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Der Nordsee-Mörder geht um im fesselnden Küstenkrimi »Tod mit Meerblick« von Erfolgsautor Andreas Schmidt – jetzt als eBook bei dotbooks. An der Nordsee-Küste ist die Welt noch in Ordnung? Kriminalkommissarin Wiebke Ulbricht hat gerade ihre Ausbildung abgeschlossen, als sie nach Husum versetzt wird – und merkt schnell, dass es in Nordfriesland mörderisch zugeht: In einem Strandkorb wird eine Leiche gefunden. Alles deutet auf einen Suizid hin, doch an den Händen des Toten fehlen Schmauchspuren. Noch dazu stammt die Tatwaffe eindeutig aus den Beständen einer deutschen Behörde, ohne dass sich klären lässt, wo sie zuletzt im Einsatz war. Wer ist der Unbekannte, den niemand zu vermissen scheint, warum musste er sterben … und wieso übernimmt plötzlich das Bundeskriminalamt den Fall? Wiebke weiß, dass sie nun nicht mehr offiziell ermitteln darf – und setzt trotzdem alles daran, dem Täter auf die Spur zu kommen! Jetzt als eBook kaufen und genießen: Lernen Sie in »Tod mit Meerblick« von Andreas Schmidt die mörderischen Seiten von Schleswig-Holstein und der eigentlich so idyllischen Gemeinde Nordstrand bei Husum kennen. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.
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Seitenzahl: 380
Über dieses Buch:
An der Nordsee-Küste ist die Welt noch in Ordnung? Kriminalkommissarin Wiebke Ulbricht hat gerade ihre Ausbildung abgeschlossen, als sie nach Husum versetzt wird – und merkt schnell, dass es in Nordfriesland mörderisch zugeht: In einem Strandkorb wird eine Leiche gefunden. Alles deutet auf einen Suizid hin, doch an den Händen des Toten fehlen Schmauchspuren. Noch dazu stammt die Tatwaffe eindeutig aus den Beständen einer deutschen Behörde, ohne dass sich klären lässt, wo sie zuletzt im Einsatz war. Wer ist der Unbekannte, den niemand zu vermissen scheint, warum musste er sterben … und wieso übernimmt plötzlich das Bundeskriminalamt den Fall? Wiebke weiß, dass sie nun nicht mehr offiziell ermitteln darf – und setzt trotzdem alles daran, dem Täter auf die Spur zu kommen!
Über den Autor:
Andreas Schmidt, geboren 1969 in Wuppertal, begann als Redakteur der Schülerzeitung schon früh mit dem Schreiben. Später arbeitete er als Journalist für zahlreiche Zeitungen und andere Medien, bevor er begann, sich ganz der mörderischen Unterhaltung zu widmen: »Ich liebe den Krimi, weil er so facettenreich ist!«
Bei dotbooks veröffentlichte Andreas Schmidt seine Trilogie rund um das Wuppertaler Ermittlerduo Seiler und Göbel (»Todeszug«, »Todeswasser«, »Todesschnitt«) sowie den Kriminalroman »Der Kopf des Toten«, der den Leser in den Westerwald entführt. Auf für ihn ungewöhnlichen Pfaden wandelt Andreas Schmidt in »Chaos schützt vor Liebe nicht«, einer beschwingten Komödie – und beweist, wie meisterhaft er auch diese Tonart beherrscht.
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Alle Figuren und Handlungen dieses Romans sind frei erfunden. Jegliche Ähnlichkeit mit realen Ereignissen und Personen wäre reiner Zufall.
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eBook-Neuausgabe Juli 2019
Copyright © der Originalausgabe 2011 Leda-Verlag, Rathausstraße 23, D-26789 Leer
Copyright © der Neuausgabe 2019 dotbooks GmbH, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design, München, unter Verwendung eines Bildmotivs von shutterstock/suehling
eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (ts)
ISBN 978-3-96148-380-8
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Andreas Schmidt
Tod mit Meerblick
Kriminalroman
dotbooks.
Als Erinnerung an unseren ersten Urlaub zu viert, im Juli 2009
An milden Sommerabenden hat Husum ein fast mediterranes Flair, dachte er, als er sich an einem der letzten freien Tische im Goldenen Anker unweit des Hafens niederließ. Die untergehende Sonne tauchte die Fassaden der alten Häuser in ein warmes Licht, und aus den Küchen der Restaurants am Binnenhafen wehte ein köstlicher Duft über den Platz. Touristen mischten sich unter die Bewohner und genossen die angenehmen Temperaturen. Im Hafen herrschte Ebbe, und die Schiffe lagen im Morast. Ein trostloser Anblick, an den er sich wohl nie gewöhnen würde. Er zupfte sich den leichten Sommeranzug zurecht und blickte fast erschrocken auf, als eine junge Kellnerin an den Tisch trat und ihn nach seinen Wünschen fragte. Er lächelte nervös und bestellte einen trockenen Weißwein.
Immer wieder blickte er auf seine Armbanduhr. Die Minuten fühlten sich an wie Stunden. Seit seiner Ankunft in Husum waren kaum zehn Minuten vergangen. Den Wagen hatte er am Hafen geparkt, dort musste man nur bis achtzehn Uhr einen Parkschein lösen. Obwohl er früher zum verabredeten Treffen gekommen war, ertappte er sich dabei, sie an einem der benachbarten Tische zu suchen. Sie war noch nicht da. Gut so, dachte er und zwang sich zur Ruhe. Die Kellnerin brachte den Wein. Seine Hand zitterte, als er nach dem Glas griff und daran nippte. Sicherlich kein billiges Zeug, vermutete er und drehte den Stiel in den Händen.
An der Mole hockten Jugendliche, spielten Gitarre und tranken mitgebrachten Wein. Wenigstens randalierten sie nicht und belästigten keine Passanten. Sie waren friedlich, wie alles in diesem Landstrich. Langsam kam auch er zur Ruhe. Sein Herzschlag beruhigte sich, und das Zittern ließ nach. Eine bunt gekleidete Familie mit zwei Kinderwagen zog an der Gruppe vorbei. Ein kleines Mädchen plärrte, weil es irgendetwas nicht bekommen hatte. Ein Rentnerehepaar flanierte händchenhaltend in Richtung Wasserreihe. Die kleinen, malerischen Gassen zogen im Sommer die Touristen in Scharen an.
Niemand beachtete ihn. Er lehnte sich in dem einfachen Rattansessel zurück und betrachtete das Treiben an der Schiffsbrücke. Beinahe fühlte er sich wie im Urlaub.
»Hallo.«
Unbemerkt war sie auf der Bildfläche erschienen. Um ein Haar hätte er sich an seinem Wein verschluckt. Sofort spürte er wieder das beklemmende Gefühl in der Brust. Er schluckte trocken, setzte ein Lächeln auf, das seine Unsicherheit kaschieren sollte. Doch der Versuch misslang. Hastig setzte er das Glas ab und blickte zu ihr auf. Einmal mehr war er von ihrer Schönheit überwältigt. Sie trug ein leichtes Sommerkleid, und eine feine Duftwolke von edlem Parfüm umgab sie. Etwas war heute anders als sonst. Er hatte es gleich bemerkt, schon, als sie ihn am Nachmittag angerufen und um ein Treffen gebeten hatte. Sie war ungewöhnlich distanziert und kühl gewesen.
»Nicht am Telefon«, war sie seiner Frage ausgewichen, was denn los sei. Natürlich hatte er dem Treffen zugestimmt. Nachdem Ort und Uhrzeit abgesprochen waren, hatten sie das Telefonat schneller als üblich beendet. Er hatte sich gewundert, dass sie so kurz angebunden gewesen war. Doch sie hatte ihm keine Gelegenheit gegeben, ihr unbequeme Fragen zu stellen.
Jetzt war sie also da. Er atmete tief durch und lächelte ein wenig schief. Von seiner Verunsicherung sollte sie möglichst nichts bemerken. Doch er war ein schlechter Schauspieler und hatte Mühe, seine Gefühle zu verbergen.
Sie sank auf den freien Stuhl und strich sich eine widerspenstige Haarsträhne aus dem hübschen Gesicht. Ihr Lächeln wirkte aufgesetzt. Er vermisste das Leuchten ihrer Augen, das er so liebte. Sie strahlte nicht für ihn, so wie sie es sonst tat. Ihn beschlich ein schlechtes Gefühl. Etwas stimmte nicht – er hatte es gleich geahnt. Sofort hatte er einen Kloß in der Kehle. Verlegen räusperte er sich und ärgerte sich über seine Unsicherheit. »Was möchtest du trinken?«, fragte er, nur, um Zeit zu gewinnen. So unauffällig wie möglich beobachtete er sein Gegenüber. Sie wirkte ernst, beklemmt. Vermutlich war etwas Schlimmes geschehen. Das war ja nur eine Frage der Zeit gewesen, stellte er resigniert fest. Nervös zupfte er die Tischdecke glatt.
»Ein Wasser.«
»Gern.« Er winkte die Bedienung an den Tisch und orderte ein Mineralwasser. Dann wandte er sich ihr wieder zu. »Also«, sagte er gedehnt und lächelte ein wenig unsicher. Er war ein gestandener Geschäftsmann, wohlhabend und erfolgsverwöhnt. Unter normalen Umständen hatte er es nicht nötig, kleine Brötchen zu backen. Doch hier ging es um so verdammt viel. Er konnte und wollte sie nicht entbehren. »Was war so dringend?«
Statt einer Antwort seufzte sie. Mit unstetem Blick betrachtete sie ihn. Unter dem dezenten Make-up war sie blass. In ihrem Augenwinkel zuckte ein Nerv. Er registrierte jede ihrer Bewegungen, scannte jede Regung in ihrem fein geschnittenen Gesicht.
»Ich kann das nicht mehr.«
»Was meinst du?« Ihm wurde siedend heiß. Er spürte, dass er am Abgrund stand.
»Du weißt genau, wovon ich spreche!«
Neugierig blickten sich die Leute an den Nebentischen nach ihnen um. Mit einer beschwörenden Geste hielt er sie dazu an, leiser zu sprechen. Er wollte um jeden Preis die Diskretion wahren. Schließlich hatten sie beide so viel zu verlieren. »Ich will es von dir hören«, zischte er eindringlich, nachdem die anderen Gäste im Goldenen Anker das Interesse an ihnen verloren hatten.
Als sie zu ihm aufblickte, standen Tränen in ihren wunderschönen Augen. »Ich halte es nicht mehr aus, verstehst du das nicht?«
»Ich fürchte, nein.« Er versuchte zu lächeln, was ihm schändlich misslang. Hektisch griff er nach dem Glas und leerte es in einem Zug, bevor er der Kellnerin mit einer Geste bedeutete, ihm neuen Wein an den Tisch zu bringen.
»Ich halte das mit uns nicht mehr aus.« Sie blickte ihn an, versuchte, in seinen Augen zu lesen.
Er fühlte sich plötzlich nackt. So, als könne sie auf den Grund seiner Seele vordringen. Sofort wich er ihrem Blick aus und fummelte an der Tischdecke herum.
»Du machst Schluss.« Es war eine Feststellung, keine Frage. Nickend stierte er auf den Tisch. Der Wein kam, er trank hastig. »Du machst Schluss mit mir.« Seine Stimme war nichts als ein Hauch. »Das ist es also, was du mir zu sagen hast.«
Ihre Stimme klang tränenerstickt. »Ich halte es nicht länger aus, und Ubbo schuftet wie ein Verrückter für uns und unser Leben. Ich fühle mich dreckig und hinterlistig, wenn ich ihn hintergehe, verstehst du das nicht?«
»Das klang schon mal anders. Wir hatten einen Deal«, erinnerte er sie verbittert. »Ein Abkommen.« Er blickte sie fest an und presste die Lippen zu einem Strich zusammen. An Absagen war er nicht gewöhnt. Absprachen wurden bei ihm eingehalten.
»Wir wussten nicht, was sich daraus entwickelt«, erwiderte sie leise, als sich jemand am Nebentisch neugierig zu ihnen umblickte. »Ich hatte ja keine Ahnung, dass ...« Sie schüttelte den Kopf und wich seinen Blicken aus.
Er ergriff ihre Hand. »Du weißt genau, dass ich ...« Das »... ich dich liebe« schluckte er herunter.
»Es geht mir auch so, und trotzdem: Ich mache Schluss, ja.« Ohne seine Antwort abzuwarten, erhob sie sich und verschwand in Richtung Fußgängerzone.
Er war versucht, ihr zu folgen. Doch er war es nicht gewohnt, einer Frau hinterherzulaufen. Nein. Lange würde sie es nicht ohne ihn aushalten.
Langsam wurde er sich der Tragweite ihrer Worte bewusst. Immer wieder hörte er ihre Stimme in seinem Kopf. Er stierte ins Leere. Erst, als am Hafen ein Taxi wendete und laut hupte, weil ein Radfahrer dem Wagen die Vorfahrt nahm, ruckte sein Kopf hoch. Es ist vorbei, hämmerte es in seinem Hirn. Kaum, dass er diesen Gedanken zu Ende gedacht hatte, wusste er, dass es diesmal anders war als sonst. Er fühlte sich, als würde er von einer Sekunde zur anderen in ein tiefes Loch fallen. Schwarze Punkte tanzten vor seinen Augen, und sein Leben fühlte sich plötzlich sinnlos an. So leicht wollte er sich nicht abspeisen lassen, dachte er und ballte die Hände zu Fäusten. So ging man nicht mit ihm um. Es war an der Zeit zu handeln. Er winkte der Kellnerin, um die Rechnung zu begleichen. Es gab viel zu tun, um die Vergangenheit ein für alle Mal zu beenden.
Sie war spät dran. Eigentlich war sie eine besonnene Autofahrerin, aber heute war nichts normal. Bente Harmsen fuhr schneller als gewohnt, als sie den Abzweig passierte, der in den Elisabeth-Sophien-Koog führte. Noch hingen Nebelschwaden über den sattgrünen Wiesen. Es würde noch ein, zwei Stunden dauern, bis die Sonne durch die tiefhängenden Wolken drang. Bente Harmsens Gedanken kreisten um Ubbo, ihren Mann. Wie so oft hatten sie sich gestritten. Ihm wuchs die Arbeit über den Kopf. Vielleicht hatten sie sich auch einfach zu viel zugemutet in den letzten Jahren. Ubbo Harmsen hatte den Hof seiner Eltern im Süden von Nordstrand übernommen, und weil inzwischen die Landwirtschaft kaum noch kostendeckend zu bewältigen war, hatten sie den Hof zu Ferienwohnungen umgebaut. Mit Touristen war mehr Geld zu verdienen als mit Kühen, hatte Ubbo damals festgestellt.
Natürlich hatte er einen Großteil der Umbauarbeiten in Eigenregie durchgeführt, schließlich war er technisch begabt. Und Geld hatten sie auch nicht zu verschenken, also hatte er es vermieden, viel für Handwerker auszugeben, die in der Regel nur Ärger machten, wie er fand.
Damals hatten sie durch einen befreundeten Gastwirt erfahren, dass die Strandkneipe Möwennest verkauft werden sollte. Der Freund wollte sich aus dem Geschäft zurückziehen und suchte nun einen Käufer. Er hatte den Harmsens das Bistro zu einem Vorzugspreis überlassen. Und das Möwennest war eine Goldgrube, denn bei gutem Wetter kehrten die Urlauber in Scharen in die kleine Gaststätte am Rand des Holmer Siels ein. An manchen Tagen kam sogar der Ministerpräsident von Schleswig-Holstein ins Möwennest, um hier eine Tote Tante zu trinken. Er war hier geboren und bewohnte ein Ferienhaus auf Nordstrand.
Dennoch hatte Bente Harmsen die Übernahme des Bistros insgeheim schon mehrmals bereut. Der Laden war eine zusätzliche Belastung. Eigentlich war das Möwennest Ubbos Part; während sie die Ferienwohnungen im Hof der Schwiegereltern bewirtschaftete, kümmerte er sich um die Gaststätte. So hatten sie es zumindest vereinbart damals. Diese Kneipe auf Nordstrand war eine neue Chance für ihn, nachdem er die Arbeit in Husum verloren hatte – der Betrieb hatte dichtgemacht wegen der Finanzkrise. Und mit dreiundvierzig Jahren war es nicht leicht, einen neuen Job zu bekommen. So hatten sich die Harmsens erhofft, durch die Ferienwohnungen und das Möwennest ein ausreichendes Einkommen zu erwirtschaften.
Doch leider erfüllte Bentes Mann seinen Part nicht. Er trank zu viel, schlief morgens zu lange und schaffte es erst in den Nachmittagsstunden, im Bistro aufzukreuzen. Bis dahin kümmerte sich Bente mit zwei Angestellten um das Möwennest und um die Ferienwohnungen. Ihr wuchs die Arbeit über den Kopf. Heute reisten zwei Familien an, die saubere Ferienwohnungen vorzufinden wünschten, doch augenblicklich sah es danach aus, als würde sie wieder bis mittags im Möwennest festhängen. Und das alles nur, weil Ubbo seinen Rausch ausschlief. Wie immer hatte er noch im Bett gelegen, als sie das Haus verlassen hatte. Sie hatte ihn zur Rede stellen wollen. Doch er hatte sie ausgelacht, im Bett einen fahren lassen und ihr demonstrativ den Rücken zugewandt, bevor er wieder eingeschlafen war.
So ging es einfach nicht weiter.
Bente Harmsen trat das Gaspedal tiefer durch. Der altersschwache Diesel dröhnte unter der Haube auf. Seit Tagen schon machte er seltsame Geräusche. Obwohl sie Ubbo darum gebeten hatte, sich den kleinen Lieferwagen einmal anzusehen, war natürlich nichts passiert. Und nun hoffte sie, dass ihr Auto sie nicht im Stich ließ. Eine Panne konnte sie weder zeitlich noch finanziell verkraften.
Bente warf einen Blick in den Innenspiegel. Das Make-up vermochte die dunklen Ringe unter den Augen kaum zu kaschieren. Bente achtete dennoch auf ein gepflegtes Äußeres. Sie sah eine typisch friesische Frau im Spiegel: blond, blaue Augen, etwas blasser Teint. Alt war sie geworden, obwohl sie die vierzig erst im letzten Jahr überschritten hatte. Die viele Arbeit ging nicht spurlos an ihr vorüber, und auch der ständige Ärger mit Ubbo hinterließ seine Spuren. Erste Falten um Augen und Mundwinkel gruben sich in die ansonsten makellose Haut. Kein Wunder, dass Ubbo sie kaum noch beachtete, dachte sie seufzend, als sie den Blick wieder nach vorn auf die Straße richtete.
Ein starker Westwind blies ins Landesinnere und zerrte an der kantigen Karosserie des Lieferwagens. Bente umklammerte das Lenkrad fester, um nicht von der Landstraße abzukommen. Nachdem sie den Aussichtspunkt am Deich passiert hatte, folgte eine langgezogene Rechtskurve. Dann tauchte das Möwennest vor dem Wagen auf. Sie drosselte das Tempo, als sie auf den unbefestigten Parkplatz abbog, und parkte hinter dem kleinen Backsteinbau. Nachdem der Motor mit einem letzten Schütteln erstorben war, umfing sie Stille. Nur der Wind pfiff um die rostige Karosserie.
Bente stieß die Fahrertür auf und angelte nach dem Korb, den sie im Fußraum vor dem Beifahrersitz deponiert hatte. Darin befanden sich die Einkäufe für das Café. Brötchen, Konserven und einige Ansichtskarten. Der Wind nahm ihr fast die Luft zum Atmen, und dennoch genoss sie die würzige Brise, die von der nahen Nordsee heranwehte, als sie abschloss. Dies war ihre Heimat, hier war sie geboren und hier würde sie wohl auch sterben.
Nordfriesland war für sie mehr als nur ein siebzig Kilometer breiter Fleck zwischen Nord- und Ostsee auf der Landkarte. Bente liebte die Einsamkeit hier draußen und vergaß für ein paar Minuten die Hektik und die Sorgen, die ihren Alltag plagten. Ärger mit der Bank, der Brief vom Finanzamt letzte Woche, der sie nächtelang um den Schlaf gebracht hatte, alles rückte hier draußen in unendlich weite Ferne. Bente atmete tief durch, schloss die Augen und lächelte wehmütig. Alles könnte so einfach sein.
An der Strandkneipe angekommen, fummelte sie umständlich den Schlüssel ins Schloss, schaltete die Alarmanlage ab und trat schließlich ein.
Der Geruch von abgestandenem Bier und kaltem Rauch hing schwer im Raum. Die Finger ihrer freien Hand wischten über die Wand neben der Tür; suchten und fanden den Lichtschalter. Feiner Sand knirschte unter den Sohlen ihrer Schuhe. Bente schob den Korb auf den kleinen Tresen und blickte sich im Gastraum um. Am Boden lag noch Sand, den der Wind durch die tagsüber offen stehende Schiebetür hereingetragen hatte. Die Tische wiesen unansehnliche Flecken auf, wo gestern Tassen und Gläser gestanden hatten. Die Putzfrau hatte schlampig gearbeitet – dafür würde Bente sie später zur Rede stellen. Zunächst musste sie alles für den kommenden Tag vorbereiten. Gegen elf würden die ersten Gäste erscheinen. Bis dahin musste der Laden blitzblank sein.
Bente betrat die Küche und schaltete erst einmal das Radio ein. Der kleine Apparat war auf die Frequenz von Radio Schleswig-Holstein eingestellt. Gleich gab es die ersten Nachrichten des neuen Tages aus der Region. Aber hier geschah selten etwas, hier war die Welt noch in Ordnung, dachte sie, während sie sich langsam beruhigte. Laut schallte die Musik aus den kleinen Lautsprechern, Bente sang ebenso laut, aber schief, mit und machte sich an die Arbeit. Zunächst wischte sie die Tische mit einem feuchten Tuch ab, dann kehrte sie den feinen Sand zusammen. Beiläufig glitt Bentes Blick durch die große Glasfront in den Freiluftteil. Dort hatten sie eine kleine Strandidylle mit Meerblick geschaffen. Es gab tonnenweise Sand, Tische, Bänke und Strandkörbe für die Gäste, die hier, windgeschützt hinter zwei Meter hohen Glasscheiben, auch bei unwirtlichem Wetter den Blick auf das Holmer Siel genießen konnten. Weiter hinten gab es einen kleinen Spielplatz für die jungen Gäste – sogar ein Abenteuerschiff aus Brettern hatte Ubbo aufgebaut. Eine Piratenflagge flatterte im Ostwind.
Dennoch war etwas anders. Bente verengte die Augen zu Schlitzen, als sie hinausblickte. In einem der Strandkörbe saß jemand. Sofort schlug ihr das Herz bis zum Hals. Wie war der Mann hierhergekommen? Der Bereich hinter dem Bistro war durch die Glaswände abgetrennt. Das Möwennest selber war über Nacht verschlossen und mit der Alarmanlage gesichert gewesen. Und dennoch war es dem Mann gelungen, sich Zutritt zu einem der Strandkörbe zu verschaffen. Außer dem rechten Arm und einem dunklen Haarbüschel sah Bente nicht viel von ihm, denn der Korb war mit Blickrichtung auf das Siel ausgerichtet. Der Mann schien zu schlafen. Der Oberkörper hing zur rechten Seite, ein Arm nach unten.
In Bente schrillten sämtliche Alarmglocken, und plötzlich sehnte sie Ubbo herbei. Eine Mischung aus Wut und Ohnmacht übermannte sie, als sie wie in Trance durch den Raum schritt, die Verriegelung der Schiebetür löste und die Glasfront öffnete. Ein scharfer Wind wehte ihr ins erhitzte Gesicht.
Zögernd setzte sie einen Fuß ins Freie.
Ihre Schuhe versanken im Sand. Vorsichtig näherte sie sich dem Strandkorb, in dem der Fremde saß. Wie gebannt starrte sie auf den metallenen Gegenstand, der unter seiner Hand im Sand lag. Plötzlich wusste sie, dass der Mann nicht schlief. Die Hand wirkte wie aus Wachs, die Adern auf dem behaarten Handrücken wie die knorrigen Äste einer alten Eiche. Das alles registrierte sie binnen weniger Sekunden. Ihr Herzschlag beschleunigte sich. Sie rang nach Luft, spürte den dicken Kloß, der sich in ihrer Kehle bildete. Alles, schrie es tief in ihr, alles, nur das nicht.
Bitte nicht.
Sie wollte zurückweichen, doch ihre Gliedmaßen schienen ihr nicht mehr zu gehören. Sie war wie gelähmt, war gezwungen, die bizarre Szenerie zu betrachten. Bente spannte die Muskeln an, wollte sich abwenden und die Polizei rufen, flüchten, doch sie spürte nur, wie ihre Knie weich wurden und der Boden unter ihr nachzugeben schien. Aber das alles war Einbildung. Bis auf den Mann in ihrem Strandkorb.
Er war keine Einbildung.
Bente erkannte den tiefroten Blutfleck, der sich unter dem Mann ausbreitete und in den Sand gesickert war. Am liebsten hätte sie geschrien, aber kein Laut kam über ihre Lippen. Sie schluckte trocken, als sie den Strandkorb umrundete. Die Augen des Mannes waren weit aufgerissen. Es schien, als würde er sie anstarren. Vorwurfsvoll und gleichermaßen zu Tode verängstigt. Sein Mund stand einen Spaltbreit offen, anklagend. Sie sah den dunklen Fleck auf seiner rechten Schläfe, Bente erkannte die Einschusswunde. Hier kam jede Hilfe zu spät.
Die ersten Sonnenstrahlen des Tages spiegelten sich auf der Nordsee und brachen sich tausendfach auf den Wellen. Erst vor wenigen Minuten war die Sonne durch die Wolken gebrochen und tauchte den Himmel über dem Husumer Badestrand Dockkoog in ein fast violettes Licht. Wiebke liebte diese Lichtkomposition, die es nur hier oben im äußersten Norden des Landes gab, und genoss die Weite und Freiheit. Unwillkürlich atmete sie tief durch und sog die frische Seeluft tief in ihre Lungen. Über ihrem Kopf kreischten einige Möwen auf der Suche nach Beute. Wiebkes Atem ging rasselnd – sie war seit langer Zeit nicht mehr gejoggt. Doch an diesem Morgen hatte sie sich endlich einmal aufgerafft, den Wecker gestellt, war in die Laufklamotten geschlüpft und hatte im Morgengrauen das Backsteinhaus in Ostenfeld verlassen, um zum Dockkoog zu fahren. Auf der Ostenfelder Straße hatte kaum Verkehr geherrscht, und so hatte sie die zwölf Kilometer bis Husum in einer rekordverdächtigen Zeit bewältigt.
Morgens um sieben Uhr lag der Strand noch verlassen da. Bei gutem Wetter würden sich die ersten Touristen in zwei, drei Stunden einfinden. Am Nordseehotel, einem tiefroten Backsteinbau aus den Siebzigern, hatte Wiebke den Deich überquert und genoss jetzt die atemberaubende Aussicht auf die Nordsee. Das hölzerne Gebäude der DLRG schälte sich im Hintergrund aus dem Morgendunst. Der benachbarte Imbiss mit der bunt gestrichenen Fassade lag noch verlassen da. Es herrschte Flut, und die Wellen schlugen bis an das befestigte Ufer. Auf den Deichen weideten Schafe. Die Tiere blickten sie teils gleichgültig, teils neugierig an, bevor sie sich wieder mit dem satten Grün beschäftigten.
Sie ärgerte sich über ihre schlechte Kondition und dachte daran, dass die letzten Wochen anstrengend genug gewesen waren.
Nach ihrer Entscheidung für eine Karriere bei der Kriminalpolizei hatte sie sich in Kiel zur Kommissarin ausbilden lassen. Es war schon fast ein Sechser im Lotto gewesen, dass rechtzeitig zum Ende ihrer Ausbildung eine Planstelle in der Polizeidirektion Husum frei geworden war. Im Vergleich zu anderen Dienststellen hatte Husum nicht mit dem Verbrechen im großen Stil zu kämpfen – in Nordfriesland ging es relativ friedlich zu, und die Gegend um Husum herum hatte wohl die niedrigste Kriminalitätsrate Deutschlands. Der Hauptgrund ihrer Bewerbung war, dass sie in der Nähe ihres Wohnortes arbeiten konnte. Seit drei Wochen war Wiebke Ulbricht also Kriminalkommissarin bei der Kripo Husum.
Im Berufsleben war alles gut verlaufen, doch ihr Privatleben hatte unter dem Job gelitten: Ihr Freund Tiedje studierte in Kiel. Er hatte dort eine andere Frau kennengelernt und sich nach zwei gemeinsamen Jahren von Wiebke getrennt. Er war noch nie ein Mann großer Worte gewesen. »Du arbeitest zu viel«, hatte er lapidar gesagt. »Für uns ist keine Zeit mehr vorhanden, und die Stelle bei der Polizei nimmt dich total in Beschlag.« Noch am gleichen, Tage hatte er seine Koffer gepackt und war nach Kiel gefahren, zu Vera, seiner neuen Freundin.
Seit er aus ihrem Leben verschwunden war, fühlte Wiebke sich einsam. Obwohl sie erst Ende zwanzig war, hatte sie plötzlich Angst, irgendwann alleine zu sterben. Natürlich gab es einige Verehrer, immerhin war sie nicht hässlich, doch sie hatte Angst vor einer neuen Enttäuschung und vermied es tunlichst, sich in einen Mann zu verlieben.
Auf Höhe des DLRG-Gebäudes spürte sie ein sanftes Vibrieren. Wiebke verlangsamte ihre Schritte. Jetzt hörte sie das Klingeln des Telefons. Sie zwang sich, ruhig durchzuatmen und verfluchte einmal mehr ihre miese Kondition. Eilig zog sie das Handy hervor. Das Display zeigte eine Mobilnummer. »Wiebke Ulbricht?!«, meldete sie sich und blickte zur See hinaus.
»Petersen hier, moin.« Er klang wie immer gut gelaunt. Jan Petersen war Kommissar der Husumer Kripo. Im Dienst bildeten die beiden ein Team. Petersen war einige Jahre älter als Wiebke und schob schon länger Dienst in der Polizeiinspektion an der Poggenburgstraße. Mit seiner langjährigen Berufserfahrung konnte ihn so schnell nichts erschüttern, und so hatte der Kommissar immer einen flotten Spruch auf den Lippen. »Ich hoff doch, ich stör nicht?«
»Also, ich bin gerade ...«, setzte Wiebke an, wurde aber von Petersen unterbrochen.
»Ist schon gut, ich mach's kurz: Carstensen hat mich eben angerufen und Verstärkung angefordert.«
Arne Carstensen war der Inselpolizist von Nordstrand, der einzige Polizist auf der Halbinsel und gleichermaßen der Vorsteher der kleinen Wache. Wiebke wollte nicht mit ihm tauschen, denn auch wenn sie ihre Heimat über alles liebte – die einzige Polizistin auf Nordstrand zu sein, war nicht ihr Karriere-Ziel. Aber sie war jung und frisch im Beruf, Carstensen hingegen freute sich bereits auf seinen wohlverdienten Ruhestand und schob auf Nordstrand eine relativ ruhige Kugel. Meist arbeitete er an Kavaliersdelikten. Wiebke hatte ihn bereits ein paarmal getroffen. Sie mochte ihn und seine ruhige, besonnene Art. Doch Wiebke hörte an Petersens Stimme, dass etwas geschehen sein musste, das Arne Carstensens Fähigkeiten überforderte.
»Es hat einen Toten gegeben, in Elisabeth-Sophien-Koog auf Nordstrand. Da gibt es das Möwennest.«
»Kenn ich.« Sie nickte, was Petersen am anderen Ende der Leitung natürlich nicht sehen konnte. Früher war sie oft auf Nordstrand zum Joggen gewesen. Das Möwennest lag am Rande des Holmer Siels und war Anlaufpunkt für unzählige Touristen, die sich nach einer Wattwanderung mit Blick auf das Naturschutzgebiet erholen wollten. »Ich bin in zwanzig Minuten bei dir.« Wiebke unterbrach die Verbindung und joggte zum Parkplatz zurück. So würde sie nie zu einer besseren Kondition zurückfinden. Vielleicht hatte Tiedje ja recht gehabt, und der Job nahm sie wirklich ganz und gar in Anspruch.
Den Tatort sah sie schon von Weitem. Drei Streifenwagen parkten kreuz und quer vor dem Möwennest, daneben zwei zivile Dienstfahrzeuge der Husumer Wache und ein Notarztwagen. Absperrband flatterte im Wind. Man hatte die Umgebung rund um das Möwennest weiträumig abgeriegelt. Als Wiebke auf dem Parkplatz ausstieg, wehte ihr ein kalter Ostwind ins Gesicht. Sie hatte sich nicht die Zeit genommen, sich umzuziehen, und war in ihren bequemen Laufsachen zum Holmer Siel gefahren. Entsprechend verwundert wurde sie von Petersen betrachtet. Er erwartete sie vor dem Eingang der Strandkneipe. An der Tür prangte ein großes, auf die Schnelle auf ein Stück Pappe gemaltes Schild mit der Aufschrift Heute geschlossen. In Anbetracht des Polizeiaufgebots und der Absperrleine eigentlich überflüssig, dachte Wiebke.
Carstensens alter Streifenwagen stand direkt vor dem Gebäude, beide Türen offen. Man hatte das Fahrzeug wohl schon vor Jahren in der Stadt ausgemustert. Aber Carstensen war zufrieden mit dem, was er auf Nordstrand hatte.
Er stand vor dem Eingang der Strandkneipe und telefonierte. Als er Wiebke kommen sah, nickte er ihr freundlich zu. Sie hob grüßend die Hand, und Carstensen deutete mit dem Daumen ins Bistro zu Petersen. Der ließ die Kollegen stehen und trat ebenfalls an die frische Luft.
»Hab ich dich vom Laufen abgehalten?«, fragte er mit einem schrägen Grinsen und zündete sich eine Zigarette an. Petersen war barfuß; die Hosenbeine seiner Jeans hatte er hochgekrempelt und sah aus wie ein Wattwanderer.
»Schon in Ordnung. Einen Toten haben wir nicht alle Tage.« Sie deutete in das Innere des gläsernen Bistros. »Wisst ihr schon mehr?«
»Männlich, zwischen vierzig und fünfundvierzig Jahre alt. Vermutlich Suizid. Er hat sich im Strandkorb mit einer Pistole erschossen. Schön sieht das nicht aus. Die Wirtin fand ihn vor knapp zwei Stunden, als sie den Laden aufschließen wollte. Sie hat die 110 angerufen und damit war Arne Carstensen von der Nordstrander Polizeistation am Start. Und Carstensen hat wiederum mich angerufen, und ich die Kollegen aus Flensburg.« Er grinste schief. »Und nun sind wir alle da.« Ein Zug an der Zigarette, dann fuhr er fort: »Der Staatsanwalt hat es vorgezogen, zu Hause zu bleiben. Er möchte nur über den Stand der Dinge auf dem Laufenden gehalten werden. Dierks war so freundlich, die Einsatzleitung an mich zu delegieren. Er war kurz hier, hat sich ein Bild vom Tatort gemacht und hatte es dann wieder ziemlich eilig, nach Hause zu kommen.« Wieder grinste Petersen schief. »Hat es wohl nicht so mit den Jungs aus Flensburg.«
»Toller Chef.« Wiebke schüttelte den Kopf.
»Wir packen das schon«, erwiderte Petersen zuversichtlich. Er deutete mit dem Kinn auf das Möwennest.
Glaswände umgaben den Freiluftbereich und bildeten einen Windschutz für die Gäste. Es war sicher nicht leicht, die mehr als zwei Meter hohen Scheiben ohne Hilfsmittel zu überwinden. Und Wiebke bezweifelte, dass sich jemand die Mühe machte, ein Hindernis zu überklettern, nur um sich dort in aller Ruhe das Leben zu nehmen. »Wie kam er auf das Gelände?«
Petersen blieb Wiebkes Skepsis nicht verborgen. »Es gibt eine kleine Tür seitlich vom Gebäude. Von dort aus gelangt man in den Außenbereich des Bistros. Die stand offen, man hatte wohl vergessen, sie abzuschließen.« Petersen paffte genüsslich. »Blöd für die Jungs vom Erkennungsdienst, denn die Spuren verlaufen sich im wahrsten Sinne im Sand.«
»Spuren?« Wiebkes Miene verfinsterte sich. »Ich denke, es war Selbstmord?«
»Schon, aber man ist ja für alles offen.« Wieder ein Zug an der Zigarette. Er betrachtete seine junge Kollegin. »Schon mal 'nen Toten gesehen?«
Kopfschütteln. »Irgendwann ist immer das erste Mal. Also los.« Wiebke stapfte auf das Bistro zu.
Petersen nahm einen letzten Zug, bevor er den Zigarettenstummel in den feuchten Sand schnippte. Im letzten Moment unterbrach er seinen Ansatz, die Kippe barfuß auszutreten. »Warum denn so eilig? Der hat doch jetzt alle Zeit der Welt, Mädchen.«
Arne Carstensen hatte sein Telefonat beendet und gesellte sich zu Wiebke und Petersen. »Das hatten wir schon zwanzig Jahre nicht mehr«, murmelte er, steckte die Hände in die Jackentaschen. »Mord, mein ich. Und dann ausgerechnet hier.«
Wiebke sparte sich eine Antwort. Sie betraten den Platz hinter der Kneipe durch die offen stehende Seitentür des Anbaus. An jedem Tisch stand ein Strandkorb. Obwohl Elisabeth-Sophien-Koog eigentlich kaum Sandstrand besaß, hatte man den Bereich hinter dem Möwennest mit Sand aufgefüllt. Ein kleines Windrad drehte sich surrend; bunte Fähnchen flatterten munter im Wind. Möwen kreischten über ihren Köpfen.
Die Kollegen der Spurensicherung waren bereits bei der Arbeit. Sie bedachten Petersen und Wiebke mit einem knappen Kopfnicken. Ein Mann in weißem Faseranzug brachte gerade ein Adhäsionsmittel am Strandkorb auf, mit dem Fingerabdrücke sichtbar gemacht werden konnten. Er trat beiseite, als Wiebke sich dem Toten näherte.
»Moin«, sagte er und tippte sich mit dem behandschuhten Zeigefinger an die rechte Schläfe. »Dann guckt ihn euch noch mal an, bevor der Bestatter kommt.« Der Kollege vom Erkennungsdienst war gut zwanzig Jahre älter als Wiebke, untersetzt und hatte Lachfältchen im sonnengebräunten Gesicht. Die dichten, schlohweißen Haare korrespondierten hervorragend mit dem Overall. Seine Augen zwinkerten den Kollegen durch die Gläser einer Nickelbrille zu. Piet Johannsen hatte es vermutlich nicht mit der ersten Leiche seiner Laufbahn zu tun. Entsprechend routiniert und gelassen ging er seiner Tätigkeit nach. Er gehörte zu den Kollegen aus Flensburg, hatte aber bereits des Öfteren mit der Polizeiinspektion in Husum zu tun gehabt, deshalb kannte man sich.
»Moin moin.« Wiebke umrundete den Strandkorb. Der Tote saß in zusammengesackter Haltung darin, sein rechter Arm hing aus dem Korb. Das Blut an seiner Schläfe war verkrustet.
Den Anblick eines Toten hatte sie sich schlimmer vorgestellt. Lange schon hatte sie sich davor gefürchtet, zum ersten Mal in ihrer Laufbahn vor einer Leiche zu stehen. Leblose Augen schienen sie anzustarren, der Mund stand offen. Ein kleines Loch in der rechten Schläfe markierte die Stelle, wo ihn die tödliche Kugel getroffen hatte. Unansehnlicher war die Austrittswunde seitlich am Hinterkopf. Wiebke wandte sich nun doch ab. »Weiß man schon, wie lange er ...«
»Da die Leichenstarre schon voll ausgebildet ist, gehen wir von mehr als acht Stunden aus«, erwiderte Johannsen. »Der Arzt hat den Totenschein ausgefüllt und sich sofort wieder vom Acker gemacht. Tod durch einen aufgesetzten Schuss an die Schläfe, eindeutig. Wir haben ein Prägemal von der Mündung gefunden. Freundlicherweise hat der Arzt den Suizid nicht als eindeutig geklärte Todesursache eingeschrieben.«
Wiebke stutzte. »Was hat das zu bedeuten?«
»Dass es möglicherweise gar kein Selbstmord war«, bemerkte Carstensen. »Also wird der Leichnam obduziert. Außerdem wissen wir nicht, wer es war, denn der Gute hat es vorgezogen, sich ohne Papiere das Leben zu nehmen.«
»Ein weiteres Indiz für Mord«, murmelte Wiebke. »Da will vielleicht jemand Spuren verwischen.«
Petersen betrachtete den Toten näher. »Um die vierzig«, schätzte er.
Wiebke trat neben ihn. Der Mann im Strandkorb hatte dunkles Haar. Sie fand ihn recht gut aussehend. Der Tote trug feste Lederschuhe, Jeans und einen dunkelblauen Strickpullover unter einem Mantel. Anscheinend keine auffällige Markenkleidung. Sie betrachtete die rechte Hand der Leiche, die seitlich aus dem Strandkorb nach unten hing. Sie lag noch über der Waffe, mit der er sich umgebracht hatte – wenn man davon ausging, dass es Selbstmord war. Einen Ring sah Wiebke nicht an seiner Hand, was aber nichts zu bedeuten haben musste. Sie kannte genug verheiratete Männer, die sich aus den verschiedensten Gründen standhaft gegen das Tragen eines Eherings wehrten. Seine Hände waren gepflegt und feingliedrig; dieser Mann hatte schon lange keine harte Arbeit mehr geleistet. Wiebke achtete bei einem Mann immer auch auf dessen Hände. Eine alte Macke, die sie wohl von ihrer Mutter geerbt hatte, die immer gesagt hatte, dass die Hände eines Mannes Geschichten erzählen konnten.
»Wenn die Flensburger jetzt am Start sind, haben wir damit doch nichts mehr zu tun.« Wiebke sehnte sich nach einer heißen Dusche.
»Lasst mich nicht hängen mit denen«, bettelte Carstensen.
»Mach dir mal keinen Kopp, Arne.« Petersen schüttelte den Kopf. »Lass die mal machen, ich weiß, dass die unterbesetzt sind. Außerdem kennen die sich hier nicht so gut aus wie wir. Wart's ab, wir sind fester mit dem Fall verbandelt, als uns recht ist. Und du bist unser wichtigster Mann auf Nordstrand.«
»Ich steh euch zur Verfügung.« Arne Carstensen schlug fast militärisch die Hacken zusammen.
»Gut zu wissen.« Petersen klopfte ihm grinsend auf die Schultern.
»Was ist mit der Frau, die ihn gefunden hat?«, fragte Wiebke. Sie hatte genug gesehen und wandte sich von dem Toten ab.
»Sitzt drinnen und raucht Kette.« Petersen zog die Mundwinkel nach unten. »Sie scheißt in ihrem eigenen Laden auf das Rauchverbot, wenn du so willst.«
»Steht sie unter Schock?«
»Höchstens unter einem leichten. Den Arzt, der nach ihr sehen wollte, hat sie zum Teufel gejagt, und auf einen Polizeiseelsorger verzichtet sie dankend. Bente Harmsen ist eine komische Frau, wenn du mich fragst.«
»Ich möchte Frau Harmsen aber selber fragen.«
»Dann mal los.« Petersen ging vor. Sie stapften durch den Sand zur Glasfront der Strandkneipe, während Carstensen den Kollegen der Spurensicherung half.
Petersen öffnete die gläserne Schiebetür und trat ein, dicht gefolgt von Wiebke. Drinnen herrschten Zwielicht und angenehme Wärme. An den Wänden hingen Fischernetze und Bilder der Region. Unter der Decke pendelten künstliche Möwen im Luftzug. An einer Wand entdeckte Wiebke eine Landkarte von Nordfriesland mit den Leuchttürmen vor der Küste, die mit winzigen Leuchtdioden ihr Signal auf der Karte aussendeten. Neben der Eingangstür ein Regal mit Prospekten und Souvenirs aus der Gegend. Die Blätter flatterten im Wind, bis Petersen die Tür geschlossen hatte und der Wind ausgesperrt war.
Petersen tauschte einen Blick mit Wiebke und räusperte sich. Die Besitzerin hockte zusammengesunken auf einem der Barhocker und stierte ins Nichts.
Jetzt heulte der Wind um die Ecken des Glaskastens. Feiner Sand knirschte unter ihren Sohlen. Wiebke wartete ab. Petersen räusperte sich noch einmal.
Die Frau am Tresen blickte auf. Sie betrachtete sichtlich verwundert die junge Kommissarin im Läufer-Outfit. Ein wenig unentschlossen ließ Wiebke dem Kollegen Petersen den Vortritt.
»Moin moin, Kripo Husum, wir hätten noch ein paar Fragen an Sie, Frau Harmsen.«
»Schon wieder? Ich habe den Kollegen aus Flensburg schon alles erzählt.«
Als die Kommissare näher traten, stieg ihnen der Duft von hochprozentigem Alkohol in die Nasen. Vor der Inhaberin des Bistros stand eine Tasse. Sie hatte sich auf den Schock einen heißen Grog zubereitet.
»Sind Sie von der Mordkommission?« Bente Harmsens Stimme war nichts als ein Hauch. Die Frau paffte den Rauch an die Decke ihres Lokals und zuckte die Schultern.
Petersen nickte. »Die Kollegen gehen so lange von einem Tötungsdelikt aus, bis feststeht, dass sich der Mann selbst umgebracht hat.«
»Hm. Also gut – von mir aus. Schießen Sie los.« Sie legte die Zigarette in den Aschenbecher und drehte die Tasse in beiden Händen, fast so, als würde sie trotz der milden Temperaturen frieren. Sie pustete auf den Grog und trank in kleinen Schlucken. »Darf ich Ihnen auch etwas anbieten?«
»Danke, nein«, lächelte Wiebke, und auch Petersen verneinte dankend. Wiebke betrachtete die Frau unauffällig von der Seite. Bente Harmsen war blass, schlank und Ende dreißig, Anfang vierzig. Die langen blonden Haare hatte sie zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Ihr Make-up war dezent. Eigentlich war sie hübsch, aber ihre Haut wirkte trocken und brüchig. Dunkle Ringe lagen unter ihren Augen, und Wiebke vermutete, dass die Frau wenig Schlaf fand. Möglicherweise steckte sie in Schwierigkeiten. Zu einer Jeans trug sie einen Strickpulli und feste Schuhe.
Bente Harmsen setzte die Tasse ab und griff zur Zigarette. Ein letztes Mal glühte die Spitze auf, dann drückte sie den Stummel im Aschenbecher aus. Wiebke blieb nicht verborgen, dass die Hand der Frau dabei zitterte.
»Schön haben Sie's«, sagte Petersen und blickte sich neugierig um.
»Hm.« Bente Harmsen nickte und schaute in Richtung der kleinen Küche. Über der Tür ein handgemaltes Schild mit der Aufschrift Kombüse.
»Sie sind nicht zufrieden?« Wiebke war der seltsame Ton in der Stimme aufgefallen.
»Was heißt es schon, zufrieden zu sein?« Die Frau winkte gelangweilt ab.
»Na, dass die Arbeit Spaß macht, der Laden brummt und unter den Touristen auf Nordstrand beliebt ist, zum Beispiel«, half Petersen.
»Kann nicht klagen.« Sie griff zum Grog und trank.
Wiebke bemerkte, dass Bente Harmsen das Thema unangenehm zu sein schien, und ließ sich schildern, wie sie den Mann im Strandkorb gefunden hatte. Dabei unterbrach sie die Frau nicht ein einziges Mal. Alles wirkte schlüssig.
»Sie haben keine Ahnung, wer der Mann ist?«, fragte sie.
Bente Harmsen blickte ins Leere. Ihre Finger zitterten, als sie sich eine weitere Zigarette anzündete und hastig daran zog. Sie führte die gläserne Tasse zum Mund und leerte den Grog in einem Zug. Dann blickte sie die Beamten an.
»Nein«, sagte sie heiser und verschluckte sich am Rauch ihrer Zigarette. Ein Hustenanfall unterbrach die Unterhaltung. Nachdem sie sich beruhigt hatte, lachte sie humorlos auf. »Woher auch? Haben Sie eine Ahnung, wie viele Gäste täglich herkommen? Da kann ich mir doch nicht jedes Gesicht merken.« Sie schüttelte den Kopf, wie um ihre Worte zu unterstreichen, und wiederholte: »Nein, da kann ich mir doch nicht jedes Gesicht merken.«
»Haben Sie irgendetwas Außergewöhnliches festgestellt, als Sie heute Morgen herkamen?«, mischte sich nun Petersen ein.
»Nein, gar nichts.« Die Antwort schnell, hastig. Ein Zug an der Zigarette, wieder Kopfschütteln. Ihre Hand zitterte. Die Nägel gepflegt, aber nicht lackiert.
»Einbruchsspuren?«
»Auch nicht.« Sie klopfte die Asche am Rand des Aschenbechers mit dem Logo einer Flensburger Brauerei ab. »Tut mir leid.«
»Wie lange haben Sie abends offen?«, fragte Wiebke.
»Das kommt darauf an. Bei schlechtem Wetter kommen kaum Leute hier raus, dann machen wir schon mal am späten Nachmittag zu.« Schulterzucken, den Blick ins Leere gerichtet.
»Und gestern?«, bohrte Petersen, den es offensichtlich nervte, dass er Bente Harmsen alles aus der Nase ziehen musste.
»Haben wir so gegen acht Uhr zugemacht, vielleicht auch später. Es waren noch ein paar Gäste hier, die bei uns gegessen haben.« Sie lächelte matt. »Die werd ich ja nicht gleich rausschmeißen, das Geld geht doch mit!«
»Na klar«, nickte Petersen. Er deutete mit dem Kinn in Richtung Küche. »Wenn Sie bedient haben, wer war dann in der Küche – Ihr Mann?«
Bente Harmsen lachte freudlos, als hätte jemand einen schlechten Witz erzählt. »Nein, der doch nicht.«
Wiebke warf dem Kollegen einen vielsagenden Blick zu. Die Verachtung war ihr nicht verborgen geblieben. Etwas Bitteres, Abfälliges hatte in Bente Harmsens Stimme gelegen.
»Ubbo tut nur, was er muss. Er war auf dem Hof gestern Abend.«
»Wer stand also in der Küche?«, fragte Petersen.
»Die Ellen.« Kurze Pause, dann: »Ellen Budde. Sie arbeitet auf Vierhundert-Euro-Basis bei mir und hilft in der Küche aus.«
»Dann haben Sie bestimmt die Anschrift von Frau Budde für uns?« Wiebke atmete tief durch. Es war unwahrscheinlich, dass die Angestellte etwas Entscheidendes liefern konnte. Sie kam im Arbeitsalltag vermutlich nur selten aus der Küche heraus und bekam vom Geschehen in der Gaststube nicht viel mit. Trotzdem mussten sie jedem Hinweis nachgehen. »Wer war gestern Abend noch hier, als Sie den Laden geschlossen haben?«
»Nur die Ellen. Sie hat auch abgeschlossen. Mir war gestern nicht gut, deshalb bin ich etwas früher nach Hause gefahren. Ellen hat noch die Küche klargemacht.«
»Sie hat also einen Schlüssel?« Wiebke richtete sich auf.
»Ja, ich vertraue ihr.«
»Wer hat noch einen Schlüssel?«
»Die Putzfrau. Sie kommt dreimal die Woche und macht Klarschiff.«
»Gestern aber nicht?«, hakte Wiebke nach.
»Sie kam erst später.«
»Sicherlich haben Sie auch von Frau ...«
»Wegener«, half Bente Harmsen Wiebke nach. »Beate Wegener.«
»Von Frau Wegener die Adresse?«
Bente Harmsen nickte und rutschte vom Barhocker herunter. Nervös pustete sie den Zigarettenqualm an die Decke. Sie trat auf die Pendeltür zu. »Ich hole schnell Stift und Papier und schreibe es Ihnen auf.«
Die Zigarette ließ sie im Aschenbecher zurück, bevor sie kurz in der Küche verschwand, um mit einem Stift zum Tresen zurückzukehren. »Block hab ich wohl nicht«, murmelte sie und zog einen der Bierdeckel heraus, die in einem der Halter mit dem Brauerei-Logo auf der Theke standen. Bente Harmsen erklomm den Barhocker, griff zur Zigarette und zog daran. Dann schrieb sie die Namen und Anschriften ihrer beiden Angestellten auf die Rückseite des runden Bierdeckels, den sie Petersen reichte.
Er warf einen flüchtigen Blick darauf, bevor er ihn in der Jackentasche verschwinden ließ. »Danke«, murmelte Petersen und gab Wiebke ein Zeichen. »Dann lassen wir Sie jetzt in Ruhe, Frau Harmsen.«
Wiebke hätte der Frau gern ihre Karte gegeben, doch die dienstlichen Visitenkarten mit dem Logo der Schleswig-Holsteinischen Polizei hatte sie in ihren privaten Laufklamotten nicht. »Dürfen wir wiederkommen, wenn wir noch Fragen haben?«
Bente Harmsen lachte sarkastisch. »Tun Sie das nicht sowieso?«
Petersen und Wiebke sparten sich eine Antwort. Jan Petersen reichte ihr seine Karte. Bente Harmsen ließ sie in der Hosentasche verschwinden, ohne einen Blick darauf zu werfen. Petersen und Wiebke wandten sich zum Gehen.
»Können Sie mir eine Frage beantworten?« Bente Harmsens Stimme klang brüchig. Als sich die Polizisten an der Tür zu ihr umblickten, lächelte die Besitzerin des kleinen Bistros hilflos. »Warum musste er sich ausgerechnet hier bei mir umbringen?«
»Das werden wir herausfinden«, versprach Petersen, dann waren sie an der frischen Luft.
»Und?«, fragte Wiebke. Sie marschierten zum Parkplatz. Am Himmel über Nordstrand hatten sich graue Wolken aufgetürmt, und der Wind fegte scharf ins Landesinnere. Sicherlich würde es bald Regen geben. Die Männer von der Spurensicherung würden sich beeilen müssen. Wiebke fröstelte. Sie zog den Reißverschluss ihrer dünnen Laufjacke zu. Von Arne Carstensen war nichts zu sehen. Wahrscheinlich nahmen ihn die Flensburger Kollegen in Beschlag.
Petersen war stehen geblieben. »Was – und?«
»Na, was hältst du von ihr?«
»Sie lügt.«
»Was meinst du?«
»Sie hat gelogen, als sie sagte, dass sie den Toten nicht kannte, ich hab's sofort an ihrer Reaktion auf unsere Frage bemerkt, Wiebke.«
»Du meinst, wir sollten in ihrem Umfeld ermitteln?«
»Auf jeden Fall.« Petersen nickte und folgte ihr zum Parkplatz. »Das werden uns die Jungs aus Flensburg wohl nicht abnehmen.«
Wiebke wollte sich endlich umziehen. Von dem verlockenden Gedanken an einen freien Sonntag hatte sie sich bereits verabschiedet. Aber das gehörte zum Beruf.
»Außerdem scheint Bente Harmsen Probleme zu haben, da gebe ich dir recht. Auch, wenn sie es nicht zugeben wollte.«
»Irgendwie tut sie mir leid. Allein die Tatsache, dass sie eine Leiche im Strandkorb ihrer Kneipe findet, ist ein Problem für sie. Wenn sich das herumspricht, dann ...«
»... dann werden die Touristen in Scharen über den Laden herfallen«, erwiderte Petersen. »Das Volk ist sensationslustig. Lass mal, die Sache mit dem Toten im Strandkorb kann sich zum Selbstläufer entwickeln. Insofern ist Bente Harmsens Umsatz in den nächsten Tagen gesichert, mach dir da mal keinen Kopp, Mädchen.«
»Und sonst?«
»Ja, sie hat Probleme, vielleicht finanzieller Art, vielleicht hat sie private Sorgen, das sollten wir herausfinden, da sie es uns ja nicht auf die Nase gebunden hat.«
»Ihre Ehe scheint schlecht zu laufen, hast du gehört, wie abfällig sie sich über ihren Mann geäußert hat?«
»Das konnte ein Blinder mit Krückstock hören«, grinste Petersen. »Wir werden ihn auch befragen. Wenn seine Frau gestern nicht hier gearbeitet hat, dann sollte sie ein Alibi für die Tatzeit haben. Vielleicht kann er es ihr geben.«
»Und wenn nicht?« Wiebke war stehen geblieben.
»Wenn nicht, dann haben wir unseren ersten Verdächtigen.«
»Ist das nicht etwas wenig für einen Mordverdacht?«
Petersen winkte ab. »Auch das werden wir herausfinden.«
»Das bedeutet Feldarbeit«, seufzte Wiebke. Sie fröstelte und dachte wieder sehnsuchtsvoll an eine heiße Dusche. Die Feldarbeit hatte sie schon während ihrer Zeit im Streifendienst gehasst. Aber manchmal war es nötig, Nachbarn, Freunde und Verwandte von Zeugen und Tatverdächtigen zu befragen. Allein wären sie sicherlich mehrere Tage damit beschäftigt.
»Ich werde Unterstützung anfordern«, erwiderte Petersen. »Das schaffen wir zwei Hübschen nicht allein, fürchte ich.« Er grinste schief. »Jedenfalls nicht, wenn wir noch vor Weihnachten fertig werden wollen.«
»Wartet mal!«
Wiebke und Petersen blieben stehen und wandten sich um. Ein schnaufender Piet Johannsen näherte sich mit rudernden Armen.
»Ich habe etwas für euch!«