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Im jüngst erschienenen zweiten Band "Jesus von Nazareth" beschäftigt sich Benedikt XVI. intensiv mit dem Tod und der Auferstehung Jesu. Das bedeutende Buch des Papstes diskutieren in diesem Band katholische und evangelische Theologen verschiedener Fachrichtungen. In kritischer Auseinandersetzung mit den Positionen des Papstes führen Sie die Diskussion um das Buch fort. Dabei leisten Sie eine wichtige Reflexion der zentralen Grundlagen des christlichen Glaubens.
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Seitenzahl: 342
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Tod und Auferstehung Jesu
Theologische Antworten auf das Buch des Papstes
Herausgegeben von Thomas Söding
© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2011Alle Rechte vorbehaltenwww.herder.deUmschlaggestaltung: Finken&Bumiller, Stuttgart
Konvertierung Koch, Neff & Volckmar GmbH,
KN digital - die digitale Verlagsauslieferung, Stuttgart
ISBN (Buch) 978-3-451-30511-5ISBN (E-Book) 978-3-451-33890-8
Einleitung des Herausgebers
Anmerkungen
1. Exegetische Dialoge
Die Wahrheit ist eine Person.
Thomas Hieke
Anmerkungen
Der Prozess Jesu aus der Sicht des Papstes
Oda Wischmeyer
Anmerkungen
Die Passion des „realen Jesus“.
Tobias Nicklas
Anmerkungen
Brückenbau über dem Abgrund.
Thomas Söding
Anmerkungen
Passion und Auferstehung Jesu in Israel.
Martin Karrer
Anmerkungen
Ein radikaler Mutationssprung?
Samuel Vollenweider
Anmerkungen
2. Systematische Dialoge
Lutherische Anfragen an Joseph Ratzingers Darstellung der Passion Jesu
Joachim Ringleben
Anmerkungen
Gethsemani – das Drama des menschlichen Willens Jesu
Jan-Heiner Tück
Anmerkungen
Das Kreuz Jesu als Gottesdienst vollkommenen Gehorsams?
Uwe Swarat
Anmerkungen
„Wahrhaftig“ auferstanden?
Notger Slenczka
Anmerkungen
„…, dass sie alle eins seien“ (Joh 17,21).
Dorothea Sattler
Anmerkungen
3. Praktische Dialoge
„Für unsere Sünden gestorben“?
Friedhelm Kraft
Anmerkungen
Auferstehungs-(Nicht-)Glaube von Jugendlichen und christliche Auferstehungsbotschaft?
Mirjam Schambeck
Anmerkungen
Die Autorinnen und Autoren
Der Papst im Dialog über Jesu Tod und Auferstehung
Thomas Söding
Joseph Ratzinger/ Papst Benedikt XVI. hat sein Jesusbuch, den ersten wie den zweiten Teil, im Dialog mit der Theologie geschrieben, der patristischen wie der aktuellen, der evangelischen wie der katholischen, der Exegese wie der Fundamentaltheologie und Dogmatik: immer im Blick auf die aktuelle Bedeutung und die praktische Dimension des Christusglaubens, immer im Blick auf die Gottesfrage, die Jesus so beantwortet, dass sie zur Glaubensfrage an die Menschen wird.
Dieser dialogische Ansatz ist eine Einladung an die Theologie, die nicht ausgeschlagen werden sollte. Es ist eine große Chance, das Gespräch mit diesem Autor und diesem Buch über dieses Thema zu suchen: Tod und Auferstehung Jesu, das „Geheimnis des Glaubens“. Die Theologie ist aufgefordert, die Schriftauslegung und die Theologie des Papstes einzuordnen, die Möglichkeiten anderer Sichtweisen zur Diskussion zu stellen und Kritik zu üben, aber auch Impulse aufzunehmen; sie ist herausgefordert, die historischen Probleme zu diskutieren, die berührt werden, wenn der Prozess und das Versagen der Jünger, der Kreuzweg und das Sterben, die Erscheinungen und die Sendung Jesu behandelt werden; sie ist als Instanz der Kritik gefragt, die das Buch des Papstes differenziert beurteilt; sie sollte sich aber auch Rechenschaft darüber ablegen, wie ihr bisheriges Vorgehen vom Autor, von seinem Konzept und seiner Leitthese, so kritisiert wird, dass ein wissenschaftlicher Fortschritt und eine geistliche Vertiefung möglich werden.
|8|Speziell die Theologinnen und Theologen in Deutschland dürfen im Papst immer auch noch ihren Kollegen sehen, der gerne am Schreibtisch sitzt und wissenschaftlich arbeitet, um sein großes Projekt voranzutreiben: die Gestalt und Botschaft, das Geschick und das Geheimnis Jesu darzustellen.
Dass er nicht nur an den Fachdiskursen interessiert ist, sondern an der geistlichen Dimension der Theologie, versteht sich; die Theologie muss Rechenschaft ablegen, ob sie dieses Interesse als unwissenschaftlich abtun will oder einen eigenen Zugang zur Spiritualität zu öffnen und den des Papstes zu würdigen vermag.
Dass Benedikt mit theologischem Anspruch schreibt, ist unübersehbar; die Theologie darf sich herausfordern lassen, das Gewicht, die Stärken, aber auch die Grenzen seines hermeneutisch profilierten Versuches zu ermessen, die Leidens- und Auferstehungsgeschichte Jesu als Gottesgeschichte zu lesen.
Dass der Papst es mit schwierigsten historischen Fragen zu tun hat, gehört zur Aufgabe, die er sich gestellt hat; die Theologie ist aufgefordert, ihre Urteile in die Debatte einzubringen und dadurch eine kritische Einschätzung zu ermöglichen.
Im Zentrum des Gespräches stehen nicht Detailfragen der historischen Rekonstruktion, der philologischen Analyse und der exegetischen Interpretation; die werden strittig bleiben. Im Zentrum stehen vielmehr die großen Fragen des Glaubens, die mit der Suche nach der historischen Wahrheit und der theologischen Bedeutung Jesu verbunden sind:
Wer war schuld am Tode Jesu? Wer hat politische und moralische Verantwortung für die Kreuzigung eines Unschuldigen zu übernehmen? Welche theologischen Konsequenzen haben die Antworten auf diese Fragen?
Wie ist Jesus in diesen Tod hineingegangen? Wie hat er ihn durchlitten? Welche Bedeutung hat er ihm gegeben? |9|Welchen Sinn haben seine Jünger in ihm zu erblicken vermocht?
Welche Rolle spielt Gott, der Vater, in der Passionsgeschichte Jesu? Wie hat Jesus ihn gesehen? Wie kann von Ostern her das Verhältnis Gottes zum Leiden des Sohnes und zum Leid aller Menschen gesehen werden?
Wie ist der Glaube an die Auferstehung Jesu entstanden? Welchen Realitätsbezug hat er? Welche Beziehung erkennt er zum Leben und zum Sterben Jesu?
Viele andere Fragen sind mit diesen christologischen eng verbunden, so dass sie nicht unabhängig diskutiert werden können: das Verhältnis zwischen Jesus und dem Judentum, die Beziehungen zwischen der Kirche und Israel, die Kontingenz des Geschehens und die Provenienz Gottes, die Einzigkeit Jesu und die Universalität seiner Heilsbedeutung.
Mit der Antwort auf diese Fragen gewinnt das zweite Jesusbuch des Papstes Format. Joseph Ratzinger beantwortet die Fragen nicht, indem er die theologischen Theorien betrachtet, die im Laufe der Theologiegeschichte ersonnen worden sind, sondern indem er die Texte der Passions- und Ostergeschichten im Neuen Testament auslegt, die vom Geschehen künden und es dadurch deuten. Benedikt XVI. bringt diese Erzählungen ins Gespräch mit den frühesten Zeugnissen des Glaubens und mit großen Stimmen aus der theologischen Tradition, aber auch mit politischen, philosophischen und naturwissenschaftlichen Diskussionen; es geht ihm darum, in diesem wissenschaftlichen Gespräch die Gestalt und das Geschick, die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft Jesu genauer zu erkennen und mit dem Verkündigungsauftrag der Kirche zu vermitteln.
Damit das Gespräch weitergeht, kommen in diesem Band deutschsprachige Stimmen der Theologie zu Wort, aus verschiedenen Konfessionen und aus verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen, in einem breiten, aber repräsentativen |10|Spektrum an Methoden und Schulen. Sie alle haben unterschiedliche Zugänge zum Buch des Papstes; sie alle haben ihr eigenes Bild von Jesus; sie alle haben den Band mit ihren eigenen Augen gelesen; sie alle haben charakteristische Eindrücke und Rückfragen; sie alle wollen einer interessierten Öffentlichkeit helfen, besser einschätzen zu können, was der Papst geschrieben – und was er nicht geschrieben – hat und wie er von theologischen Profis gelesen und gesehen, beurteilt und bewertet wird.
Wie immer die Kritik im Einzelnen ausfällt: Die Debatte lohnt. Denn die Passionsgeschichte ist die ganz große Erzählung der Menschheit, in der mit äußerstem Mut, größter Ehrlichkeit und festestem Glauben erzählt wird, was passiert, wenn sich Gott so rückhaltlos in die Geschichte der Menschen hineinziehen lässt, wie Jesus das verkündet; und das Osterevangelium gibt das große Hoffnungssignal für alle, dass der Tod nicht das letzte Wort hat, sondern besiegt wird, damit ewiges Leben werden kann.
Der erste Band, der Verkündigung Jesu während seines öffentlichen Wirkens gewidmet, hat nicht nur die Dogmatik, sondern auch die Exegese an die Christologie des Lebens Jesu erinnert. Diese Christologie ist ein Postulat der Moderne. Sie kann die traditionelle Fixierung westlicher Theologie auf das Kreuz aufbrechen; sie kann den Ansatz beim Osterkerygma, den Rudolf Bultmann für allein theologisch tragfähig hielt1, mit der Erinnerung an die Botschaft Jesu von der Gottesherrschaft und seiner Verheißung ewigen Lebens verbinden, die durch seine Auferstehung ja nicht überholt, sondern aktualisiert wird. Sie geht in den exegetischen Konkretionen und geschichtlichen Anschauungen weit über das hinaus, was üblicherweise in den Christologien von Dogmatikern mit dem Wirken Jesu selbst verbunden wird. Sie hat einen starken Impuls gegeben, die Grundsatzfragen der Schriftauslegung zu diskutieren, die im Spannungsfeld |11|zwischen einer Hermeneutik der Kritik und einer Hermeneutik des Glaubens Profil gewinnt.
Der zweite Band ist den zentralen, aber höchst problematischen Ereignissen und Überlieferungen aus Jerusalem gewidmet. Hier ist der Ernstfall der Theologie gegeben. Hier stehen die heißen Eisen der Sühne und der Stellvertretung, des Opfers und der Erlösung zur Debatte. Hier geht es um die noch viel schwierigeren Fragen, weshalb Jesus gelitten hat, weshalb er sterben „musste“, wenn er doch Gottes Sohn ist, und wie Jesus auferweckt werden konnte, wenn er doch tot und begraben war. An der Antwort auf diese Fragen hängen die Glaubwürdigkeit der Christologie, die Wahrheit des Geschicks Jesu und die Identität seiner Person, am Ende auch die Gültigkeit seiner Verheißung und die Wirklichkeit seines Heilsdienstes.
Die Antworten, die in diesem Band als Antwort auf die Antworten des Papstes gesammelt sind, bilden ein breites Spektrum an Disziplinen und Überzeugungen ab. Die Exegese kommt zu Wort, die Dogmatik und Fundamentaltheologie, aber auch die Religionspädagogik.
Alle theologischen Disziplinen müssen, wenn irgendwo, dann bei der Deutung, der Rekonstruktion und Aktualisierung der Jesusgeschichte an der Zusammenarbeit interessiert sein. Der Papst schreibt unverkennbar als Dogmatiker, der aber aus theologischen Gründen Schriftauslegung treibt. Er liefert eine textnahe Exegese, die aber aus philologischen und historischen Gründen zur Theologie wird. Damit stellt er die Systematische Theologie wie die Bibelwissenschaft vor die Aufgabe einer komplementären Methodenreflexion. Er selbst ist dem Postulat des Zweiten Vatikanischen Konzils verpflichtet, die „Schriftauslegung“ sei „gleichsam die Seele der gesamten Theologie“ (Dei Verbum 24); in seinem säkularen Kommentar hat er darin für „die Systemgestalt der katholischen Theologie eine geradezu revolutionierende Bedeutung“2|12|gesehen. Diese Revolution hat er mit den beiden Jesusbüchern selbst ausgeführt und damit ein unübersehbares Zeichen der Ökumene gesetzt, das der Modernität seiner Theologie das denkbar beste Zeugnis ausstellt. Er stellt damit die Exegese, wenigstens die katholische, vor die Frage, wie sie sich als Theologie ausarbeiten will – was geschehen muss, wenn sie ihr Leben nicht im Vorhof der Heiden fristen will; er stellt gleichermaßen die Dogmatik vor die Frage, wie sie schriftgemäß sein will – was geschehen muss, wenn sie sich vor dem Idealismusverdacht schützen will.
In seiner dezidiert theologischen Exegese und exegetischen Theologie prägt Joseph Ratzinger einen charakteristischen Stil, der seinesgleichen sucht. Während die historisch-kritische Exegese, um die Glaubwürdigkeit des Evangeliums zu klären, traditionell mit einem gesicherten Minimalbestand geschichtlicher Fakten auszukommen trachtet, der über jeden vernünftigen Zweifel erhaben sein soll, geht Benedikt XVI. in die Vollen und riskiert die These, dass im Wesentlichen gerade die ausgesprochen theologische Darstellung Jesu in den Evangelien die historisch Wahrscheinlichste ist. Und während ein Dogmatiker wie Otto Hermann Pesch die moderne Kritik mit voller Wucht auf das Denkgebäude katholischer Dogmatik einprallen lässt, um zu beschreiben, was stehen bleibt, und zu verabschieden, was umgestoßen wird3, wählt Joseph Ratzinger den Weg, in einer postkritischen Methode das Jesusbild so vor Augen zu stellen, wie die Evangelien es widerspiegeln – um dann zu fragen, ob die Ausstrahlung Jesu nicht so faszinierend sein kann, dass die Suche nach Gott und nach dem Glück des Lebens ein Ziel findet.
Damit fordert er auch die Praktische Theologie. Denn seine Kritik der historischen Kritik verdankt sich gerade dem Impetus, Jesus nicht nur einen Mann mit Vergangenheit sein zu lassen, dessen Wohl und Wehe aus sicherer Distanz |13|zu beobachten wäre, sondern ihn in die Nähe einer ersehnten und erprobten Freundschaft zu holen, in die Mitte einer gläubigen Gemeinschaft und einer unerlösten Welt, in die Gegenwart des Wortes Gottes, das alle Zukunft vor sich hat. Können dadurch junge Menschen angesprochen werden? Überfordert der Papst, was am theologischen Ort des Religionsunterrichts geleistet werden kann? Erschließt er neue Möglichkeiten? Bis in die Gegenwart hinein hat die Religionspädagogik in der Sache Jesu meist mit mehr oder weniger radikalen Formen historischer Kritik paktiert, um Kindern und Jugendlichen Freiräume des Denkens in der Unterscheidung von der Tradition zu eröffnen. Begründet die kanonische Exegese des Papstes ein neues Paradigma? Die Debatte steht ganz am Anfang.
Ob in der Exegese, in der Systematik und der Religionspädagogik: Jesus ist ein ökumenisches Thema. Der Papst weiß um die konfessionellen Prägungen der Theologie, aber er macht in seinem dialogischen Ansatz keinen Unterschied, ob ein Kirchenvater aus dem Westen oder aus dem Osten stammt und ob ein Exeget evangelisch oder katholisch ist. Im Spiegelbild zeigen auch die Antworten: Niemand leugnet die persönliche Kirchenzugehörigkeit; aber die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Disziplin scheint wichtiger als die zur evangelischen oder katholischen Konfession. Respekt und Differenzierung, Zustimmung und Ablehnung, Weiterführung und Rückfrage verteilen sich nicht nach dem Taufschein, sondern nach den spezifischen Methoden und Interessen der Exegese, der Dogmatik oder Religionspädagogik. Am deutlichsten werden die konfessionsspezifischen Differenzen noch in den Dialogen systematischer Theologie. Aber auch hier zeigt sich, dass die gemeinsame Debatte über das Leiden, den Tod und die Auferstehung die gemeinsame Orientierung an Jesus fördert, das Niveau der ökumenischen Debatte anhebt und die Intensität der Begegnung mit Jesus vertieft.
|14|Das Antwortbuch will dazu beitragen, dass die Theologie die Chance nutzt, die ihr das zweite Jesusbuch bietet: den Gottessohn auf dem Kreuzweg und im Grab von Golgotha vor Augen zu führen, aber auch den Propheten von Nazareth aus dem Grab erstanden und zur Rechten Gottes erhöht zu sehen, von wo aus er den Seinen erschienen ist und am Ende dieser Zeit wieder erscheinen wird, um sein Werk zu vollenden.
Theologie des Neuen Testaments (1958), hg. v. Otto Merk (UTB 630), Tübingen 91984.
Kommentar zu Dei Verbum: LThK.E 13 (1967) 498–528.571, hier: –581: 577.
Katholische Dogmatik aus ökumenischer Erfahrung I–II, Ostfildern 2009.
Marginalien eines Alttestamentlers zum zweiten Teil des Jesus-Buches von Papst Benedikt XVI.
Thomas Hieke
1.Gattung und Diktion
Eine der beherrschenden Gattungen der Bibel ist die Erzählung, und insofern ist die Nacherzählung eine geeignete Weise, Theologie zu treiben1. Das hat Papst Benedikt erkannt, und deshalb ist das Buch in erster Linie eine Nacherzählung der im Neuen Testament geschilderten Ereignisse „vom Einzug in Jerusalem bis zur Auferstehung“. Da diese Ereignisse in der Bibel in vier Erzählsträngen (vier Evangelien) wiedergegeben werden, ist Papst Benedikts Buch auch eine Evangelienharmonie, eine Zusammenschau der Texte und der Versuch, die vier Stränge zu einer Linie zu bündeln. Da die Passions- und Ostererzählungen in den wesentlichen Punkten konvergieren, gibt es da wenig Kontroverses. Ein heikler Punkt ist das Sterbewort Jesu, denn schließlich kann Jesus nur ein Wort als Allerletztes vor seinem Tod gesagt haben. Papst Benedikt bespricht das Zitat von Ps 22,2 bei Matthäus und Markus, den „Verlassenheitsruf Jesu“ (Jesus II 237–239), die Worte im Johannesevangelium (Jesus II 241–246) und das Zitat von Ps 31,6 bei Lukas (Jesus II 246). Aber er legt sich nicht fest, welches nun das „Letzte Wort“ war. Daran tut er gut, nur hätte man sich hier vielleicht eine kleine Verstehenshilfe gewünscht. Ich will einen ergänzenden Versuch wagen: Ist es nicht faszinierend, dass wir verschiedene Zeugnisse über das Sterbewort Jesu haben, wenn |18|man sich überlegt, wie unterschiedlich Menschen dem Tod begegnen? Die einen in Verzweiflung und Verlassenheit, die anderen im Bewusstsein, etwas vollbracht zu haben, die anderen voller Vertrauen auf den himmlischen Vater, der sie aufnimmt. Allen ist Jesus mit seinem Sterbemoment nahe.
Kommen wir zurück zu Gattung und Diktion – und damit zu zwei anmutigen Formulierungen, die den Leser beim mehrfachen Wiederbegegnen schmunzeln lassen: Wenn sich der Verfasser weit in theologische Gedankengänge hineinbegeben hat und sich damit von der Erzähllinie entfernt hat, lenkt er mit einem „Kommen wir zurück zu…“ auf das Eigentliche zurück. Und wenn er verschiedene Deutungsversuche von komplexen Problemen berichtet hat, kehrt mehrfach der Satz wieder „Was sollen wir zu alldem sagen?“ Man fühlt sich gleichsam an den Schreibtisch des Papstes versetzt und sieht sein zugleich fasziniertes und fragendes Gesicht. Doch dann bleibt er die Antwort nicht schuldig.
Und die hat viel Substanz. Nur manchmal verfällt er in einen gewissen Jargon, der lediglich ausdrückt, dass man nichts sagen kann. Ein Beispiel (Jesus II 308): „Gott ist nicht in einem Raum neben anderen Räumen. Gott ist Gott – er ist Voraussetzung und Grund aller Räumlichkeit, die es gibt, aber nicht selbst einer davon. Gott steht zu allen Räumen als der Herr und der Schöpfer. Seine Gegenwart ist nicht räumlich, sondern eben göttlich.“2 Ansonsten ist die Redeweise eher midraschartig3 mit stark katechetischem Einschlag. Papst Benedikt erzählt begeistert von seiner Jesusvorstellung und lädt ein, an seiner Faszination teilzuhaben. Von welchem hermeneutischen Standpunkt aus tut er dies?
2.Hermeneutik und historische Frage
Über den hermeneutischen Standpunkt von Papst Benedikt ist im Blick auf den ersten Teil des Jesus-Buches viel geschrieben |19|worden. Daher sei nur auf einige Details des zweiten Teils näher eingegangen. Auf Seite 31 finde ich: „Diese späte Prophetie [gemeint ist das vierte Gottesknechtslied Jes 52,13–53,12] ist der Deuteschlüssel, mit dem Jesus das Alte Testament öffnet; von ihr her wird er dann nach Ostern selbst der Schlüssel, um Gesetz und Propheten neu zu lesen“. Ähnlich heißt es auf Seite 84: „Das ist die klassische Art, wie Jesus spricht: Mit Worten aus der Schrift deutet er auf sein Geschick hin und ordnet es so zugleich in die Logik Gottes, in die Logik der Heilsgeschichte ein.“ Und auf Seite 227: „Nicht die Schriftworte haben die Erzählung von Fakten hervorgerufen, sondern die zunächst unverständlichen Fakten haben zu einem neuen Verstehen der Schrift geführt.“ Ja und Nein, habe ich am Rand notiert: Natürlich sind nicht alle Ereignisse in der Geschichte Jesu aus der „Bibel Israels“ heraus erfunden worden. Aber es ist auch nicht so, dass wir die reinen Fakten kennen würden und von daher die „Bibel Israels“ als „Altes Testament“ anders (eben christlich) lesen. Bei Seite 270, „Nun war das Faktum da, und es war vom Faktum her die Schrift neu zu lesen“ habe ich „umgekehrt“ an den Rand geschrieben. Der Weg war – historisch gesehen – ein anderer: Die „Fakten“ (also das, was mit Jesus geschehen ist und was er getan und gesagt hat) waren derart unerhört, dass die überliefernden Theologen ( „Evangelisten“) einen Referenzrahmen brauchten, um damit einigermaßen zurande zu kommen. Diesen Referenzrahmen finden sie in der „Schrift“, in der „Bibel Israels“, und sie lesen und verstehen mithilfe der Schrift die Fakten neu! Sie erzählen also keine bruta facta (etwa „das“ Sterbewort Jesu), sondern deuten das, was sie von Jesus wissen und glauben, im Licht der Bibel Israels. Sie haben gar keine andere Möglichkeit, denn würden sie etwas „völlig Neues“, nie Dagewesenes erzählen, hätten sie in der Antike niemanden begeistern können, sondern allenfalls Argwohn erregt. |20|So aber stellen sie das – nun wirklich neue – Jesusgeschehen in den Bezug zur Bibel Israels. „Die unveränderte Beibehaltung der Bibel Israels im Christentum hält demnach fest, dass die christliche Interpretation nicht die Interpretation der Bibel Israels ist, sondern die Interpretation des Christusgeschehens von der vorliegenden Schrift her. Die Schrift dient dazu, dieses Christusgeschehen verständlich zu machen. Nur von ihr her kann im Bewusstsein des frühen Christentums Jesus als Messias verkündigt werden“4. Die Evangelisten hängen Jesus an die Generationen der Bibel Israels an – Matthäus mit der Genealogie in Mt 1, Lukas mit den Kindheitsgeschichten und den großen Gebeten Benedictus und Magnificat, die Jesus als logische Fortsetzung der alttestamentlichen Heilsgeschichte vorstellen. Es ist faszinierend, wie es die Evangelien schaffen, das Neue an Jesus aus der alten Tradition zu erklären.
Hier stellt sich mir die Frage, warum Papst Benedikt die Evangelisten so selten lobt und stattdessen alles auf „Jesus“ zurückführt. „Was sollen wir also sagen? Es scheint mir anmaßend und zugleich einfältig, in Jesu Bewusstsein hineinleuchten und es von dem her klären zu wollen, was er aufgrund unserer Erkenntnis jener Zeit und ihrer theologischen Anschauungen gedacht oder nicht gedacht haben kann“ (Jesus II 157). Der erste Satz von Papst Benedikt ist sehr sympathisch: Wir können Jesus nicht ins Bewusstsein hineinleuchten. Dann muss man aber auch konsequent die Finger davon lassen, und stattdessen die Arbeit der Evangelisten stärker anerkennen. Auf Seite 66 wird von der eschatologischen Rede Jesu und den Anspielungen auf die Danielvision (Dan 7) gehandelt: Daniel sieht jemanden, der wie ein Mensch ist, vor den Hochbetagten (Gott) hintreten. Papst Benedikt sagt nun, Daniel habe dieser Figur noch keine persönlichen Züge geben können, nun aber sei sie mit Jesus identisch. Sollte man hier nicht vorsichtiger formulieren? Da |21|wir nicht in das Bewusstsein des irdischen Jesus hineinleuchten wollen, können wir auch nicht sagen, ob sich Jesus in seinem irdischen Leben mit dem Menschengestaltigen aus Daniel 7 identifizierte. Der Danieltext ist sehr offen und wohl auch absichtlich so rätselhaft gestaltet, um verschiedene Deutungen zu ermöglichen – die Evangelisten deuten von Daniel 7 her die Person Jesu als Retter, der eine Herrschaft mit menschlichem Antlitz bringt. Das ist ihre Leistung, und diese Deutung ist möglich. Eine einlinige Festlegung auf Jesus ist jedoch insofern problematisch, als damit alle anderen Leseweisen, etwa die (vermutlich ursprüngliche) kollektive Deutung des Menschengestaltigen als Symbol für Israel oder die des Frühjudentums auf eine zukünftige Erlösergestalt, implizit als „falsch“ erscheinen.
Eine ähnlich einlinige Festlegung findet sich auf Seite 152: Papst Benedikt beschreibt den „Neuen Bund“ nach Jer 31,31–34, fokussiert ihn dann auf einen idealen Gehorsam gegenüber Gott und schließt von da auf den Gehorsam des Sohnes (Jesus), so dass Jesus die Grundlage des Neuen Bundes von Jer 31 ist. Hat der Gehorsam Jesu also bereits das verwirklicht, was in Jer 31,33 angekündigt ist, nämlich dass ihm das Gesetz Gottes auf das Herz geschrieben ist? Was auf den ersten Blick gut aussieht, ist auf den zweiten banal: Jesus ist das fleischgewordene Wort Gottes, er hat es nicht nur auf dem Herzen stehen. Die Argumentation von Seite 152 ist aus einem weiteren Grund unpassend: Der „unwiderrufliche und unverletzliche Gehorsam“ ist keine Leistung (auch nicht des „Sohnes, der sich zum Knecht gemacht hat“), sondern ein Gnadengeschenk Gottes an alle vom Haus Israel. Gott wird seine Weisung auf die Herzen der Menschen schreiben, so dass sie von sich aus und ohne Belehrung von außen Gottes lebensförderliche Weisung befolgen werden. Das ist ein Zustand der Endzeit, der immer noch aussteht (bis heute). Insofern kann der „Neue Bund“ von Jer |22|31, bei dem Gottes Gebot den Menschen ins Herz geschrieben wird, zum einen nicht mit Jesus identifiziert werden, denn Jesus ist schon das Wort Gottes. Zum anderen kann der „Neue Bund“ nicht mit dem Christentum in eins gesetzt werden, weil auch wir Christen das Wort Gottes noch nicht auf dem Herzen geschrieben haben: Niemand wird ernsthaft behaupten, wir würden von uns aus und mühelos und zu jeder Zeit Gottes Weisung in idealer Weise befolgen und erfüllen. Jer 31,31–34, der „Neue Bund“, bleibt vielmehr eine gültige Verheißung (zunächst für das Judentum). Das Kelchwort Jesu beim Abendmahl vom „Neuen Bund in meinem Blut“ verlängert die Gültigkeit der Verheißung für die Christenheit. Nicht mehr nur das Haus Israel, sondern auch die, die Jesu Tod und Auferstehung im Gedächtnismahl der Eucharistie feiern, dürfen auf die Realisierung des Neuen Bundes durch Gott hoffen: die volle Erkenntnis Gottes und die Überwindung von allem Bösen und aller Schuld. Letzteres, also das Besiegen des Bösen und des Unrechts, besorgt, wie Papst Benedikt sehr schön (Jesus II 153) schreibt, nun Gott selbst, „weil die Menschen es nicht zustande bringen“. Das ist in der Tat die „bedingungslose Güte Gottes“. Sie zeigt sich darin, dass in Jesus Gott seinen eigenen Sohn in das Böse und die Gewalt hineingibt bis zum Tod, bis zum Opfertod am Kreuz. Die Versöhnungsbereitschaft Gottes kennt keine Grenzen mehr. Wie sieht nun Papst Benedikt den Sühnetod Jesu?
3.Der Sühnetod Jesu und das Judentum
Von der Tempelreinigung und dem Legitimationswort in Joh 2,19 her ( „Reißt diesen Tempel nieder…“) erwähnt Papst Benedikt mehrmals, dass die Zeit des Tempels vorbei sei (z.B.Jesus II 36). Nach Kreuzigung und Auferstehung Jesu sei der neue Ort der Gottesbegegnung Jesus selbst (s. auch |23|die Deutung des Zerreißens des Tempelvorhangs (Jesus II 232–233). Diese Redeweise ist aus rein christlicher Sicht sicher richtig, doch lässt die Ausschließlichkeit der Formulierung noch einen Platz für die Juden? Ist ihr Schmerz über den Verlust des Tempels im Jahr 70 n.Chr., der sich täglich an der Klagemauer in Jerusalem und in der Feier des 9.Av zeigt, unangebracht? Die Position von Papst Benedikt erscheint hier schwankend: Einerseits schließt er sich auf Seite 60 in einem Zitat Hildegard Brem an, die betont, dass sich die Kirche nicht um die Bekehrung der Juden bemühen müsse. Dazu wird auf Röm 11,25–26 verwiesen: Paulus sieht die Rettung Israels dann kommen, wenn die Heiden in voller Zahl das Heil erlangt haben. Der Zeitpunkt bleibt also Gott überlassen, wann die gesamte Menschheit, einschließlich der Juden, gerettet wird. Andererseits ist da immer noch die anstößige Formulierung der Karfreitagsfürbitte in der Messe des ritus extraordinarius, in der darum gebetet wird, dass Gott die Herzen der Juden erleuchte, damit sie Jesus Christus erkennen. Warum sollten sie das tun? Ihr Bund ist doch nicht gekündigt, wie Papst Johannes Paul II. richtig gesagt hat5. Auf geheimnisvolle Weise bleiben die Juden von Gott erwählt und geliebt (Röm 11,28). Verinnerlicht man diese unergründliche Entscheidung Gottes, dann formuliert man vorsichtiger, wenn es um jüdische Traditionen und Identitätsmerkmale geht.
Dem Gedanken des Sühnetodes Jesu nähert sich Papst Benedikt von Röm 3,25 her über Levitikus 16, dem Ritual des Großen Versöhnungstages (Jom ha-Kippurim; vgl. Jesus II 54–55). Er ist dabei erschüttert über die Größe und zugleich „Unzulänglichkeit“ des Gedankens, „der nicht das letzte Wort der… Glaubensgeschichte Israels bleiben konnte“. Vielleicht ist aber die Darstellungsweise des Ritus unzulänglich. Gehen wir in die Details: Das mit „Sühne“ übersetzte griechische Wort hilastērion, im Hebräischen |24|kapporæt, ist weder Deckplatte noch Verschluss der Bundeslade6, denn ihre eigentliche Funktion ist die Markierung der geheimnisvollen Gegenwart Gottes – sie ist der Ort, wo „Versöhnung erwirkt wird“ (hebräisch kipper). Dieser Ort, die kapporæt, wird am Jom ha-Kippurim (Versöhnungstag) mit Stierblut besprengt – doch das Blut steht nicht für das getötete Leben des Stieres, der stellvertretend geschlachtet wird, weil eigentlich alle sündigen Menschen den Tod verdient hätten. Auch ist es keineswegs so, dass das Opferblut alle menschlichen Sünden aufnimmt, die Gottheit berührt und so gereinigt wird und dadurch die Menschen gereinigt werden. Die Riten des Versöhnungstages sind anders zu verstehen7: Gott selbst stellt einen Weg bereit, wie die sündigen Menschen mit ihm „ins Reine“ kommen können. Dazu bedarf es einer Materie, die der Mensch nicht selbst herstellen kann und die „das Leben“ symbolisiert – es gibt nichts anderes als Blut für diesen Zweck. Es geht also gar nicht um den Tod des Stieres, sondern darum, dass Gott das Blut bereitgestellt hat, auf dass damit die Versöhnung der Menschen mit Gott am heiligen Ort angezeigt (indexiert) wird: „[Gott spricht:] Das Leben des Fleisches ist im Blut, und ich habe es euch auf den Altar gegeben, um Versöhnung zu erwirken für euer Leben, denn das Blut ist es, das durch das Leben Versöhnung erwirkt“ (Lev 17,11). Das Blut hat eine Indexfunktion8 und darf daher für nichts anderes (schon gar nicht für den menschlichen Verzehr) verwendet werden. Was ist nun mit den Sünden der Menschen, wenn doch das Blut auf der kapporæt schon die Versöhnung angezeigt hat? Die Sünden werden bekannt und einem Ziegenbock durch Handauflegung übertragen. Der Bock trägt dann in symbolisch-realer Weise die Sünden in die Wüste (in die er durch einen bereitstehenden Mann getrieben wird). Dieser Eliminationsritus fehlt leider in der Darstellung des Jom ha-Kippurim bei Papst Benedikt völlig (auch Jesus II 95–96 und 154). Auf Seite 154 |25|heißt es: „Das Tierblut hatte weder ‚sühnen‘ noch Gott und Menschen verbinden können. Es konnte nur ein Zeichen der Hoffnung und der Erwartung auf einen wirklich rettenden größeren Gehorsam sein.“ Das ist nicht ganz fair gegenüber dem Konzept des Versöhnungstages: Nicht das Blut „sühnt“, das wäre ein magisches Missverständnis, sondern es indexiert, zeigt an, dass der lebendige Gott sich dem Menschen versöhnungswillig zuwendet. Und diese Zuwendung Gottes war real und gegenwärtig, nicht auf „Hoffnung und Erwartung“ hin. Im ersten Jahrhundert n.Chr. freilich muss das Konzept in zweierlei Hinsicht transformiert werden.
(1) Für die Völker übernimmt das „Blut Christi“ die Indexfunktion der Versöhnungsbereitschaft Gottes: Nicht mehr die Menschen bringen ein Tieropfer dar, sondern ein für alle Mal bringt Jesus Christus sich als „Opfer“ am Kreuz dar, und das Gedächtnis an diese Gehorsamstat fließt als „Blut Christi“ in die Eucharistie ein. Dazu sagt Papst Benedikt viele wichtige und richtige Worte.
(2) Was aber ist mit den Juden? Sie verlieren mit der endgültigen Zerstörung des Tempels durch die Römer 70 n.Chr. den heiligen Ort des kipper, des Erwirkens der Versöhnung am Jom ha-Kippurim. Der Schmerz darüber hält berechtigterweise bis heute an. Aber damit geht nicht der Gedanke des versöhnungsbereiten Gottes verloren. Jetzt ist es der Tag selbst, der für die Juden die Indexfunktion des Blutes übernimmt9: das Studium der Heiligen Schrift über den Ritus ersetzt den Ritus selbst; das Fasten heiligt die Menschen, das Tun von Werken der Barmherzigkeit (Hos 6,6), die Umkehr und die Versöhnung mit dem Mitmenschen.
An dieser Stelle (Jesus II 154ff.) greift Papst Benedikt die Diskussion um die deutsche Übersetzung der Wendung pro multis in den so genannten Einsetzungsworten auf. Ist das Blut Jesu „für viele“ oder „für alle“ vergossen worden? Mit 1Tim 2,6 ist „die universale Heilsbedeutung von Jesu Tod… |26|in kristallener Klarheit ausgesprochen.… Jesu Tod gilt Juden und Heiden, der Menschheit im Ganzen“ (Jesus II 157). Jesus ist also „für alle gestorben“ (Jesus II 158). Es wäre auch unsinnig, bestimmte Menschen (welche?) vom Angebot Gottes der Vergebung und Versöhnung auszuschließen10.
Was aber passiert, wenn die Neufassung des Römischen Messbuches eines Tages doch die Übersetzung „für viele“ verwenden sollte? Auch dies ist kein Problem: Wenn damit gesagt wird, dass Jesus „für viele“, aber nicht „für alle“ gestorben ist, würde damit lediglich anerkannt, dass die Juden den Heilsweg über Christus nicht nötig haben. Ihr Bund mit Gott ist nicht gekündigt, ihr Weg zum Heil bleibt gültig, wenn sie treu zur Weisung Gottes stehen. Offenbar gibt es momentan (mindestens) zwei Wege Gottes zum Heil. Das ist aber keine Frage der Beliebigkeit, sondern ein Ausfluss der unergründlichen Entscheidungen Gottes (Röm 11,33), wen Gott wie zum Heil führen will11. „Für viele“ schließt also keine bestimmte Gruppe aus, sondern alle diejenigen ein, die noch keinen eigenen Heilsweg zu Gott haben. Heil und Erlösung – wie stellt sich nun Papst Benedikt den erlösten Menschen vor?
4.Erlösung und Menschenbild
Im so genannten „Hohepriesterlichen Gebet“ findet sich die Bitte Jesu für die, die ihm nachfolgen: „Heilige sie in der Wahrheit“ (Joh 17,17). Der Begriff des Heiligens entstammt der priesterlichen Begrifflichkeit der Bibel Israels und bezeichnet die Riten, die einen Gegenstand (den Altar), ein Opfertier oder eine Person (den Priester) „kultfähig“ machen, also aussondern vom „normalen“ Gebrauch für den besonderen Zweck der Wiederherstellung der Verbindung zwischen Mensch und Gott. Bei Jesus entspricht diesen Riten die „Wahrheit“ – „die Wahrheit ist nun das ‚Bad‘, das |27|den Menschen gottfähig macht“ (Jesus II 76). Der Begriff „gottfähig“ begegnet auch im Katechismus der Katholischen Kirche (KKK, S.47) – dort aber in Anführungszeichen. Es ist ein missverständliches Wort. Unmissverständlich stellt Papst Benedikt klar, dass sich der Mensch nicht selbst „gottfähig“ machen kann (Jesus II 78), sondern dass Jesus diese „Gottfähigkeit“ schenkt (Jesus II 91). Doch was heißt „gottfähig“? Auf Seite 260 zitiert Papst Benedikt Röm 12,1: „Angesichts des Erbarmens Gottes ermahne ich euch, meine Brüder, eure Leiber als lebendiges und heiliges Opfer darzubringen, das Gott wohlgefällt, als eure Anbetung im Geist“. Die letztgenannte Wendung, logikē latreiá, deutet er als „die Hingabe der ganzen Existenz an Gott, in der sozusagen der ganze Mensch worthaft, gottgemäß wird.“ Auch die „leibliche Existenz soll vom Wort durchdrungen und Gabe an Gott werden“. Ich gestehe, dass ich mich damit ernsthaft überfordert fühle, auch wenn mir zugesagt ist, dass die Liebe Christi mich dazu befähigen soll. Besteht „Erlösung“ wirklich darin, dass ich „worthaft, gottgemäß, gottfähig“ werde? Das mag für die Existenz nach dem Tod und der Auferstehung gelten, aber in meinem heutigen Leben, hier und jetzt, möchte ich eigentlich meinen Schöpfungsauftrag als Mensch erfüllen. Der Enthusiasmus von Papst Benedikt aber geht noch weiter (Jesus II 311): „Durch die Taufe ist unser Leben schon mit Christus in Gott verborgen; wir sind in unserer eigentlichen Existenz schon ‚oben‘, bei ihm, zur Rechten des Vaters (vgl. Kol 3,1ff). Wenn wir in die Eigentlichkeit unserer christlichen Existenz vordringen, dann rühren wir an den Auferstandenen: Dort sind wir ganz selbst.“ Es reißt den Schreiber geradezu mit, doch stellt sich auch die bange Frage, ob dahinter nicht doch ein Menschenbild steht, das von der Sehnsucht nach der Flucht aus „dieser Welt“ bestimmt zu sein scheint. Auf Seite 313 sagt Papst Benedikt von der Wahrheit: „Sie bedeutet, dass der |28|Mensch mit aller Kraft und mit großer Nüchternheit das Rechte zu tun versucht, dass er nicht nach seinen eigenen Wünschen lebt, sondern nach der Wegweisung des Glaubens“. Sind die „eigenen Wünsche“ und die „Wegweisung des Glaubens“ zwangsläufig immer Gegensätze? Ist christliche Existenz ausschließlich im Modus der vollständigen (!) Selbstaufgabe möglich? Wenn ich sagen würde: „Du darfst nach deinen eigenen Wünschen und gemäß deiner Identität und Persönlichkeit leben, wobei dir die Wegweisung des Glaubens die Hilfe gibt, das Rechte zu tun“ – ist das dann schon falsch?12 Ich bin mir nicht sicher, ob nicht bei aller Begeisterung für das Wissen um die Wahrheit und die „eigentliche Existenz“ das Leben im Hier und Jetzt (das freilich unter der „Macht des Bösen“ steht) zu schnell übersprungen wird. Auf Seite 239 ist die Rede vom „abgründigen Heute des Leidens“, doch sofort wird übergeleitet zur „messianischen Passion“ Jesu, die ein „Leiden in der Gemeinschaft mit uns, für uns“ ist – bis solche Worte helfen können, muss der leidende Mensch erst einen weiten Weg gehen, fürchte ich. Geistliche Nahrung auf diesem Weg sind sicher die alttestamentlichen Klagepsalmen13, deren Wert und Reichtum sich nicht zuletzt auch darin zeigt, dass nach Matthäus und Markus Jesus in seinem Leiden einen solchen Psalm auf den Lippen hat (Ps 22,2).
5.Die Wahrheit ist eine Person
„Wahrheit“ ist ein ganz wichtiges Leitmotiv im Buch. Papst Benedikt lebt hier ganz aus dem Johannesevangelium und betont, „dass Johannes nicht einen abstrakten Begriff von Wahrheit vor Augen hat, sondern darum weiß, dass Jesus in Person die Wahrheit ist“ (S.76). Dieser Gedanke ist unglaublich wertvoll und könnte auch ein hilfreiches Korrektiv sein: Die Wahrheit ist eine Person, Jesus Christus. Eine |29|Person jedoch – und zumal Jesus Christus – kann ich nicht „haben“ in der Weise, wie ich über meinen Besitz verfügen kann. Wir Christen „haben“ die Wahrheit nicht, wir glauben an sie in der persönlichen Beziehung zu Jesus Christus. Hier ist auf den spannenden Dialog Jesu mit Pilatus in der Passion nach Johannes einzugehen (Joh 18,37–38: Jesus II 213ff.). Jesus bekennt sich zu seinem besonderen Königtum, das nicht mit Gewalt kommt, sondern als Zeuge der Wahrheit. Der Politiker Pilatus kann damit nichts anfangen, er fragt: „Was ist Wahrheit?“ „Kann Politik Wahrheit als Kategorie für ihre Struktur annehmen?“ (Jesus II 215). Mit Recht sieht Papst Benedikt dies als eine wesentliche Frage der modernen Staatslehre und betont, dass die großen Diktaturen von der Macht der ideologischen Lüge gelebt haben und dass nur die Wahrheit befreien konnte. Um die Frage des Pilatus zu beantworten, zitiert Papst Benedikt Thomas von Aquin, nämlich dass Gott selbst die höchste und erste Wahrheit ist. Denkt man das weiter, dann relativiert das zugleich jeden menschlichen Anspruch auf Besitz der Wahrheit. Wenn Papst Benedikt schreibt (Jesus II 216): „Für die Wahrheit Zeugnis geben heißt, Gott und seinen Willen den Interessen der Welt und ihren Mächten gegenüber zur Geltung zu bringen. Gott ist der Maßstab des Seins“, dann hört sich das so an, als müssten wir als Christen das leisten. Auch hier fühle ich mich überfordert. In der Johannespassion ist es auch allein Jesus Christus, der für die Wahrheit Zeugnis ablegt; wir sind die, die aus der Wahrheit sind, wenn wir auf seine Stimme hören. Das gelingt uns meist nur mittelmäßig, und so ist es ein hoher, vielleicht zu hoher Anspruch, wenn wir sagen würden, wir (als konkrete Kirche) wären in Besitz der Wahrheit und würden von ihr Zeugnis geben. Manchmal ist man versucht zu meinen, Papst Benedikt habe diesen hohen Wahrheitsanspruch. Auf Seite 123 spricht er von der „Glaubensgewissheit“, die nicht allein auf „historisch-wissenschaftlicher |30|Vergewisserung beruhen dürfe, da sie sonst „immer revidierbar bleiben“ würde. Ist denn Glaube und „Glaubensgewissheit“ etwas völlig Unrevidierbares, das mir irgendwann (wann eigentlich?) eingeflößt wird oder das ich irgendwann „finde“ (durch Erleuchtung oder durch „Entscheidung für Christus“) und das dann unverändert (wie eine Konservendose) in mir bleibt? Dann wären Glaube und Wahrheit etwas Unpersönliches, das ich auch in einen Tresor legen könnte. Aber auf Seite 124 schreibt Papst Benedikt glücklicherweise: „Die letzte Gewissheit, auf die wir unsere ganze Existenz gründen, schenkt uns der Glaube – das demütige Mitglauben mit der vom Heiligen Geist geführten Kirche aller Jahrhunderte“. Dieser Glaube ist etwas Lebendiges, eine lebendige Beziehung zu Jesus Christus, in die ich – geführt von meiner Tradition, der Kirche, verkörpert in meinen Eltern, den Priestern und Lehrerinnen und Lehrern, die ich hatte – hineingewachsen bin und in der ich weiterhin wachse (und damit auch revidierbar bin). Noch mal: die Wahrheit ist eine Person, Jesus Christus. Ich „habe“ sie nicht, ich bin auf dem Weg zu ihr, wie man in jeder Beziehung den Partner, die Partnerin nie „hat“ (im Sinne von „besitzt“), sondern immer wieder neu suchen muss, vielleicht auch verliert. Mit Papst Benedikt und der ganzen Christenheit sind wir auf dem Weg zu Christus, auf dass wir immer tiefer verstehen, was es heißt, dass er in der Eucharistie und im bedürftigen Nächsten (Mt 25) unter uns gegenwärtig ist – nicht im Modus des „Habens“ und „Besitzens“ (und dann auch „Verfügens“), sondern im Modus der persönlichen Beziehung. Sagen wir es mit Paulus: „Nicht dass ich es schon erreicht hätte oder dass ich schon vollendet wäre. Aber ich strebe danach, es zu ergreifen, weil auch ich von Christus Jesus ergriffen worden bin“ (Phil 3,12).
|31|6.Wer ist Jesus – für mich?
Am Anfang meines theologischen Studiums wurde mir immer wieder die Frage gestellt: „Wer ist Jesus – für dich?“ Und diese Frage ist mir mitgegeben worden, auf dass ich sie stets neu und vielleicht auch immer wieder anders beantworte. Das ist lebendiger Glaube. Papst Benedikt hat mit seinen Jesusbüchern ein persönliches Glaubenszeugnis vorgelegt, die Frucht seines langen geistlichen Lebens auf der Suche nach der Wahrheit, die Jesus Christus ist. Insofern ist die „Gattung“ (s. o.) noch um den Begriff des „Glaubenszeugnisses“ zu erweitern. Als solches ist es zu lesen, nicht als letztgültige Antwort auf alle Fragen. Wenn ich die eine oder andere Marginalie, auch Frage oder ein Bedenken formuliert habe, so verstehe ich das als Hinweis auf die Echtheit und das aufrichtige Bemühen des Verfassers, die Frage authentisch zu beantworten: „Wer ist Jesus – für dich?“
Vgl. Rolf Rendtorff, Theologie des Alten Testaments. Ein kanonischer Entwurf, Band1: Kanonische Grundlegung, Neukirchen-Vluyn 1999, 2, mit Rückgriff auf Gerhard von Rad, Theologie des Alten Testaments, Band1, 4.Auflage, München 1962, 134–135.
Im rabbinischen Sprachgebrauch wird Gott häufig Hamakom genannt – „der Ort, der Platz“. Gemeint ist damit, dass nicht das Weltall der Platz Gottes ist, sondern umgekehrt Gott der Platz der Welt ist – Gott wohnt inmitten der Menschen (Ex 25,8), „in ihrer Mitte“ (nicht in seiner!). Gott will im Herzen der Menschen, inmitten der menschlichen Gesellschaft, nicht in einem Gebäude wohnen. So Rabbi Erwin Schild, Wo wohnt Gott?, in: Bibel und Liturgie 74 (2001) 215–218, hier: 216; ders., Lasst uns jetzt Gott bedenken! Eine Predigt zum Großen Versöhnungstag (1998), in: Bibel und Liturgie 74 (2001) 265–267.
Midrasch ist eine Form jüdischer Bibelauslegung. Der Begriff leitet sich von hebräisch darasch, „suchen, fragen“ her. Es geht um die Auslegung der biblischen Texte, die der Glaubensgemeinschaft als autoritatives, heiliges, von Gott geoffenbartes Wort gelten. In ihnen wird nach dem (tieferen) Sinn des Gotteswortes gesucht. Midrasch ist nicht ‚objektive‘ Fachexegese, sondern religiöse Sinnsuche |32|im Kontext der Gegenwart, also auch Aktualisierung im Bewusstsein, dass die Bibel relevant bleibt: Wort Gottes an den Menschen von heute. S. dazu Günter Stemberger, Einleitung in Talmud und Midrasch, 8.Auflage, München 1992, 232–237.
Christoph Dohmen/ Günter Stemberger, Hermeneutik der Jüdischen Bibel und des Alten Testaments, Stuttgart 1996, 137.
Vgl. Christoph Dohmen, Israelerinnerung im Verstehen der zweieinen Bibel, in: ders. (Hg.), In Gottes Volk eingebunden, Stuttgart 2003, 9–19, hier: 11.
Vgl. Bernd Janowski, Sühne als Heilsgeschehen (WMANT 55), 2.Auflage, Neukirchen-Vluyn 2000, 275.
Vgl. u.a. Jacob Milgrom, Leviticus 1–16 (The Anchor Bible 3), New York et al. 1991, zu Lev 16.
Vgl. William K.Gilders, Blood Ritual in the Hebrew Bible. Meaning and Power, Baltimore -London 2004.
Gott – zumindest in jüdischer Vorstellung – ist nicht anwesend in einem Raum, sondern gegenwärtig in der Zeit: „Unser Allerheiligstes, das weder die Römer noch die Nazis zerstören konnten, ist kein Tempel, keine Synagoge, sondern der Versöhnungstag“, so Rabbi Erwin Schild, Wo wohnt Gott? (s. Anm. 2) 217.
Wer immer dieses Angebot annehmen will, darf nicht ferngehalten werden. Hier wäre die gegenwärtige disziplinarische Praxis der Kirche im Falle von wiederverheirateten Geschiedenen noch einmal zu überdenken.
Vgl. Erwin Dirscherl, Die je andere einzigartige Erwählung in der Zeit. Die Besonderheit des christlich-jüdischen Verhältnisses und seine Konsequenzen für uns, in: Bibel und Liturgie 74 (2001) 218–230, mit Verweis auf Nostra Aetate 4.
Gerade die biblische Weisheitsliteratur bemüht sich darum, den Menschen dazu anzuleiten, er selbst im Hier und Jetzt zu sein und in seine Identität, in sein Wünschen und Sehnen, die Weisung Gottes, die zum Leben führt, zu integrieren und als ganzheitliche Menschen vor Gott und der Gemeinschaft gut zu leben.
Vgl. Georg Steins (Hg.), Schweigen wäre gotteslästerlich. Die heilende Kraft der Klage, Würzburg 2000.