Tödlicher Glitzer - Helga Henschel - E-Book

Tödlicher Glitzer E-Book

Helga Henschel

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Beschreibung

Elvira Langelott stirbt nach langer Krankheit an einer unbekannten Todesursache im Krankenhaus. Zur Klärung überstellen die Ärzte sie zur Rechtsmedizin und die finden auffällige Blutwerte. Den mysteriösen Fall übernimmt der Bremer Kriminalhauptkommissar Ferdinand Düwelhenke und sein Team. Anfangs gerät der Ehemann unter Verdacht, verschwindet aber spurlos. Hat er seine Ehefrau wirklich skrupellos getötet oder lauern weitere Verdächtige? Während der Ermittlungen taucht das düstere Geheimnis einer kaltblütigen Mörderin aus der Vergangenheit auf. Zwei Fälle führen Düwelhenke in finstere Abgründe und lassen eigene seelische Wunden aufbrechen.

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Seitenzahl: 262

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Helga Henschel

Tödlicher Glitzer

Bremen-Krimi

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Sonntag, 5. April

Montag 6. April

Montagnachmittag 6. April

Dienstagmorgen 7. April

Dienstagmittag 7. April

Dienstagnachmittag 7. April

1813

Donnerstagvormittag 9. April

Donnerstagnachmittag 9. April

1815

Freitagvormittag 10. April

Freitagnachmittag 10. April

1817

Montag 13. April

Montagnachmittag 13. April

1819

Dienstag 14. April

Dienstagnachmittag 14. April

1821

Mittwoch 15. April

1823

Donnerstag 16. April

1825

Donnerstagnachmittag 16. April

1826

Donnerstagabend 16. April

1827

Freitag 17. April

1828

Freitagmittag 17. April

1829

Montag 20. April

1830

Montagnachmittag 20. April

20. April 1831

Dienstag 21. April

21. April 1831, 8:00 Uhr morgens

Mittwoch 22. April

Nachwort

Gesche Gottfried

Liebe Leserin, lieber Leser,

Impressum neobooks

Sonntag, 5. April

Elvira schlug mit abgemagerten Armen um sich, als wenn sie jemanden töten wollte. Dabei stöhnte sie und stammelte kaum verständliche Worte, die keinerlei Sinn ergaben. Ihre blonden Haarsträhnen klebten wirr am Kopf und hätten dringend einer Haarwäsche bedurft. Doch daran war momentan überhaupt nicht zu denken. Sie tobte und wälzte sich in ihrem Bett und war wie von Sinnen.

Die früher schöne Frau hatte sich in ein Gespenst verwandelt, die Augenhöhlen lagen tief und waren mit dunklen Rändern umschattet. Die einst vollen Wangen eingefallen und die blasse Haut über den Knochen verschrumpelt. An den sonst gepflegten Händen traten blaue Adern hervor und ähnelten einem Spinnennetz. Die Haut zeigte feine Fältchen wie bei Greisen. Eine Frau von fünfunddreißig und in den besten Lebensjahren mit einem Ehemann, einem Haus und einem guten Auskommen. Nichts konnte sie mehr genießen, stattdessen fesselte sie eine mysteriöse Krankheit seit Wochen ans Bett oder auf das Sofa im Wohnzimmer, wenn sie sich etwas besser fühlte.

Im Krankenzimmer überlagerte Schweißgeruch den Nässedunst. Elviras Deo hatte längst versagt und den Dienst quittiert angesichts solcher Mengen an Körperflüssigkeiten. Das dünne Nachthemd klebte am Körper, die Bettdecke war bis knapp unter ihren Bauch gerutscht. Das komplette Bett dunstete Nässe aus und verwandelte das Krankenzimmer in einen feuchten Raum wie ein Badezimmer nach dem Duschen. Eigentlich musste das Bettzeug dringend gewechselt und das Zimmer gelüftet werden, doch angesichts Elviras Zustand gestaltete sich dies als unmöglich. Dagegen sprenkelten draußen harmlose Regentropfen die Fensterscheibe und drinnen fand ein tödlicher Kampf statt.

Ihre Mutter Aloisia saß mit Sicherheitsabstand am Bett und tat ihr Möglichstes. Sie versuchte mit einem weißen Handtuch den Schweiß aufzufangen, der ihrer Tochter in Strömen vom Gesicht troff und nasse Flecken auf dem Kopfkissen hinterließ. Ein neues Nachthemd überzustülpen und das durchnässte Bett zu beziehen, die Gedanken hatte sie längst aufgegeben. Zuerst musste sie Elvira beruhigen und darin hatte sie nach einigen Krankheiten und Todesfällen in der Familie reichlich Erfahrung. Aufopferungsvoll saß sie am Bett ihrer Tochter und fingerte mit dem Handtuch herum.

Wieder wälzte Elvira sich auf die andere Bettseite und die Arme hätten fast ihren Ehemann Georg erwischt. In dieser ausgemergelten Frau steckten noch ungeahnte Kräfte. Woher sie die nahm, waren Georg und Aloisia ein völliges Rätsel. Seit Tagen hatte sie nicht mehr richtig gegessen und Wasser oder Saft einzuflößen war eher mühselig gewesen.

Aufgeschreckt wich Georg vor den schlagenden Armen zurück und blickte seine Frau perplex an.

Genervt stand er auf und sagte: „Ich rufe jetzt den Krankenwagen. Das hier ist völlig hoffnungslos. Sie muss ins Krankenhaus.“

Auf das Einverständnis seiner Schwiegermutter verzichtete er, denn die Situation war aussichtslos. Er wusste, dass sie vehement gegen Krankenhäuser war. Sie misstraute jeglicher ärztlichen Einrichtung und hätte Elvira viel lieber in ihrer fürsorglichen Obhut behalten. Ihre Meinung hatte sie Georg mehr als einmal deutlich gesagt.

Trotzdem wandte er sich wie angekündigt um, nestelte an seiner Hosentasche und zog das Mobiltelefon hervor. Im Flur wählte er 112 und schnell meldete sich eine freundliche Männerstimme. Am Sonntag war wohl wenig zu tun, vermutete Georg.

Rasch erzählte er von dem Notfall und gab seine Adresse durch. Die Telefonstimme versprach, dass ein Krankenwagen demnächst frei wäre.

Er steckte das Telefon wieder in die ausgeleierte Hosentasche und ging zurück ins Krankenzimmer. Immer noch tobte Elvira von einer Seite auf die andere. Es fiel ihm unsäglich schwer, seine Frau in ihrem Elend zu sehen.

„Der Krankwagen kommt bald“, informierte er seine Schwiegermutter, die weniger rüstig wirkte als noch vor ein paar Wochen. Auch ihr musste die Krankheit ihrer letzten Verwandten an die Nieren gehen und ließ sich nicht so einfach als Schicksalsschlag wegstecken. Ergeben hinnehmen und nur aufopfernd die feuchte Stirn tupfen, waren bei dem Zustand von Elvira vergebliche Bemühungen.

„Ist wohl besser so.“

Gerade noch konnte sie Elviras Armen ausweichen und Georg sah in das hilflose Gesicht einer Persönlichkeit, die sonst nie um einen willkommenen oder unwillkommenen Rat verlegen war. Aloisia wusste immer, was zu tun war. Nur bei der sich verschlimmernden Krankheit ihrer Tochter gelangte auch sie mit ihrer Weisheit ans Ende. Kein gutgemeinter Tipp oder Hausmittelchen halfen mehr, das sah selbst die vom Leben gestählte Aloisia ein.

„Ich warte im Wohnzimmer.“

Schuldbewusst schlich Georg aus dem bedrückenden Zimmer und setzte sich ins Wohnzimmer. Er wusste nichts mit sich anzufangen. Auch das Handy als Helfer gegen Langeweile entpuppte sich als keine große Unterstützung. Es lag nutzlos auf dem Couchtisch und machte keinen Pieps. Die Hände lagen nutzlos auf den Oberschenkeln und er versuchte das Stöhnen und Rascheln aus dem Nebenzimmer zu ignorieren. Er wartete auf den Notarztwagen, der ihn aus der häuslichen Misere befreien würde, so hoffte er.

Montag 6. April

Elvira lag tot im kargen Sterbezimmer eines Bremer Krankenhauses. Ihre weißen Hände ruhten gefaltet auf der makellosen Bettdecke. Es wirkte, als wenn sie nur ein Nickerchen nach dem Mittagessen machen würde. Noch sah ihr Gesicht nicht wie das einer Leiche aus und doch war sie tot. Es vermittelte den Eindruck eines friedlichen Lebens. Das einer ehemals gutaussehenden Frau, die stets recht leicht die Anforderungen des Daseins gemeistert hatte. Und das nicht zuletzt wegen ihres augenschmeichelnden Äußeren, dass ihr schon in der ersten Klasse Vorteile verschafft hatte. Das ehemals hübsche Gesicht war nun eingefallen und die Wangenknochen standen hervor. Auch jetzt auf dem Totenbett wallten ihre halblangen blonden Haare um ihr Gesicht und umrahmten es mit engelsgleichen Locken. Der letzte Atemzug war vor ein paar Minuten zwischen ihre Lippen hervorgestolpert.

Der Ehemann und die weinende Mutter hatten ihr bis zum bitteren Ende beigestanden. Beide saßen nun mit hängenden Schultern am Bett und blickten auf Elvira, Gattin und Tochter. Die fahlen Gesichtszüge des Gatten wirkten versteinert und abwesend. Die Mutter schniefte ständig in ihr Taschentuch und wischte sich die Tränen aus den Augenwinkeln fort. Ihre Haare saßen weniger korrekt als sonst und Hose sowie Mantel wiesen Knicke auf. Das geschah bei Aloisia Märis nie, sie wirkte immer wie aus dem Ei gepellt oder frisch vom Friseur herbeigeeilt. Aber nun am Sterbebett ihres einzig verbliebenen Kindes zeigte auch diese starke Frau erste Risse in der Fassade.

Die Hinterbliebenen konnten für die verstorbene Elvira Langelott nichts mehr tun. Der Ehemann Georg stellte die bereitgelegten Kerzen auf und die Mutter, Aloisia Märis, exzessive Raucherin, zündete sie mit ihrem Feuerzeug, das sie aus ihrer voluminösen Handtasche angelte, an. Mutter und Ehemann falteten die Hände und murmelten irgendetwas Undefinierbares. Nein, gläubig waren alle beide nicht. Die in der Kindheit gelernten Gebete hatten sich längst aus der Erinnerung verflüchtigt. Also nuschelte jeder ein paar Worte, von denen sie glaubten, es ähnelte einem Gebet. Für sie gab es nichts mehr zu tun, kein Helfen, kein Kümmern.

Vorbei. Elvira war tot.

Elvira hatte nur das fünfunddreißigste Lebensjahr erreicht, eindeutig zu früh, um zu sterben.

Beide mussten nun damit zurechtkommen, dass die Verstorbene nicht mehr mit ihnen den Alltag teilte. Starr saßen beide auf den harten Stühlen am Sterbebett, dass mit weißen Laken steril und sauber wirkte. Beide fühlten intensiv den Friedhof und die wartende Urne. Verbrennung und Urnenbestattung hatte sie zwar nicht ausdrücklich erwähnt, aber Georg und Aloisia waren beide keine Friedhofsgänger. Deshalb erschien diese Lösung die einfachste zu sein.

Die Luft im Sterbezimmer roch verbraucht und dennoch schwebte der Geruch von Desinfektionsmitteln im Raum. Ehemann Georg und Mutter spürten trotz der Trauer eine gewisse Erleichterung, obwohl keiner von beiden es freiwillig zugegeben hätte. Die Jahre mit Elviras Krankheit hatte an ihren Nerven gezerrt. Das ständige Dasein, sich Kümmern und die häufigen Krankenhausbesuche hatten Georg zermürbt. Aloisia Märis hatte weniger darunter gelitten. Das Gegenteil war der Fall gewesen, sie schien geradezu aufzublühen. Doch Georg war es schwergefallen, ständig seine kränkelnde Frau auf dem Sofa zu sehen, während seine Schwiegermutter eifrig an ihr herumtätschelte.

Georg war mit fünfundvierzig Jahren in der Blüte seines Lebens und endlich auf dem beruflichen Gipfel angekommen. Seine kleine Immobilien-Verwaltungs-Firma florierte, er verbuchte Erfolge und damit ein stattliches Bankkonto. Die Kredite für das Wohnhaus im Bremer Vorort Syke waren längst abbezahlt. Seine eigenen Mietshäuser warfen Profite ab. Da passte eine kranke und ständig unpässliche Frau wenig in sein luxuriöses Leben. Er wollte endlich seine Arbeitszeit reduzieren und die Zeit mit Elvira genießen. Er liebte seine Frau und hätte alles für sie getan. Doch ihr gemeinsames Leben hatte er sich ganz anders vorgestellt. Er hatte geplant, mit seiner attraktiven Ehefrau auf Reisen zu gehen, zum Golfen und in Konzerte. Doch Reiserouten in ferne Länder zu organisieren oder gar in einen Kurzurlaub zu fahren, gehörte seit Jahren ins Reich der Träume.

Elvira hatte lange gekränkelt. Sie litt unter ständigen Kopf- und Gliederschmerzen und wiederkehrenden Durchfällen. Ihr hilfloser Ehemann wusste keinen Rat und fühlte sich hoffnungslos überfordert. Auch der Hausarzt schaute ahnungslos drein, wenn er mal wieder ans Krankenbett gerufen wurde. Er flüchtete sich in undefinierbare Vermutungen und schrieb liebend gern die Einweisungen ins Krankenhaus. Elviras Beschwerden besserten sich nicht. Ganz im Gegenteil, die Symptome traten öfter auf und wurden stärker.

Georg hatte es gestern sattgehabt und die Initiative ergriffen. Statt in die Klinik im nächstgelegenen Ort bat er den Krankenwagenfahrer im nahen Bremen ein Krankenhaus anzusteuern. Und der Krankenwagenfahrer war wirklich seinem Wunsch nachgekommen, obwohl er vom eigentlich zuständigen Bundesland Niedersachsen in den Stadtstaat Bremen fahren musste. Angekommen hatte er Elvira in der Notaufnahme der Fürsorge der Ärzte überlassen. Georg war mit der vorsorglich schon gepackten Krankenhaustasche hinterhergefahren und beantwortete geduldig die Fragen des Arztes.

Es musste ja eine Diagnose und einen plausiblen Grund für Elviras Beschwerden geben. Sie konnte nicht einfach zu Hause auf dem Sofa im Wohnzimmer liegen bleiben und dahinvegetieren. Das stete Dahinsiechen wünschte Georg Pielhop seiner Frau nun wirklich nicht.

Mittlerweile hatte ein intensiver Geruch von Krankheit und Medikamenten sein komplettes Haus durchströmt. Es gab keinen Winkel, weder auf dem Dachboden noch im Keller, wo es nicht nach Krankheit roch. Diesem widerwärtigen Geruch konnte er nur in seinem Büro entfliehen. Im Wohnhaus waberte er überall. Sogar in den Kleiderschränken nahm er diesen Gestank wahr und seine frisch gewaschene Wäsche muffte danach. Er ekelte sich davor. Er musste arbeiten, seine Firma führen und Elvira empfand er inzwischen als überaus lästig.

Um Elvira kümmern brauchte Georg sich nicht. Das übernahm seine Schwiegermutter Aloisia Märis mit Eifer. Rührend pflegte sie ihr einziges Kind und war stets zur Stelle, wenn sie einen Notruf bekam. Georg hielt seine Schwiegermutter zwar für überambitioniert und schlimmer noch, sie qualmte sein Arbeitszimmer mit ihren Zigaretten voll. Da er selten dort saß und seit Elviras Erkrankung noch weniger, störte ihn das weniger. Zwar zügelte Aloisia in Gegenwart Elviras ihr Laster und ging deshalb zum Rauchen ausgerechnet in sein Arbeitszimmer. Er hatte es einmal gewagt, sie darauf anzusprechen und ihr vorgeschlagen, auf der Terrasse zu rauchen. Doch davon wollte sie nichts wissen. Sie würde sich glatt den Tod holen, hatte sie gemeint, und damit war das Thema für seine Schwiegermutter erledigt. Seither hatte er sein Arbeitszimmer gemieden und riss nur ab und zu die Fenster zum Lüften auf.

Im Sterbezimmer rekelte sich Georg und entspannte seine schmerzenden Schultern. Vom langen Sitzen war er ganz steif geworden.

„Ich fahre nach Hause und kümmere mich um ein Beerdigungsunternehmen“, sagte er.

„Ja, der an der Friedhofstraße hat damals die Beerdigung für Hermann gemacht. Die sind gut“, empfahl Aloisia gleich einen renommierten Bestatter.

Sie wusste bestens Bescheid und drängte jedem ihre meist überflüssigen Ratschläge auf. Georg ärgerte sich. Wenn alles vorbei wäre, nahm er sich vor, den verwandtschaftlichen Kontakt zu seiner Schwiegermutter auf ein Minimum zu reduzieren. Er wollte sich nicht mehr ständig in sein Leben hineinreden lassen.

Georg stand auf, nahm seine achtlos zusammengeknüllte Jacke von der Stuhllehne und floh aus dem Sterbezimmer. Draußen auf dem Gang der Station schöpfte er Luft. Besser war die nicht, denn auch hier roch es genauso nach Reinigungsmitteln wie drinnen. Er musste hier schleunigst weg. Gerade im Umdrehen begriffen sprach ihn ein Arzt mit dunklem Haar und offenem Kittel an.

„Sie sind Herr Pielhop?“, fragte er.

„Ja, der bin ich. Ich wollte nach Hause fahren und die Beerdigung in die Wege leiten.“

„Mein Name ist Schmidt. Ich habe Ihre Frau betreut. Mein Beileid.“

Der Arzt machte eine kleine Mitleidspause, bevor er weitersprach.

„Ich muss Sie informieren, dass der Leichnam Ihrer Frau in die Pathologie überstellt wird.“

„Warum das?“, wunderte sich Georg.

„Wir haben keine plausible Diagnose für den Tod Ihrer Frau. Das muss unbedingt genauer untersucht werden.“

Georg zog die Stirn kraus, denn er war ungehalten. Er wollte einen endgültigen Abschluss und die letzten Angelegenheiten regeln.

„Dann können wir noch keinen Termin für die Beerdigung machen?“, fragte er.

„Nein, den würde ich offenlassen. Ich kann Ihnen nicht sagen, wie lange die Untersuchungen dauern. Die Pathologie wird sich an Sie wenden, ob Sie einer Obduktion zustimmen. Es tut mir leid, Herr Pielhop. Es ist nicht zu ändern. Da gibt es noch Klärungsbedarf“, bedauerte der Arzt.

„Obduktion? Aufschneiden? Meine Schwiegermutter wird nicht begeistert sein und ich muss darüber nachdenken. Ist das denn wirklich notwendig, Herr Doktor?“

„Das klären Sie bitte innerhalb Ihrer Familie. Ich muss jetzt weiter“, zog sich der Arzt gekonnt aus dem Gespräch zurück und übergab ihm den Totenschein.

„Auf Wiedersehen, Herr Pielhop.“

Vertieft in Gedanken antwortete Georg abwesend: „Auf Wiedersehen und vielen Dank für Ihre Mühen.“

Georg wollte dem Arzt noch die Hand reichen, doch der hatte sich schon abgewandt und lief in schnellen Schritten zum nächsten Krankenzimmer. Im Nachhinein fiel Georg ein, dass unhygienisches Händeschütteln im Krankenhaus tunlichst zu vermeiden war. Dunkel erinnerte er sich an die Hygiene-Hinweise zur Vorbeugung von ansteckenden Krankheiten und den Problemen der Kliniken mit resistenten Keimen und unwirksamen Antibiotika.

Verdutzt blickte er auf den weißen Briefumschlag in seiner Hand, denn darin lag das Formular, dass Elvira wirklich nicht mehr unter den Lebenden weilte. Er fühlte sich ganz leicht an, völlig bedeutungslos, eigentlich unwichtig.

Obduktion? Elvira sollte aufgeschnitten werden?

Nachdenklich machte er sich auf den Weg zu den Fahrstühlen. Seiner trauernden Schwiegermutter wollte er vorerst nicht mehr begegnen. Das würde nur zu langen aussichtslosen Diskussionen führen.

Beim Fahrstuhl musste er warten. Besonders am Vormittag standen die leisen Lifte nie still. Viele Patienten wurden zu Untersuchungen gefahren und das manchmal im Krankenbett. Da kamen die kräftigen Bettenschieber vom internen Krankenbettentransport nur mit gekonntem Rangieren um die Kurven.

Unruhig lief er rasch ins Treppenhaus und flüchtete geradezu die Treppenstufen hinunter. Eine Etage tiefer stellte er sich vor die Fahrstuhltür und wartete erneut, denn er befand sich erst im dritten Stockwerk. Ganz ins Erdgeschoss zu laufen, das ersparte er sich besser.

Pathologie. Was wollen die Ärzte dort herausfinden, überlegte er. Ich stimme jedenfalls zu. Ich will eine Antwort, warum Elvira sterben musste. Und Aloisia kann rein gar nichts dagegen tun, ich bin der Ehemann und verfüge über die Entscheidungsgewalt.

Er holte tief Luft und fühlte Erleichterung über seine Entscheidung und dass seine Schwiegermutter machtlos war.

Aber er fand es richtig, dass die Ärzte der ominösen Krankheit von Elvira auf den Grund gingen. Seltsam war das Ganze schon, grübelte Georg auf dem Weg zur Wohnstraße, in der er einen der raren Parkplätze ergattert hatte. Er stand vor einem Rätsel. Trotz des ständigen Nachdenkens über die mögliche Krankheit und deren Ursachen, gelangte er nie zu einem befriedigenden Resultat. Er gab dem Arzt recht, Elvira musste gründlich untersucht werden. Er wollte wissen, wie die amtliche Todesursache lautete und was wirklich dahintersteckte. Keiner sollte denken, er trüge Schuld am Tode seiner Frau. Nein, das lag nicht in seinem Sinn. Er wollte wissen, warum sie sterben musste, sinnierte er. Warum er ab jetzt den unschmeichelhaften Titel „Witwer“ trug?

Bin ich nicht zu jung, um Witwer zu sein, fragte er sich. Witwer sind alte Männer mit weißen Haaren.

Georg war bei seinem SUV angelangt und schloss auf. Routiniert kurvte er aus der Parklücke und fädelte sich in den fließenden Verkehr ein. Rasch gelangte er auf die gut ausgebaute Straße stadtauswärts. Er hatte außerhalb der hektischen Großstadt Bremen in einer Kleinstadt sein geräumiges Haus gebaut. Dahin trieb es ihn nun. An seine ungeliebte Schwiegermutter verschwendete er keinen Gedanken mehr. Sie konnte ihm ab sofort gestohlen bleiben. Sie war selbst mit ihrem kleinen Auto zum Krankenhaus gefahren. Sie sollte in Zukunft nicht mehr bei ihm ihre leeren und langweiligen Tage verbringen. Sie wohnte in ihrem Haus und konnte ihrer Tochter Elvira dort gedenken und ausgiebig betrauern.

Zu Hause angekommen, zog er die Jalousien hoch und öffnete sperrangelweit sämtliche Fenster. Frischer Frühlingswind und Durchzug eliminierten endlich Krankheit und Tod aus seinem Heim. Die warme Jacke behielt Georg derweil an und er surfte auf dem Handy nach Bestattern an seinem Wohnort. Eine Anzeige eines Bestattungsinstituts poppte auf, dessen Namen Georg schon mal irgendwo wahrgenommen hatte. Den seriösen Bestattungsunternehmer, den seine Schwiegermutter ihm wärmstens empfohlen hatte, ignorierte er bewusst.

Immer diese Ratschläge, ärgerte er sich. Ich bin doch kein kleines Kind mehr.

Er setzte sich in den bequemen Sessel, drückte auf die angegebene Telefonnummer und wartete auf die Verbindung.

„Guten Tag, Bestattungen Meyer. Was kann ich für Sie tun?“

„Guten Tag, Pielhop. Meine Frau ist soeben verstorben. Ich brauche einen Termin bei Ihnen.“

„Mein aufrichtiges Beileid. Möchten Sie in unser Büro kommen oder kann ich Ihnen einen Besuch abstatten?“

„Ich wohne in der Nähe. Ich kann bei Ihnen vorbeikommen. Ist mir sogar lieber“, und er dachte mit Grauen an seine Schwiegermutter, die sich vielleicht uneingeladen in seinem Haus einquartieren würde.

„Wann passt es Ihnen?“

„Vielleicht schon morgen?“, antwortete Georg.

Die notwendigen, aber überaus lästigen Formalitäten wollte er so rasch wie möglich hinter sich bringen.

„Dann schlage ich morgen Vormittag um 11.00 Uhr vor. Können Sie das einrichten?“

„Kein Problem. Ich bin bei Ihnen. Äh, ein Problem noch. Im Krankenhaus sagte der Arzt, dass meine Frau noch untersucht wird und sie nicht wissen, wann sie freigegeben wird.“

„Ja, aber die Vorbesprechung können wir schon erledigen“, sagte Herr Meyer.

„Okay.“

„Bringen Sie bitte die notwendigen Dokumente mit. Wir brauchen Ihren Personalausweis und den Ihrer Frau. Und dann noch die Geburtsurkunde, Heiratsurkunde und den Totenschein.“

„Totenschein habe ich im Krankenhaus erhalten. Und die anderen Formulare muss ich suchen. Wo sind die Unterlagen nur hingeraten?“, fragte Georg ratlos und griff sich an die Stirn.

„Meistens liegen die Urkunden im Familienbuch. Schauen Sie dort mal nach.“

„Ich muss suchen. Vielen Dank Herr Meyer. Bis Morgen“, verabschiedete sich Georg von dem sehr rücksichtsvollen Bestatter.

„Auf Wiedersehen, Herr Pielhop. Ich erwarte Sie.“

Georg schloss die Fenster, ihm war fröstelig zumute. Aber das ausgiebige Lüften hatte den Mief hinausgefegt, der über Wochen und Monate im Haus geradezu geklebt hatte. Nun ging es ihm besser und er schöpfte zum ersten Mal seit Elviras Tod befreit Luft und fand zu sich selbst.

Wie wird es mit mir weitergehen, fragte er sich erschöpft.

Montagnachmittag 6. April

In der Küche bereitete er eine Kanne mit schwarzem Tee zu. Den brauchte er, um wieder klarer zu sehen und besser nachdenken zu können. Hunger meldete sich ebenfalls. Kein Wunder, vierzehn Uhr, und er hatte früh gefrühstückt und war ins Krankenhaus gehetzt. Er öffnete den Kühlschrank und schaute, welche Zutaten es dort für eine schnelle Mahlzeit gab. Er holte einfach zwei Scheiben Schwarzbrot aus der Brotbox, bestrich sie mit dick Butter und belegte eine mit Salamischeiben und die andere mit Käse. Dazu gönnte er sich ein Glas frische Milch, die er in der Mikrowelle erhitzte. Das würde seinen knurrenden Magen vorerst füllen. In der Küche fand er sich gut zurecht, denn während Elviras Krankheit musste er öfter kleine Mahlzeiten zubereiten. Er stellte sein frugales Menü auf das Tablett, ging damit vorsichtig ins Wohnzimmer und platzierte es auf dem Couchtisch. Vom Schreibtisch im Arbeitszimmer holte er Stift und einen Schreibblock. Er plante, eine To-do-Liste anzulegen, um ja nichts zu vergessen. Ihn plagte die Angst, etwas zu verschusseln.

Georg wollte sich auf die Wohnzimmercouch setzen, auf der Elvira noch vor Kurzem bemitleidenswert krank gelegen hatte.

„Nein“, sagte er und raffte Bettzeug und Wolldecke zusammen. Damit eilte er in Elviras Zimmer und warf alles auf das ungemachte Bett.

Weg damit.

Trotzdem erzeugte das Sofa Unruhe in ihm und er setzte sich flugs in den Sessel. Auf dem Sofa konnte er keinen klaren Gedanken mehr fassen. Ständig standen ihm wieder die grauenhaften Bilder des schlichten Sterbezimmers im Krankenhaus und ihr langes Dahinvegetieren vor Augen. Im bequemen Sessel fühlte er sich wohler.

Während er die Scheibe Brot zerteilte und sie achtlos in den Mund schob, schrieb er Stichpunkte auf den bereitgelegten Block. Eine solche hilfreiche Stütze benötigte er sonst nicht, denn er verfügte über ein recht gutes Gedächtnis. Doch in seinem jetzigen Zustand brauchte er die Sicherheit und die Gewissheit, die Situation unter Kontrolle zu haben. Es gab so viele Dinge zu erledigen und an so viele Kleinigkeiten musste bei einem Todesfall gedacht werden.

Seine allwissende Schwiegermutter verfügte mit ihren drei verstorbenen Ehemännern in derlei Dinge über reichhaltige Erfahrung. Aloisia würde eine Bestattung mit Leichtigkeit und ohne Mühe organisieren und gefasst hinter sich bringen, da war er sich sicher. Aber die Beerdigung seiner Frau übernahm er allein, da sollte sie sich in keiner Weise einmischen.

Sie soll sich überhaupt zukünftig weniger in mein Leben drängen, bestimmte Georg gedanklich.

Nachdem er das Schwarzbrot aufgegessen und die Milch ausgetrunken hatte, ging es ihm wesentlich besser. Der schwarze Tee weckte seine Konzentration, machte ihn munter. Das Blatt war schon fast vollgeschrieben.

Ich sollte in den nächsten Tagen frei nehmen, überlegte er. Kann ich das denn? Brauche ich Ablenkung oder fällt mir hier die Decke auf den Kopf, fragte er sich.

Er beschloss, in den nächsten Tagen zu Hause zu bleiben, schnappte das Handy, suchte die Nummer seines Büros und rief in seiner Firma an.

„Immobilien Pielhop, Hempel am Apparat. Wie kann ich Ihnen helfen?“, meldete sich seine Büroangestellte Frau Hempel.

„Hallo Frau Hempel, hier ist Pielhop. Meine Frau ist heute Morgen leider verstorben. Ich komme gerade aus dem Krankenhaus“, informierte er sie.

„Oh, das tut mir furchtbar leid. Ich trauere mit Ihnen.“

Das glaubte Georg ihr sogar, denn Frau Hempel hatte regen Anteil an der Krankheit seiner Frau genommen. Sie Jeden Morgen hatte sie nachgefragt, sobald er das Büro betreten hatte. Sie war eben eine fürsorgliche Frau. Als große Hilfe im Büro nahm sie ihm viele alltägliche Arbeiten ab und er konnte immer auf sie zählen.

„Ich danke Ihnen für Ihre Anteilnahme.“

Diese nichtssagenden Sätze und Phrasen klangen abgedroschen und hohl. Er fühlte sich unwohl dabei. Doch dafür musste er sich in den nächsten Wochen höflich bedanken. Das kam ihm irgendwie unecht vor und er fand aus diesem Dilemma kein Schlupfloch. Wollte er seinen mittrauernden Freunden und Bekannten nicht vor den Kopf stoßen, musste er einfach mitmachen. Seine Umwelt verlangte es von ihm.

„Kann ich etwas für Sie tun?“, fragte Frau Hempel in seine Überlegungen hinein.

„Das können Sie. Sagen Sie bitte die Termine für morgen ab. Am besten für die ganze nächste Woche. Ich bleibe zu Hause und kümmere mich um die Beerdigung. Damit habe ich genug zu tun. Ich könnte sowieso nicht mit Kunden sprechen“, bat er Frau Hempel.

„Aber natürlich. Ich mache Ihnen die nächste Woche frei“, erwiderte sie. „Ich bin hier im Büro, wenn etwas sein sollte.“

„Danke, Frau Hempel. Auf Wiederhören.“

„Auf Wiederhören, Herr Pielhop.“

Den ersten Punkt strich er von seiner umfassenden Liste und nun kam das Familienbuch an die Reihe. Wo hatte Elvira das hingelegt? Er dachte angestrengt nach. Wo liegen unsere wichtigen Unterlagen? Hatte sie dafür einen bestimmten Platz? Lag es vielleicht im Wohnzimmerschrank? In ihrem Schreibtisch? In der Kiste in der Küche mit Dingen, die nicht verloren gehen durften, aber im Haus keinen richtigen Platz fanden? Elvira hatte immer „Schurrimurri“ dazu gesagt, wie er sich schmunzelnd erinnerte.

Doch bevor Georg die Suche startete, stand er auf, holte sich ein kleines Glas und die Sherry-Flasche aus der Bar. Alkohol als Problemlöser am Nachmittag war gegen seine sonstigen Gewohnheiten, aber er brauchte jetzt etwas Starkes. Er schenkte das Glas bis an den Rand voll, sodass es fast überschwappte und nahm einen großen Schluck. Der trockene Sherry rann in seiner Kehle hinunter und verursachte im Magen ein angenehmes Gefühl. Er spürte der wohltuenden Wärme des Sherrys nach und lehnte sich zurück.

Das Festnetztelefon auf dem Telefontischen schrillte in die Stille. Sollte er aufstehen und das Gespräch annehmen? Eigentlich wollte er mit keinem Menschen reden. Er ließ es klingeln und der Anrufbeantworter sprang zuverlässig an. Seine Schwiegermutter war dran und sie machte ihm arge Vorwürfe, dass er sie einfach so noch dazu allein in der Klinik hatte sitzen lassen.

„Ich will dir doch helfen, Georg.“

Piep. Das Band war zu Ende. Sie konnte ihm keine weiteren Vorhaltungen mehr machen. Wie liebte er diesen harmlosen Piep. Ein simpler Ton auf dem Anrufbeantworter hielt ihm Unangenehmes vom Leib. Georg spürte wohlige Zufriedenheit, dass er das Telefon hatte klingeln lassen und seine Schwiegermutter nur vom Band hören musste. Er wusste genau, dass sie sich heute kaum in ihren Wagen setzen und zu ihm fahren würde. Elvira war nicht mehr hier und der Grund für ihre häufigen Besuche fiel schlicht weg. Der Weg war ihr von Anfang an ohnehin zu weit gewesen. Mehr als einmal hatte sie sich darüber beklagt, dass er sein Haus soweit außerhalb, geradezu auf dem Dorf in der Einöde, gebaut hatte. Das war völlig übertrieben. Er hatte sich ein Haus am Rande der Kleinstadt errichten lassen. Ihm dagegen gefiel es hier, sein Büro eine halbe Stunde entfernt und die Straße führte durch Felder und Wälder. Geschäfte lagen im Ort und Elvira hatte sich nie beschwert. Eine direkte Straße führte in vierzig Minuten direkt in die Bremer City, wenn sie mal Großeinkäufe zu erledigen hatten. Und wenn es seiner Schwiegermutter zu mühsam war, umso besser. Dann blieb sie ihm vom Hals.

Wo war er stehen geblieben? Seine Gedanken waren spazieren gegangen und er versuchte, sich wieder auf das Wesentliche zu konzentrieren. Was war das noch? Ach so, das Familienbuch musste er für den Bestatter finden. Georg sah an den infrage kommenden Stellen nach. Wie er feststellte, gab die Suche seinem neuen Leben ohne Elvira unerwartete Impulse. Dabei entdeckte er so manche wichtige Unterlage, die er vermutlich irgendwann dringend brauchen würde.

Endlich fand er das Familienbuch. Ohne dieses Buch war ein Mensch nicht existent. Auch nach dem Tod eines Erdenbürgers waren die Urkunden noch erforderlich. Befremdlich. Georg entdeckte das Buch in einer der unteren Schubladen im Wohnzimmerschrank. Elvira war ordentlich und korrekt gewesen, dass musste er ihr posthum lassen. Ob das bei ihm ebenso der Fall gewesen wäre? Eher nicht, denn er musste sich immer zusammenreißen, um seine Sachen ordentlich abzuheften. Im Büro übernahm das seine gewissenhafte Frau Hempel, aber hier in seinem Haus trug er fortan dafür Sorge.

Nun fehlte nur noch der Personalausweis und der steckte bestimmt in ihrer Handtasche. Vielleicht in der Geldbörse? Aber wo war ihre Handtasche? Wegen ihrer Krankheit verlor Elvira zuletzt das Interesse an ihrem Äußeren. Dabei liebte sie Handtaschen in allen Formen und Farben. Früher wäre sie nie ohne passende Tasche vor die Haustür getreten. Krankheit veränderte eben grundlegend die Wünsche und Eigenheiten eines Menschen. Georg ging in ihr hübsch eingerichtetes Zimmer und schaute sich sorgsam um. Dort lag eine Handtasche. Das Wintermodell, wie sie ihr liebstes Stück von einer Berliner Designerin immer genannt hatte, in Braun passend zu ihrem Wintermantel. Er schüttelte den Inhalt der Tasche kurzerhand auf das zerwühlte Bett und langte nach der Geldbörse. Er hatte Glück, der Ausweis steckte im Seitenfach. Morgen durfte er nicht vergessen, seinen Personalausweis einzustecken, ermahnte er sich. Alle wichtigen Unterlagen für den Bestattungsunternehmer hatte er beisammen.

Elviras Zimmer wird zukünftig unbewohnt sein.

Der Gedanke schoss ihm schlagartig durch den Kopf. Sollte er ihr Zimmer ausräumen, alles weg, Möbel und Kleidung? Nicht sofort. Dafür fehlte ihm aktuell die nötige Energie. Später. Er spürte Sehnsucht nach seiner Frau. Sollte er das Haus verkaufen oder vermieten? Es war schon zu groß für sie beide gewesen. Sie hatten keine Kinder gehabt. Und nun sollte er alleine darin wohnen?

Entscheide ich später, sagte er sich. Ich werde vorläufig nichts verändern und lasse alles so, wie Elvira ihr Heim verlassen hat.

Mit diesem Entschluss schlurfte er mit den Unterlagen in den Händen aus dem Zimmer und schloss die Tür.

Auf dem Rückweg ins Wohnzimmer kam er am Schlafzimmer vorbei und er spürte plötzlich eine unsägliche Müdigkeit aufkommen und Sehnsucht nach seinem Bett.

Was soll es, ich kann machen, was ich will, dachte er. Ich kann schlafen, wann und wie lange es mir in den Sinn kommt. Elvira mitsamt ihren unerklärlichen Krankheitssymptomen ist nicht mehr da. Sie liegt nicht mehr nebenan krank darnieder. Kein nächtliches Stöhnen dringt mehr in mein Schlafzimmer.

Stille. Ruhe. Friedhofsruhe.

Frau Hempel sagt alle Termine ab. Meine Schwiegermutter wird in ihrem Haus bleiben und ihre Freundinnen über den neuerlichen Schicksalsschlag informieren und Mitleid sowie Lob für ihre selbstlose Hingabe einheimsen.

Ich bin frei, unabhängig und ohne Fesseln, dachte Georg.

Er müsste sich euphorisch fühlen, stattdessen schleppte er sich in sein Schlafzimmer und ließ sich auf das ungemachte Bett fallen. Das Bettenmachen am Morgen entfiel schon lange, denn er empfand es als reine Zeitverschwendung. Er ließ sich auf das Bett plumpsen, wurschtelte die Bettdecke unter sich hervor und deckte sich damit zu.

Schlafen. Entspannen. Kein Grübeln. Abschalten.

Zwar hatte Elviras Krankheit mit ihrem Tod ein Ende gefunden, aber nun war sie für immer fort.

Damit muss ich zurechtkommen, dachte er noch, bevor ihm die Augenlider zufielen.

In der Nacht wachte er abrupt auf und spürte seine trockene Kehle. Er musste fürchterlich geschnarcht haben, richtig ausgedörrt fühlte sich der Hals an und kratzte. Er hustete ein paar Male und fuhr mit der Zunge am Gaumen entlang. Verwundert rieb er sich die Augen, Dunkelheit umgab ihn. Er pellte sich aus der Bettdecke und knipste die Lampe auf dem Nachtschrank an.

Wie lange hatte er geschlafen?

Er schaute auf den Wecker mit der Digitalanzeige. Die Ziffern zeigten kurz nach Mitternacht an. Erstaunt ließ er seine Beine von der Bettkante baumeln und blickte an sich hinunter. Er trug noch das müffelnde Hemd und die Hose vom Tag. Elvira war tot, sickerte die Erinnerung in sein Gehirn. Er sackte zusammen und blieb apathisch sitzen.

Ich muss loslassen, mein Leben verändert sich gerade komplett. Nichts ist mehr so wie gestern, dachte er.