“

„Nun hab dich mal nicht so, Süße!“

In Jens brodelte es; mühsam beherrscht erhob er sich und baute sich vor Frank auf.

„Kapierst du’s nicht? Muss ich dir erst auf die Sprünge helfen?“

„Auf die Sprünge helfen …“, äffte Frank ihn nach. „Wie schwätzt der denn?“ Breit grinsend lehnte er sich auf den Sandsteinstufen zurück und blickte Beifall heischend in die Runde.

Lukas stand ebenfalls auf und sah auf ihn nieder. „Du benimmst dich jetzt, Frank, klar?“, sagte er bestimmt. „Und lass mich mal dahin.“

Er quetschte sich rücksichtslos zwischen Vanessa und ihren unwillkommenen Verehrer, so dass Frank notgedrungen ein Stück weiter weg rutschen musste, und nickte Jens begütigend zu.

Jens setzte sich wieder. „Der scheint ja schon ordentlich vorgeglüht zu haben“, meinte er leise zu Vanessa.

Vanessa zuckte die Schultern. „Na ja, solange er seine Finger bei sich behält, ist’s mir egal.“

„Ich hab ihn schon mal gesehen …“, murmelte Jens. „Irgendwie …“

„Ja, in Papas Werkstatt, heute Nachmittag.“

„Echt? Nicht dass ich wüsste.“

„Vielleicht hast du ihn unbewusst wahrgenommen.“

Er zuckte die Schulter. „Vielleicht.“

Mit gerunzelter Stirn wandte Jens sich ab. Was sollte das für ein Abend werden mit diesem Typen im Schlepptau? Er hatte es auf Konfrontation abgesehen, so viel war klar. Oder war er bereits so betrunken, dass er gar nicht mehr wusste, was er tat?

Als hätte Vanessa seine Gedanken gelesen, sagte sie leise: „Lass dich nicht von ihm provozieren! Der macht jetzt auf dicke Hose, dabei kann er es immer noch nicht vergessen, dass er bei mir nicht landen konnte. – Obwohl ich dachte, er wäre drüber weg“, setzte sie hinzu.

Sie sah Jens an und fragte sich plötzlich, ob es nicht ein Fehler gewesen war, ihn mit nach Hause zu nehmen. Sie kuschelte sich an ihn. „Ach, ignoriere den Blödian einfach und lass uns einen schönen Abend haben, ja?“

Jens küsste sie und sagte lächelnd: „Schon gut, mach dir keine Gedanken.“

Laura rief: „Da kommen Christina und Pierre. Jetzt sind wir komplett.“

Die beiden Neuankömmlinge schlängelten sich durch die Autoreihen des Platzes und riefen: „Wir können! Dann mal los!“

Bald war die kleine Gruppe Teil der Menschenmenge, die sich durch die Rheinstraße am südlichen Teil des Hafens vorbei durch das Festgelände wälzte. Jens legte demonstrativ seinen Arm um Vanessa, doch bald war es wegen des Gedränges nur noch möglich, Händchen zu halten. Aus dem gleichen Grund war dies auch nötig, verringerte man dadurch doch die Gefahr, den anderen zu verlieren.

Drei Stunden später trafen sie sich alle verabredungsgemäß am Champagnerstand wieder. Sie hatten diverse Fahrgeschäfte ausprobiert, das große Festzelt besucht, hatten gegessen und getrunken, sich zwischendurch zerstreut und wieder gefunden und schließlich gemeinsam vorm Riesenrad an der Rheinspitze gestanden.

„Oh Mann, ob das mein Magen noch aushält“, jammerte Laura und legte den Kopf in den Nacken, um zu den den Gondeln in fast vierzig Metern Höhe hochzuschauen.

„Ach komm! Noch eine Fahrt und dann geht’s raus zum Kiesloch.“ Vanessa schob sie und Lukas in eine Kabine, zog Jens nach und klappte die Sicherung vor Franks verdattertem Gesicht zu. „Musst die nächste nehmen, Frankieboy!“, rief Lukas ihm zu und schon drehte sich das Rad weiter.

Frank schaute ihnen verdutzt nach.

Dreieinhalb Stunden nach ihrer Abfahrt in Frankfurt stieg Anne im Hamburger Hauptbahnhof aus dem Zug und ging direkt zu ihrem Hotel, das nur ein paar Schritte entfernt lag. Es war kurz vor sieben, und sie merkte, dass sie Hunger hatte.

Während der Zugfahrt hatte sie zunächst noch einmal alle Unterlagen durchgesehen, um sich selber die Gewissheit zu verschaffen, dass alles bestens vorbereitet war: Sie konnte nichts mehr tun; es würde alles seinen Lauf nehmen.

Als der ICE Kassel-Wilhelmshöhe hinter sich gelassen hatte, verstaute sie die Unterlagen in ihrer Aktentasche und lehnte sich in die Polster zurück. Der Zug war, wie immer an Freitagnachmittagen, auch in der ersten Klasse voll, doch Anne sah aus dem Fenster und versuchte, das Treiben um sich herum auszublenden.

Nach dem Einchecken verließ sie das Hotel, reihte sich in die bummelnden Passanten ein und ließ sich zur Binnenalster treiben. Sie atmete tief die würzige Luft dieses Hamburger Juliabends ein, angenehm frisch nach der stickigen Schwüle des Rhein-Main-Gebiets. Plötzlich blieb sie stehen, blickte sich um und merkte, dass sie sich verlaufen hatte. Wenn sie sich nicht beeilte, würde sie nicht mehr bei Daniel Wischer essen können. Sie fragte den nächsten Passanten nach dem Weg und wenig später betrat sie endlich das bekannte Fischrestaurant in der Nähe des Rathauses.

Doch schade, alle Tische schienen besetzt zu sein. Lediglich an den Zweiertischen an der Wand erblickte sie einen freien Platz, doch der gegenüberliegende war bereits von einem Gast belegt. Enttäuscht wandte sie sich wieder dem Ausgang zu, als eine Kellnerin sie ansprach.

„Guten Abend. Sie suchen einen Platz?“

„Ja, aber …“ Anne zeigte auf das volle Lokal.

„Wäre es Ihnen recht, wenn ich mal frage?“ Die Kellnerin deutete zu dem kleinen Tisch und sah sie abwartend an.

„Äh – Sie meinen …?

„Ja sicher. Es hat ja keinen Sinn zu warten; wir schließen früh.“

Anne hätte es vorgezogen, alleine zu essen, aber die junge Frau war schon verschwunden, bevor Anne etwas antworten konnte und fast ebenso schnell zurück.

„Der Herr würde sich freuen, wenn Sie ihm beim Essen Gesellschaft leisten würden“, sagte sie formvollendet.

Anne lachte. „Na dann!“ und folgte ihr zum Tisch.

Der Mann stand auf, als sie sich dem Tisch näherte, grüßte, zeigte auf den leeren Stuhl und setzte sich wieder. Er war mittelgroß, Mitte fünfzig, leger mit Blue Jeans und Jeansjacke gekleidet und hatte eisgraue, eher lange Haare, wozu der akkurat gezogene Seitenscheitel nicht recht passen wollte. Ihr war aufgefallen, dass er sie beim Näherkommen aufmerksam gemustert hatte.

„Vielen Dank, Sie haben mich gerettet“, sagte sie, während sie sich setzte. „Ich habe zu lange getrödelt und vergessen, dass sie hier früher zumachen.“

„Es hat ja noch geklappt. Und ich muss nicht alleine essen. Das freut mich.“ Sein Hochdeutsch hatte unverkennbar einen breiten schwäbischen Akzent.

Dann erhob er sich wieder leicht von seinem Sitz, machte eine kleine Verbeugung und sagte: „Vincent Tollinger. Mit C.“

„Anne Schäfer. Mit F. – Sie sind aber auch nicht von hier, wie?“

„Noi, gebürtig aus Tübinge. Merkt man das?“, fragte er ernst.

„Da müsste man schon ganz genau hinhören“, lachte Anne.

„Hätt mich auch gewundert.“ Jetzt grinste er breit. „Ich wollt grad bestellen.“ Er reichte ihr die Speisekarte, und Anne orderte ihre Finkenwerder Scholle, auf die sie sich schon gefreut hatte, und einen leichten Weißwein.

Das Gespräch floss dahin, leicht wie der Fisch und der Wein, und Anne musste es nicht bereuen, sich zu ihm gesetzt zu haben. Nach dem Essen fragte er: „Lust auf einen kleinen Spaziergang?“, und Anne sagte nicht nein.

Sie flanierten über den Jungfernstieg um die Binnenalster herum und zum Rathaus zurück, wo Anne ihm die Hand reichte.

„War schön, Sie getroffen zu haben.“ Sie zeigte vage nach vorne. „Mein Hotel ist nicht weit.“

„Wir haben denselben Weg. Sie wohnen im Henry.“ Er lächelte in ihr erstauntes Gesicht. „Ich habe Sie heute Abend beim Einchecken gesehen.“

Die Lobby im Henry war klein und behaglich, fast so gemütlich wie das eigene Wohnzimmer, was zweifelsohne die Intention des Innenarchitekten war. Saß man auf einem der Sessel, war es unmöglich, das Gespräch an der Rezeption nicht mitzuhören.

Anne und Vincent Tollinger setzten sich etwas abseits und bestellten noch einen Drink zum Abschluss des Abends. Er erzählte, warum er nach Hamburg gekommen war: Ein alter Freund, der vor Jahren bereits hierher gezogen war, hatte ihn eingeladen, lange schon und immer wieder.

„Sie wissen vielleicht, wie das ist: Man nimmt sich Dinge vor und schiebt sie dann doch wieder hinaus. Irgendwann muss man sie einfach tun.“

Sie nickte nachdenklich. „Bevor es zu spät ist“, sagte sie leise und erntete einen fragenden Blick. Dann schüttelte sie den Kopf, winkte leicht ab und schaute ihn kurz an – zögerte. Der Mann neben ihr war nett, die Gespräche mit ihm angenehm – würde er sie zudringlich finden, wenn …? Sie beschloss, es darauf ankommen zu lassen.

Sie hatte nur allgemein erwähnt, dass sie für einen Kunden eine Auktion besuchen müsse. Jetzt erzählte sie von der Fust-Schöffer-Bibel, deren Wert, wie aufregend dieser Auftrag für sie sei und davon, was sie am nächsten Nachmittag erwartete.

Er hörte aufmerksam zu und war sichtlich beeindruckt. „Sie haben wirklich einen spannenden Job!“, bemerkte er.

Sie lachte. „Ja, manchmal schon. – Interessieren Sie sich für alte Bücher?“, fragte sie.

„Nun … ja.“

„Weil … Also nur ein Vorschlag … Hätten Sie Lust, sich die Versteigerung morgen anzusehen?“

Er strahlte. „Sie meinen, ich könnte da auch hin? Das geht?“

„Ich könnte es arrangieren. Habe gute Verbindungen. Aber nur, wenn Sie wirklich …“

„Aber sicher interessiert es mich! Ich freue mich darauf.“

Sie wanderten in der warmen Nacht durch den Rheinpark, an der großen Feuerwache vorbei Richtung Gernsheimer Badesee, der seit undenklichen Zeiten Kiesloch genannt wurde, obwohl die Tage, an denen man hier Kies gebaggert hatte, schon lange zurück lagen. Die Autos hatten sie wohlweislich in der Stadt stehen lassen. Nur Lukas’ Polo stand bereits seit dem frühen Abend in der Nähe des Badesees, der Kofferraum vollgepackt mit Decken, Zelten und Getränken.

Die heiße Luft war einer lauen Brise gewichen. Hinter ihnen verklangen Musik und Lärm des Festtagsrummels und verstummten bald ganz. Der Himmel war klar, ins Firmament waren Milliarden von Diamanten gesetzt, und die jungen Leute, die eben noch selber durch Kichern, spitze Schreie und Johlen erheblich zur Lautstärke beigetragen hatten, wurden ebenfalls still.

Laura hatte eine Taschenlampe mitgebracht und leuchtete ihnen den Weg, was trotzdem nicht verhinderte, dass sie sich zweimal verliefen. Endlich erreichten sie die Winkelbach (denn der kleine Wasserlauf ist im Südhessischen wie alle Bäche weiblichen Geschlechts) und sahen rechts zwischen den Büschen den Badesee silbrig hervorschimmern.

„Wow, sieht das cool aus“, sagte Jens und blieb stehen.

Sie liefen bis zum südlichen Ende des kleinen Sees, wo es einen flachen Strand gab, und weiter zum westlichen Ufer.

„So, hier sind wir ungestört“, sagte Pierre und setzte seinen Rucksack ab. „Zumindest bis morgen früh, bevor die Angler kommen.“

Auch die anderen packten nun ihre leichten Zelte aus, die sie aus dem Auto geholt hatten, praktische Pop Ups, die schnell auf- und abzubauen waren. Im Handumdrehen standen drei Zelte im Halbkreis vor dem Ufer.

„Hört mal!“ Christina stand still und blickte in die Böschung hinter ihnen. „Da war was!“

Alle lauschten, doch es blieb still. „Was denn? Ich höre nichts!“

Christina schüttelte den Kopf. „Dachte, ich hätte was gehört. Ein Zweig hat geknackt oder so was.“

„Ich suche Holz“, rief Laura. „Wer kommt mit?“ Pierre stand auf, und zusammen verschwanden sie im Unterholz. Jens nahm ein paar Flaschen und Bierdosen und legte sie am Ufer zum Kühlen ins Wasser.

„Darf man das hier überhaupt?“, fragte er, als er zurückkam. „Zelten und Feuer machen und so?“

„Jens, mach dich mal locker“, lachte Lukas. „Du bist doch nicht im Dienst!“

„Wieso Dienst? Was für ein Dienst?“ Christina sah fragend von einem zum anderen.

Lukas antwortete: „Jens ist bei der Kripo in Frankfurt, wusstest du das nicht?“

„Echt jetzt, Herr Kommissar?“ Christina machte große Augen. „Zeig mal deine Marke!“

„Obermeister, nicht Kommissar“, murmelte Jens, dem es immer peinlich war, wenn in geselliger Runde die Sprache auf seinen Beruf kam. Und der es nie ganz verstanden hatte, warum andere immer ein Bohei darum machten. „Und wir haben keine Marken, sondern Ausweise.“

Eine Assoziation, die sich ihr nicht sofort erschloss, ließ Vanessa fragen: „Wo ist eigentlich Frank?“

Die vier sahen sich an. „War der denn mitgekommen?“

„Ja klar, hatte er zumindest vor. Er hat doch seine Tasche im Auto.“

„Wer hat seine Tasche im Auto?“, fragte Pierre, der mit einem Armvoll trockenem Reisig und Zweigen aus dem Dunkel trat und seine Ausbeute auf den Boden warf. Laura erschien und ein weiteres Bündel folgte.

„Frank. Hat den jemand gesehen?“

„An der Feuerwehr war er noch hinter uns, oder?“ Fragend sah Christina Pierre an.

„Stimmt. – Und am Auto war er auch noch und hat in seiner Tasche gekramt.“ Pierre zuckte die Schultern. „Vielleicht hat er sich’s anders überlegt und ist nach Hause. – Er schien sich heute nicht sehr wohl gefühlt zu haben“, setzte er grinsend hinzu.

Laura prustete. „Tja, so kann man’s auch nennen.“

„Der hatte echt schon einen oder zwei sitzen!“

„Wir können auf ihn verzichten. – Ich geh jetzt ins Wasser, wer kommt mit?“ Mit diesen Worten hatte Vanessa bereits Jeans und T-Shirt abgestreift und lief zum Ufer hinunter. Jens folgte ihr; kurz danach kamen die anderen. Es gab ein kurzes Gejohle und Gegröle, Wasser spritzte auf, Lachen und Schreie wurden laut, dann wurde es ruhig.

Jens und Vanessa schwammen auf der silbernen Bahn des Mondes langsam hinaus. Das Wasser stand still und war wie aus Seide. Die anderen waren nur noch als Schatten zu erkennen.

„Wunderbar, oder?“, sagte Vanessa und legte sich auf den Rücken.

„Der beste Abschluss eines Tages“, antwortete Jens. „Nein, der zweitbeste.“ Er zwinkerte ihr in der Dunkelheit zu und Vanessa lachte, obwohl sie es unmöglich hatte sehen können.

„Schwimmen wir zurück.“

Sie fanden die anderen in Handtücher gehüllt im Kreis stehen und Christina beobachten, die geschickt einen Teil des trockenen Holzes zu einem kleinen Haufen schichtete und anzündete. Bald brannte ein kleines Lagerfeuer im Zeltkreis.

Wie überall in der Welt und zu allen Zeiten dauerte es nicht lange, bis das Feuer seine magische Kraft entfaltete. Die sechs jungen Menschen saßen und lagen meist stumm vor den Flammen im Sand oder unterhielten sich leise. Ab und zu stand einer auf und ging zum Wasser; kurz darauf hörte man das Plopp einer geköpften Bierflasche oder das Zischen einer sich öffnenden Dose.

„Jemand noch Hunger?“, fragte Lukas. „Ich hab noch was im Wagen.“

„Nee, du, echt nicht.“ Christina reckte sich. „Ich bin eher bettreif.“

„Oh ja, ein weiches Bett, das wär’s jetzt“, seufzte Vanessa sehnsüchtig.

„Was denn – du wolltest doch im Zelt schlafen. Hier wird nicht gekniffen!“

Vanessa griff hinter sich nach einer Decke und breitete sie über sich und Jens aus. „Oder vor dem Zelt“, murmelte sie, die Augen auf den Nachthimmel gerichtet. Müde und glücklich kuschelten sie sich aneinander.

Na also, ist doch noch ein schöner Abend geworden, dachte Jens. Dann fielen ihm die Augen zu, und augenblicklich war er eingeschlafen.

Samstag, 1. August

Als Jens am nächsten Morgen erwachte, sah er benommen um sich. Er hatte geschlafen wie ein Stein, tief und traumlos. Vanessa war während der Nacht irgendwann ins Zelt gekrochen und hatte ihm eine Decke dagelassen, trotzdem fröstelte ihn. Der Sand unter ihm war leicht feucht, die Sonne noch nicht hinter dem Odenwald aufgegangen. Vögel bereiteten sich lautstark auf den neuen Tag vor. Er tastete nach seinem Handy in der Gesäßtasche der Jeans. Kurz vor fünf. Er blinzelte zu den Männern in olivgrünen Westen hinüber, deren Gespräch in seinen Schlaf gedrungen war. Sie kamen von rechts um den See herum.

„Guck der des emol ou! Des deffe die doch goar net! Mer misst grad die Bolizei ruffe!“

„Och losse doch, die junge Leit! Es is doch Fischerfest!“

„Die wern uns die Fisch verjache!“

„Des will ich awwer net hoffe! Sunst krieje se’s mit mir zu du!“

Als beide Angler den Lagerplatz passierten, den Zelten misstrauische Blicke zuwerfend, war Jens schon wieder eingeschlafen

Um sechs wachte er endgültig auf. Die Angler hatten sich an ihrem Platz eingerichtet und verharrten regungslos am Ufer. Pierre und Christina lagen einige Meter neben ihm im Sand und schliefen, Laura und Lukas hatten sich offensichtlich ins Zelt verkrochen. Er sprang auf, streckte sich und zog Jeans und Shirt aus. Dann lief er in die Richtung, aus der die Angler gekommen waren, um einen möglichst großen Abstand zu gewinnen, und ging langsam ins Wasser. Es war kalt, doch genau das, was er brauchte, um seinen Kopf klar zu bekommen. Es war ihm nicht bewusst gewesen, dass er so viel getrunken hatte.

Erfrischt, aber zitternd vor Kälte kam er zu den Zelten zurück. Das Handtuch vom Abend zuvor war sandig und noch feucht. Er kniete sich nieder und wühlte in seiner Sporttasche. Dort musste noch ein zweites sein. Ganz sicher. Er kramte weiter.

Plötzlich zuckte er zurück und schrie leise auf. Erschrocken zog er die Hand aus der Tasche und starrte darauf, unfähig zu begreifen. Sie war blutig. Hatte er sich geschnitten? Weh tat es nicht, doch war ihm, als hätte er eine Klinge gespürt. Vorsichtig packte er Teil für Teil die Tasche aus. Ganz unten lag das zweite Handtuch, doch nicht ordentlich zusammengelegt, sondern zu einem Haufen geknüllt., und daraus lugte eine Messerspitze hervor. Vorsichtig legte Jens das Messer frei. Es war ein gewöhnliches Küchenmesser, etwa 20 Zentimeter lang und über und über mit Blut bedeckt, mit halb getrockneter, dickflüssiger Schmiere überzogen.

Was um alles in der Welt …

Ihm war heiß geworden, im nächsten Moment spürte er, dass er vor Kälte zitterte. Er blickte hoch und sah sich rasch um. Noch immer rührte sich keiner der Clique; die beiden Angler hatten ihren Platz nicht verlassen.

Er packte alles wieder ein, nahm das feuchte Handtuch vom Abend vorher aus dem Sand und trocknete sich so gut es ging damit ab, bevor er sich wieder anzog. Während er grübelnd im Sand saß, die Arme um die Beine geschlungen, hörte er ein Geräusch hinter sich und schrak zusammen.

„Na, schlechtes Gewissen?“ Vanessa war aus dem Zelt gekrochen und schmiegte sich von hinten an ihn. „Morgen.“

Er dreht sich um. „Hallo, guten Morgen.“

„Warum bist du denn nicht noch ins Zelt gekommen?“

„Ich hab so tief geschlafen! Und du?“

„Ich auch, wie tot.“ Vanessa gähnte. „Jemand muss uns was ins letzte Bier getan haben!“

„Meinst du?“

Sie nahm den Kopf von seinen Schultern und sah ihn belustigt an. „Jens, das war ein Scherz!“

„Hmm.“ Er wandte sich von ihr ab und blickte wieder über den See hinaus.

„Wie jetzt?“ Sie setzte sich gerade hin. „Glaubst du das etwa nicht?“

Er versuchte zu lachen. „Doch, natürlich.“ Er zeigte auf die anderen. „Aber guck sie dir mal an! Die schlafen wie Zombies. Auf diesem unbequemen Sand, feucht und kühl …“

„Jens, es ist halb sieben. Gestern ist es spät geworden. Wir haben getrunken. – Geht da grad was mit dir durch?“