Tödliche Hetze - Matthias P. Gibert - E-Book

Tödliche Hetze E-Book

Matthias P. Gibert

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Beschreibung

In Kassel kommt es nach dem Tod von Walter Lübcke wiederholt zu rechtsradikal motivierten Angriffen auf Politiker und Journalisten. Es herrscht ein Klima der Gewalt. Im Hochsommer 2020 spitzt sich die Lage zu. Erst sterben zwei Menschen bei einem Brandanschlag auf eine linke Szenezeitung, dann gibt es mehrere brutale Anschläge auf Mitglieder der Neonaziszene. Die Kommissare Thilo Hain und Pia Ritter finden kaum Ermittlungsansätze. Die Menschen schweigen. Aus Angst?

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Matthias P. Gibert

Tödliche Hetze

Thilo Hains 4. Fall

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt

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Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage 2020

Lektorat: Sven Lang

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

ISBN 978-3-8392-6538-3

 

 

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Thilo Hain spürte die Schmerzen wie durch eine Nebelwand. Eine wabernde, dichte Nebelwand. Sein Gehirn erfasste das pochende und quälende Stechen aus der Schulter lediglich wie in Zeitlupe. Sein gesamter Körper zitterte vor Schmerzen.

Noch einmal versuchte er sich aufzurichten, konnte jedoch auch dieses Mal nichts gegen die Handschellen ausrichten, mit denen er an den weiß lackierten Heizkörper gefesselt war. Seine eigenen Handschellen. Sein ausgelaugter und blutender Körper sank zurück auf den Dielenboden. Hain dachte an seine beiden Söhne. Dachte an Carla, seine Frau. Alles in ihm schrie danach, stark zu bleiben, durchzuhalten, um sie wiederzusehen, und gleichzeitig hatte der Hauptkommissar das Gefühl, als würde das Leben sich mit jeder verrinnenden Sekunde ein wenig mehr aus ihm zurückziehen.

Er schrie so laut es ihm möglich war auf, brüllte gegen die dröhnende Musik aus den beiden großen Lautsprecherboxen auf der anderen Raumseite an, doch er wusste, dass auch dieser Versuch im Ansatz zum Scheitern verurteilt war.

Erneut wandte er den Kopf nach rechts und fixierte die sanft flackernde Flamme der etwa vier Meter entfernt auf einem Tisch stehenden Kerze. Dann, nach einer gefühlt endlos scheinenden Zeit, hob er den Kopf und sah hinauf zur Decke. Auf einem quer verlaufenden Stahlträger konnte er schemenhaft die rote Elf-Kilo-Propangasflasche erkennen. Hain wusste, dass das aus der Flasche austretende Gas langsam zu Boden sank und dass es nur eine Frage der Zeit war, bis sich um die brennende Kerze ein zündfähiges Gemisch gebildet hatte.

Wahrscheinlich wird die Explosion so gewaltig, dass hier nicht eine Mauer stehen bleibt, dachte er. Na ja, wenigstens sollte es schnell gehen.

Kurz durchzuckte den Polizisten die Frage, woran er eigentlich sterben würde, wenn es zum großen Knall kam, doch diese komplett irre Aufgabenstellung konnte er zum Glück genauso schnell aus seinem Kopf vertreiben, wie sie gekommen war.

Scheiße, dachte er. Ich werde hier verrecken, ohne auch nur den Hauch einer Chance zu haben, mich von denen, die mir wirklich etwas bedeuten, verabschieden zu können.

Dieser Gedanke fügte unter die rasende Angst in ihm eine gehörige Portion Wut hinzu. Mit Tränen in den Augen rüttelte er an den Handschellen, bog den gesamten Körper wegen der schlagartig wieder aufkeimenden Schmerzen durch und schrie erneut laut auf.

»Nein«, brüllte er. »Verdammt noch mal, nein!«

1

Kassel, ein paar Tage zuvor

Pia Ritter sah ein weiteres Mal auf die beiden violetten Streifen in den Sichtfenstern des weißen Plastiksticks in ihrer rechten Hand. Die junge Oberkommissarin holte tief Luft, kräuselte die Stirn und zog ihren Slip hoch.

»Puh, das scheint ja eine wirklich schwere Geburt gewesen zu sein«, bemerkte ihr Freund Dominik vielsagend. Er saß grinsend in der Küche am gedeckten Frühstückstisch und las etwas auf dem Tablet.

»Womit wir bereits mitten im Thema sind«, erwiderte Pia leise und legte den Schwangerschaftstest vor ihm ab.

Er warf einen kurzen Blick darauf, nickte, stand auf und nahm sie sanft in den Arm. »Geil. Ich hatte schon befürchtet, dass deine Kratzbürstigkeit der letzten Tage etwas mit deiner Persönlichkeit zu tun hätte.«

Pia machte sich ein wenig frei von ihm. »Aber das würde bedeuten, dass wir Eltern werden, Dominik. Dass wir … dass du und ich …«

Er legte ihr den rechten Zeigefinger auf den Mund. »Das Einzige, was wir jetzt entscheiden müssen, ist, ob wir heiraten wollen, alles andere wird ganz sicher großartig. Und krieg jetzt bitte, bitte keinen Schiss. Du weißt, wie sehr ich mir ein Kind mit dir gewünscht habe und wünsche, Pia.«

»Wir kennen uns gerade mal ein knappes Jahr. Da musst du schon verstehen, dass ich ein bisschen Schiss kriege bei dem Gedanken an ein … gemeinsames Kind.«

»Ja, ich weiß. Du bist nun mal, was unsere Beziehung angeht, eine echte Hosenscheißerin. Aber wie es ausschaut, wirst du dich dieses Mal wohl entscheiden müssen.« Er küsste sie liebevoll auf den Mund, griff nach dem Teststäbchen und hielt es ihr vor die Nase. »Ich jedenfalls freue mich auf unser Kind. Und auf das Leben mit dir, wenn du es uns denn zulassen solltest.«

Pia Ritter zögerte einen kurzen Moment, holte tief Luft und fing an zu lachen. Erst sehr zögerlich, dann jedoch immer lauter und schließlich aus vollem Hals. »Ich werde Mutter, verdammt noch mal. Ich werde Mutter.«

»Ja. Und ich weiß, dass du eine tolle Mutter sein wirst. Und ich verspreche dir, dass ich alles daran setzen werde, ein ebenso toller Vater zu sein.« Seine Hände schoben sich unter ihr Schlafshirt, das sie immer noch trug. »Und jetzt würde ich total gern noch mal mit dir rüber ins Schlafzimmer gehen. Über Verhütung müssen wir uns, wenn ich es recht betrachte, derzeit ja keine Sorgen machen, oder?«

»Als ob uns das Thema in den letzten Monaten irgendwie beschäftigt hätte«, erwiderte die werdende Mutter grinsend und schob ihren Freund Richtung Bett.

2

Andreas Bader konnte sich an keinen einzigen Tag seines Lebens erinnern, an dem er nicht vom Hass zerfressen gewesen wäre. Abgrundtief vom Hass zerfressen. Menschen, Dinge, Begebenheiten oder auch Begegnungen, alles hatte er gehasst und hasste es noch immer. Seinen Nachbarn etwa, diesen Großkotz mit dem dicken Porsche-SUV. Oder die Altparteien, die sich immer nur für die verschissenen Flüchtlinge einsetzen. Aber am meisten hatte er immer seinen eigenen Namen gehasst.

Andreas Bader.

Wer, verdammt noch mal, will denn genau so heißen wie eine linke Terroristendrecksau? Gut, die feige Ratte, die sich selbst erschossen hatte, hatte einen Vokal mehr im Nachnamen, aber was bedeutete in diesem großen Zusammenhang schon ein einzelner Buchstabe?

Nichts bedeutete der. Rein gar nichts.

Was war er schon in der Schule gehänselt worden für diesen Namen. Und wie oft hatte er seinem Vater, der ja dafür die Verantwortung trug, die Pest dafür an den Hals gewünscht.

War ja dann auch so gekommen. Zwar keine Pest, aber immerhin Krebs. Sechs Monate, dann war er hinüber gewesen. Und Andreas hatte nicht eine Träne vergossen. Warum auch? Der Typ hatte schon Jahre vor seinem Tod nichts mehr mit ihm zu tun haben wollen.

Hoffentlich ist er richtig elendig verreckt! Hat gelitten wie ein Schwein, mit fiesen Schmerzen und so.

Jahrelang hatte er sich jeden Tag aufs Neue vorgenommen, eine Namensänderung in Angriff zu nehmen. Andreas Bauer hatte er heißen wollen, Andreas Bauer klang viel deutscher und auch viel harmloser als Andreas Bader. Aber es war nie dazu gekommen, er hatte es einfach nicht auf die Reihe gebracht. Wie bei so vielem anderen hatte er auch diesen Vorsatz nicht in die Tat umgesetzt.

Er wischte sich den Schweiß von der Stirn, presste den Lederhandschuh noch etwas fester um den Griff des Baseballschlägers in seiner rechten Hand und lugte aus dem Gebüsch.

Wo bleibt der denn?

Seine Leute hatten ihm gesagt, dass er spätestens um 0:30 Uhr an der Haustür sein würde. Spätestens!

Wieder streifte sein Blick die Armbanduhr an seinem Handgelenk.

1:10 Uhr.

Er stemmte sein Gewicht auf das linke Bein, um das etwas kürzere rechte zu entlasten. Auch so eine Hinterlassenschaft seines verblödeten Alten, dass ein Bein gut dreieinhalb Zentimeter kürzer war als das andere. Und dass er deswegen das eine Bein immer ein klein wenig nachzog, was ihm andererseits oftmals ziemliche Schmerzen bereitete. Wieder trippelte er von einem Bein aufs andere, um so für ein wenig Entlastung zu sorgen.

Wenn der nicht bald kommt, dann verpiss ich mich. Dann ist er eben morgen dran. Oder nächste Woche, was weiß ich.

Aber er hatte sich wirklich gefreut auf diese Abreibung. Dieses Arschloch war nämlich reif, so viel war klar.

Überreif.

Obwohl der laue Nachtwind längst ein wenig für Abkühlung gesorgt hatte, stand Bader schon wieder der Schweiß auf der Stirn. Erneut wischte er sich die Feuchtigkeit mit dem Unterarm ab und stierte dabei weiter in die Richtung, aus der sein Opfer kommen musste. Von irgendwo war ein leises Schnarchen zu hören, dem er jedoch keine größere Bedeutung schenkte.

Komm endlich, du linksgrün versifftes Scheißhaus, damit ich dir meine Baseballkeule über den Schädel ziehen kann, dachte der arbeitslose Betonbauer mit einer Mischung aus Ungeduld und Erwartungsfreude.

Zehn Minuten später hörte Bader, dass sich ein Wagen näherte, und sah kurz darauf das Aufleuchten von Scheinwerfern. Mit einem Grinsen im Gesicht zog er sich ein wenig tiefer ins Gebüsch zurück und umfasste dabei den Baseballschläger mit beiden Händen.

Dann quietschende Schritte. Leise, wie von Sportschuhen, aber in der ruhigen Nacht gut zu hören. Und schließlich tauchte sein Opfer auf dem schmalen Weg zu dem in zweiter Reihe liegenden Mehrfamilienhaus auf.

Bader ging noch einmal seinen Plan durch.

Vorbeigehen lassen, die vor der Brust befestigte, winzig kleine Kamera starten, aus der Deckung springen und sofort mit der Baseballkeule auf den Rücken prügeln. Wenn er auf dem Boden liegt, noch ein paar auf die Rübe, damit er so richtig Blut spuckt.

Der Mann, auf den er es abgesehen hatte, trug einen leichten, hellen Sommeranzug, über seiner rechten Schulter hing eine Stofftasche.

Dieses Opfer ist völlig ahnungslos, dachte Bader und freute sich schon auf den ersten Schlag.

Jetzt waren sie auf gleicher Höhe. Drei Schritte, noch einer, dann schaltete er die Kamera scharf und sprang aus der Deckung. Mit hoch erhobenem Baseballschläger sprintete er los, doch er hatte definitiv nicht mit so etwas wie Gegenwehr gerechnet. Der Mann im Anzug wirbelte nämlich herum und hatte gleichzeitig einen Gegenstand aus seiner Sakkotasche gefischt. Er stockte für einen Sekundenbruchteil, als sein Gegenüber ihm eine Flüssigkeit ins Gesicht sprühte. Sofort fingen seine Augen an zu brennen und es war ihm fast unmöglich, Luft zu holen.

»Du verschissene Sau, ich mach dich kalt«, brüllte der Mann mit dem Baseballschläger in die Nacht und schwang den Prügel in einem großen Halbkreis. Erkennen konnte er wegen der zusammengekniffenen Augen zwar nichts, aber er erwischte seinen Gegner trotzdem. Der schrie laut auf, und die Tränengasdose fiel mit einem Scheppern zu Boden. Bader setzte zu einem weiteren Schlag an, doch diesmal hatte er keinen Erfolg. Der nächste Hieb allerdings saß wieder. Und noch einer. Dazwischen vernahm er die lauten Schreie des Angegriffenen.

Dem Angreifer hingegen brannten die Augen wie Feuer, er bekam kaum Luft, aber er war wütend. Sehr wütend. Die nächsten Schläge gingen wieder allesamt daneben, doch dann traf einer mit voller Wucht. Offenbar bewegte sich der auf dem Boden liegende Mann von ihm weg.

»Aufhören!«, schrie in diesem Augenblick eine Frauenstimme aus Richtung des Hauses hinter ihm. »Sofort aufhören!«

Andreas Bader hätte den Typen am liebsten totgeprügelt, doch er wusste, dass er schnellstens verschwinden musste. Vermutlich waren die Bullen schon auf dem Weg, und er konnte so gut wie nichts erkennen von dem, was um ihn herum geschah. Also wandte er sich ab, wankte mit unsicheren Schritten um das Haus herum und war kurz darauf in der dahinter liegenden Kleingartenanlage verschwunden.

3

Thilo Hain hob den Kopf und grinste seine Partnerin an. Pia Ritter grinste wortlos zurück, hängte ihren leichten Sommerblazer an den Garderobenhaken hinter der Tür und goss sich einen Becher Kaffee ein.

»Na, wie war dein Schießtraining?«, wollte er mit einem übertrieben strengen Blick auf die Uhr über der Tür wissen. »Bis 11 Uhr hast du es bisher noch nie auf dem Schießstand ausgehalten.«

»Es gab ein kleines Problem mit meiner Dienstwaffe, deshalb hat es ein bisschen länger als normal gedauert. Aber ich wäre auch so nicht sofort nach dem Schießen wieder hier aufgetaucht.«

»Aha.«

»Was heißt da aha, Thilo?«, wollte sie von ihm wissen, ohne den Gesichtsausdruck auch nur eine Nuance zu verändern. »Immerhin habe ich mich den ganzen Morgen gefragt, ob du dich wieder eingekriegt hast.«

»Das Gleiche könnte ich mich in Bezug auf dich auch fragen«, gab der Hauptkommissar zurück.

Sie goss etwas Milch in ihren Kaffee und trank einen Schluck. »Das stimmt. Allerdings würden wir dann das Prinzip von Ursache und Wirkung ernsthaft durcheinanderbringen, was meinst du?«

Hain zuckte mit der Schulter.

»Na ja«, erwiderte Pia, »immerhin warst du es, der laut geworden ist und schon mehr als ein klein wenig die Kontrolle über seine Emotionen verloren hat.«

»Aber provoziert hast du mich schon auch. Das musst du zugeben, Pia.«

Sie nickte. »Das will ich gar nicht abstreiten, aber es darf dir einfach nicht passieren, dass du darauf so reagierst, wie es gestern Abend der Fall gewesen ist. Du warst persönlich verletzend, und das hat mich echt sauer gemacht.« Wieder setzte sie die Tasse an und trank einen Schluck. »Es ist nun mal so, dass niemand so viel von mir weiß wie du, Thilo. Und dann ist es einfach eine wahnsinnige Enttäuschung, wenn du dieses Wissen in den für dich passenden Situationen gegen mich einsetzt. Das geht einfach nicht.«

Er holte zerknirscht Luft. »Damit hast du völlig recht, das geht wirklich nicht, und ich bitte dich dafür aufrichtig um Verzeihung. Es tut mir nämlich echt leid, was ich da gesagt habe, und ich verspreche dir, dass so etwas nie mehr vorkommt.«

Pia Ritter sah ihren Kollegen eine Weile schweigend an. »Dass dir das Gesagte leidtut, glaube ich dir sogar, Thilo«, erklärte sie ihm schließlich. »Allerdings habe ich so meine Zweifel, ob dir in der passenden Situation nicht doch wieder etwas Ähnliches rausrutscht. Du bist im Grunde deines Wesens nun mal immer noch der kleine Junge, der zum alles ausblendenden, sämtliche Grenzen überschreitenden Jähzorn neigt.« Die Oberkommissarin trat auf ihn zu und legte ihm die linke Hand auf die Schulter. »Denn wenn es etwas gibt, das ich in der Zeit der Zusammenarbeit mit dir gelernt habe, dann ist es auf jeden Fall genau das. Dass du unberechenbar und nur sehr schwer zu kontrollieren bist. Und in speziellen Fällen gelingt es nicht einmal dir selbst, dich zu kontrollieren.«

»Komisch, solche Sachen sagt Carla auch öfter zu mir. Und sie sagt es praktisch seit dem Tag, an dem wir uns kennengelernt haben.« Er hob den Kopf. »Immerhin attestiert sie mir eine gewisse Lernfähigkeit. Sie meint nämlich, dass mein Verhalten sich mit den Jahren zumindest ein wenig gebessert habe.«

»Na bitte, dann besteht doch offenbar Hoffnung für mich, dass es mir genauso gehen könnte.«

»Es tut mir wirklich leid, Pia, und ich schäme mich für mein Verhalten. Und ich betone noch mal, dass es sich nicht wiederholen wird. Ganz sicher.«

»Nun häng es nicht höher, als es ist. Wir hatten eine Meinungsverschiedenheit, die mit diesem Gespräch offiziell ausgeräumt wurde, und damit ist es auch gut. Inhaltlich, und das weißt du auch, sind wir gar nicht so weit auseinander gewesen. Nur an der Art der Argumentation können wir noch arbeiten. Speziell du natürlich.«

»Das mache ich«, gab er erleichtert zurück.

»Was konkret heißt, dass du nie wieder in einer solchen Situation mein gestörtes Verhältnis zu meinen Eltern herabwürdigend thematisierst?«

»Versprochen.«

»Und du wirst weiterhin nie wieder in einer vergleichbaren Situation meine Angst vor Nähe in Beziehungen herabwürdigend ansprechen?«

»Dito.«

»Und schließlich wirst du niemals wieder ein Wort darüber verlieren, wie sehr ich als Teenager unter meiner Akne gelitten habe? Stichwort Streuselkuchen und so?«

»Das war besonders gemein, deswegen hier ein doppeltes Versprechen, es niemals wieder zu tun.«

Pia nahm die Hand von seiner Schulter, trank einen weiteren Schluck Kaffee und ging langsam zu ihrem Bürostuhl. »Ich will«, nahm sie sitzend den Faden wieder auf, »hier gar nicht werten, welche deiner Beleidigungen auf der nach oben offenen Hain-Skala die gemeinste war. Es wäre uns beiden und unserem Verhältnis allerdings zu wünschen, du hättest dich in Zukunft einfach besser im Griff.« Sie lächelte ihn an. »Damit würden dir selbstverständlich auch solche Canossagänge wie der aktuelle erspart bleiben.«

Hain nickte und ließ einen kleinen Notizzettel auf ihrer Seite des Schreibtischs herabsegeln. Sie sah kurz darauf und hob dann ebenso erstaunt wie anerkennend die Augenbrauen.

»Meinst du das ernst, oder wirst du den Termin am Tag vorher absagen?«

»Ganz sicher nicht. Ich werde, und auch das verspreche ich dir hiermit, diesen und die garantiert folgenden Termine bei meiner Seelenklempnerin dazu nutzen, um an meinem, wie du sagst, alles ausblendenden, jegliche Grenze überschreitenden Jähzorn zu arbeiten.«

»Dafür gebührt dir meine vollste Hochach…« Die Oberkommissarin brach wegen des klingelnden Telefons auf dem Tisch ihren Satz ab und griff nach dem Mobilteil. »Ja, Ritter«, meldete sie sich und lauschte einen kurzen Moment. »Geht klar, Herbert. Wir sind auf dem Weg.« Damit legte sie das kleine Gerät vor sich ab und stand auf.

»Was gibt es denn?«, wollte ihr Kollege wissen.

»Schwierigkeiten, Thilo. Was außer Schwierigkeiten hat es sonst jemals gegeben, wenn Herbert um unser Erscheinen nachsucht?«

»Er hat nicht erwähnt, um welche Schwierigkeiten es genau geht?«

»Nein, hat er nicht. Aber sein Tonfall hat durchaus erkennen lassen, dass es sich um eher bemerkenswerte Schwierigkeiten handeln könnte.«

»Meinst du, er könnte was von unserer … Meinungsverschiedenheit gestern mitbekommen haben?«, wollte Hain mit Besorgnis in der Stimme wissen.

»Wenn ja«, gab seine Kollegin grinsend zurück, während sie die Tür öffnete, »solltest du schon mal deiner Knarre und deinem Dienstausweis einen Abschiedskuss geben, Hasenhirn.«

Er zögerte und sah sie schweigend an.

»Mann, Mann, Mann«, brummte Pia. »Wir waren auf einem Feld zwischen Vellmar und Kassel unterwegs, als die Gäule mit dir durchgegangen sind. Die einzigen, die dich schreien gehört haben können, sind Singvögel und Regenwürmer, und Letztere wegen der anhaltenden Trockenheit in mindestens einem halben Meter Tiefe. Ich glaube zwar wirklich, dass Herbert gute Kontakte zu vielen Kreaturen auf diesem Planeten unterhält, aber dass er Singvögel und Regenwürmer zu seinen Informanten zählt, halte ich dennoch für komplett ausgeschlossen.«

»Schön«, meinte Hain leise. »Dann lass uns mal los.«

Der Kriminalrat hatte tatsächlich keinerlei Informationen über den Disput seiner beiden Mitarbeiter. Er kam allerdings ohne große Vorrede auf sein Anliegen zu sprechen.

»Die Jungs von ZK 10 haben angefragt, ob wir ihnen für ein paar Wochen zur Hand gehen können«, teilte er seinen Kommissaren mit besorgter Miene mit. »Sie haben eine angespannte Personalsituation, und letzte Nacht gab es schon wieder einen Anschlag.«

»Der Staatsschutz? Ernsthaft?«, wollte Pia wissen. »Was ist denn passiert letzte Nacht?«

»Ein Journalist wurde niedergeschlagen. Na ja, eigentlich wurde er ziemlich übel zugerichtet. Vermutlich ist die Sache nur deswegen halbwegs glimpflich für ihn ausgegangen, weil er dem Angreifer Reizgas ins Gesicht sprühen konnte, bevor die Attacke richtig losgegangen war. Trotzdem liegt er mit schweren Verletzungen auf der Intensivstation. Es besteht zwar keine akute Lebensgefahr, aber sie mussten ihn am Rücken und am Jochbein operieren. Wird aber alles wieder, wie man hört.«

»Wer ist der Mann?«

»Ein Journalist, wie gesagt. War früher bei der taz in Berlin und arbeitet seit ein paar Jahren freiberuflich. Liefert meistens links eingefärbte, aber wie man hört, gut recherchierte Artikel an verschiedene, auch größere Tageszeitungen. Außerdem betreibt er einen Blog, aber fragt mich nicht, um was genau es darin geht.«

»Du hast ihn dir noch nicht angeschaut?«, wollte Hain mit leicht ironischem Unterton wissen.

Herbert Schiller bedachte seinen Mitarbeiter mit einem missbilligenden Blick, sparte sich aber eine verbale Replik.

»Hat Karlsruhe, also die Bundesanwaltschaft, die Sache übernommen?«, wollte Pia wissen.

»Nein, und es wird wohl auch nicht dazu kommen. All das, mit dem wir es hier in der Gegend seit dem Lübcke-Attentat vom letzten Jahr zu tun haben und hatten, waren eher Einzeltaten, so sieht es zumindest der Generalbundesanwalt. Deshalb hat er seine Zuständigkeit immer verneint. Und unseren Staatsanwälten hier in Kassel ist das sicher mehr als recht, wenn sie unabhängig von Karlsruhe ihren Aufgaben nachgehen können.«

»Ich erinnere mich eigentlich nur an zwei Sachen, bei denen man von einer Übernahme durch die Bundesanwaltschaft hätte ausgehen können«, bemerkte Hain. »Das war einmal dieser Angriff auf den Linken-Abgeordneten, der aber relativ glimpflich ausgegangen ist, und diese komische Geschichte mit diesem Mädchen, das Flugblätter gegen den Klimawandel verteilt hat und danach auf dem Heimweg zusammengeschlagen wurde.«

»Dabei vergisst du allerdings«, warf Pia ein, »diese fiese Sache an Weihnachten, bei dem das Auto des Journalisten abgebrannt ist, der in der rechten Szene recherchiert hat.«

»Richtig«, stimmte Hain ihr zu. »Das hatte ich echt schon vergessen. Wenn man nicht selbst in die Ermittlungen involviert ist, geht das leider schneller, als einem lieb ist.«

»Und dann ist da noch dieser merkwürdige Unfall von letztem Monat, bei dem der Rechtsanwalt schwer verletzt wurde, der schon öfter linke Aktivisten vor Gericht vertreten hat. Er bleibt bis heute bei seiner Behauptung, dass er geblendet wurde und deshalb im Straßengraben gelandet ist.«

»Seine Frau wurde auch verletzt, wenn ich mich richtig erinnere«, warf Pia ein.

»Stimmt. Sie hatte etwas an der Wirbelsäule abbekommen. Aber offenbar war es nicht so schlimm wie zunächst befürchtet. Zumindest ist sie nicht querschnittgelähmt.«

»Wenigstens was«, erwiderte Pia.

»Und warum genau«, hakte Hain sarkastisch nach, »ist die Personalsituation bei den Kollegen vom Staatsschutz so angespannt? Alle im Urlaub, oder was?«

»Das weiß ich offen gesagt nicht, Thilo. Aber wenn die Kollegen von ZK 10 um Unterstützung bitten, sind wir die Letzten, die sie ihnen verweigern. Und wenn ich zusammenrechne, worum die sich in den letzten Wochen und Monaten so alles kümmern mussten, kann ich sehr gut nachvollziehen, dass bei denen der Baum lichterloh brennt.«

»Und dass seit dem Frühjahr bei uns auch eine Menge Arbeit liegen geblieben ist, interessiert anscheinend niemanden, oder?«

»Was genau ist denn liegen geblieben, Thilo?«

Der Hauptkommissar schnaufte hörbar durch. »Du weißt genau, dass wir unsere Zeit auch nicht auf der Kirmes gewonnen haben, Herbert.«

»Das ist längst keine Antwort auf meine Frage. Also, hast du eine vernünftige Antwort, oder bleibt es bei deinem allgemeinen Gemaule?«

»Ach, kratz mich doch.«

»Gut. Dann wären ja alle Unklarheiten beseitigt. Ihr meldet euch also umgehend beim Kollegen Brinkmann.« Er sah seine beiden Mitarbeiter an. »Danke für euren Besuch.«

Ein paar Minuten nach diesem herzlichen Rauswurf betraten die beiden Kommissare der Mordkommission wieder ihr Büro. Hain ließ sich genervt auf seinen Stuhl fallen, während seine Kollegin sich Wasser eingoss.

»Warum bist du denn so geladen?«, wollte sie wissen, nachdem sie das Glas zur Hälfte geleert hatte. »Ein paar Tage oder von mir aus auch Wochen bei ZK 10 bringen uns doch nicht um.«

»Wer oder was sagt denn, dass ich geladen bin?«, fragte er zurück.

Pia trank den Rest, stellte das Wasserglas auf dem Tisch ab und setzte sich. »Deine Körperhaltung, dein Gesichtsausdruck und deine patzige Antwort. Also, was ist los?«

Hain holte tief Luft und sah sie dabei lange an. »Es geht um Sascha Brinkmann. Er ist der leitende Hauptkommissar von ZK 10.«

»Ich weiß, wer Sascha Brinkmann ist. Aber was ist der Hintergrund für deine Reaktion?«

»Sascha und ich haben, als ich noch bei der Sitte war, eine Weile zusammengearbeitet. Und das ist halt nicht ganz so perfekt gelaufen, wie alle Beteiligten es erwartet haben.«

»Was genau ist denn schiefgelaufen?«

Hain stöhnte auf. »Pia, das sind Sachen, die mehr als 15 Jahre zurückliegen und über die ich auch wirklich nicht mehr nachdenken oder gar sprechen will. Unsere Zusammenarbeit war halt ein wenig knorpelig, um es mal vorsichtig auszudrücken.«

»Ich will es trotzdem wissen.«

Wieder ein Schnauben auf der anderen Schreibtischseite, gefolgt von einer längeren Pause. »Wir waren damals«, fuhr der Hauptkommissar schließlich fort, »halt zwei junge Bullen, die sich nicht riechen konnten. Ich hielt ihn für einen verdammten Karrieristen, und er mich wohl für ein arbeitsscheues Subjekt. So jedenfalls hat er sich mir gegenüber mal ausgedrückt.«

Pia Ritter musste grinsen. »Und, hatte er recht mit seinem Vorwurf? Warst du ein arbeitsscheues Subjekt?«

»Quatsch. Ich war genauso engagiert wie heute auch, was allerdings für Sascha so etwas wie Majestätsbeleidigung gewesen ist. Er hat von allen Kollegen den Einsatz erwartet, den er selbst geleistet hat, aber das war einfach ein irrer Gedanke. Der ist morgens als Erster im Büro gesessen und hat abends als Letzter das Licht ausgemacht. Und das alles nur, weil er unbedingt Karriere machen wollte.«

»Na, zumindest das ist ihm ja gelungen.«

»Ja klar. Auf Kosten von zwei Scheidungen und einem längeren Aufenthalt in der Psychiatrie.«

»Davon habe ich auch gehört. Aber wer von uns hat nicht schon Probleme mit seinem psychischen Wohlbefinden gehabt?«

»Darauf würde ich auch nie rumreiten. Es passt halt einfach ins Bild des gnadenlosen und rücksichtslosen Karrieristen.«

Nun lachte die Hauptkommissarin laut auf. »Deine Differenzierungsfähigkeit und dein damit verbundenes erstklassiges Reflexionsverhalten sind immer wieder beeindruckend, Thilo.«

»Ach komm, der Typ ist echt ein Arschloch.«

»Ja, das mag vielleicht sein, aber seit einer Viertelstunde unterstehen wir sozusagen seinem Kommando. Und du wirst dir, verdammt noch mal, alle Mühe geben, ihn nicht spüren zu lassen, dass du ihn für ein Arschloch hältst.«

Nun fing Hain an zu grinsen. »Das muss ich nicht, das weiß er.«

»Vielleicht hat er ja über die Jahre vergessen, was du von ihm hältst.«

»Das halte ich für ausgeschlossen. Ich habe ihn nämlich vor nicht allzu langer Zeit daran erinnert.«

»Oh Gott, Thilo!«

Hain wurde ernst. »Er hat mir auf Pauls Beerdigung durch die Blume zu verstehen gegeben, dass er mir eine Mitschuld an dessen Tod gibt.« Der Hauptkommissar sprach von Paul Lenz, seinem Vorgesetzten und Freund, der ein paar Jahre zuvor während eines Einsatzes getötet worden war.

»Echt? Was hat er denn gesagt?«

»Dass ich halt besser auf ihn hätte aufpassen müssen. ›Wenn ein Polizist stirbt, und ein Kollege ist in unmittelbarer Nähe, dann ist immer ein Fehlverhalten des Kollegen anzunehmen‹, das waren seine Worte.«

»Was für ein Blödmann. Und was für ein ausgemachter Blödsinn.«

»Siehst du. Sag ich doch.«

»Nein, das habe ich nicht so gemeint. Natürlich ist Brinkmann nicht per se ein Arschloch, auch wenn er sich zu so einer Aussage hat hinreißen lassen. Die war nämlich garantiert auch davon geprägt, dass ihr beiden euch nicht leiden könnt.«

Hain schüttelte den Kopf.

»Trotzdem, so etwas sagt man nicht. Auch dann nicht, wenn man jemanden überhaupt nicht leiden kann.«

»Wie hast du reagiert?«

»Ich musste nicht reagieren. Maria, Pauls Frau, die neben mir stand, hat ihn mit einem Blick bedacht, der dafür gesorgt hat, dass er sofort abgehauen ist.«

»Cool.«

»Ja, das fand ich auch.«

»Was wäre denn deiner Meinung nach passiert, wenn Maria nicht …?« Pia brach ab, weil das Telefon auf ihrem Schreibtisch schon wieder klingelte. Sie nahm den Anruf entgegen und lauschte einen Moment. »Ja, wir kommen rauf«, sagte sie schließlich und legte auf. »Wenn man vom Teufel spricht«, meinte sie grinsend und erhob sich.

»War er das?«

»Jep. Und er erwartet uns unmittelbar zu einem ersten Briefing.«

»Scheiße.«

Pia blieb stehen und drehte sich zu ihrem Kollegen um. »Ich bin für dich da, Thilo, wann immer du mich brauchst, und ich stehe hinter dir. Allerdings mache ich das garantiert nicht, wenn du irgendwelchen Blödsinn unternimmst. Du wirst Brinkmann als unseren temporären Vorgesetzten akzeptieren und vernünftig mit ihm reden. Falls du das nicht machen solltest, trete ich dich ernsthaft in den Arsch. Ist das in aller Deutlichkeit bei dir angekommen?«

Er schluckte. »In aller Deutlichkeit, ja.«

»Gut. Ich bin übrigens schwanger.«

Hain nickte und trat hinter ihr auf die Tür zu. Es dauerte tatsächlich eine Weile, bis ihre Worte den Weg in die richtige Region seines Gehirns gefunden hatten. Dann jedoch blieb er abrupt stehen.

»Warte, warte. Du bist was?«

»Schwanger. Ich bin schwanger. Ich werde Mutter.«

»Wie denn das? Warum …?«

Nun lachte die Oberkommissarin laut auf. »Du fragst mich jetzt nicht ernsthaft, wie das geht mit dem Mutterwerden, oder?«

»Nein, nein, natürlich nicht. Aber ich wusste halt nicht, dass das mit dir und Dominik so … ernst ist.«

Sie sah ihn eine Weile stumm an. »Wie ernst eine Sache wirklich ist, bemerkt man doch immer erst, wenn es darauf ankommt, Thilo. Und ja, ich glaube, dass die Sache mit Dominik und mir sehr ernst ist. Zumindest deutet mein Bauchgefühl überaus stark darauf hin.«

Thilo trat einen Schritt auf seine Kollegin zu und nahm sie in den Arm. »Von ganzem Herzen meinen Glückwunsch und alles Gute, Pia. Und falls es ein Junge wird, kannst du eine Tonne Klamotten von uns kriegen.«

»Das werden wir sehen. Viel wichtiger ist mir aber, dass du mit dieser Information sehr diskret umgehst. Versprichst du mir das?«

Er hob die rechte Hand und spreizte Daumen, Zeige- und Mittelfinger ab. »Hoch und heilig, wirklich.«

»Gut. Dann krieg dich jetzt wieder ein und lass uns aufbrechen in die Höhle des Löwen.«

In dieser Höhle des Löwen wurden die beiden Kommissare von K 21 von einem aufmerksamen, jedoch auch etwas distanzierten Sascha Brinkmann empfangen. Nachdem alle drei mit einem Kaffee versorgt waren, kam der Erste Hauptkommissar der Staatsschutzabteilung zur Sache.

»Zunächst einmal danke ich euch, dass ihr bei uns eine Weile aushelfen könnt und wollt. Wir wissen wirklich im Augenblick nicht, wo uns der Kopf steht, und da ist es wirklich hochanständig, dass ihr das macht.«

»Gern«, erwiderte Pia.

Brinkmann nickte und wandte sich direkt Hain zu. »Ich weiß natürlich auch, Thilo, dass wir beide es nicht immer leicht miteinander hatten. Aber wenn du damit einverstanden bist, würde ich gern einen Schlussstrich unter das Vergangene ziehen und hier und heute bei null anfangen. Ist das in Ordnung für dich?«

»Klar ist das in Ordnung für mich.«

»Gut. Dann lasst uns am besten gleich in die Sache von letzter Nacht einsteigen.« Er schlug ein Dossier auf und informierte Ritter und Hain über den Sachstand im Fall des zusammengeschlagenen Journalisten Jonas Blum.

»Dem Mann geht es den Umständen entsprechend gar nicht so schlecht, obwohl es eine Weile dauern dürfte, bis er wieder an einem Computer sitzen und Storys schreiben kann. Er hat bei dem Angriff mehrere gebrochene Rückenwirbel davongetragen und, wie ich gerade vor ein paar Minuten gehört habe, mehrere Brüche im rechten Arm. Vermutlich aufgrund einer normalen Abwehrhaltung.«

»Stimmt es, dass er dem Angreifer eine Ladung Reizgas verpasst hat?«, wollte Pia wissen.

»Nach seiner eigenen Aussage ja.«

»Du zweifelst daran?«, hakte die Kommissarin nach.

»Na ja, in so einer Situation denkt man vielleicht, man hat den Aggressor mit Reizgas im Gesicht getroffen, aber vielleicht ist da doch eher der Wunsch der Vater des Gedankens. Das Verletzungsbild und die Schwere seiner Blessuren lassen mich ernsthaft daran zweifeln, dass er mit seinem Verteidigungsversuch erfolgreich war.«

»Aber er hat eine Dose bei sich gehabt, oder? Zumindest müssten die Kollegen, wenn es so gewesen sein sollte, eine bei ihm gefunden haben.«

»Eine Dose mit Reizgas hat er definitiv bei sich gehabt, und es wurde auch eine Ladung davon versprüht. Aber wie gesagt, ob das Zeug tatsächlich dort gelandet ist, wo er es hinhaben wollte, stelle ich hier mal infrage.«

»Wie ist die Spurenlage den Angreifer betreffend?«, wollte Hain wissen.

»Ein paar nicht verwertbare Schuhabdrücke im Gras vor einem Gebüsch und ein paar mickrige Lacksplitter davor, vermutlich von einem Baseballschläger. Aber das dürfte uns nicht wirklich weiterhelfen. Was die DNA-Geschichten angeht, sind die Kollegen noch dabei, aber ihre ersten Einlassungen geben auch keinen Anlass zu großen Hoffnungen.«

»Dieser Blum soll ein politisch eher links angehauchter Mann sein?«

»So sieht es aus, ja. Wir sind noch dabei, seinen Blog zu analysieren, aber die ersten Erkenntnisse deuten sehr stark darauf hin.«

»Also steht der Verdacht einer rechtsradikal motivierten Tat im Raum?«

Brinkmann legte den Kopf schief und sah seinen Kollegen irritiert an. »Natürlich steht dieser Verdacht im Raum, sonst wäre die Sache ja bei euch gelandet, oder?«

»Irgendwelche Hinweise auf eventuelle Täter?«, ging Pia kurzerhand dazwischen, um einer nach ihrer Meinung durchaus möglichen Eskalation vorzubeugen. »Bekennerschreiben? Irgendwas am Tatort, was man verwerten könnte?«

Der Leiter der Staatsschutzabteilung schüttelte den Kopf. Es war nicht ersichtlich, ob sich diese Geste auf Hains Frage oder die seiner Kollegin bezog.

»Nein, bisher nichts dergleichen. Aber das soll nichts heißen. Wir hatten ja in den letzten Monaten hier in der Gegend einige dieser Geschichten zu beklagen, und bisher gab es immer jemanden oder eine Gruppe, die sich dazu bekannt hat.«

»Echt?«, zeigte Pia sich überrascht. »Das wusste ich gar nicht.«

»Wir haben es auch nicht an die große Glocke gehängt, damit daraus nicht etwas viel Größeres wird, als es eigentlich sein muss.«

»Und wie soll ich mir diese Bekenntnisse vorstellen?«, wollte Hain wissen. »Ein Anruf? Eine Mail bei einer Agentur?«

»Nein, Thilo, auch unsere Kundschaft ist nicht mehr komplett analog unterwegs. Es gibt ein paar Internetseiten, auf denen so etwas gepostet wird.«

»Und es ist nicht möglich herauszufinden«, wollte Pia wissen, »wo diese Seiten gehostet sind?«

»Wir haben es hier mit Leuten zu tun«, antwortete Brinkmann, »die auch wissen, wie man die modernen Informationskanäle nutzt. Die verstecken sich zum Beispiel hinter ausgeklügelten VPNs oder dem Tor-Netzwerk, und dann ist es gar nicht so leicht, wie man denken könnte, an sie heranzukommen.« Er zögerte. »Immerhin sind wir hier in Kassel von richtig schweren Anschlägen wie etwa dem in Halle oder gar der unglaublichen Tat von Hanau verschont geblieben. Zum Glück, kann ich dazu nur sagen. Ich denke nämlich, dass es absolut keinen Spaß macht, so dermaßen im Fokus des öffentlichen Interesses zu stehen.«

Pia musste an die vielen Menschen denken, die bei diesen Anschlägen ihr Leben verloren hatten, und schauderte kurz dabei.

»Was erwartest du jetzt konkret von uns, Sascha?«, wollte Hain wissen. »Wie genau können wir eure Arbeit unterstützen?«

Brinkmann bedachte ihn und seine Kollegin mit einem geduldigen Blick. »Es ist ja nun mal so, dass ihr beiden in der Szene nicht so bewandert seid wie wir, die wir jeden Tag mit diesem Klientel zu tun haben. Was leider heißt, dass ihr zunächst mal für die nicht so interessanten Ermittlungsarbeiten eingesetzt werdet. Das kann sich ändern, aber im Augenblick werdet ihr meinen Leuten eher zuarbeiten. Will heißen, dass ihr hier im konkreten Fall für die Zeugenbefragungen in den umliegenden Häusern zuständig seid und die Ergebnisse dazu an uns weiterreicht. Es gab quasi einen Augenzeugen, mit dem wir aber schon gesprochen haben. In dieser Richtung braucht ihr also nichts zu unternehmen.«

»Klingt spannend«, brummte Hain.

»Ich weiß, dass man sich nicht um solche Arbeiten reißt, aber diese Dinge müssen nun mal gemacht werden. Und wer weiß, vielleicht ergibt sich ja gerade durch euer Mitwirken der entscheidende Hinweis zur Aufklärung des Anschlags.« Der Mann hinter dem Schreibtisch drehte die Kladde um 180 Grad und schob sie in Richtung von Hain und Ritter. »Hier drin findet ihr alles, was ihr zunächst wissen müsst. Falls es Fragen irgendwelcher Art geben sollte, bin ich euer Ansprechpartner.« Er stand auf und streckte die rechte Hand nach vorn. »Willkommen im Team.«

4

Andreas Bader wäre am liebsten aus der Wohnung gestürmt, zu der kleinen Apotheke zwei Straßen weiter, um dort eine Großpackung Augentropfen zu kaufen. Aber das durfte er nicht.

»Du wirst auf jeden Fall zu Hause auf mich warten und auf gar keinen Fall irgendwohin gehen«, hatte Maik noch in der Nacht am Telefon zu ihm gesagt. »Und schon gar nicht zu irgendeiner Apotheke, wo vermutlich schon ein Bullenauto auf dich wartet. Die sind zwar doof, aber so doof nun auch wieder nicht.«

Bader hatte die ganze Nacht hindurch gelitten wie ein Hund. Seine Augen waren aufgequollen und tränten ständig. Natürlich war es nicht hilfreich, dass er immer wieder darin rieb. Aber er konnte einfach nicht anders. Mehrmals hatte er darüber nachgedacht, sich der Order von Maik zu widersetzen und loszugehen, doch dazu reichte sein Mut nicht aus. Also war er den Schmerzen und dem Jucken mit Leitungswasser zu Leibe gerückt, was die Sache allerdings immer nur für ein paar Augenblicke besser machte.

Jetzt lag er auf seiner alten, durchgesessenen Couch und verfluchte diesen Typen, der ihm das angetan hatte.

Hoffentlich hat er so viel abgekriegt, dass er verreckt, dieser blöde Wichser, dachte er bebend vor Wut.

Wieder und wieder hatte er auf seinem Fernseher die Aufnahme der vergangenen Nacht laufen lassen und sich am Stöhnen und Wimmern des Mannes auf dem Boden ergötzt, den er mit seinen Schlägen überzogen hatte. Viel erkennen konnte man zwar auch mit intaktem Sehvermögen nicht, aber Bader war sich sicher, dass es reichte, um zu demonstrieren, dass da einem linken Pisser eine Lektion erteilt wurde.

Bumm, bumm, bumm, immer rauf auf die hohle Birne.

Es klingelte an der Tür.

Der arbeitslose Betonbauer stand schwerfällig auf, ging in den Flur und sah durch den Spion.

»Hallo, Maik«, brummte Bader, nachdem ein Mann die Wohnung betreten hatte. Maik Zoller, sein mit Jeans und T-Shirt bekleideter, etwa 40-jähriger Besucher, musterte Bader eingehend und schüttelte den Kopf.

»Du siehst ja noch beschissener aus, als ich befürchtet habe«, sagte er mitleidslos. »Irgendwie gerade so, als ob der Typ dich vermöbelt hätte.«

Bader drehte sich um und ging Richtung Wohnraum. »Dass du dich jetzt auch noch über mich lustig machst, finde ich wirklich richtig scheiße, Maik.« Er ließ sich wieder auf das Sofa fallen. »Hast du mir wenigstens was für meine Augen mitgebracht?«

»Bist du bekloppt, oder was? Ob ich nun in einer Apotheke auflaufe oder du, das macht ja nun echt keinen Unterschied. Aber ich habe mit einem Kumpel gesprochen, der das auch schon mal hatte, und der meinte, dass es bald besser werden würde. Sollst halt nicht wie ein Bekloppter daran herumreiben, dann wird das schon wieder. Und du gehst die nächsten Tage besser nicht aus dem Haus, damit niemand dich sieht.«

»Ihr habt gut reden«, murrte Bader leise. »Morgen früh habe ich einen Termin auf dem Arbeitsamt.«

»Den musst du verschieben. So, wie du aussiehst, kommt doch sofort jeder drauf, dass du die Gasladung abgekriegt hast.«

»Aber es kommt doch gar nichts über die Sache. Weder im Radio noch im Fernsehen ist irgendetwas darüber gelaufen.«

»Mann, das habe ich dir doch erzählt. Das geht erst los, wenn wir das Video hochgeladen haben. Wo hast du es denn?«

Bader deutete auf eine Speicherkarte auf dem Tisch.

»Hast du dir eine Kopie gezogen?«

Ein längerer unsicherer Blick, dann ein vorsichtiges Nicken.

»Du Vollpfosten! Ich hatte dir doch extra …«

»Nun mach mich doch nicht gleich wieder so an«, ging Bader ein wenig zu energisch dazwischen. »Mein Fernseher konnte mit dem komischen Format der Aufnahme nichts anfangen, also habe ich sie für mich konvertiert. Was soll denn deswegen schon passieren?«

»Was deswegen passieren soll? Sag mal, hast du sie nicht mehr alle? Wenn die Bullen so was bei dir finden, dann bist du geliefert. Bei deiner Vorstrafenlatte fährst du garantiert für ein paar Jahre ein. Und was das für uns alle bedeutet, brauche ich dir ja wohl nicht zu erklären, oder?«

»Aber ich würde denen doch nichts erzählen. Nicht ein Wort würden die aus mir rauskriegen, das schwöre ich.«

»Das denkst du dir so in deiner hohlen Birne. Aber glaub mir, die haben ihre Methoden, dich zum Reden zu bringen. Glaub es mir einfach.« Er griff nach der Speicherkarte auf dem Tisch und sah dann Bader auffordernd an. Der wies mit dem Kopf auf den großen Flachbildfernseher. Zoller ging zu dem Gerät, fand einen auf der linken Seite eingesteckten USB-Stick und zog ihn heraus. »Den nehme ich mit. Wenn ich das, was da drauf ist, sicher gelöscht habe, kriegst du ihn zurück.«

Die beiden Speichermedien verschwanden in seiner rechten Hosentasche.

»Und jetzt erzähl doch mal, wie genau die Sache abgelaufen ist«, forderte er den Mann auf der Couch auf. Bader rückte nach vorn und lieferte ihm einen detaillierten Bericht seiner Erlebnisse ein paar Stunden zuvor.

»Und dieses Arschloch hat dir einfach so das Tränengas in die Augen gesprüht? Noch bevor du ihm eine verpasst hattest?«

»Klar, noch bevor ich ihm die Erste übergezogen hatte. Frag mich nicht warum, aber es war so.«

»Meinst du, der wusste, dass du auf ihn gewartet hast?«

»Nein, der wusste von nichts. Der hat sich vermutlich schon seit ein paar Monaten auf dem Heimweg in die Hosen geschissen vor Angst und deswegen das Gas dabeigehabt.«

»Aber du hast ihn trotzdem richtig erwischt? Hast ihn anständig fertiggemacht?«

»Das kannst du glauben. Der braucht in den nächsten Monaten eine Schnabeltasse für seine Suppe. Man sieht es auf dem Video eigentlich ganz gut, obwohl ein paar Spritzer von dem Gas auf die Kamera gekommen sind.«

Zoller überlegte eine Weile. »Vielleicht hättest du ein bisschen schneller sein müssen, Andy. Ein Formel-1-Bolide bist du ja nicht gerade mit deinem Hinkefuß. Oder hast du irgendwie gezögert, bevor du zugeschlagen hast?«

»He, he, nun hör aber auf. Du weißt, dass ich nicht zögere oder rumzicke, wenn ich einem auf die Fresse haue. Das weißt du ganz genau. Ich bin auf ihn zu und wollte gerade ausholen, da hat er sich umgedreht und mir das Gas in die Augen gesprüht. Ich hätte noch so schnell sein können, das hätte nichts geändert. Und außerdem hattest du mir in die Hand versprochen, dass du mich nicht mehr mit meinem zu kurzen rechten Bein aufziehen würdest.«

»Ja, klar, schon gut. Ich wollte dich weder aufziehen noch anmachen.« Er sah Bader dabei zu, wie der sich zum wiederholten Mal über die Augen wischte. »Und hör endlich auf, dir ständig in die Augen zu fassen. Damit machst du die Scheiße nur noch schlimmer. Und es dauert viel länger, bis du Ruhe hast.«

Bader ließ sich in die Couch zurückfallen und rollte dabei die rot geränderten Augen.

»Du hast gut reden. Dir hat ja auch niemand so ein Scheißzeug in die Fresse gesprüht.«

Zoller stand wortlos auf. »In einer Stunde steht deine Heldentat online. Aber schau es dir auf keinen Fall ohne VPN an, klar?«

»Klar. Bin doch nicht blöd.«

Er wartete, bis sein Besucher gegangen war, holte sich eine Dose Bier aus dem Kühlschrank und setzte sich wieder auf die Couch. »Dir wird auch noch aufgehen, was du an mir hast«, murmelte er leise in Richtung Wohnungstür. »Musst gar nicht mehr lange warten, dann werden du und die Jungs mich vermutlich auf den Schultern durch die Stadt tragen und dabei hochleben lassen.«

Eine halbe Stunde und zwei Dosen Bier später war Andreas Bader eingeschlafen.

5

»Na, das ist doch gar nicht so schlecht gelaufen«, meinte Pia, als sie außer Hörweite von Brinkmanns Büro waren. »Ich zumindest hätte es mir knorpeliger vorgestellt, um dich mal zu zitieren.«

»Ja, klar, ist echt klasse gelaufen«, brummte Hain mit Blick auf die Kladde in seiner Hand. »Bis auf die Tatsache, dass wir die Hilfsarbeiten abgekriegt haben.«

»Das hatte ich nicht anders erwartet, und du ganz sicher auch nicht. Und dass die uns beiden die ganz heißen Aufgaben übertragen, das wollte und will ich ehrlich gesagt gar nicht. Wir machen das, was Brinkmann von uns verlangt, und lassen uns überraschen, was dabei herauskommt.« Sie versetzte ihrem mürrisch dreinblickenden Kollegen einen angedeuteten Schlag in die Rippen. »He, nun lass dich doch nicht so hängen. Wir arbeiten uns kurz in den Fall ein und danach lade ich dich auf einen leckeren Kaffee ein.«

Hain, der sich schon in Bewegung gesetzt hatte, blieb wieder stehen und drehte sich zu seiner Kollegin um. »Kaffee?«, flüsterte er. »Bist du wahnsinnig? Was soll denn aus deinem Nachwuchs werden, wenn du ihn schon in den ersten Wochen seines Daseins mit Koffein abfüllst?«

Pia sah ihren Kollegen einen Moment lang fassungslos an. Dann schüttelte sie den Kopf und drängte sich an ihm vorbei. »Ich hätte besser meinen Mund gehalten, bis ich auf Größe 44 aufgequollen bin.«

Ihren Cappuccino genehmigte sich die junge Kommissarin trotz der Warnung ihres Kollegen, und auch Hain nahm einen. Dann fuhren sie gemeinsam in den Stadtteil Waldau und hatten kurz darauf den Parkplatz erreicht, auf dem auch Jonas Blum in der Nacht zuvor seinen Wagen abgestellt hatte.

»Hier hatte ich öfter zu tun, als ich noch bei der Sitte war«, erklärte er. Sein Blick fiel auf die zahlreichen Wohnsilos dahinter.

»Echt? Was gab es denn hier so Spannendes für die Tugendwächterabteilung zu sehen?«

»In den Häusern hier hatten sich viele Mädchen aus Osteuropa niedergelassen und sind illegal der Prostitution nachgegangen. Das hat einige hier gestört. Denn das ist nämlich eigentlich gar keine schlechte Wohngegend.« Er drehte sich einmal um die eigene Achse. »Mir hat mal eine erzählt, dass die meisten ihrer Kunden zu Fuß kommen würden. Das war zwar irgendwie lustig, aber trotzdem haben wir ihr die Bude zugemacht.«

»Wie, die Bude zugemacht? Die hat doch da gewohnt, oder?«

»Ja klar. Aber der Druck aus der Nachbarschaft ist so groß gewesen, dass sie es, nachdem wir sie erwischt hatten, einfach gelassen hat. Wenn ich mich recht erinnere, hat sie dann am Straßenstrich auf der Wolfhager Straße angeheuert.«

»Das arme Ding.«

»Ja. Ein paar Monate später ist sie von ihrem Zuhälter totgeschlagen worden.« Sein Arm wies auf einen der im rechten Winkel stehenden Wohnblocks hinter dem Straßenschild »Waldemar-Petersen-Straße«.

»Das da drüben ist die Nummer 59, da hat der Blum gewohnt. Und dort, auf dem Weg davor, müsste sich die Sache von letzter Nacht abgespielt haben.«

Sie gingen auf den etwa 100 Meter entfernten, noch immer mit Trassierband abgesperrten Tatort zu und betrachteten den mit Blutspritzern gesprenkelten Asphalt.

»Wie das hier aussieht«, meinte Pia, »dürfte der gute Herr Blum richtig Glück gehabt haben. Das hätte auch deutlich unangenehmer ausgehen können für ihn.«

»Definitiv, ja.«

»He, was machen Sie denn da?«, wollte eine Männerstimme hinter ihnen wissen. »Sind Sie von der Zeitung, oder was?«

Die beiden Polizisten drehten sich um und blickten auf einen Mann, der beide Unterarme auf eine Fensterbank im Hochparterre gestützt hatte und sie mit zusammengekniffenen Augen fixierte. Sein Oberkörper wurde nur unzureichend von einem ehemals weißen Unterhemd bedeckt. Dichte Haarbüschel quollen überall heraus, in seinem linken Mundwinkel klemmte eine dampfende Zigarette. Hain erinnerte die Szene stark an eine der hemmungslos überzeichneten Karikaturen des österreichischen Künstlers Manfred Deix.

»Nein«, erwiderte Hain, nachdem er und seine Kollegin bis auf ein paar Meter an ihn herangetreten waren, »wir sind nicht von der Zeitung.«

»Rundfunk? Oder Fernsehen? Aber Sie haben ja gar keine Kameras dabei.«

»Weder noch«, beschied Pia ihm.

»Dann sind Sie bestimmt auch solche Internetfritzen. Da war vorhin nämlich schon einer von hier.«

»Wirklich? Was wollte der denn?«

»Hat sich hier umgesehen und einen auf wichtig gemacht. Mit Kamera und so.« Er schnippte seine Zigarettenkippe ins Gras, wo sie auf eine ansehnliche Anzahl von Kollegen traf. »Aber mal was anderes«, meinte er schließlich verschwörerisch. »Ich wundere mich schon den ganzen Tag, dass gar nichts über die Sache im Radio oder im Fernsehen kommt. Wissen Sie, was da los ist? Wenn hier in Deutschland einer so brutal vermöbelt wird, dann sollte man doch schon denken, dass das für die Allgemeinheit von Interesse ist. Aber nichts, nicht ein Wort zu dieser Sache.«

»Sie kennen Herrn Blum?«

»Klar. Der lebt doch bestimmt schon seit … hm, fünf Jahren hier im Block. Und da lernt man sich schon kennen, was meinen Sie denn? Ich bin seit 47 Jahren hier und habe schon viele kommen und gehen gesehen.«

»Wow«, machte Hain auf beeindruckt. »Seit 47 Jahren, und immer hier in der gleichen Wohnung?«

»Seit 47 Jahren, immer hier in der Wohnung«, gab er stolz zurück. »War meine erste eigene Bude, nachdem ich geheiratet habe und bei den Eltern rausmusste.«

Wieder ein anerkennendes Nicken des Kommissars. »Ist Herr Blum eigentlich verheiratet?«, fragte er dann.

»Nein, soweit ich weiß nicht. Ich habe ihn zwar ein paarmal mit einer Frau gesehen, aber der lebt allein hier. Das weiß ich ganz genau. Steht ja auch nur sein Name am Klingelbrett und an der Wohnungstür.«

»Also eher eine Freundin?«

»Würde ich mal sagen, ja.«

»Und Sie haben was von der Sache von letzter Nacht mitbekommen?«, wollte Pia nun wissen.

»Klar. Ich habe den Typen, der auf den armen Blum eingeprügelt hat, ja praktisch in die Flucht geschlagen.«

»Ach, Sie sind aus dem Haus gekommen?«

Der Mann am Fenster griff nach der neben ihm liegenden Zigarettenschachtel und zündete sich einen Glimmstängel an. »Nee, dazu ging das doch alles viel zu schnell. Ich hatte gerade den Fernseher ausgemacht und wollte ins Bett gehen, als ich die Schreie gehört habe. Bei der Hitze hat man ja doch die Nacht über das Fenster offen. Und dann habe ich den Kerl mit der Latte in der Hand aber mal so richtig angepfiffen, dass er das lassen soll, was er da veranstaltet.« Er zog an der Zigarette und blies eine Ladung blauen Rauch aus. »Da wusste ich ja noch gar nicht, dass es der arme Blum war, der da jammernd am Boden lag. Das habe ich erst mitgekriegt, als die Sanis gekommen sind und ihn auf die Trage geschnallt haben.«

»Da hatten Sie aber die Polizei schon angerufen?«

»Klar. Und den Rettungswagen.«

»Das haben Sie wirklich vorbildlich gemacht, das kann man nicht anders sagen.«

Sein Blick wanderte von Hain zu Pia und wieder zurück. »Aber nun sagen Sie mir doch mal, von welcher Truppe Sie denn eigentlich sind. Fernsehen?«

»Nein«, lachte die Oberkommissarin ihn an, »viel, viel weniger spektakulär. Wir sind von der Polizei.«

»Ach. Aber da waren doch schon so viele von hier. Was wollen Sie denn noch?«

»Wir sind so etwas wie eine Spezialeinheit«, ließ Hain den armen Kerl wissen. »Wir haben eine Sonderausbildung in …«

»Wir wollen noch ein paar Befragungen durchführen«, ging Pia energisch dazwischen, bevor ihr Kollege sein unbekümmertes Fabulieren auf die Spitze treiben konnte. »Manchmal fällt den Leuten über den Tag ja noch was ein, was sie uns noch nicht erzählt haben.«

»Und dafür brauchen Sie eine Sonderausbildung?«, hakte er skeptisch nach.