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London, 1910: Der junge Daniel Pitt, Sohn des berühmten Sir Thomas Pitt, nimmt seinen ersten großen Fall als junger Anwalt an. Russell Graves soll seine Ehefrau kaltblütig ermordet haben. Alle Indizien sprechen gegen ihn, die Verteidigung ist auf verlorenem Posten. Und tatsächlich wird Graves schließlich im ehrwürdigen Strafgerichtshof Old Bailey zum Tod durch den Strang verurteilt. 21 Tage Galgenfrist bleiben Daniel, um doch noch die Unschuld seines Mandanten zu beweisen. Eine Unschuld, an die er selbst kaum glaubt ...
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Seitenzahl: 531
Das Buch
London, 1910: Daniel Pitt, Sohn des berühmten Sir Thomas Pitt, hat sein Studium der Rechtswissenschaft abgeschlossen und seine erste Stelle in einer Anwalts-Sozietät angetreten. Der juristische Alltag mit seinen Aktenbergen beginnt ihn schon zu langweilen – da erhält er plötzlich doppelte Gelegenheit, sich zu beweisen: Sein Vater verschafft ihm den Auftrag, einen alten Bekannten zu verteidigen, es geht um nicht weniger als Leben und Tod. Nahezu zeitgleich soll er außerdem einen erfahrenen Kollegen in einem spektakulären Mordfall unterstützen, der im berühmten Londoner Strafgerichtshof Old Bailey verhandelt wird: Russell Graves ist angeklagt, seine Ehefrau auf grausame Weise ermordet zu haben. Alles spricht gegen Graves, und seine dünkelhafte Art gestaltet die Verteidigung nicht eben leichter. Nur wenige Wochen Frist bleiben, ihn vor dem Galgen zu bewahren. Ein Wettlauf gegen die Zeit beginnt.
Die Autorin
Die Engländerin Anne Perry, 1938 in London geboren, verbrachte einen Teil ihrer Jugend in Neuseeland und auf den Bahamas. Schon früh begann sie zu schreiben. Ihre historischen Kriminalromane, in denen sie das England des späten neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhunderts wiederauferstehen lässt, begeistern ein Millionenpublikum. Anne Perry lebt und schreibt in Schottland.
Todesurteil im Old Bailey ist der erste Roman um den jungen Anwalt Daniel Pitt. In der Reihe um seinen Vater Thomas Pitt, den Leiter des Staatsschutzes, sind zahlreiche Bücher im Heyne Verlag lieferbar, zuletzt erschienen: Letzte Stunde im Hyde Park.
ANNE PERRY
TODESURTEILIMOLD BAILEY
Ein Daniel-Pitt-Roman
Aus dem Englischenvon K. Schatzhauser
WILHELM HEYNE VERLAGMÜNCHEN
Für Aviva Layton infreundschaftlicher Verbundenheit
Sie befanden sich allein in dem kleinen Besucherraum, in dem der Anwalt mit dem Angeklagten sprechen durfte.
»Man wird mich zum Tod durch den Strang verurteilen, nicht wahr?«, fragte Roman Blackwell leise mit um Festigkeit bemühter Stimme. Doch Daniel erkannte die Angst in seinen Augen. Was sollte er dem Mann sagen? Schon den ganzen Tag hatte er sich vor diesem Moment gefürchtet. Erst seit einem knappen Jahr war er als Strafverteidiger zugelassen, der vor höheren Gerichten bei Kapitalverbrechen plädieren durfte. Da war es kein großes Wunder, dass der Prozess, in dem es für seinen Mandanten um Leben und Tod ging, ungünstig stand.
Wie aber hätte er das Mandat ablehnen können? Sein Vater, Sir Thomas Pitt, hatte den Leiter der Anwalts-Sozietät gefragt, ob er bereit sei, Daniel den Fall anzuvertrauen. Blackwell war als privater Ermittler tätig gewesen, und aufgrund seiner Abenteurernatur war es durchaus vorgekommen, dass er hier und da Aufträge übernommen hatte, die nicht ganz einwandfrei waren, wie auch der eine oder andere seiner Auftraggeber nicht unbedingt ein Unschuldsengel war.
In den Jahren, in denen Pitt Leiter der Polizeiwache in der Bow Street im Herzen Londons gewesen war, lange bevor er zum Staatsschutz gegangen war, hatte Blackwell als Polizeibeamter zu seiner Dienststelle gehört. Pitt hatte ihn wegen seines bisweilen skurrilen Humors und trotz seiner mitunter etwas fragwürdigen Moralvorstellungen gut leiden können. Mehr als einmal hatte er ihn vor den Folgen seiner Handlungsweise, bei der er sich nur selten an die Vorschriften hielt, bewahrt. Blackwell seinerseits hatte gelegentlich auch Pitt aus der Patsche geholfen. Dennoch war schließlich der Augenblick gekommen, in dem Pitt ihm nahegelegt hatte, den Polizeidienst zu quittieren, bevor er sich etwas zuschulden kommen ließ, wobei man nicht wie bisher ein Auge hätte zudrücken und anschließend wieder zur Tagesordnung hätte übergehen können. Zögernd hatte Blackwell diesen Rat befolgt.
Pitt hatte sein nahezu freundschaftliches Verhältnis zu Blackwell nie vergessen, und jetzt, da der Mann wegen eines schweren Gesetzesverstoßes vor Gericht stand, hatte er nichts Besseres für ihn tun können, als seinen Sohn Daniel darum zu bitten, dass er, wie von Blackwell gewünscht, dessen Verteidigung übernahm.
Unmöglich hätte Daniel sich dieser Bitte versagen können. Auch er konnte seinen Mandanten gut leiden, vermutlich aus denselben Gründen wie sein Vater: der Mann besaß Humor, Vorstellungskraft und war von einem durch nichts zu erschütternden Optimismus.
Wenn er sich selbst gegenüber ehrlich war, musste Daniel zugeben, dass ihn die Juristerei mittlerweile ziemlich anödete. Das Studium der Rechtswissenschaft hatte ihn begeistert, aber der juristische Alltag mit seinen Aktenbergen langweilte ihn. Seine anfänglichen Träume von glanzvollen Kämpfen, die es im Dienst der Gerechtigkeit auszutragen galt, waren zerplatzt wie Seifenblasen.
Seine Situation als unerfahrener Neuling bedrückte ihn.
Sein Gegenspieler war Douglas Sefton, ein ebenso fähiger wie wortgewandter Anklagevertreter, der fest entschlossen war, im fünften Anlauf endlich einen Schuldspruch gegen Roman Blackwell zu erwirken. Immerhin lautete die Anklage diesmal auf Mord.
Aufmerksam sah Blackwell Daniel an. Er wartete auf eine Antwort. Der Mann würde es sofort merken, wenn er ihn belog. Und welchen Sinn hätte es im Übrigen, ihm die Unwahrheit zu sagen? Er würde ihn damit nur gegen sich aufbringen.
»Ja«, gab Daniel ähnlich leise zurück. »Und genau deshalb müssen wir beweisen, dass nicht Sie John Hintons Mörder sind.«
»Sie wollen auf ›begründeten Zweifel‹ plädieren?«, fragte Blackwell mit einem Anflug von Hoffnung.
»Damit würden wir nicht durchkommen«, antwortete Daniel, bemüht, es ihm so schonend wie möglich beizubringen. »Das Gericht wird darauf bestehen, dass wir stichhaltige Gründe vorbringen. Außerdem müssen wir den Geschworenen einen glaubhaften Verdächtigen präsentieren, damit die nicht Sie schuldig sprechen.«
»Aber ich habe nichts damit zu tun!«, stieß Blackwell mit brüchiger Stimme hervor. Einen kurzen Augenblick lang lag unverhüllte Verzweiflung darin. »Ich habe die Waffe ja nicht mal angefasst!«
»Den Fingerabdrücken nach aber auch sonst niemand …«
»Was für Fingerabdrücke?«, fiel Blackwell ihm ins Wort. »Da waren ja gar keine!«
»Stimmt, aber jemand hat einen Schuss daraus abgegeben«, hielt Daniel dagegen.
»Vielleicht mit Handschuhen?«, fragte Blackwell mit einem plötzlichen Aufleuchten seines Gesichts. »Dann muss das jemand gewesen sein, der sich mit Fingerabdrücken auskennt und weiß, dass sie bei jedem Menschen anders sind.«
»Das ist den Chinesen seit Jahrhunderten bekannt.« Daniel schien das Phänomen als solches ausgesprochen interessant. Es war gerade einmal fünf Jahre her, dass ein britisches Gericht im Jahre 1905 erstmals zwei Mörder anhand ihrer Fingerabdrücke überführt und verurteilt hatte.
»Klar ist: Wenn nicht Sie die Tat begangen haben, muss es ein anderer gewesen sein. Denn es steht unverrückbar fest, dass Hinton erschossen wurde. Bedauerlicherweise gibt es aber keinerlei Zweifel daran, dass Sie den Mann gut kannten und mit ihm in Streit geraten sind, weil er Ihnen Geld schuldete …«
»Das waren doch nur ein paar Pfund«, sagte Blackwell aufgebracht. »Für einen so läppischen Betrag bringe ich doch niemanden um!«
»Parks Aussage nach ging es um vierhundert Pfund«, erinnerte ihn Daniel. »Das ist ein Haufen Geld.«
»Das können Sie laut sagen«, gab ihm Blackwell recht. »Und so viel soll ich einem windigen Burschen wie Hinton geliehen haben? Da hätte ich schön blöd sein müssen!«
Mit einem trübseligen Lächeln erwiderte Daniel: »Von Ihnen ist bekannt, dass Sie mitunter großzügig sind. Außerdem …«
»So großzügig nun auch wieder nicht«, hielt Blackwell dagegen und strich sich die pechschwarzen Haare aus der Stirn.
»… weiß man, dass Sie gelegentlich zu tief ins Glas schauen und dann nicht mehr wissen, was Sie getan haben«, schloss Daniel.
»In Geldangelegenheiten bin ich nicht vergesslich«, begehrte Blackwell auf. »Schon gar nicht, wenn es um so hohe Beträge geht!«
»Nicht mal dann, wenn Sie …«, sagte Daniel und zögerte kurz, »… sturzbetrunken sind?«
»Das könnte ich nicht mal vergessen, wenn ich es wollte.« Blackwell schüttelte den Kopf. »So viel hatte ich damals übrigens gar nicht intus, und ich hatte auch nicht so viel Geld.«
»Können Sie das beweisen?« Daniel wusste, dass der Mann dazu nie und nimmer imstande wäre.
»Ich hab es nicht getan«, wiederholte Blackwell mit einer Stimme, in der Verzweiflung über diese absurde Anschuldigung lag. »Warum hätte ich einem Nichtsnutz wie Hinton überhaupt so viel Geld leihen sollen? Das ergibt doch gar keinen Sinn.«
»Man wird sagen, dass Sie zur Tatzeit betrunken waren«, gab Daniel kühl zurück. »Sie müssen einsehen, dass es unsinnig wäre, etwas zu behaupten, wofür wir keinen Beweis liefern können.« Er beugte sich leicht über den Tisch vor, der zwischen ihnen stand. »Es gibt nur eine einzige Möglichkeit, die Geschworenen zu einem Sinneswandel zu bewegen: Wir müssen erreichen, dass sie einen ernsthaften Verdacht gegen einen anderen hegen. Sofern Hinton nicht so harmlos war, wie ihn die Anklage hinstellt, hatte er vermutlich andere Feinde. Überlegen Sie gründlich. Wer könnte das sein, und was für Motive könnten sie haben? Nennen Sie mir Namen – Leute, die er betrogen, belogen, verleumdet oder in Schwierigkeiten gebracht hat. Leute, gegen die er vor Gericht als Zeuge aufgetreten sein könnte.«
Blackwell dachte angestrengt nach. Er war nicht besonders groß, aber breitschultrig und kräftig gebaut. In den letzten Minuten schien er auf seinem harten Holzstuhl geschrumpft zu sein.
Daniel überlegte, womit er ihn ermutigen könnte. Sein Motiv dafür war keineswegs reine Menschenfreundlichkeit, sondern Blackwell war für ihn der Einzige, durch den er an Informationen gelangen konnte, die es ihm vielleicht ermöglichen würden, andere mit dem Mord in Verbindung zu bringen oder zumindest eine andere Taktik anzuwenden.
Mit einem Ausdruck der Hoffnungslosigkeit hob Blackwell den Blick.
Oscar Park war der Hauptzeuge gegen ihn, und es war Daniel bisher nicht gelungen, einen Schwachpunkt in dessen Aussagen zu entdecken. Nun kam es ihm so vor, als klammerte er sich an Strohhalme. »Um zu erreichen, dass die Geschworenen Parks Aussage anzweifeln, müssen wir etwas über ihn herausbekommen – aber was? Ein toter Hinton hätte Ihnen jedenfalls nichts genutzt, denn er hat Ihnen Geld geschuldet.«
»Als er noch lebte, hat er auch keinem genützt«, gab Blackwell mit einem sarkastischen Lächeln zurück. »Glauben Sie, dass das für das Gericht eine Rolle spielt?«
Daniel fühlte sich angesichts der Aussichtslosigkeit der Sache so verzweifelt, dass er das Lächeln nicht erwidern konnte.
»Was könnte das Motiv dafür sein, dass Park im Zeugenstand lügt? Immerhin geht er damit ein hohes Risiko ein, denn er steht unter Eid. Offenkundig hat er einen Grund dafür. Den müssen wir herausbekommen.«
»Den Grund kenne ich nicht«, sagte Blackwell matt. »Ich hab dem Mann nie was getan.«
Daniel beugte sich noch ein wenig weiter vor. »Es muss gar keine so direkte Beziehung zwischen Ihnen beiden dahinterstecken. Sie haben doch bestimmt genug Fantasie, um sich vorzustellen, was stattdessen der Anlass sein könnte. Was wissen wir mit Sicherheit? Ganz gleich, was Hinton Ihnen schuldig geblieben ist oder nicht, Sie haben ihm nie und nimmer vierhundert Pfund geliehen – dafür bekommt man schließlich schon ein kleines Haus. Woher könnte Park von der Sache erfahren haben? Hat Hinton ihm das Geld geschuldet?«
»Vielleicht. Park war jedenfalls knapp bei Kasse«, gab Blackwell zurück. »Ich hab ihm früher mal fünfzig Pfund geliehen. Davon hab ich nie wieder was gesehen.«
»Ja, vielleicht geht es in die Richtung. Hatte er möglicherweise auch bei anderen Schulden? Wenn ich nur wüsste, wer das sein könnte. Ich brauche unbedingt etwas Handfestes.« Daniel hörte die Schärfe in seiner eigenen Stimme und mahnte sich zur Selbstbeherrschung.
Blackwell schwieg.
Angestrengt suchte Daniel nach einem plausiblen Zusammenhang. »Und was ist mit Rache als Motiv? Hasst Park Sie? Haben Sie ihm etwas getan?«
»Nein, aber ich hätte große Lust dazu«, gab Blackwell in feindseligem Ton zurück. »So ein Schweinehund. Wenn ich bedenke, wie viel Geld ich dem geliehen habe.« Sein Gesicht verzog sich vor Abscheu.
Daniel ergriff über den Tisch hinweg Blackwells Handgelenk. »Er schuldet Ihnen Geld und lohnt Ihnen das auf diese Weise? Das ist schlimmer als Undank.«
»Es geht nicht nur um das Geld«, sagte Blackwell rasch und schüttelte den Kopf.
»Worum denn noch?«, erkundigte sich Daniel.
»Um nichts, was Sie vor Gericht verwenden können«, erklärte Blackwell in einem Ton bitterer Selbstironie. »Die Sache war ein bisschen ungesetzlich. Ein Grenzfall, nur auf der falschen Seite der Grenze. Wenn das rauskommt, locht man mich auf jeden Fall dafür ein, weil die Gelegenheit so günstig ist.«
Daniel überlegte kurz, ob er der Sache nachgehen sollte.
»Lassen Sie es lieber«, riet ihm Blackwell, als könnte er Daniels Gedanken lesen. »Es ist besser, Sie wissen nichts davon. Es geht um ein Schriftstück mit einer … nicht ganz einwandfreien Unterschrift.«
»Und davon weiß Park?«, fasste Daniel rasch nach. Der bekümmerte Blick seines Gegenübers zeigte ihm, dass Blackwell das bewusste Schriftstück für Park gefälscht hatte. »Das wäre ein möglicher Grund, Ihnen schaden zu wollen«, sagte Daniel. Vielleicht lieferte ihm das eine Handhabe.
Blackwell hob die Brauen. »Ich hab ihm einen Gefallen getan.«
»Er hat Schulden gemacht. Warum zahlt er sie nicht zurück? Entweder kann er nicht, oder er will nicht.«
»Wie alt sind Sie?«, fragte Blackwell.
»Fünfundzwanzig.«
»Und schon so ein Zyniker«, sagte Blackwell und seufzte theatralisch.
»Das liegt daran, dass ich Anwalt bin. Raus mit der Sprache: Welchen Gefallen haben Sie ihm getan?«
Blackwell schwieg eine ganze Weile.
Daniel packte sein Handgelenk fester. »Wir dürfen keine Zeit vergeuden. Man kann uns jeden Augenblick in den Gerichtssaal rufen. Was haben Sie für Park getan, dass er Sie in der Hand zu haben glaubt und es nicht für nötig hielt, Ihnen das Geld je zurückzuzahlen?«
»Ich habe es Ihnen schon gesagt – ich habe keine Beweise!«, wiederholte Blackwell.
»Ach was, das kann er doch gar nicht wissen«, entgegnete Daniel in scharfem Ton. »Erzählen Sie mir Genaueres …«
Blackwell schwieg weiter.
»Sie haben mich gefragt, ob man Sie hängen wird«, stieß Daniel zwischen den Zähnen hervor, und ihm war der Klang seiner eigenen Stimme zuwider. »Ja! Und in solchen Fällen ist es so gut wie unmöglich, zu erreichen, dass ein einmal gefälltes Urteil noch revidiert wird.«
»Na schön. Ich hab für ihn ein paar Schriftstücke abgefasst … aber nur ein einziges Mal. Außerdem ein Empfehlungsschreiben. Lauter zusammenfantasierte Sachen.« Blackwell verzog das Gesicht. »Muss ich Ihnen das in Einzelheiten erzählen?«
»Was war denn daran schlimm? Inwiefern haben Sie damit die Wahrheit verdreht?«, wollte Daniel wissen.
»Indem ich geschrieben habe, dass er eine ehrliche Haut ist und eine Vertrauensstellung in einer Firma hatte, die im Ausland Geschäfte macht.«
»Das entsprach aber nicht der Wahrheit?«
»Die Firma gab es gar nicht. Ich hab mit dem Namen eines Toten unterschrieben«, erklärte Blackwell mit kläglicher Miene.
»Und hat Park die Stellung noch?«
»Ja, und zwar aufgrund meines Empfehlungsschreibens.«
»Hat er seine Position für unredliche Zwecke genutzt?« Daniel konnte sich die Antwort denken. Sie ließ sich an Blackwells Gesicht ablesen, auf dem sich Stolz und Beschämung mischten.
»Aber die Firmeninhaber wissen noch nichts davon, und falls ich jetzt rede, muss ein anderer dafür geradestehen«, erwiderte er.
»Und falls mir nicht der Nachweis gelingt, dass der Mann unzuverlässig ist, wird ein anderer für den Mord geradestehen müssen – nämlich Sie!«
Bevor Blackwell darauf antworten konnte, wurde die Tür aufgerissen. Eine nicht sonderlich große, aber bemerkenswert gutaussehende Frau mit üppigem Busen und breiten Hüften stand auf der Schwelle. Eine weiße Strähne über der Stirn betonte die Schwärze ihrer zu einem Knoten hochgesteckten Haare. Ihre olivfarbene Gesichtshaut war vor Anstrengung und vielleicht auch aufgrund einer gewissen Gereiztheit gerötet.
Mit schwarzen Augen, die Blitze sprühten, sah sie Daniel an, ohne Blackwell eines Blickes zu würdigen. »Es wird Zeit, dass Sie etwas unternehmen, junger Mann! Ich bezahle Sie nicht dafür, dass Sie nett sind – wenn das was nützen würde, könnte ich das selber tun!«
Daniel erhob sich, um sie zu begrüßen. Sie war Blackwells Mutter, und von ihr war offiziell die Anregung ausgegangen, Daniel mit der Verteidigung ihres Sohnes zu betrauen, was Marcus fford Croft, der Leiter der Anwalts-Sozietät fford Croft & Gibson mit gemischten Gefühlen aufgenommen hatte.
Sie schloss die Tür und trat an den Tisch. Blackwell erhob sich und bot ihr seinen Stuhl an, doch sie setzte sich nicht. Sie war nicht gekommen, um sich mit Höflichkeit und Ausflüchten abspeisen zu lassen.
»Nun? Was werden Sie unternehmen? Auf welche Weise gedenken Sie gegen diese elenden Kreaturen vorzugehen?« Sie brauchte keine näheren Erklärungen abzugeben. Die kurze Mittagspause, in der sich Pitt mit seinem Mandanten unterhalten konnte, hatte man ihnen eingeräumt, während Park seine Aussage machte.
Bevor Blackwell den Mund auftun konnte, um die Aussichtslosigkeit seiner Lage zu erläutern, sagte Daniel rasch: »Wir werden unsererseits zum Angriff übergehen, Mrs. Blackwell.«
»Gut. Gegen wen?«
»Gegen den Mann, dessen Aussage Ihren Sohn am meisten belastet und der allen Grund hat, die Unwahrheit zu sagen«, gab Daniel zur Antwort, bemüht, seine Stimme zuversichtlich klingen zu lassen.
Sie nickte zustimmend, doch ihr Blick gab zu erkennen, dass sie skeptisch war. Sie wollte Beweise, bevor sie zu hoffen wagte.
Daniel wusste, was sie hören wollte. Er holte tief Luft. »Park. Der Mann ist angreifbar, und inzwischen kenne ich auch seinen Schwachpunkt.«
Sie nickte bedächtig. Er war überzeugt, dass sie Einzelheiten von ihm verlangt hätte, wenn sie allein gewesen wären, aber ein rascher Blick zu ihrem Sohn hatte ihr dessen Verzweiflung gezeigt. Es war Daniel bewusst, dass sie nicht daran dachte, ihm etwas zu ersparen. Inzwischen war ihm das Geplänkel zwischen den beiden vertraut, und er erkannte hinter den Scheingefechten und heftigen Auseinandersetzungen die unverbrüchliche und unerschütterliche Loyalität der Mutter gegenüber dem Sohn. Sie kritisierte ihn nach Strich und Faden und würde nicht davor zurückschrecken, ihn zu schlagen, wenn er sie bis aufs Blut reizte, aber wehe dem Außenstehenden, der etwas gegen ihn sagte! Er würde den Tag verfluchen, an dem er sich dazu hatte hinreißen lassen.
Daniel erwog noch, welche nähere Erklärung er abgeben könnte, da kehrte der Gerichtsdiener mit der Mitteilung zurück, dass die Pause zu Ende sei, und führte Blackwell wieder auf die Anklagebank.
Bevor auch Daniel erneut seinen Platz im Gerichtssaal, den er insgeheim als Kampfarena bezeichnete, aufsuchen konnte, wandte sich Mercedes Blackwell ihm zu, ehe sie ihrerseits auf die Zuschauergalerie zurückkehrte. »Haben Sie wirklich einen Plan, junger Mann?«, fragte sie. Ihre schwarzen Augen schienen ihm Löcher in den Kopf brennen zu wollen, um seine Gedanken lesen zu können.
Er nahm an, dass das ihre Art war, nicht zu zeigen, wie besorgt sie war. Auch seine Mutter verstand es, ihren Standpunkt durchzusetzen, wenn sie das für erforderlich hielt. Mindestens zwanzig seiner fünfundzwanzig Lebensjahre hindurch hatte er reichlich Gelegenheit gehabt, ihr wieder und wieder standzuhalten. Auch seine ältere Schwester Jemima hatte bei den Auseinandersetzungen der Geschwister während der Kindheit und frühen Jugend bewiesen, dass sie keinesfalls auf den Mund gefallen war. Mithin war Daniel der Umgang mit wortgewaltigen Frauen alles andere als fremd.
»Ja. Ich kann mir gut vorstellen, dass Park der Mörder ist. Ich werde den Geschworenen vor Augen führen, warum er die Tat begangen und anschließend versucht hat, sie Ihrem Sohn in die Schuhe zu schieben. Je länger ich darüber nachdenke, desto plausibler erscheint mir dieser Hergang. Wir müssen lediglich die Geschworenen davon überzeugen, dass nicht Ihr Sohn der Täter war, sondern ein anderer.« Die Zuversicht, mit der er das sagte, empfand er keineswegs, doch war er entschlossen, das bei seinem Plädoyer vor den Geschworenen keinesfalls zu zeigen.
Er lächelte und bot ihr den Arm.
Nach einigem Zögern nahm sie ihn. Ihm war bewusst, dass ihr Vertrauen vorläufig war und erst ein positiver Ausgang des Prozesses es rechtfertigen würde.
Er konnte es sich nicht leisten, an ein Scheitern auch nur zu denken. Er verdrängte den Gedanken an diese Möglichkeit und schritt so sicher durch den hallenden Gang in den Gerichtssaal, als bestünde an seinem Erfolg nicht der geringste Zweifel. Er musste mit größter Selbstsicherheit auftreten, damit auch Park diesen Eindruck gewann.
Oscar Park, ein hochgewachsener, elegant gekleideter Mann, hatte den Zeugenstand betreten. Dadurch, dass sich dieser mehrere Stufen über dem Boden des Gerichtssaals befand, wirkte Park noch eindrucksvoller. Daniel sagte sich, dass der Mann damit eher exponiert war. Wäre es übertrieben, ihn als angreifbarer anzusehen?
»Mr. Park«, begann er, »Sie sagen, der Angeklagte, Mr. Blackwell, habe dem Opfer, Mr. Hinton, einen hohen Geldbetrag geliehen.«
Park, der sich sehr gefasst gab, nickte. »Ja. Es wirkte großzügig – geradezu verschwenderisch.« Aus seiner erhöhten Position lächelte er geringschätzig auf Daniel herab. War ihm bewusst, wie jung und unerfahren er war?
»Hat Sie das überrascht?« Daniel musste versuchen zu erreichen, dass ihm Park vertraute. Vor allem aber musste er um das Vertrauen der Geschworenen werben; auf sie, und auf sie allein, kam es an.
»Offen gesagt, ja«, gab Park zurück. »Ich hätte ihn nicht für so töricht gehalten.«
»Haben Sie Hinton denn so gut gekannt, dass Sie einen Grund gesehen haben, ihm nicht zu trauen?«, erkundigte sich Daniel in harmlosem Ton.
Park bemühte sich, den Eindruck von Bescheidenheit zu erwecken, was ihm misslang. »Ich denke, ich kann mich rühmen, ein guter Menschenkenner zu sein, wenn ich das von mir selbst sagen darf«, erklärte er mit dem Anflug eines affektierten Lächelns.
»Und bei Hinton hatten Sie also mit Ihrer Einschätzung recht, dass es sich bei ihm um einen unbedeutenden Geldverleiher handelte, der zu hohe Risiken einging?«
»Ja. Die Ereignisse haben mir das bestätigt«, stimmte ihm Park zu.
»Im Hinblick auf Blackwell hingegen hatten Sie sich geirrt?«
Park sah verärgert drein; rote Flecken auf den Wangen zeigten seine Verlegenheit.
Daniel erkannte auf dem Gesicht einzelner Geschworener einen Anflug von Belustigung.
»Er scheint den Bezug zur Wirklichkeit verloren zu haben«, gab Park in beißendem Ton zurück, wobei er sich mit einer Hand auf das Geländer des Zeugenstandes stützte.
»Da gebe ich Ihnen recht«, sagte Daniel lächelnd und bekräftigte das mit einem Nicken. »Wer die Beherrschung verliert und einen Menschen erschießt, der ihm Geld schuldet, darf nicht damit rechnen, es zurückzubekommen. Das geht jetzt wohl an Hintons Erben, nicht wahr? Natürlich erst, wenn der Erbschein ausgestellt ist – und das kann dauern.« Daniel bemühte sich um einen möglichst neutralen Gesichtsausdruck. »Ich nehme an, dass Blackwell das nicht bedacht hat.«
Park war erkennbar unsicher geworden. »Er hat Hinton eben falsch eingeschätzt.«
»Und ihn deshalb erschossen?«, fragte Daniel sarkastisch.
Der Anklagevertreter, Mr. Sefton, erhob sich mit gelangweiltem Gesichtsausdruck. »Euer Ehren, der Zeuge hat bereits gesagt, dass er den Angeklagten nicht als so gefährlich eingeschätzt hatte. Ich habe den Eindruck, dass mein verehrter«, er sagte das Wort in leicht spöttischem Ton, »Kollege … das Wesentliche nicht erfasst hat.«
»Gewiss, gewiss.« Der Richter hob die Hand zu einer eleganten Geste leichter Zurückweisung. »Mr. Pitt, es kommt mir so vor, als ob Sie Ihre eigenen Schlussfolgerungen infrage stellten. Würden Sie bitte Ihren Gedankengang erneut aufgreifen, diesmal aber so, dass man erkennen kann, worauf Sie hinauswollen?«
Daniel konnte den Richter gut leiden, doch mahnte ihn die Schärfe in dessen Worten zur Vorsicht. Mit der Erwiderung »Danke, Euer Ehren!« bestätigte er, die Ermahnung verstanden zu haben. Seine Gedanken überschlugen sich. Er hatte die Absicht, zu zeigen, dass Park selbst bei Blackwell in der Kreide stand, konnte das aber nur auf Umwegen tun. »Danke«, wiederholte er.
Erneut wandte er sich Park zu. »Entspricht es der Wahrheit, dass Sie John Hinton deshalb nicht vor einer ihm von Mr. Blackwell drohenden Gefahr gewarnt haben, weil Sie keinen Grund dazu gesehen haben?«
»Ich glaube, das habe ich bereits gesagt«, antwortete Park und hob die Brauen.
»Das stimmt«, sagte Daniel mit einem Lächeln. »Obwohl Mr. Hinton bis zum Hals verschuldet war und nicht die geringste Aussicht bestand, dass er die gewaltigen Beträge würde zurückzahlen können.«
»Auch das habe ich gesagt«, erwiderte Park mit einem Kopfschütteln.
»Aber es bestand keine Gefahr, denn Mr. Blackwell verfügte, jedenfalls nahmen Sie das an, über beträchtliche Geldmittel und war äußerst großzügig.«
Wieder erhob sich Sefton. »Euer Ehren, die Anklage ist durchaus bereit, einzuräumen, dass der Zeuge Mr. Blackwells Wesen nicht zutreffend eingeschätzt hat, doch beharrt Mr. Pitt grundlos auf dieser belanglosen Einzelheit. Es ist meine feste Überzeugung, dass Mr. Park bedauert, Mr. Hinton nicht gewarnt zu haben, doch liegt darin kein schuldhaftes Verhalten. Der Angeklagte hatte ihm keinen Anlass zu der Vermutung gegeben, dass er mit einer selbstzerstörerischen Gewalttat reagieren würde.« Er erweckte den Eindruck eines Mannes, dem es gegen den Strich ging, dass man seine Zeit auf diese Art und Weise vergeudete.
Mit milder Miene fragte der Richter Daniel: »Mr. Pitt, wollen Sie auf etwas Bestimmtes hinaus?«
»Ja, Euer Ehren«, gab Daniel sogleich zur Antwort. Er hatte den ersten Schritt getan und durfte jetzt nicht den geringsten Fehler machen. »Ich bin sicher, dass Mr. Park ein solch ungewöhnliches Abweichen von Mr. Blackwells üblichem Verhalten nicht vorausgesehen hat …«
»Warum hacken Sie dann so auf diesem Punkt herum?«, fragte Sefton.
In verweisendem Ton wandte sich der Richter an den Anklagevertreter: »Mr. Sefton, es ist meine Aufgabe, den Herrn Verteidiger zu maßregeln, wenn das erforderlich ist. Sie sind dazu nicht befugt.«
Sefton sah verärgert drein, doch blieb ihm nichts anderes übrig, als sich zu entschuldigen.
»Danke, Euer Ehren«, murmelte Daniel und richtete, bevor der Richter auch noch die Geduld verlor, nun die entscheidende Frage an Park: »Sie hatten einen Grund für Ihre Einschätzung, nicht wahr?«
Park zwinkerte unbehaglich. Offensichtlich war ihm aufgegangen, dass er sich in eine Zwickmühle manövriert hatte.
»Sir …?« Daniel ließ ihm keine Zeit, nach einem Ausweg zu suchen. »Es gibt einen ganz einfachen Grund dafür, dass Sie John Hinton nicht davor gewarnt haben, dass Mr. Blackwell vor allem dann leicht die Geduld verliert, wenn ihm jemand Schulden nicht zurückzahlt: Sie selbst schuldeten ihm einen erheblichen Betrag. Genauer gesagt, Sie schulden ihm das Geld nach wie vor! Und trotzdem hat Sie niemand erschossen …«
»Das geht nur ihn und mich was an!«, stieß Park hervor. Dabei sah er erst zu dem Richter und dann zu Sefton. »Außerdem war es nicht besonders viel. Falls ich damit Blackwells Zorn gesteigert haben sollte … tut mir das leid. Aber woher hätte ich das wissen können?«
»Wie praktisch für Sie«, bemerkte Daniel. »Wenn man ihn wegen Mordes an Hinton hängen würde, könnte er sein Geld nicht von Ihnen zurückfordern, nicht wahr?«
Im Gerichtssaal entstand Unruhe. Park hatte sich mit zornrotem Gesicht über das Geländer des Zeugenstandes gebeugt.
Die Geschworenen sahen einander an. Einer schien nur mit Mühe einen Hurraruf zu unterdrücken.
Sefton war aufgesprungen, um zu protestieren.
Die Zuschauer auf der Galerie reagierten teils aufgebracht, teils erheitert.
Der Richter gebot Ruhe.
Daniel befürchtete, zu weit gegangen zu sein.
Genau in diesem Augenblick spürte er ein Zupfen am Ärmel. Als er sich umwandte, sah er Apperly dicht neben sich, den Anwaltsgehilfen der Sozietät fford Croft & Gibson. Dieser Mann von unbestimmtem Alter war klüger, als die meisten ihm zutrauten. Er wirkte zerzaust und atemlos, das Haar stand ihm wirr um den Kopf, und er machte einen zutiefst unglücklichen Eindruck. »Entschuldigung …«, begann er.
Daniel schnitt ihm das Wort ab. »Was wollen Sie? Mir ist klar, dass ich in der Klemme bin, aber ich stehe das durch. Ich musste …«
»Das geht nicht«, sagte Apperly und schüttelte den Kopf. »Dunham ist bei einem Verkehrsunfall ziemlich schwer verletzt worden.«
Mitgefühl erfasste Daniel. »Der arme Kerl. Wie geht es ihm? Wird er durchkommen?«
»Ja, aber das wird seine Zeit dauern. Sicher ein paar Wochen. Auf jeden Fall kann er jetzt Kitteridge nicht unterstützen, der in einem äußerst schwierigen Fall vor dem Zentralen Strafgerichtshof Old Bailey die Verteidigung übernommen hat …«
»Ich weiß«, sagte Daniel knapp. »Graves oder so ähnlich. Soll seine Frau ermordet haben.«
»Ja«, bestätigte Apperly mit kläglicher Stimme. »Es sieht für ihn überhaupt nicht gut aus.« Er wirkte aufgeregt.
»Das tut mir sehr leid, aber ich kann da nichts tun. Wenn überhaupt jemand dazu fähig ist, den Mann rauszuhauen, dann Kitteridge.« Das entsprach den Tatsachen. Toby Kitteridge war nicht nur der gewiefteste Anwalt der ganzen Sozietät, sondern wusste das auch und hatte es Daniel mehr als einmal unter die Nase gerieben. »Sie sehen selbst, dass mein Fall hier … auf eine Katastrophe zuschlittert.«
»Trotzdem.« Apperly ließ nicht locker. »Sie müssen den Fall hier unbedingt heute noch abschließen und dann morgen am Old Bailey für Dunham einspringen. Mr. fford Croft besteht darauf. Ich weiß nicht, warum, aber ihm liegt sehr an diesem Fall.«
»Jeder Beliebige in der Kanzlei kann Kitteridge zuarbeiten«, flüsterte Daniel. »Genau genommen, braucht er gar keine Hilfe, denn er schafft das sowieso allein. Der arme Dunham hat doch ohnehin nur dabeigesessen und ein unterwürfiges Gesicht gemacht.«
Apperly schüttelte den Kopf. »Mr. fford Croft hat das persönlich angeordnet. Sie müssen morgen früh dort sein.«
»Nein.« Daniel konnte selbst kaum glauben, wie abweisend seine Stimme klang. Niemand widersetzte sich Marcus fford Croft ungestraft. »Ich muss den Fall hier zu einem zufriedenstellenden Ende bringen …«
»Dieser Blackwell ist doch ein ganz windiger Bursche«, erklärte Apperly mit Nachdruck. »Er wird mit seiner Art auf die Dauer nicht durchkommen. Es lohnt sich nicht, Ihre Karriere für ihn aufs Spiel zu setzen.«
»Ich bin fest von seiner Schuldlosigkeit überzeugt«, gab Daniel leise zurück. Ihm war bewusst, dass sowohl Sefton als auch der Richter aufmerksam zu ihm herübersahen. »Und selbst wenn er schuldig wäre, hätte er es verdient, dass man ihn anständig verteidigt. Außerdem habe ich ihm mein Wort gegeben … Ich komme ins Old Bailey, um Kitteridge die gewünschten Hand- und Spanndienste zu leisten, sobald dieser Fall erledigt ist.« Er konnte vor Anspannung kaum atmen und merkte, dass ihm am ganzen Körper der Schweiß ausbrach. Stand er im Begriff, leichtfertig seine Zukunft aufs Spiel zu setzen?
Das würde ihm sein Vater nie verzeihen. Nein – das stimmte nicht. Sicher wäre er von ihm enttäuscht, aber noch enttäuschter wäre er, wenn sein Sohn Blackwell einfach seinem Schicksal überließe. Pitt hatte im Laufe der Jahre selbst zahlreiche Risiken auf sich genommen und wusste, wie wichtig es war, dass man Wort hielt.
Allmählich trat im Gerichtssaal wieder Ruhe ein.
Der Richter warf einen besorgten Blick auf Daniel. »Sind Sie bereit fortzufahren, Mr. Pitt?«
»Ja, Euer Ehren. Der Anwaltsgehilfe meiner Sozietät hat mir soeben …«
Apperly trat vor. »Ich bitte um Vergebung, Euer Ehren.«
Er verneigte sich fast so tief, als stünde er vor dem König. »Mr. Dunham, einer unserer Strafverteidiger, hatte einen schweren Verkehrsunfall, und Mr. Pitt soll an seine Stelle treten.«
»Etwa sofort?«, fragte der Richter mit unverhüllter Missbilligung.
»Nein, Euer Ehren, morgen Vormittag. Ich werde ihn mit dem Fall vertraut machen, sodass er die Abendstunden dazu nutzen kann, sich in die Akten einzuarbeiten. Ich bitte um Entschuldigung, Euer Ehren, wenn ich die Verhandlung gestört habe.«
»Das haben Sie nicht, Mr. Apperly«, beschied ihn der Richter knapp. »Zu der Unterbrechung war es bereits vor Ihrem Eintreffen gekommen. Und jetzt, da die Ordnung wiederhergestellt ist, werden wir, wenn es Ihnen recht ist, den Fall ›Krone gegen Roman Blackwell wegen Mordes an John Hinton‹ fortsetzen. Mr. Pitt, Ihnen bleibt ungefähr eine halbe Stunde, bis die Verhandlung vertagt wird. Nutzen Sie die Zeit nach Kräften.«
Daniel schluckte. »Danke, Euer Ehren. Ich erlaube mir, dem Gericht ins Gedächtnis zu rufen, dass der Zeuge eingeräumt hat, Mr. Blackwell eine beträchtliche Summe zu schulden, die er bisher nicht zurückgezahlt hat. Auch sieht er sich zur Zeit, soweit mir bekannt ist, dazu nicht in der Lage. Daher gebe ich dem Gericht zu bedenken, dass er in der Angelegenheit bei Weitem nicht so unvoreingenommen ist, wie er behauptet hat. Ich denke, dass damit ein hinreichender Anlass für einen begründeten Zweifel gegeben ist, Euer Ehren.«
Alle Geschworenen sahen wie gebannt zu ihm hinüber. Sie spürten, dass ein Kampf auf Biegen und Brechen in der Luft lag.
Daniel nutzte die letzten Augenblicke des Nachmittags, um festzustellen, wie hoch Parks Schulden bei Blackwell waren. Ihm war bewusst, dass seine Beschuldigung des Mannes auf schwachen Füßen stand, aber etwas anderes hatte er nicht.
Als er das Gerichtsgebäude verließ, schwirrte ihm der Kopf. Der Gedanke, Kitteridge assistieren zu müssen, und sei es auch nur der Form halber, erschreckte und reizte ihn zugleich. Er mochte den Mann nicht besonders, der etwa zehn Jahre älter und unendlich erfahrener war als er selbst, was dieser ihm in geradezu widerwärtiger Weise zu verstehen gegeben hatte.
Andererseits bedeutete diese Aufgabe für ihn eine unerwartet frühe und günstige Gelegenheit. Selbst wenn man ihn lediglich mit Botendiensten innerhalb des Gerichts betraute, würde er doch im altehrwürdigen Old Bailey, das immerhin auf das Jahr 1585 zurückging, an der Seite eines Mannes von Kitteridges Kaliber sitzen. Eine ganze Reihe der bedeutendsten Fälle in der Geschichte des Landes waren vor diesem Zentralgericht verhandelt worden.
So tief war Daniel in Gedanken versunken, dass er in der Gray’s Inn Road an der Bushaltestelle vorüberging, ohne es zu merken. Er musste umkehren und auf den nächsten Omnibus warten, der ihn zu seiner Unterkunft bringen würde. Zwar waren es bis dorthin nur gut drei Kilometer, doch schien ihm das für einen Fußmarsch nach einem langen Arbeitstag zu weit. Er musste unbedingt eine Lösung finden, wie er Roman Blackwell am nächsten Morgen beistehen könnte. Das war seine Pflicht, und er hatte versprochen, alles dafür zu tun. Auch war ihm bewusst, dass in diesem späten Stadium des nahezu aussichtslosen Prozesses niemand außer ihm dazu imstande sein würde.
Gäbe es doch nur eine Möglichkeit nachzuweisen, wie unglaubwürdig der Hauptzeuge Park war, und damit den Zweifel an Blackwells Täterschaft zu verstärken! Je länger Daniel darüber nachdachte, desto mehr war er davon überzeugt, dass Park selbst den Mord begangen hatte. Aber wie sollte er das beweisen? Nach außen hin war der Mann das Musterbild eines ehrbaren Bürgers.
Bisher hatte niemand seine Rechtschaffenheit infrage gestellt. Es würde schwer werden, das zu tun, es sei denn, man konnte ihn dazu bringen, sich zu widersprechen. Je mehr Park redete, desto eher könnte das gelingen.
Als Daniel die Haltestelle wieder erreichte, wartete dort inzwischen eine lange Schlange. Unmittelbar vor ihm standen drei Männer. Zwei von ihnen trugen Aktentaschen, die aber weder so neu noch so hochwertig waren wie Daniels. Sein Vater hatte sie ihm zum Studienabschluss geschenkt, und jedes Mal, wenn er sie in die Hand nahm, freute er sich – nicht nur, weil es ein edles Stück war, sondern auch, weil er an den stolzen Blick seines Vaters denken musste. Es war ihm wichtig, dessen Erwartungen nicht zu enttäuschen. Gerade weil sein Vater diese nicht in Worte fasste, fühlte sich Daniel ganz besonders angespornt.
Die Männer vor ihm traten ungeduldig von einem Fuß auf den anderen. Einer nahm die Aktentasche aus der Rechten in die Linke, vermutlich war sie schwer.
Wo der Bus nur blieb? Hatte er womöglich einen verpasst?
Er ließ den Blick durch die Straße voller Fuhrwerke und Kraftfahrzeuge wandern. Für den Heimweg eine Droschke zu nehmen, konnte er sich nicht leisten. Strafverteidiger, die wie er am Anfang ihrer Laufbahn standen, wurden schlecht bezahlt, und er dachte nicht daran, seinen Vater um einen Zuschuss zu bitten. Das würde ihn nur moralisch unter Druck setzen, auch wenn sein Vater derlei nie sagen würde. Gewiss, finanzielle Sicherheit war wichtig, aber noch wichtiger war Daniel seine Freiheit.
Ihm stand noch genau ein Vormittag zur Verfügung, um Park in die Falle zu locken und Blackwell vor dem Galgen zu bewahren. Was war einem Menschen wie Park wichtig? In erster Linie ging es ihm wohl darum, seine Haut zu retten, aber er war auch scharf auf Geld. Seine Geldgier hatte ihn in die Situation gebracht, in der er sich befand – und natürlich das von ihm errichtete Lügengebäude.
Vielleicht käme er dem Ziel näher, wenn er dem Mann einige weitere Fragen dazu stellte, wer außer ihm noch wem Geld schuldete. Bei den in diesen Fall verwickelten Männern schien Geld die Grundlage aller ihrer Beziehungen zu bilden. Daniel nahm sich vor, die Akten noch einmal gründlich durchzugehen und zu sehen, ob er ihnen etwas entnehmen konnte, was ihm bisher entgangen war.
Endlich kam der Bus. Er war so voll, dass keiner der neu Zugestiegenen einen Sitzplatz fand. Daniel tröstete sich mit dem Gedanken, dass er nicht einmal in scharfen Kurven würde umfallen können, denn die Fahrgäste standen dicht an dicht. An der James Street stieg er aus und ging die wenigen hundert Schritte bis zu seiner Unterkunft. Sein Zimmer war ruhig, sauber und meist auch gut geheizt. Was ihn besonders freute, war, dass aus dem Fenster der Blick auf den Garten fiel. Mrs. Portiscale, der das Haus gehörte, eine Frau, die etwa so alt war wie seine Mutter, aber keine Kinder hatte, bemutterte ihn geradezu. Das war ihm nicht immer recht, doch im Großen und Ganzen empfand er ihre Gegenwart als angenehm. Nicht nur aus seinem Elternhaus war er Gesellschaft gewohnt; auch in seinem College in Cambridge war er nicht einmal dann allein gewesen, wenn er das Bedürfnis danach verspürt hatte. Meist aber war er froh gewesen, jemanden um sich zu haben.
Ursprünglich hatte er sich über die Unabhängigkeit des Alleinlebens gefreut. Niemand würde ihn unterbrechen, um ihn um dies oder jenes zu bitten oder ihn nach seiner Meinung zu fragen. Mitunter allerdings fühlte er sich einsam, und bei solchen Gelegenheiten wäre ihm die Gesellschaft anderer mehr als recht gewesen. Die meisten Männer in der Anwalts-Sozietät waren deutlich älter als er, und er achtete sorgfältig darauf, nicht den Eindruck zu erwecken, als stehe ihm einer von ihnen näher als die anderen. Er hatte früh gemerkt, dass es dort unterschwellige Bündnisse und Rivalitäten gab. Da ihm bewusst war, dass er sich mit einer einzigen Fehleinschätzung in größte Schwierigkeiten bringen konnte, war er darauf bedacht, in nichts verwickelt zu werden und für niemanden Partei zu ergreifen.
Die Wärme der geräumigen Diele, in der es angenehm nach Möbelpolitur mit Lavendelduft roch, hüllte ihn ein.
»Sind Sie das, Mr. Pitt?«, rief die Zimmerwirtin aus der Küche am anderen Ende des Ganges. »Möchten Sie eine Tasse Tee?«
»Gern, Mrs. Portiscale«, gab er zurück. Er nahm ihre Angebote stets an, weil er fürchtete, dass sie damit aufhören würde, wenn er einmal ablehnte. Ganz davon abgesehen, war es ein angenehmes Gefühl, im Hause willkommen geheißen zu werden.
Er setzte sich in den Aufenthaltsraum, in dem die Zimmerherren Besuch empfangen durften. Mrs. Portiscale war sehr darauf bedacht, dass die jungen Männer keine Damen mit auf ihre Zimmer nahmen. »Selbstverständlich vertraue ich Ihnen, Mr. Pitt«, hatte sie bei seinem Einzug gesagt, »aber ich behandle alle meine Mieter gleich. Das ist nur recht und billig.«
»Wie sieht es mit Ihrem Fall aus?«, erkundigte sie sich jetzt, als sie mit frischem Tee und knusprigen Keksen hereinkam – sie wusste, dass er keinen Zucker nahm. Die Hände in die Hüften gestützt, trat sie in ihrer weißen Bluse und einem dunklen Rock vor ihn hin, unübersehbar in der Stimmung zu plaudern. Gleichsam als Gegenleistung für ihre besondere Aufmerksamkeit hatte Daniel ihr schon früher gelegentlich dies und jenes über seine Arbeit mitgeteilt, was nicht der Pflicht zur Verschwiegenheit unterlag. Nie nannte er Namen, wenn er über sonderbare Zeugen und Geschworene sprach. Es überraschte ihn zu sehen, wie scharfsinnig sie Heuchelei durchschaute. So manches Mal hatte sie ihn mit auf den ersten Blick widersinnig scheinenden Einschätzungen überrascht, die sich dann aber überraschenderweise als zutreffend erwiesen.
»Morgen muss ich ihn so schnell wie möglich zu Ende bringen«, sagte er lächelnd. Er fühlte sich nicht im geringsten fröhlich, hatte aber die Erfahrung gemacht, dass man ihm nahezu alles durchgehen ließ, wenn er es mit einem Lächeln aussprach. Er hatte allerdings den Verdacht, dass seine Wirtin diesen Trick durchschaute. »Vielen Dank für den Tee und die Kekse, Mrs. Portiscale.«
»Nichts zu danken«, sagte sie. »Sie sollten nicht bis spät in die Nacht über Ihren Akten sitzen, junger Mann – Sie brauchen Ihren Schlaf. Abendessen in einer Stunde, Auflauf aus Hackfleisch und Kartoffelbrei.«
Er lächelte ihr erneut zu und ging dann den Fall in Gedanken noch einmal durch.
Was sprach eigentlich für eine Täterschaft Blackwells? Es dürfte das Beste sein, die plausiblen Elemente von den unplausiblen zu trennen – an die brauchte man dann keine weiteren Gedanken zu verschwenden.
Unbestreitbar war, dass Hinton fünf Wochen zuvor in seiner Wohnung nahe der Pentonville Road zwischen neun Uhr abends und Mitternacht mit seiner eigenen Pistole erschossen worden war, auf der sich, wie die Untersuchung gezeigt hatte, keine Fingerabdrücke befanden.
Roman Blackwell war dafür bekannt, dass er in den Tag hinein lebte und die Wechselfälle des Schicksals nahm, wie sie kamen. Zu den unbestreitbaren Tatsachen gehörte, dass er Hinton eine beträchtliche Summe zinslos geliehen und von ihm nicht zurückbekommen hatte.
Blackwell konnte weder beweisen noch einen Zeugen dafür nennen, wo er sich zum Zeitpunkt von Hintons Ermordung aufgehalten hatte. Er behauptete, er sei in seiner Eigenschaft als privater Ermittler hinter einem Mann her gewesen, den man der Erpressung verdächtigte, doch da er sich dazu, wie er sagte, verkleidet hatte, um nicht erkannt zu werden, konnte niemand bestätigen, ihn gesehen zu haben.
Nachdem Daniel den Tee ausgetrunken hatte, brachte er das Tablett in die Küche zurück und ging in sein Zimmer, um noch einmal alle Unterlagen zu dem Fall durchzuarbeiten. Zum Abendessen ging er nach unten und machte sich danach im gelblichen Schein der Gaslampe erneut an die Arbeit.
Bis Mitternacht hatte er nichts gefunden, was ihm weiterhelfen konnte. Mit müder Geste legte er das letzte Blatt auf den auf Hochglanz polierten Tisch zurück. Die Vorstellung, Blackwell im Stich zu lassen, war ihm in tiefster Seele zuwider, zumal ihm der Mann vertraute, obwohl Daniel bis dahin vor Gericht höchstens Bagatelldiebstähle verhandelt hatte. Möglicherweise hatte er gewittert, dass Daniel zu den Menschen gehörte, die sich mit allen Kräften bemühten, das in sie gesetzte Vertrauen nicht zu enttäuschen, und ihn deshalb mit seiner Verteidigung beauftragt. Daniel glaubte zwar nicht, dass Blackwell ihn bewusst benutzte, hatte aber durchaus den Eindruck, dass der Mann ein ausgefuchster Menschenkenner war und genau wusste, was er tat. Es war bekannt, dass er sich auch früher schon häufig anderer bedient hatte, wenn er in Schwierigkeiten war.
Diesmal ging es für Blackwell im Wortsinn darum, den Hals aus der Schlinge zu ziehen, und Daniel zweifelte nicht daran, dass seine Angst vor dem Galgen nicht gespielt war. Beim bloßen Gedanke daran lief es ihm selbst eiskalt über den Rücken.
Da saß er behaglich in einem alten Haus, das Generationen von Menschen bewohnt hatten, genoss den Anblick der schönen Gemälde an den Wänden, überlegte, dass auch er sich eines Tages Bilder kaufen würde, die ihm gefielen – vielleicht kahle Bäume im Winter? Einen Himmel mit dahinjagenden Wolken? Etwas, was nicht nur dem Auge wohlgefiel, sondern den Betrachter auch anregte?
Er würde nicht schlafen, musste nachdenken, eine Möglichkeit suchen, wie er den Mann retten konnte. Er stellte sich vor, wie Blackwell die Waffe zur Hand nahm und lud. Er ging in Gedanken jede einzelne Bewegung durch: den Verschluss öffnen, die Patrone zur Hand nehmen, sie sorgfältig in den Lauf schieben und den Verschluss schließen. Als Nächstes mit einem Lappen oder, besser noch, mit einem Fensterleder sorgfältig alle Spuren abwischen. Mit Handschuhen dürfte sich eine Pistole kaum laden lassen.
Dann erstarrte Daniel. Ob der Täter auch daran gedacht hatte, die Patronenhülse abzuwischen? Falls nicht, mussten sich die Fingerabdrücke des Mörders darauf befinden!
Ottershaw! Das war der Experte, der die Waffe auf Fingerabdrücke untersucht hatte. Ein freundlicher und fähiger Mann. Sicher hatte er daran gedacht, auch die Hülse in Augenschein zu nehmen – immer vorausgesetzt, dass man sie ihm gegeben hatte. Die Polizei hatte am Tatort alles eingesammelt, was von Bedeutung schien. Befand sich auch die Patronenhülse unter diesen Gegenständen? War sie überhaupt gefunden worden, oder hatte man gar nicht danach gesucht?
Daniel erhob sich. Mitternacht war vorüber, aber die Zeit war knapp; keinesfalls konnte er bis zum nächsten Morgen warten. Er zog den Mantel an und ging zur Tür. Er musste leise sein, um niemanden zu wecken, insbesondere nicht Mrs. Portiscale, denn sie würde beim leisesten Geräusch aus ihrem Zimmer kommen und sich erkundigen, was es gab.
Obwohl die Straßen so gut wie leer waren, brauchte er fast eine halbe Stunde bis zu Ottershaws Haus. Dreimal musste er klingeln, bis der Hausherr selbst öffnete. Er war hochgewachsen und schlank, beinahe ebenso groß wie Daniel. Er blinzelte unsicher wegen des hellen Lichts in der Diele.
»Bitte entschuldigen Sie, Dr. Ottershaw«, sagte Daniel, während er eintrat. Er bat erneut um Verzeihung. »Ich weiß, wie spät es ist – aber mir ist ein Gedanke gekommen, der für meinen Mandanten die Entscheidung über Leben oder Tod bedeuten kann.«
»Tatsächlich?« Ottershaw sah ihn zweifelnd an. Er hatte einen Morgenmantel über den Schlafanzug gezogen, und Daniel fiel auf, dass er nur einen Pantoffel trug.
Es war Daniel bewusst, dass er ziemlich dumm dastehen würde, wenn sich herausstellte, dass Ottershaw auch die Patronenhülse untersucht hatte, was nicht ganz unwahrscheinlich war. In dem Fall hätte er ihn für nichts und wieder nichts um zwei Uhr nachts aus dem Schlaf gerissen.
»Und das wäre?«, erkundigte sich Ottershaw.
»Ich habe mir vorgestellt, dass ich eine Pistole lade«, erwiderte Daniel und schloss die Tür hinter sich.
Ottershaw hob unheilverkündend die Brauen. »Mein junger Freund …«
»Nein.« Daniel schoss vor Beschämung über seine Ungeschicklichkeit die Röte ins Gesicht. »Ich meine, was würde man dabei anfassen?«
»Das Griffstück, wahrscheinlich auch den Abzugsbügel und den Lauf. Aber an keiner dieser Stellen haben sich Fingerabdrücke gefunden.«
»Und was ist mit der Patronenhülse?«
»Aha! Ich verstehe, worauf Sie hinauswollen. Die hat man mir erst später gebracht, ein anderer, jüngerer Polizist.« Sein Gesicht leuchtete förmlich vor Begeisterung auf. »Man fasst beim Ladevorgang möglicherweise auch die Hülse an – genau genommen, tut man das bestimmt. Falls der Täter beim Laden der Waffe Handschuhe getragen hat, hätte er sie für das Einschieben der Patrone ausziehen müssen, denn das verlangt Fingerspitzengefühl. Mit Handschuhen kann ich nicht einmal meinen Namen leserlich schreiben.« Betrübt fügte er hinzu: »Ohne übrigens auch nicht.« Er ging auf die Treppe zu, die ins Obergeschoss führte. »Ich ziehe mich rasch an, dann sehen wir nach der Hülse. Mein Labor befindet sich im Keller. Da ist man ungestört. Ich würde Ihnen gern eine Tasse Tee anbieten, aber wir müssen gleich an die Arbeit gehen. Ich wüsste auch gar nicht, wie man Tee macht, und meinen Butler möchte ich um diese Stunde nicht bemühen. Er schläft in einer Dachkammer und würde ohnehin nicht einmal wach, wenn man eine Kanone neben ihm abfeuerte. Warten Sie, ich bin gleich wieder da.«
In Wirklichkeit dauerte es volle zehn Minuten, bis er zurückkehrte. »Ach je. Ich hätte Sie ins Besuchszimmer bitten sollen. Hier im Vestibül ist es ja wirklich nicht besonders angenehm. Kommen Sie, wir wollen sehen, was wir finden können.«
Er ging ihm zur Kellertür voraus, schaltete das elektrische Licht ein und machte sich über eine ziemlich steile Treppe auf den Weg nach unten. Daniel folgte ihm. Unten fand er sich in einer gänzlich anderen Welt wieder. Auf einem großen Labortisch sah er außer Bunsenbrennern Reagenzgläser in ihren Ständern und Retorten. Verschlossene Kästen mit Glasdeckeln enthielten zahlreiche Instrumente. Große Glasgefäße mit sauber beschrifteten Etiketten ließen Daniel unwillkürlich an die Bonbongläser eines Süßwarenladens denken. Viele andere Gegenstände waren ihm völlig unbekannt. Am anderen Ende des Raumes stand ein runder Holzofen, in dem das Feuer noch nicht gänzlich erloschen war, sodass der Raum weder kalt noch feucht wirkte.
Ottershaw erkannte Daniels Überraschung. »Ah!«, sagte er im Ton tiefer Befriedigung. »Sie haben mich wohl für einen Sonderling gehalten, was? In Wirklichkeit bin ich äußerst praktisch veranlagt. Die Naturwissenschaft sagt stets die Wahrheit, wir verstehen sie nur mitunter falsch. Wir entdecken, was wir zu finden erwarten oder, schlimmer noch, was wir gern entdecken würden.«
Er trat an einen Aktenschrank, schloss ihn auf und nahm einen Ordner heraus. Aus einer Schublade holte er eine in ein Tuch gewickelte Pistole, neben der ein kleineres Stück Stoff lag – vermutlich befand sich darin die Hülse. »Passen Sie gut auf!«, sagte er wie ein Zauberkünstler zu Beginn seines Kunststücks. »Wir werden uns jetzt die Patronenhülse aufmerksam ansehen.« Er streifte sich Baumwollhandschuhe über und wickelte die Pistole sowie die Patronenhülse aus.
»Was ist in dem Ordner?«, fragte Daniel.
»Eine vergrößerte Aufnahme von Mr. Blackwells Fingerabdrücken. Die werden wir mit denen vergleichen, die wir auf der Waffe zu finden hoffen.«
»Aber da hat man doch keine gefunden«, warf Daniel ein.
Ottershaw sah ihn verschmitzt an. »So ist es, junger Freund. Es wird uns auch nur dann etwas nützen, wenn wir auf der Hülse Spuren finden, die nicht von Blackwell stammen. Sollten wir aber welche von ihm entdecken, würde die Sache sehr viel anders aussehen. Sind Sie ganz sicher, dass ich danach suchen soll?«
Obwohl seine Entscheidung endgültig sein würde und Blackwells Leben praktisch davon abhing, brauchte Daniel nicht lange zu überlegen. Sofern Blackwell unschuldig war, war das die einzige Möglichkeit, ihn vor dem Galgen zu bewahren. Sollte er aber schuldig sein, wäre er ohnehin verloren. Wenn Daniel nichts unternahm, konnte er sich nur noch der Erkenntnis stellen, dass er keine Möglichkeit hatte, seinen Mandanten zu retten. »Ja«, sagte er fest. »Ich gehe das Risiko ein – alles ist besser, als mir vorwerfen zu lassen, ich hätte nicht getan, was menschenmöglich war.«
Ottershaw lächelte ihm kurz zu. Im Licht der hellen Laborbeleuchtung wirkte sein Gesicht sonderbar dämonisch. Sogleich machte er sich schweigend an die Arbeit. Außer einem leisen metallischen Klicken, das entstand, als er die Hülse mit einem Holzstab aufnahm, den er dann senkrecht in einem Schraubstock fixierte, hörte man kein Geräusch.
Aufmerksam sah Daniel zu, wie Ottershaw eine Blechdose öffnete, einen Pinsel hineintauchte und dann etwas Pulver auf die Hülse tupfte. Er trat näher und atmete tief ein. Auf der Metalloberfläche wurden feine Linien sichtbar.
Ottershaw atmete vorsichtig aus. Es klang wie ein leiser Seufzer. Ganz offensichtlich hatte er etwas entdeckt.
»Schön vorsichtig!«, mahnte er. »Da sind in der Tat Fingerabdrücke. Aber noch wissen wir nicht, zu wem sie gehören.«
Daniel hätte ihm beinahe geantwortet, begriff dann aber, dass Ottershaw mit sich selbst sprach. Deutlich erkannte er die Anspannung auf dem Gesicht des Mannes. Hier ging es um eine Kunst, die er beherrschte und mit der er vielleicht ein Wunder bewirken konnte.
Ottershaw schien Daniels Anwesenheit vollständig vergessen zu haben, während er die Muster sorgfältig durch eine Lupe betrachtete.
Daniel hielt den Atem an.
»Möglich wäre es …«, sagte Ottershaw nach einer Weile. »Sie sehen denen von Blackwell zwar ähnlich, aber es gibt Unterschiede, und zwar deutliche. Sehen Sie hier.« Er trat vom Labortisch zurück, wies abwechselnd auf die Fotos von Blackwells Fingerabdrücken und die Spuren auf der Patronenhülse. »Hier – sehen Sie diese Wirbel …« Er wies mit der Spitze eines metallenen Instruments auf die Stelle.
Daniel sah angestrengt hin und erkannte feine, nahezu kreisförmige Linien.
»Sehen Sie sie?«, fragte Ottershaw.
»Ja.«
»Das da sind die, die wir von Blackwell genommen haben. Können Sie erkennen, dass die Daumenabdrücke nahezu identisch sind?«
»Ja …«
»Und jetzt sehen Sie sich einmal die Linien da an.« Mit diesen Worten wies Ottershaw auf eine Stelle der Patronenhülse, an der die Linien unterhalb des Wirbels unterbrochen waren. Es war nur ein einziger Daumenabdruck, aber die Linien verliefen in einem anderen Winkel, und sie waren an mehreren Stellen unterbrochen. Die Abdrücke waren nicht identisch! Sie stammten nicht von demselben Daumen. Ottershaw wies auf die Aufnahme, die den Abdruck des rechten Daumens zeigte und dann auf eine daneben. »Es ist auch nicht der linke«, sagte er. »Natürlich wissen wir nicht, wem er gehört, aber das ist für Ihren Prozess auch unerheblich. Das hier gibt Ihnen die Möglichkeit, auf ›begründeten Zweifel‹ zu plädieren.« Er sah Daniel aufmerksam an, um sich zu vergewissern, dass er verstanden worden war.
»So ist es«, stimmte ihm Daniel zu. Für ihn war es das Wichtigste, dass er Blackwells Schuldlosigkeit beweisen konnte.
Ottershaw schüttelte den Kopf. »Es gibt für Sie noch eine Menge zu lernen, junger Mann. Die Geschworenen sind zwölf einfache Männer aus dem Volk, denen in keiner Weise an Höhenflügen oder Abenteuern des Geistes liegt. Glauben Sie mir, ich habe schon häufig versucht, solchen Männern wissenschaftliche Erkenntnisse auseinanderzusetzen – die Mühe hätte ich mir ebenso gut sparen können. Vor Gericht genügt es nicht, recht zu haben, man muss auch gewiefter sein als die Gegenseite. Dieser Sefton ist kein Dummkopf. Ich kenne ihn. Er wird versuchen, die Geschworenen davon zu überzeugen, dass der Angeklagte ein übler Gauner ist, der Sie in Ihrer Unerfahrenheit um den Finger wickelt. Mit Tatsachen kommen Sie da nicht weiter.« Er schüttelte betrübt den Kopf, als habe er diese Worte schon oft und vergeblich gesagt.
Daniel fühlte sich schlagartig ernüchtert. »Aber man kann doch sehen, dass das nicht Blackwells Daumenabdruck ist!«, rief er aus.
»Man kann das sehen«, gab ihm Ottershaw recht. »Aber wenn ich das nicht glauben will, sehe ich es nicht.«
»Doch«, widersprach ihm Daniel heftig.
Ottershaw lächelte freundlich. »Ja«, bestätigte er. »Ich sehe es. Dieser Blackwell ist ein Halunke, aber ich halte ihn nicht für einen Mörder. Und ich würde mich freuen, wenn Sie den Fall gewinnen. Ich kann Sie gut leiden. Sie sind die Zukunft – aufgeschlossen, vorurteilslos, bereit zu lernen und auf das zu hören, was man Ihnen sagt – jedenfalls meistens. Aber allein damit werden Sie den Fall nicht für sich entscheiden können.«
Ernüchtert fragte Daniel: »Womit denn?«
»Sie müssen die Geschworenen erst einmal dahin bringen, dass sie Ihnen glauben, und ihnen dann zeigen, warum sie allen Grund dazu haben. Dann werden sie Ihnen bereitwillig folgen, und Sefton hat keine Möglichkeit, sie davon abzubringen.«
»Aber mir bleibt nur der heutige Vormittag.«
Mit leuchtenden Augen erwiderte Ottershaw: »Dann werden Sie sich eben beeilen müssen.«
»Sie auch«, antwortete ihm Daniel. »Ich werde Sie nämlich als Zeugen benennen. Ich brauche einen Fachmann, der bereit ist, die Abweichungen bei den Fingerabdrücken zu beeiden. Bis jetzt war das nicht nötig, weil wir keine hatten.«
»Gut«, sagte Ottershaw mit fröhlicher Miene. »Wollen wir jetzt eine Tasse Tee trinken?«
»Wie bitte?«, fragte Daniel verwirrt.
»Möchten Sie eine Tasse Tee? Ich denke nicht daran, ohne einen Schluck Tee und ein Stück Kuchen die ganze Nacht hindurch zu arbeiten.«
»Ach ja – bitte gern.« Jetzt erst merkte Daniel, wie sehr ihm danach war. »Soll ich den Tee machen?«
»Guter Gedanke. Und danach gehen wir ans Werk, mein Junge. Es bleibt noch viel zu tun. Aber zuerst müssen wir klare Verhältnisse schaffen.« Bei diesen Worten sah er Daniel unverwandt an.
»Ja …«
»Gut. Die Sache ist ganz einfach: in Rechtsfragen richte ich mich nach Ihnen, und bei allem, was mit Wissenschaft und der menschlichen Natur zusammenhängt, richten Sie sich nach mir.«
»Ich habe …«
»Ah, ich sehe, Sie sind einverstanden. Ausgezeichnet.«
Eigentlich hatte Daniel Einwände erheben wollen, aber nach einem erneuten Blick auf Ottershaw überlegte er es sich anders. »Ja, Sir.«
Ottershaw wartete.
»Ja, Sir, ich bin einverstanden«, bekräftigte Daniel seine Entscheidung.
»Und jetzt wollen wir uns um den Tee kümmern …«
Nachdem Daniel einige Stunden auf Ottershaws Sofa geschlafen hatte, stand er auf und wusch sich. Obwohl er gewöhnlich einen Klingenapparat benutzte, lieh er sich Ottershaws Rasiermesser, auf die Gefahr hin, sich zu schneiden. Auch einen Kamm musste er sich ausleihen.
Anschließend packte er sorgfältig die Pistole ein, die ihm Ottershaw für die im Gerichtssaal geplante Demonstration zur Verfügung gestellt hatte.
Nach einem in aller Eile eingenommenen Teller Haferbrei zum Frühstück machten sie sich auf den Weg zum Gericht. Im Unterschied zu Daniel schritt Ottershaw munter aus. Er kannte Blackwell nicht so gut, dass er unbedingt bestrebt gewesen wäre, sein Leben zu retten. Daniel hingegen hatte ihn, wie auch seine Mutter, in der kurzen Zeit, die sie miteinander zu tun gehabt hatten, recht gut kennengelernt. Es war ihm gleich, ob sie ihn aus Berechnung mit dem Mandat betraut hatten oder nicht – ihm lag allein schon deshalb sehr viel daran zu erreichen, dass der Mann freigesprochen wurde und seine Mutter nicht alles verlor, woran ihr Herz hing, weil er das Vertrauen nicht enttäuschen wollte, das die beiden in ihn gesetzt hatten.
Der Gerichtssaal bot das gleiche Bild wie am Vortag: die Zuschauerbänke waren dicht besetzt, die Geschworenen waren voller Spannung, und Sefton wirkte selbstsicher wie eh und je, geradezu siegesgewiss. Er schien bereits den köstlichen Geschmack des Triumphes zu erahnen. Er war sicher, dass er nur noch danach zu greifen brauchte.
»Mr. Pitt?«, sagte der Richter mit gehobenen Brauen.
»Sehr wohl, Euer Ehren.« Daniel stand auf. »Ich rufe den einzigen Zeugen der Verteidigung auf: Dr. Octavius Ottershaw.«
Sogleich sprang Sefton auf. »Euer Ehren, Dr. Ottershaw ist dem Gericht bestens bekannt. Er ist Spezialist für Fingerabdrücke, möglicherweise sogar der führende im ganzen Land. Allerdings dürften wir kaum auf seine Sachkunde angewiesen sein, um zu erfahren, dass sich an der Waffe, mit der Hinton erschossen wurde, keine Fingerabdrücke befanden.«
Der Richter sah zu Daniel. »Ich will nicht hoffen, dass Sie hier mit einem aus Verzweiflung geborenen Ablenkungsmanöver operieren wollen, Mr. Pitt?«
»Nein, Euer Ehren, ganz im Gegenteil«, gab Daniel zurück.
»Schön. Dann rufen Sie jetzt Ihren Zeugen auf. Und Sie, Mr. Sefton, darf ich bitten, sich ein wenig zurückzuhalten. Ich denke nicht daran, einen Mann zum Tod durch den Strang zu verurteilen, bevor ich mir angehört habe, was zu seiner Verteidigung vorzubringen ist. Haben Sie mich verstanden?«
»Ja, Euer Ehren.« Hinter Seftons Fügsamkeit glomm unübersehbar unterdrückter Zorn.
Daniel rief Ottershaw auf. Dieser trat in den Zeugenstand und nannte, nachdem er vereidigt worden war, seinen Namen, seine Anschrift sowie seine eindrucksvollen beruflichen Qualifikationen.
»Dr. Ottershaw«, begann Daniel, und ihm war bewusst, dass er mit jedem Wort, das er sagte, die Aufmerksamkeit der Geschworenen auf sich lenken musste. Er konnte ihnen kaum übelnehmen, dass sie bereits von Blackwells Schuld überzeugt waren. Sie wollten keine weiteren Erklärungen hören, vor allem aber wollten sie nichts von Winkelzügen wissen. Und all das war Sefton klar, und er würde sich das zunutze machen, sobald er eine Gelegenheit dazu erkannte. »Sind Sie sicher, dass es in keinem Land der Erde zwei Menschen mit identischen Fingerabdrücken gibt?«, fragte Daniel in harmlosem Ton. Er musste sich kurz fassen.
»Ja, Sir. Absolut sicher«, gab Ottershaw zurück. Dann wandte er sich den Geschworenen zu. »Nehmen wir Sie zum Beispiel, Sir.« Mit diesen Worten fasste er einen breitschultrigen, gut gekleideten Mann ins Auge, bei dem man sich gut vorstellen konnte, dass er eine hohe Meinung von sich hatte. »Ihre Fingerabdrücke sind einzigartig. Niemand auf der ganzen Welt hat die gleichen wie Sie.«
Der Angesprochene nahm das offensichtlich als Kompliment, denn er lächelte geschmeichelt.
»Das ist von großer Bedeutung«, fuhr Ottershaw fort. »Auch wenn sich die Wirbel, Schleifen und Inseln, die es in dieser Form bei keinem Menschen außer Ihnen gibt, mit bloßem Auge kaum erkennen lassen, sind sie weit unverwechselbarer als Ihre Unterschrift. Bestimmt haben Sie schon die eine oder andere unleserliche Unterschrift gesehen. Das trifft auch für meine zu, wenn ich den ganzen Tag geschrieben habe. Aber meine Fingerabdrücke ändern sich nie – sie bleiben immer gleich.« Er nahm ein präpariertes Stück Pappe von etwa zehn Zentimetern im Quadrat aus der Tasche. Mit den Worten »Sie gestatten, Euer Ehren?« hielt er es dem Geschworenen hin, ohne auf die Antwort des Richters zu warten. »Wenn Sie es kräftig anfassen, hinterlassen Sie Ihre Fingerabdrücke darauf. Bitte …«
Der Mann nahm es, und sein Gesicht leuchtete begeistert auf. »Und das sind meine?«
»So ist es. Und niemand auf der ganzen Welt kann die gleichen hinterlassen. Sehen Sie den Wirbel in der Mitte? Und die winzigen Inselchen? Aber ich muss fortfahren. Lassen Sie mich Ihnen zeigen, inwiefern das von Bedeutung für den Fall ist, über den Sie urteilen sollen«, fügte er rasch hinzu. Dann wandte er sich um und ging zu Daniel hinüber.
»Beweisstück der Verteidigung«, sagte Daniel laut und übergab Ottershaw eins der Blätter, die sie im Laufe der Nacht vorbereitet hatten.
Ottershaw nahm es und trat damit zu den Geschworenen.
Daniel gab auch Sefton ein Exemplar, das dieser zuerst mit Interesse entgegennahm, dann aber gleich hinlegte, als er gesehen hatte, worum es ging. »Euer Ehren«, sagte er, an den Richter gewandt, »hier geht es um nicht identifizierte Fingerabdrücke, die für diesen Fall keinerlei Bedeutung haben. Für den Fall, dass mein … verehrter … Kollege das vergessen haben sollte, möchte ich sein Gedächtnis auffrischen: Man hat an der Tatwaffe keinerlei Fingerabdrücke gefunden. Das ist bereits zweifelsfrei festgestellt worden. Mr. Pitt vergeudet die wertvolle Zeit des Gerichts.«
»Hier kämpft ein Mann um sein Leben, Mr. Sefton«, erinnerte ihn der Richter in geduldigem Ton. »Gestatten Sie daher Mr. Pitt, zu zeigen, worauf er hinauswill, sofern er das selbst weiß. Sollte ihm sein Vorhaben nicht gelingen, werde ich ihm Einhalt gebieten; das kann ich Ihnen versichern. Fahren Sie fort, Dr. Ottershaw.«