Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Die Frage nach den Ursprüngen von Sprache und humanspezifischer Kognition beschäftigt die Wissenschaft seit geraumer Zeit. In den vergangenen zwei Jahrzehnten waren es vor allem die Thesen zur Genese spezifisch menschlicher Kommunikation des amerikanischen Entwicklungspsychologen Michael Tomasello, die verstärkt in sozial- und handlungstheoretischen Diskursen rezipiert wurden. Die Studie von Rafael Mollenhauer demonstriert jedoch, dass Tomasellos Ansatz im Kontext sozial- und kommunikationstheoretischer Fragestellungen zentrale Schwächen aufweist. Getragen von den Arbeiten Karl Bühlers und der Prämisse eines ganzheitlichen Interaktionsgeschehens entlarvt der Autor den rein mentalistischen Kern des Forschungsprogramms und den daraus resultierenden zirkulären Charakter eines teils unausgereiften Erklärungsmodells. Zudem arbeitet Mollenhauer die inspirierenden Überlegungen Tomasellos heraus, welche Anknüpfungspunkte für eine weiterführende kommunikationswissenschaftliche Forschung liefern. Mit dieser Arbeit ist Rafael Mollenhauer die erste fundierte und umfassende AuseinanderSetzung mit dem Werk Tomasellos gelungen. Er liefert damit einen wichtigen Beitrag zur derzeitigen Diskussion innerhalb der kommunikationswissenschaftlichen Theoriebildung.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 463
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Dissertation zum Erwerb des Doktorgrades (Dr. phil.) an der
Fakultät für Geisteswissenschaften (Kommunikationswissenschaft)
der Universität Duisburg-Essen
vorgelegt von Rafael Mollenhauer (geb. in Bottrop)
Gutachter: Prof. Dr. H. Walter Schmitz, Prof. Dr. Jens Loenhoff
Datum der Disputation: 10.07.2015
Für Gabriel und Nathan
1 Einleitung
1.1 Zur Hypothese
1.2 Aufbau der Arbeit
1.3 Anmerkungen
I Kultur- oder Kognitionstheorie? – Tomasellos Fundamente
2 Tomasellos
Die kulturelle Entwicklung des menschlichen Denkens
2.1 Kerngedanken
2.2 Mensch und Menschenaffe – kognitive Unterschiede und ihre Folgen
2.3 Die Neunmonatsrevolution
2.4 Sprachliche Kommunikation und Symbolisierung
2.5 Sprachkonstruktionen
2.6 Die Bedeutung der Rede für die Kognition
3 Kognitionstheoretische Hintergründe
3.1 Tomasellos Weg zum ‚Verstehen anderer als intentionale Akteure‘
3.2 Der Einfluss Piagets
3.3 Der Einfluss kognitiv orientierter Methodologien
3.3.1 Die Kognitive Linguistik
3.3.2 Die kognitiv-linguistische Strömung der Konstruktionsgrammatik
3.3.3 Die Kognitive Verhaltensforschung
3.3.4 Das sozial-kognitive Paradigma der Joint-Attention-Forschung
3.3.5 Kognition und Modularität
3.4 Interaktionistische Erweiterungen
3.4.1 Tomasello und Bruner
3.4.2 Tomasello und Vygotsky
3.4.3 Tomasello und Mead
3.5 Sozialpsychologie und methodologischer Individualismus
II Tomasellos Prototheorie der Handlungskoordination
4 Tomasellos
Die Ursprünge der menschlichen Kommunikation
4.1 Kerngedanken
4.2 Intentionale Kommunikation bei Primaten
4.3 Kooperative Kommunikation beim Menschen
4.4 Ontogenetische Ursprünge
4.5 Phylogenetische Ursprünge
4.6 Die Grammatik
5 Der Theoriewandel
5.1 Der Weg zur, geteilten Intentionalität’
5.2 Empirische Belege
5.3 Neuere Einflüsse -eine Bestandsaufnahme
6 Das Kooperationsmodell aus kommunikationstheoretischer Sicht
6.1 Die Einheit des interaktiven Prozessgeschehens
6.1.1 Gemeinschaft und Wechselseitigkeit bei Bühler
6.1.2 Tomasellos ‚Ausdruckstheorie‘
6.1.3 Die Bedeutung des Eindrucks
6.1.4 Ganzheitlichkeit und Multimodalität
6.1.5 Individuelle und geteilte Intentionen
6.2 Qualitäten der Steuerung
6.2.1 Symbolizität bei Bühler
6.2.2 Ein zirkuläres Modell humanspezifischer Kontakte
6.2.3 Die Qualität des Zeigens
6.2.4 Von den Fundamenten zum synsemantischen Zeichenverkehr
6.2.5 Tomasellos Übergang zur gesprochenen Sprache
6.2.6 Joint Attention als eigenständige Qualität?
7 Offene Fragen – Resümee und Ausblick
8 Literaturverzeichnis
Der kindliche Spracherwerb, die menschliche Ontogenese der Sozialkognition und die Kognition nichtmenschlicher Primaten – mit diesen Forschungsfeldern nahm die wissenschaftliche Laufbahn des amerikanischen Entwicklungspsychologen Michael Tomasello in den 1980er Jahren ihren Anfang. Schon bald begannen die von Tomasello bearbeiteten Themenschwerpunkte mehr und mehr ineinanderzugreifen, um schließlich zu einem zusammenhängenden Forschungsprogramm zu verschmelzen, das uralten Fragen nach den Ursprüngen der Sprache und den Wurzeln humanspezifischer Kognition gewidmet sein sollte. In der öffentlichen Wahrnehmung erfährt Tomasellos innovativer Ansatz zur Beantwortung dieser Fragen, fußend auf zahlreichen empirischen Studien, zugleich aber auch von den unterschiedlichsten psychologischen und philosophischen Diskursen beeinflusst, weithin ein positives Echo. Spiegel einer immer stärkeren Popularität sind nicht zuletzt auch unzählige Auszeichnungen und Preise, darunter der Jean-Nicod-Preis (2006), der Hegel-Preis (2009), der Max-Planck-Forschungspreis (2010, zusammen mit T. Bromage) und die Albertus-Magnus-Professur (2014). Die Wirkung des Ansatzes geht weit über die Grenzen der Psychologie hinaus, und das Forschungsprogramm erfährt vor allem in den letzten Jahren zunehmende Beachtung auch sozial- und handlungstheoretischer Strömungen und Diskurse. Gerade Tomasellos Thesen zur Genese humanspezifischer Formen der Interaktion scheinen auf den ersten Blick auch der kommunikationswissenschaftlichen Theoriebildung ein breit gefächertes Angebot bereitzustellen.
Tomasellos Popularität und Einflussnahme hierzulande mag nicht zuletzt auch mit seiner Tätigkeit am Max-Planck-Institut für Evolutionäre Anthropologie in Leipzig zusammenhängen. Nach der Erlangung des Doktorgrades in Experimenteller Psychologie im Jahre 1980 hatte Tomasello zunächst viele Jahre als (Assistant-, später Associate- und Full-) Professor für Psychologie und außerplanmäßiger Professor (Adjunct Professor) für Anthropologie an der Emory University und seit 1982 parallel als assoziierter Wissenschaftler (Affiliate Scientist) der Psychobiologie am Yerkes Primate Center gewirkt, bevor er 1998 an das kurz zuvor gegründete Max-Planck-Institut wechselte, wo er seinen Forschungen seither als Co-Direktor des Instituts und Leiter der Abteilung für Vergleichende und Entwicklungspsychologie nachgeht (seit 2001 ist er zudem Co-Direktor des Wolfgang-Köhler-Instituts für Primatenforschung). Das Max-Planck-Institut betrachtet sich als Zusammenschluss von Forschern unterschiedlichster – sowohl natur- als auch geisteswissenschaftlicher – Hintergründe, denen gemein das Ziel ist, die Geschichte der Menschheit durch vergleichende Analysen der Gene, Kulturen, kognitiven Vermögen, Sprachen und sozialen Systeme früherer und aktueller Populationen der Menschheit und nichtmenschlicher Primaten aus einer interdisziplinären Perspektive zu erschließen. Genetiker, Paläoanthropologen, Linguisten, Primatologen und Psychologen streben also nach neuen Einblicken in die Entstehungsgeschichte der menschlichen Spezies. Dem eigenen Selbstverständnis zufolge verfolgt die von Tomasello geleitete Abteilung für Psychologie in diesem Kontext insbesondere das Ziel, kognitive und sozial-kognitive Prozesse bei Menschen und nichtmenschlichen Primaten unter besonderer Berücksichtigung der humanspezifischen, an kulturellen Lernprozessen beteiligten Aspekte der Kognition, Sozialkognition und Symbolisierung zu erforschen.
Das von Tomasello angenommene Verhältnis von kognitiven Vermögen auf der einen Seite und sozio-kulturellen Phänomenen auf der anderen Seite ist indes klärungsbedürftiger als gemeinhin angenommen. Vor allem seit dem Ende des ersten Jahrzehnts unseres gegenwärtigen Jahrtausends wird Tomasellos Ansatz augenscheinlich von der sozialen Seite dominiert1 – zumindest wenn man der öffentlichen Wahrnehmung folgt und von Tomasello nunmehr verstärkt propagierte Termini wie ‚geteilte Intentionalität‘, ‚kooperative Kommunikation‘ und ‚Altruismus‘ nicht weiter hinterfragt. Doch birgt Tomasellos Ansatz auf den zweiten Blick (nicht allein) für die kommunikationswissenschaftliche Theoriebildung ein gehöriges Irritationspotential, das sich insbesondere aus der Anlage des Verhältnisses individual- und sozialpsychologischer Gesichtspunkte ergibt. Eben dieses Irritationpotential, das sich in verschiedenen Disziplinen erst langsam auszubreiten beginnt, gab den Anlass zur vorliegenden Arbeit und der hier vertretenen Hypothese.
Der Themenkreis der vorliegenden Arbeit ist eng umrissen und weit gefächert zugleich. Einerseits scheint die leitende Fragestellung überschaubar, soll es doch allein darum gehen, die explikative Reichweite der Arbeiten Michael Tomasellos im Kontext kommunikationstheoretischer Fragestellungen zu beleuchten. Andererseits eröffnet sich auf der Grundlage dieser (vielgestaltigen) Fragestellungen ein kaum überschaubares Themen- und Problemfeld. Dies liegt nicht zuletzt auch daran, dass Tomasello eine Unmenge an Publikationen vorzuweisen hat, die zwar im Großen und Ganzen einem zusammenhängenden Forschungsvorhaben gewidmet sind (die Phylogenese und Ontogenese humanspezifischer Kognition und in diesem Kontext auch die Entstehung spezifisch menschlicher Formen der Kommunikation zu erklären), dennoch aber durchaus heterogene Erklärungsmodelle beinhalten und einem stetigen Wandel unterworfen sind. Ihrerseits sind diese heterogenen Ansätze wiederum eng verwoben mit dem Fortschritt von Tomasellos empirischer Forschung, zudem aber auch mit den wechselnden Einflüssen prominenter Theoretiker und einschlägiger methodologischer Herangehensweisen.
Einer im Laufe der Zeit immer stärkeren Betonung sozialer und kultureller Phänomene zum Trotz, so die Hypothese, ruht Tomasellos Ansatz bis heute auf einem kognitionswissenschaftlich-kognitivistischen Fundament. Die damit einhergehende klassisch psychologische, am Individuum orientierte Ausrichtung seiner Theorie zur gattungsgeschichtlichen Erklärung menschlichen Denkens führt dazu, dass die in diesem Kontext vertretene Theorie zur ontogenetischen und phylogenetischen Entstehung von (humanspezifischer2) Kommunikation, die er besonders ausführlich in seinem Werk Die Ursprünge der menschlichen Kommunikation vorlegt und die durchaus als Angebot einer Prototheorie der Handlungskoordination verstanden werden darf, eine Theorie der Entstehung von Kommunikationsmitteln, nicht aber eine Theorie der Entstehung von Kommunikationsprozessen und erst recht keine umfassende Kommunikationstheorie ist. Indem die Kommunikationsmittel mit den jeweils angeblich dahinterstehenden kognitiven Fähigkeiten und Fertigkeiten3 aus der Ganzheitlichkeit des Kommunikationsprozesses herausgelöst und sodann (immer mehr) um Wechselwirkungen mit der sozialen und kulturellen Umwelt ergänzt werden, können aber sinnvolle Aussagen weder über den gesamten Prozess noch über die bei Tomasello im Fokus stehenden Bestandteile des Prozesses (Kommunikationsmittel, kognitive Fertigkeiten) getroffen werden, da der gesamte Prozess mehr darstellt als die Summe seiner Teile, die sich zudem von Anfang an nur in ihm entwickeln.
Es sind zwei große, aufeinander aufbauende Komplexe, die die Anlage der vorliegenden Arbeit bestimmen. Jeder dieser Komplexe ist seinerseits an einem der beiden wohl einflussreichsten Werke Tomasellos orientiert: Während der erste Teil sich auf Tomasellos Ausführungen zur Genese der menschlichen Kognition in Die kulturelle Entwicklung des menschlichen Denkens (2002) stützt, ist der zweite Teil den stärker kommunikationstheoretisch ambitionierten Überlegungen in Die Ursprünge der menschlichen Kommunikation (2009) gewidmet. Der Grund für diese Zweiteilung der Arbeit liegt in den oben eingeführten Hypothesen, zu deren Stützung zunächst der kognitionstheoretisch-mentalistische Kern der Forschungen Tomasellos herausgearbeitet werden soll, bevor es zu einer Einschätzung der Erklärungsreichweite von Tomasellos Thesen aus kommunikationstheoretischer Perspektive kommt. Eine besondere Eignung zur Bearbeitung des ersten Argumentationsschrittes weist Tomasellos älteres Werk zur Genese humanspezifischer Kognition mitsamt den ihm zugrundeliegenden empirischen und theoretischen Vorarbeiten nicht nur aufgrund seiner thematischen Ausrichtung auf; gerade in seinen älteren Arbeiten kommen nämlich auch Tomasellos methodologisch-theoretische Vorentscheidungen besonders deutlich zum Vorschein. Der Versuch der Bereitstellung einer Prototheorie der Handlungskoordination prädestiniert indessen Tomasellos aktuelleres Werk zu den phylo- wie ontogenetischen Wurzeln spezifisch menschlicher Kommunikation für die Bearbeitung des zweiten Argumentationsschrittes.
Die Frage danach, ob es sich bei dem auch in sozialtheoretischen Diskursen vielfach rezipierten und kaum kritisch reflektierten Angebot Tomasellos nun eher um eine Kultur- oder doch vielmehr um eine Kognitionstheorie handelt, prägt demnach den ersten Komplex dieser Arbeit, der mit einer Einführung in das Werk Die kulturelle Entwicklung des menschlichen Denkens seinen Anfang nimmt (Kap. 2). Da Tomasello im ersten Kapitel jenes Werkes zunächst seine grundlegenden Thesen und in Verbindung damit einen Abriss der angenommenen Entwicklung humanspezifischer Kognition vorstellt, um anschließend einzelne Aspekte des Prozesses in analytischer Trennung voneinander detaillierter zu betrachten, folgt die Darstellung seiner Arbeit hinsichtlich ihrer Gliederung schon der Übersichtlichkeit halber den Originalkapiteln – nicht ohne eigene Schwerpunkte im Hinblick auf spätere Abschnitte der vorliegenden Arbeit zu setzen. Als Bezugspunkt für anschließende Ausführungen mag dieser Abschnitt vom Tomasello-kundigen Leser übersprungen werden; doch gewährt er auch einen ersten Eindruck von den im Rahmen einer jedweden Argumentation unvermeidlichen Vor-Urteilen (vgl. Ungeheuer 1987), also jenen Vorentscheidungen Tomasellos, die auch seine späteren Überlegungen noch bestimmen.
Im Anschluss folgt der eigentliche Versuch, die kognitionstheoretischen Hintergründe der von Tomasello aufgestellten Programmatik herauszuarbeiten und in diesem Zusammenhang auch die Einflüsse kulturwissenschaftlicher und sozialpsychologischer Strömungen einzuordnen (Kap. 3). Zu diesem Zwecke wird zunächst die Tomasellos genanntem Hauptwerk vorangehende Forschungshistorie im Hinblick auf die für Tomasello damals entscheidende Annahme einer humanspezifischen Fähigkeit, andere als intentionale Akteure zu verstehen, rekapituliert (Kap. 3.1), bevor der Einfluss Jean Piagets, der gemeinhin als Begründer des Kognitivismus’ gilt, auf Tomasellos (damaliges) Werk untersucht (Kap. 3.2) und Tomasellos Orientierung an kognitivistisch geprägten Methodologien und Paradigmen – darunter die Kognitive Linguistik und das mit ihr einhergehende Cognitive Commitment, die kognitiv-linguistische Strömung der Konstruktionsgrammatik, die Kognitive Verhaltensforschung und das sozialkognitive Paradigma der Joint-Attention-Forschung – herausgearbeitet wird, um schließlich einen skizzenhaften Vergleich von Tomasellos Arbeiten mit den von ihm stark kritisierten Modultheorien vorzunehmen (Kap. 3.3). In rein analytischer Trennung von den kognitionstheoretischen Fundamenten werden anschließend ‚interaktionistische Erweiterungen‘ in den Blick genommen (Kap. 3.4). Angesprochen ist damit die von Tomasello mit der Zeit immer stärkere Herausstellung augenscheinlich sozialer Phänomene, die hier am Beispiel der Einflüsse der gemeinhin als interaktionistisch eingestuften Ansätze Vygotskys, Bruners und Meads (die es allerdings ihrerseits hinsichtlich ihrer Fundamente einzustufen gilt) diskutiert werden sollen. In der Art eines Zwischenfazits wird Tomasellos damaliger Ansatz sodann einer Beurteilung im Hinblick auf die Kategorien ‚Sozialpsychologie‘ und ‚methodologischer Individualismus‘ unterzogen (Kap. 3.5), was eine erste Einschätzung des generellen kommunikationstheoretischen Potentials des Forschungsprogramms erlauben sollte.
Als erstes Kapitel des zweiten Argumentationskomplexes schlägt der folgende Abschnitt 4 eine Brücke zu Tomasellos neuerdings verstärkt propagierten Hypothesen zur Genese humanspezifischer Kommunikation, indem das in Die Ursprünge der menschlichen Kommunikation offerierte Angebot einer Prototheorie der Handlungskoordination zunächst einmal vorgestellt wird. Wie in Kapitel 2 (und aus identischen Gründen) richtet sich der strukturelle Aufbau des Kapitels an der Gliederung des Originalwerkes aus. Auf der Grundlage der vorangegangen Ausführungen und angesichts der Schwerpunktsetzung bei der Präsentation von Tomasellos Thesen sollte an diesem Punkt bereits andeutungsweise einzuordnen sein, in welchem Maße Tomasello auch im Kontext seines Kooperationsmodells und der damit verbundenen Annahme einer Hyperkooperativität des Menschen auf seinen theoretisch-methodologischen Fundamenten verweilt, ohne dass seine Ausführungen bereits einer Bewertung unterzogen würden.
Zugleich sollte die Darstellung dieses Werkes zu den Wurzeln humanspezifischer Interaktionsformen aufzeigen, dass Tomasello nicht nur neue Schwerpunkte setzt, sondern dass im Zuge seiner einem stetigen Wandel unterworfenen Theoriebildung im Vergleich mit dem Werk Die kulturelle Entwicklung des menschlichen Denkens auch ein besonders deutlicher Bruch stattgefunden hat, der entscheidend mit dem Konzept geteilter Intentionalität verknüpft ist. Kapitel 5 setzt sich daher das Ziel, diesen Wandel als ‚Weg zur geteilten Intentionalität‘ nachzuzeichnen und ihn sogleich als Produkt einer weiterhin bestehenden kognitivmentalistischen Grundorientierung zu identifizieren (Kap. 5.1). Da der für Tomasellos Programmatik ohnehin fundamentalen empirischen Forschung auch im Kontext des Theoriewandels ein entscheidender Anteil zukommt, wird anschließend eine derjenigen Studien, die entscheidend zur Anpassung der Hypothesen beigetragen haben, beschrieben und mit Blick auf ihre Folgen für die Theoriebildung beleuchtet (Kap. 5.2). Das Kapitel schließt mit einer Bestandsaufnahme und Einschätzung aktueller (weiterhin bestehender und neu hinzugekommener) theoretischer Einflüsse, die ihrerseits – wie schon die Gegenüberstellung Wittgensteins und Searles zeigt – überaus heterogener Art sind (Kap. 5.3). Alle drei Absätze des Kapitels folgen dem übergeordneten Ziel, das Beibehalten einer mentalistischen Ausgangsbasis, trotz neuer thematischer Ausrichtung, auf unterschiedlichen Ebenen des Ansatzes zu belegen.
Die eigentliche inhaltlich-argumentative Auseinandersetzung mit Tomasellos kommunikationstheoretisch ambitioniertem Werk aus kommunikationswissenschaftlicher Perspektive, die den zweiten Teil der Hypothese zu bestätigen gedacht ist, erfolgt in Kapitel 6. Ausgerichtet an der von Karl Bühler in seinem Werk Die Krise der Psychologie (1927/2000) bereitgestellten Axiomatik werden zwei thematische Schwerpunkte gesetzt, mit denen (a) die Fundamente humanspezifischer Kommunikation und (b) der Übergang zu spezifisch menschlichen Kontaktformen mitsamt ihren qualitativen Merkmalen adressiert sind. Während im Zuge des ersten Schwerpunkts vor allem aufgezeigt wird, welche Aspekte des Interaktionsprozesses Tomasello auf der Grundlage seiner Fundamente nicht in den Blick bekommt, betrifft der zweite Teil des Kapitels die Einordnung der tatsächlichen Qualität von Steuerungsprozessen, die Tomasello unter weitgehender Beschränkung auf mentale Prozesse eben nicht gelingen kann.
Als Aufhänger des ersten Schwerpunkts (‚Die Einheit des interaktiven Prozessgeschehens‘, Kap. 6.1) dienen Bühlers Axiome 1 und 2 in ihrer Hervorhebung von Gemeinschaft und Wechselseitigkeit (Kap. 6.1.1), bevor Tomasellos Argumentationsstrang auf dieser Grundlage als im Bühlerschen Sinne ausdruckstheoretisch entlarvt werden soll (Kap. 6.1.2). Unter Hinzunahme des Eindrucksmodells Gerold Ungeheuers wird sodann verdeutlicht, welche Aspekte des kommunikativen Prozessgeschehens ein derartiges Ausdrucksmodell der Kommunikation bzw. Interaktion nicht zu erfassen in der Lage ist (Kap. 6.1.3). Gesonderte Behandlung im Kontext des Themenschwerpunkts eines ganzheitlich zu betrachtenden Interaktionsprozesses erfahren schließlich die Untrennbarkeit der Modalitäten im Interaktionsprozess (Kap. 6.1.4) sowie Tomasellos Umgang mit Intentionalität, und hier auch das Konzept geteilter Intentionalität (Kap. 6.1.5).
Der zweite thematische Schwerpunkt des Kapitels (‚Qualitäten der Steuerung‘, Kap. 6.2) fokussiert den Umschlagpunkt von auch bei Tieren verbreiteten Kontaktformen hin zu spezifisch menschlichen Formen der Interaktion und nimmt mit Bühlers drittem Axiom samt dem dort vollzogenen, symbolische Kommunikation erschließenden Perspektivenwechsel seinen Ausgang (Kap. 6.2.1). Da Tomasello humanspezifischen Kontakten ihr eigenes kognitives Fundament zuspricht, das demnach auch für die Qualität der Kontakte verantwortlich zeichnet, ist Tomasellos Umschlagpunkt bereits mit seinen im vorigen Absatz behandelten Fundamenten weitgehend charakterisiert, sodass hier die Zirkularität eines solchen Erklärungsmodells im Vordergrund stehen kann (Kap. 6.2.2). Im Anschluss wird die tatsächliche Qualität des für Tomasello so bedeutenden Zeigens – auch anhand der von ihm angeführten Beispiele – untersucht (Kap. 6.2.3), woraufhin mit der Herleitung des synsemantischen Zeichenverkehrs aus dem Grundfall menschlicher Kontaktformen eine semiotische Aufschlüsselung der Leistungsfähigkeit unterschiedlicher Kontaktmittelformen angegangen wird, die auch eine Beurteilung der besonderen Qualität sprachlicher (symbolischer) Kommunikation erlaubt (Kap. 6.2.4). Anschließend wird zu überlegen sein, wie Tomasellos Erklärung des Übergangs vom seiner Auffassung nach bereits humanspezifischem Zeigen zur gesprochenen Sprache zu bewerten ist (Kap. 6.2.5) und inwiefern die von Tomasello so herausgestellte gemeinsame Aufmerksamkeit (Joint Attention) eine eigene Qualität des Steuerungsprozesses darstellt (Kap. 6.2.6).
Kapitel 7 beschließt die vorliegende Untersuchung mit einem Resümee, das Tomasellos Arbeiten über die bloße Zusammenführung der gewonnenen Erkenntnisse hinaus noch einmal hinsichtlich der seinerseits aufgestellten Hypothesen einstuft, vor allem aber diskutiert, welche Ergebnisse des Forschungsprogramms für die kommunikationswissenschaftliche Theoriebildung fruchtbar gemacht werden können, welche Fragen andererseits aber unbeantwortet bleiben und in weiterer Forschungsarbeit angegangen werden müssen.
Wenn die Idee zu einer näheren Auseinandersetzung mit dem Forschungsprogramm Tomasellos auch erst auf der Grundlage einer kommunikationstheoretisch-semiotischen Studie zu den Leistungen akkulturierter Affen im Kontext der auch von Tomasello zur Kenntnis genommenen so genannten Affensprachforschung entstand (vgl. Mollenhauer 2010), so sind thematisch doch vor allem zwei andere, im Prozess des Schreibens der vorliegenden Arbeit entstandene Vorarbeiten relevant. Ein erster Artikel (vgl. Mollenhauer 2013) hat im Wesentliehen die Ausführungen des dritten Kapitels der vorliegenden Arbeit zur Grundlage. Mit dem Ziel, in Tomasellos Arbeiten weniger eine Kultur- als vielmehr eine Kognitionstheorie zu identifizieren, werden dort die kognitionstheoretischen Fundamente des Forschungsprogramms sowie augenscheinliche ‚interaktionistische Erweiterungen‘ vorgestellt und hinsichtlich ihrer Tragweite eingeschätzt, um zugleich – allerdings nur am Rande – auch auf mögliche Folgen einer derartigen Fundamentlegung hinzuweisen. Anstelle späterer Literaturangaben sei hier ausdrücklich darauf verwiesen, dass der genannte Artikel als Skizze einer vorab bestehenden Arbeitsversion bestimmter Abschnitte der vorliegenden Arbeit einige Passagen enthält, die auch hier in ähnlich lautender Form wieder zu finden sind. Dies gilt ebenso für einen Teil der zweiten Vorarbeit (vgl. Loenhoff/Mollenhauer im Druck), deren Ziel unter Berücksichtigung der kognitionstheoretischen Fundamente des Tomasello’sehen Forschungsprogramms allerdings bereits darin besteht, den von Tomasello vertretenen Kommunikationsbegriff mit Blick auf sein explikatives Potential einzustufen. Da die Zusammenarbeit mit dem Erstautor zugleich als ein Katalysator für das Verfassen des zweiten Komplexes der hier vorliegenden Untersuchung fungierte, wird in den späteren Ausführungen immer dann auf diese Publikation verwiesen, wenn Thesen auf den Erstautor zurückzuführen sind oder in dieser Form erst aus der Zusammenarbeit mit ihm entstanden sind – gerade letzterer Fall könnte, wie sich noch zeigen wird, von Tomasellos Theoriekonstrukt erst gar nicht erfasst werden.
In Anbetracht von Tomasellos kaum überschaubarer, zu einem großen Teil aus Gemeinschaftsarbeiten zusammengesetzter Publikationsliste hat sich eine Zitierweise mit dem Zusatz ‚et al.‘ als unpraktisch erwiesen. Bei allen Gemeinschaftsarbeiten, der Einheitlichkeit halber auch bei den wenigen von mehr als zwei Autoren verfassten und hier zitierten Werken ohne Tomasellos Beteiligung, werden im Text daher stets alle Autorennamen angegeben. Da die Kapitel 2 und 4 Tomasellos Hauptwerke skizzieren und zugleich an den von Tomasello vorgestellten Abschnitten orientiert sind, werden dort zur Gewährleistung eines besseren Leseflusses nur wörtliche Zitate des jeweils behandelten Werkes mit einer gesonderten Literaturangabe versehen. Hinweise auf andere Werke wurden im Zuge dieser Kapitel – wenn nicht anders gekennzeichnet – von Tomasello übernommen, jedoch im Hinblick auf spätere Ausführungen und die für Tomasello besonders relevanten Diskurse selektiert.
1 In seiner neuesten Monographie A Natural History of Human Thinking (2014) steht zwar wieder die menschliche Kognition im Vordergrund, allerdings soll deren Entwicklung ganz entscheidend von sozialen Phänomenen bestimmt sein.
2 Bei Tomasello betrifft der Terminus ‚Kommunikation‘ auch nichtmenschliche Interaktionsformate.
3 Tomasello differenziert in seinen deutschsprachigen Publikationen nicht zwischen Fertigkeiten und Fähigkeiten. Sowohl die Fähigkeit, andere als intentionale Akteure zu verstehen (vgl. Tomasello 2002), als auch Fertigkeiten geteilter Intentionalität (vgl. Tomasello 2009) gelten ihm als angeboren. Zudem ist mancherorts auch von Fähigkeiten geteilter Intentionalität die Rede (vgl. Tomasello/Carpenter 2011), ohne dass dem abweichenden Terminus andere Annahmen zugrundeliegen würden.
Das im Jahr 2001 mit dem William James Book Award der American Psychological Association ausgezeichnete und in zahlreiche Sprachen übersetzte The Cultural Origins of Human Cognition (1999)4 darf zweifellos zu Tomasellos bis heute bedeutendsten Werken gerechnet werden. Gemeinsam mit Tomasellos Wechsel an das Max-Planck-Institut für Evolutionäre Anthropologie in Leipzig (1998) markiert es auch den Beginn eines Forschungsprogramms, das die zuvor bearbeiteten Forschungsfelder zum Zwecke der Beantwortung phylogenetischer Fragestellungen hinsichtlich der Wurzeln humanspezifischer Kognition und (in diesem Kontext) spezifisch menschlicher Formen der Kommunikation endgültig zusammenführt.5 Es ist eben dieses Programm, dem in der Tomasello-Rezeption ein besonderes Interesse entgegengebracht wird – und so mag es kaum verwundern, dass The Cultural Origins of Human Cognition, auch angesichts unzähliger Zitierungen durch andere Autoren, mittlerweile die Rolle eines Klassikers zugestanden wird (vgl. Pléh 2014: 979).
Ihren Ausgang nehmen Tomasellos Überlegungen bei der evolutionär gesehen sehr kurzen Zeitspanne, die den Menschen vom Menschenaffen unterscheidet. Während die Entwicklungslinien des heutigen Menschen und der heutigen Menschenaffen sich vor circa sechs Millionen Jahren trennten und die Gattung Homo, die sich durch eine größere Statur, größere Gehirne und die Herstellung von einfachen Steinwerkzeugen auszeichnet, vor etwa zwei Millionen Jahren entstand, hat die Erfolgsgeschichte des Homo sapiens erst vor ungefähr 200 000 Jahren ihren Anfang genommen. In Bezug auf den modernen Menschen hebt Tomasello neben neuen Körpereigenschaften (noch einmal etwas größere Gehirne) vor allem neue kognitive Fertigkeiten und die Herstellung verbesserter Werkzeuge hervor. Er nennt insbesondere: (a) die Herstellung zahlreicher Steinwerkzeuge für unterschiedlichste Zwecke, die populationsspezifisch (bis hin zu computergesteuerten Produktionsprozessen) weiterentwickelt wurden; (b) die Verwendung von Symbolen zur Kommunikation und zur Strukturierung des Soziallebens (Schrift, Geld, Mathematik, Kunst); und (c) neue Arten gesellschaftlicher Praktiken und Organisationen (bis zu formalisierten Institutionen der Religion, der Regierung, der Erziehung und des Handels). Mit Blick auf diese Besonderheiten des modernen Menschen einerseits und seine kurze evolutionäre Entwicklungslinie andererseits gelangt Tomasello schnell zu nachstehendem Schluss:
„Es stand einfach nicht genügend Zeit für normale biologische Evolutionsprozesse […] zur Verfügung, um Schritt für Schritt jede der kognitiven Fertigkeiten zu erzeugen, die es modernen Menschen ermöglichen, komplexe Werkzeuggebräuche und Technologien, komplexe Formen der Kommunikation und Repräsentation durch Symbole und komplexe Formen gesellschaftlicher Organisationen und Institutionen zu erfinden und aufrechtzuerhalten.“ (Tomasello 2002: 13)
Die Lösung dieses zeitlichen Problems vermutet Tomasello in kultureller Weitergabe, die im Vergleich mit evolutionären Anpassungen auf einer deutlich schnelleren Zeitskala operiere und beim Menschen in einzigartiger Weise gegeben sei. Die so genannte kumulative kulturelle Evolution geht mit der Annahme einher, dass die komplexesten sozialen Praktiken und Artefakte des Menschen zunächst in primitiver Form erfunden und dann von späteren Benutzern verbessert worden seien. Neben Erfindungsgabe, die Tomasello auch nichtmenschlichen Primaten zugesteht, erfordere dieser auch Wagenhebereffekt (ratchet effect) genannte Prozess eine zuverlässige soziale Weitergabe, die nach Tomasello im einzigartig menschlichen kulturellen Lernen besteht (vgl. auch Tomasello/Kruger/Ratner 1993). Imitationslernen, Lernen durch Unterricht und Lernen durch Zusammenarbeit als Grundformen kulturellen Lernens führt Tomasello schließlich auf eine biologische Anpassung kognitiver Art zurück:
„Diese drei Typen kulturellen Lernens werden durch eine einzige besondere Form sozialer Kognition ermöglicht, nämlich durch die Fähigkeit einzelner Organismen, ihre Artgenossen als IHNEN ÄHNLICHE Wesen zu verstehen, die ein intentionales und geistiges Leben haben wie sie selbst. Dieses Verständnis ermöglicht es ihnen, sich in die geistige Welt einer anderen Person hineinzuversetzen, so dass sie nicht nur VOM anderen, sondern auch DURCH den anderen lernen können. Diese Auffassung anderer als intentionale Wesen, die einem selbst ähnlich sind, ist entscheidend für das kulturelle Lernen des Menschen[.]“ (Tomasello 2002: 15) (Hervorh. im Original)
Die Bedeutung des Verstehens anderer als intentionale Akteure für das kulturelle Lernen des Menschen begründet Tomasello ihrerseits damit, dass kulturelle Artefakte und soziale Praktiken (Werkzeuggebrauch, sprachliche Symbole) stets über sich hinaus auf andere Entitäten verwiesen. Ein Kind, das den konventionellen Gebrauch eines Werkzeuges oder Symbols erlernen möchte, müsse demnach zunächst verstehen, zu welchem Zweck der andere das Werkzeug bzw. Symbol verwendet, welches Problem er also mit einem Werkzeug lösen oder welche kommunikative Situation er mit Hilfe eines Symbols bewältigen möchte. Tomasello spricht hier vom Verstehen der intentionalen Bedeutung des Werkzeuggebrauchs und der symbolischen Praxis.
Seine zeitliche Ausgangsproblematik löst Tomasello demnach auf der Grundlage eines Szenarios, in dem Menschen zunächst eine einzigartige Form sozialer Kognition entwickelten (phylogenetischer Aspekt), die ihrerseits kulturelles Lernen und somit neue Prozesse der Soziogenese sowie eine kumulative kulturelle Evolution in Gang setzten (historischer Aspekt). Die vom neuartigen Verstehen anderer als intentionale Akteure ausgelösten kulturellen Lernprozesse bauten dabei auf bereits bei nichtmenschlichen Primaten bestehenden kognitiven Fertigkeiten auf „[…] und transformierten sie in neue, kulturell basierte Fertigkeiten mit einer sozial-kollektiven Dimension.“ (Tomasello 2002: 17)
Für ein volles Verständnis der Entstehung menschlichen Denkens hält Tomasello die zusätzliche Berücksichtigung ontogenetischer Prozesse für notwendig. Ab einem Alter von etwa 9 Monaten könnten Kinder am kognitiven Kollektiv partizipieren, indem sie ihre Aufmerksamkeit gemeinsam mit anderen Individuen auf etwas lenken (Joint Attention) und von ihnen durch Imitation lernen. Dies sei „[…] die ontogenetische Manifestation der einzigartigen sozio-kognitiven Anpassung des Menschen für die Identifikation mit anderen, wodurch diese als intentionale Wesen wie das eigene Selbst verstanden werden.“ (Tomasello 2002: 17f.) Erst wenn ein Kind in der Lage sei, andere als intentionale und geistbegabte Wesen aufzufassen, verfüge es über den sozio-kognitiven Schlüssel, um in die Welt der Kultur einzudringen und einzigartige Formen kognitiver Repräsentationen zu erschließen.6 Auf der Grundlage kulturellen Lernens erwürben Kinder dann auch sprachliche Symbole, die die verschiedenen Weisen der Kategorisierung und Auffassung der Welt zum Zwecke zwischenmenschlicher Kommunikation geradezu verkörperten und deren Erwerb die Einnahme vielfältiger Perspektiven auf ein und dieselbe Wahrnehmungssituation ermögliche. Dem im Umgang mit Sprache erfahreneren Kinde offenbarten sich sodann weitere Möglichkeiten der unterschiedlichen Auffassung von Dingen. Dann nämlich könnten die in natürlichen Sprachen enthaltenen kognitiven Ressourcen zur Einteilung der Welt in Ereignisse und Dinge sowie zur Bildung abstrakter Kategorien von Ereignis- und Dingtypen genutzt werden; außerdem werde die Auffassung von Ereignissen und Situationen in Begriffen anderer Ereignisse und Situationen (Analogien und Metaphern) ebenso ermöglicht wie die Teilnahme an komplexen Diskursinteraktionen, in denen die symbolisierten Perspektiven der Teilnehmer aufeinander treffen und ausgehandelt werden müssen. Hierdurch werde das Kind wiederum befähigt, mit der Konstruktion einer Theorie des Geistes – verbunden mit einem Verstehen anderer als mentale Akteure – zu beginnen und Anweisungen Erwachsener derart zu verinnerlichen, dass eine Reflexion des eigenen Denkens und eine Steuerung des Selbst stattfinden kann, was schließlich zu bestimmten Arten der Metakognition und repräsentationaler Neubeschreibung führen könne.
Tomasellos Hypothese zufolge weist das menschliche Denken seine spezifischen Eigenschaften also aufgrund ineinander verzahnter phylogenetischer, historischer und ontogenetischer Faktoren auf. Aufbauend auf nur einer evolutionären Anpassung seien es allerdings die ontogenetischen und die historischen Entwicklungsprozesse, welche die Hauptlast „[…] bei der Hervorbringung vieler, wenn nicht gar aller charakteristischen und wichtigsten kognitiven Leistungen und Prozesse der Spezies Homo sapiens tragen.“ (Tomasello 2002: 22) Aufbauend auf den Ergebnissen einer umfassenden empirischen Forschung ist es das Anliegen Tomasellos’ weiterer Ausführungen, die angenommene Entwicklung im Detail zu schildern.
Tomasello räumt Primaten in kognitiver Hinsicht ebenso eine Sonderstellung unter den Säugetieren ein, wie er dem Menschen eine kognitive Sonderstellung innerhalb der Primatenverwandtschaft zuschreibt. Er geht zunächst jedoch von einer grundlegenden kognitiven Ähnlichkeit aller Säugetiere aus. Im physischen Bereich könne konstatiert werden, dass alle Säugetiere in derselben sensumotorischen Welt dauernder, in einem Repräsentationsraum angeordneter Gegenstände lebten. Viele Säugetierarten und beinahe alle Primaten repräsentierten kategoriale und quantitative Beziehungen zwischen Gegenständen derart, dass produktives Schlussfolgern und einsichtsvolles Problemlösen ermöglicht werde. Auch mit Blick auf den sozialen Bereich lebten alle Säugetiere in derselben sozialen Welt einzeln anerkannter Artgenossen mit vertikalen (Dominanz) wie horizontalen (Verwandtschaft) Beziehungen und seien in der Lage, das Verhalten ihrer Artgenossen auf der Basis vielfältiger Hinweise und Einsichten vorherzusagen.
Durchbrochen werde die generelle kognitive Ähnlichkeit unter Säugetieren durch das bei Primaten vorhandene Verstehen relationaler Kategorien, welches für keine andere Säugetiergruppe nachgewiesen sei. Nur Primaten verstünden soziale Beziehungen, die andere Individuen untereinander haben, und es gebe sogar Belege für das Verstehen von Kategorien sozialer Beziehungen zwischen Dritten. Im physischen Bereich komme das Verstehen relationaler Kategorien hingegen nur selten und nach ausgiebigem Training zum Vorschein, was Tomasello darauf zurückführt, dass es in diesem Bereich in der Natur kaum von Nutzen sei.
Der Mensch steche nun seinerseits durch die ihm eigene Fähigkeit des Verstehens anderer als intentionale Wesen aus der weiteren Primatenverwandtschaft hervor. Nichtmenschliche Primaten seien zwar selbst intentionale und kausale Wesen, verstünden die Welt aber nicht in intentionalen und kausalen Begriffen. Studien, die ein Verstehen der Intentionen anderer bei nichtmenschlichen Primaten nahelegen, ließen laut Tomasello auch anderweitige Interpretationen zu (vgl. Premack & Woodruff 1978) und ermöglichten den Tieren teilweise ein Lernen über zahlreiche Durchgänge mit Fehlerrückmeldungen (vgl. z. B. Povinelli 1994).7 Felduntersuchungen seien hingegen oft anekdotischer Natur (vgl. Byrne & Whiten 1988), ließen in jedem Fall aber auch unterschiedliche Interpretationen zu (vgl. De Waal 1986). Dass nichtmenschliche Primaten nicht zu einem Verstehen der intentionalen Zustände anderer in der Lage sind, werde zudem dadurch gestützt, dass sie in der Natur (a) gegenüber anderen nicht auf äußere Gegenstände deuten, (b) Gegenstände nicht hochhalten, um sie anderen zu zeigen, (c) andere nicht zu Orten führen, an denen sie gewisse Gegenstände betrachten können, (d) Gegenstände nicht durch Vorzeigen anbieten und (e) andere nicht in neuen Verhaltensweisen unterrichten. Die Tiere fassten andere daher vermutlich lediglich als Individuen auf, die zu spontaner Selbstbewegung fähig sind. Im physischen Bereich verstünden nichtmenschliche Primaten zwar durchaus relationale Kategorien und grundlegende Antezedenz-Konsequenz-Folgen von Ereignissen, erkennten aber nicht die kausalen Kräfte als Vermittler dieser Beziehungen (vgl. Visalberghi/Limongelli 1996).
Das Verstehen relationaler Kategorien als kognitives Alleinstellungsmerkmal von Primaten innerhalb der Säugetierverwandtschaft und die besondere intentional-kausale Kognition, die den Menschen von anderen Primaten unterscheidet, lassen Tomasello erstere Fähigkeit als evolutionären Vorläufer der letzteren Fähigkeit auffassen. Das Verstehen relationaler Kategorien sei lediglich um „[…] eine kleine, aber bedeutende Modifikation in Form von vermittelnden Kräften wie Ursachen und Intentionen […]“ (Tomasello 2002: 35) erweitert worden, sodass für die menschliche Kognition folgender Schlussfolgerangsprozess nachgezeichnet werden könne: vorausgehendes Ereignis > vermittelnde Kraft > nachfolgendes Ereignis. Tomasello glaubt, dass die spezifisch menschliche Fähigkeit, Ereignisse auf der Grundlage vermittelnder intentionaler oder kausaler Kräfte zu verstehen, zuerst im sozialen Bereich entstand, um das Verhalten anderer Individuen erklärbar und vorhersagbar zu machen, und erst später auf das Verhalten unbelebter Gegenstände ausgeweitet wurde.8
Wettbewerbsvorteile seien vor allem durch zwei Folgeeffekte des humanspezifischen intentionalen bzw. kausalen Denkens entstanden. Zum einen habe eine besonders flexible, kreative und vorausschauende Problemlösung eingesetzt, mit der neue Wege der Manipulation und Unterdrückung vermittelnder Kräfte einhergingen, zum anderen seien besonders wirkungsvolle Formen kulturellen Lernens und der Soziogenese entstanden. Letzteren Punkt führt Tomasello weiter aus, indem er die verschiedenen Formen ‚kultureller Vererbung‘ bei Mensch und Menschenaffe auf der Basis der beteiligten Lernmechanismen bestimmt und einander gegenüberstellt.
Für kulturelle Traditionen nichtmenschlicher Primaten macht Tomasello individuelle Lernprozesse (umweltbedingte Formung), aber auch andere Formen des Lernens mit einer sozialen Dimension wie Emulationslernen und ontogenetische Ritualisierung verantwortlich. Der generationenübergreifende Werkzeuggebrauch bei Schimpansen sei im Wesentlichen durch umweltbedingte Formung und Emulationslernen bestimmt. Mit der umweltbedingten Formung ist ein von der lokalen Umgebung abhängiger individueller Lernprozess angesprochen, der nach Tomasello vor allem für die Unterschiede zwischen einzelnen Gruppen mitverantwortlich zeichnet. Wenn eine westafrikanische Population von Schimpansen einen Termitenhügel mit großen Stöcken zerstört, um die Termiten im Anschluss mit der Hand aufzulesen, statt, wie die ostafrikanischen Verwandten, Termiten mit dünnen Zweigen zu angeln, müsse dies kein Zeugnis kultureller Weitergabe sein (vgl. Boesch 1993; McGrew 1992), sondern könne ebenso eine Folge der in Westafrika deutlich stärkeren Regenfälle sein, wodurch die Termitenhügel aufweichen und folglich leichter zu zerstören sind. Eigene Studien (vgl. Tomasello 1996) sprächen allerdings für eine zusätzliche Beteiligung des so genannten Emulationslernens. Dabei ist der Lernende konzentriert auf Ereignisse in der Umgebung. Er fokussiert Veränderungen des Zustands der Umgebung, die von einem anderen Individuum herbeigeführt wurden, beachtet aber nicht das Verhalten des Artgenossen. Bewegt eine Schimpansenmutter in der Gegenwart ihres Kindes einen Holzblock zur Seite und frisst darunter befindliche Termiten, lerne das Kind lediglich, dass sich Termiten unter Holzblöcken befinden können, nicht aber, wie man einen Holzblock wegrollt, um Termiten zu essen. Den Schimpansen fehle also die Fähigkeit, Ziel und Verhaltensmittel in der für das menschliche Imitationslernen charakteristischen Art und Weise zu unterscheiden, weshalb sie sich auf Zustandsänderungen konzentrierten. Die Handlungen der ausführenden Individuen erschienen ihnen nur als Körperbewegungen, die intentionalen Zustände und folglich auch die Verhaltensmethoden der Ausführenden blieben ihrer Erfahrung verborgen.
Neben dem Werkzeuggebrauch betreffe ein weiterer bekannter Fall augenscheinlicher kultureller Weitergabe bei Schimpansen die Kommunikation durch Gesten – und auch hier sprächen alle bisherigen Beobachtungen dafür, dass kein Imitationslernen involviert ist. Zum einen habe man eine gewisse Anzahl idiosynkratischer Signale, die nur von einem einzelnen Individuum verwendet werden, identifizieren können (vgl. Goodall 1986) und auch generell eine große individuelle Variabilität bei der gestischen Kommunikation festgestellt. Zum anderen würden solche Gesten, die vielen Jungtieren gemein sind, auch dann gelernt, wenn kein Kontakt zu älteren Artgenossen bestehe. Somit sei nicht von einem Lernen durch Imitation, sondern von einer ontogenetischen Ritualisierung auszugehen. Dabei entsteht ein kommunikatives Signal, indem zwei Individuen das Verhalten des jeweils anderen über wiederholte soziale Interaktionen hinweg formen. Als Beispiel nennt Tomasello einen Säugling, der seine Mutter zum Stillen veranlassen möchte, indem er sich auf ihre Brustwarze konzentriert und dabei nach ihrem Arm greift. Schon bei der nächsten Gelegenheit könne die Mutter den Wunsch ihres Kindes bei der ersten Berührung ihres Armes antizipieren, was das Kind wiederum zu einer Verkürzung seines Verhaltens veranlasse, sodass die Armberührung schließlich als kommunikatives Signal (hier eine Intentionsbewegung) aufgefasst werde. Auch bei der ontogenetischen Ritualisierung gliedere der Lernende das Verhalten des anderen nicht in Mittel und Ziele. Der Säugling müsse lediglich das Verhalten seiner Mutter vorwegnehmen (in einer Situation, in der er selbst schon das Ziel hat, gestillt zu werden), wohingegen er im Falle des Imitationslernens einen anderen Säugling beim Ausführen der Armbewegung beobachten und dessen Ziel verstehen müsste, um, sofern er dasselbe Ziel hat, dasselbe Mittel verwenden zu können.
Schimpansen verfügen nach Tomasellos Auffassung also – abgesehen von rein individuellem Lernen – über Fähigkeiten des Emulationslernens und der ontogenetischen Ritualisierung, jedoch nicht über die Fähigkeit des Imitationslernens. Zudem mangele es an Belegen für aktiven Unterricht, der vermutlich eine weitere bedeutende Basis der humanspezifischen kulturellen Evolution darstelle. Gesonderte Beachtung müsse allerdings so genannten akkulturierten Affen geschenkt werden. Angesprochen sind hier Menschenaffen, die unter Verwendung sprachähnlicher Kontaktmittel wie Menschenkinder aufgezogen wurden und die natürlicherweise nicht vorhandene, menschenähnliche Fertigkeiten entwickelten, darunter das Imitationslernen (vgl. Tomasello/Kruger/Ratner 1993) und Fertigkeiten des Zeigens sowie der Verwendung sprachähnlicher Symbole (vgl. Savage-Rumbaugh/McDonald/Sevcik/Hopkins/Rubert 1986). Als Ursache betrachtet Tomasello die menschenähnliche kulturelle Umgebung, die zu einer Art Sozialisierung der Aufmerksamkeit führe. Menschliche Individuen unterrichten die Tiere, unterstützen deren Imitationsverhalten und verwenden ihnen gegenüber Zeigegesten, wodurch ein Referenzdreieck von Affe, Mensch und einer dritten Entität entstehe. Trotzdem blieben gegenüber menschlichen Kindern gewisse Beschränkungen bestehen: So werde das Zeigen bzw. Deuten akkulturierter Affen nicht zum Zwecke der Erzeugung gemeinsamer Aufmerksamkeit eingesetzt und es finde kein intentionales Lehren statt. Auch der Umgang mit Sprache (vgl. Tomasello 1994b) und Fertigkeiten der Zusammenarbeit seien deutlich begrenzt. Daher nimmt Tomasello die besonderen Leistungen akkulturierter Affen zum Anlass, den entscheidenden Einfluss kultureller Prozesse auf die Ontogese herauszustellen und die besonderen Fertigkeiten von Menschenaffen gegenüber anderen Tierarten zu betonen, zugleich aber festzustellen, dass „[…] auf eine Kultur zu reagieren und eine Kultur de novo zu erschaffen, […] zwei verschiedene Dinge [sind].“ (Tomasello 2002: 49)
Die für nichtmenschliche Primaten beschriebenen Formen der Sozialkognition und des sozialen Lernens reichen nach Tomasello aus, um deren arttypische kulturelle Praktiken hervorzubringen und aufrechtzuerhalten. Sie seien jedoch keine hinreichende Grundlage für die humanspezifische kumulative kulturelle Evolution und den Wagenhebereffekt. Die kumulative kulturelle Evolution, bei der kulturelle Traditionen die von verschiedenen Individuen vorgenommenen Modifikationen akkumulierten und dadurch komplexer würden, sei stattdessen entscheidend bestimmt durch das Imitationslernen sowie möglicherweise durch aktiven Unterricht von Seiten der Erwachsenen. Eine besondere Rolle komme in diesem Kontext den Prozessen der Innovation und Imitation und deren Verschränkung in einem dialektischen Prozess zu. Zwar seien Mensch und Schimpanse in der Lage, neue, besonders ertragreiche Verhaltensstrategien durch Erfindungsgabe zu erschaffen, einzig der Mensch sei jedoch befähigt, durch Imitation zu lernen, sodass andere Individuen die neuen Praktiken übernehmen können und womöglich ihrerseits den Wagenheber in Gang setzen, indem sie neuerliche Modifikationen durchführen, die wiederum mit Hilfe des Imitationslernens verbreitet werden können. Eine von einem Schimpansen neu geschaffene Verhaltensstrategie sterbe dagegen in der Regel mit ihrem Erfinder aus, da andere Individuen allein auf der Grundlage des Emulationslernens nicht zu einer Reproduktion des Verhaltens (Verwendung desselben Mittels, um dasselbe Ziel zu erreichen) in der Lage seien.
Die besondere Wirksamkeit einzigartig menschlicher kultureller Lernprozesse begründet Tomasello mit der ihnen zugrundeliegenden humanspezifischen Anpassung, andere als intentionale Akteure zu verstehen. Erst diese Anpassung erzeuge „[…] Formen sozialen Lernens, die als Wagenheber fungieren, indem sie neu eingeführte Strategien in der sozialen Gruppe bewahren, bis eine weitere Innovation auftaucht, die sie ersetzt.“ (Tomasello 2002: 53) Die daraus resultierende kumulative kulturelle Evolution betrachtet Tomasello als besonders wirksame Form der Soziogenese im Sinne eines kollektiven Erfindungsreichtums. Er unterscheidet hier zwei Grundformen, in deren Rahmen zwei oder mehr Individuen durch ihre soziale Interaktion Neues erschaffen. Zum einen gebe es, wie für den Wagenheber beschrieben, die Möglichkeit virtueller Zusammenarbeit über einen historischen Zeitraum hinweg. Dabei stelle sich ein Individuum, das sich mit einer überkommenen kulturellen Praxis oder einem nicht mehr gänzlich angepassten Artefakt konfrontiert sieht, vor, welche Funktion Praxis oder Artefakt für den jeweiligen Erfinder hatten, und nehme in Anbetracht der gegenwärtigen Problemsituation eine Modifikation vor. Zum anderen bestehe die Möglichkeit realer gleichzeitiger Zusammenarbeit, bei der die Individuen innovative Vorschläge unterbreiten und auf die Vorschläge des/der jeweils anderen reagieren (unmittelbare Rückmeldung). Beide Varianten seien oftmals – auch in einem größeren Maßstab – miteinander verschränkt, wenn viele Menschen gleichzeitig und Generationen übergreifend, z. B. Religionen oder Wirtschaftssysteme betreffend, in einer Art und Weise zusammenarbeiteten, die kein Individuum vorher beabsichtigt oder vorhergesehen hätte.
Sprache und Mathematik, von Tomasello hier als kognitive Bereiche deklariert, werden als besonders prägnante Beispiele der Soziogenese hervorgehoben. Das jeder Sprache eigene Symbolinventar (einschließlich komplexer Konstruktionen) gründe in universalen Strukturen der menschlichen Kognition und Kommunikation sowie des Stimm- und Hörapparates. Die Symbole und Konstruktionen einer Sprache seien jedoch nicht schlagartig erfunden worden, um dann in sich zu verharren. Vielmehr würden im Rahmen von Prozessen der Soziogenese Modifikationen über einen historischen Zeitraum akkumuliert, wobei der Grammatikalisierung insofern eine tragende Rolle zukomme, als eine Entwicklung von strukturell einfachen Sprachen (möglicherweise einer Protosprache der frühesten modernen Menschen) zu strukturell komplexen Sprachen anzunehmen sei. Auch die Mathematik gründe „[…] auf universalen menschlichen Weisen der Welterfahrung […] und außerdem auf bestimmten Prozessen des Kulturschaffens und der Soziogenese […]“ (Tomasello 2002: 58), weise im Gegensatz zur Sprache aber eine je nach Kultur stark divergierende Komplexität auf, was Tomasello in einem von Kultur zu Kultur unterschiedlichen Bedarf an Mathematik begründet sieht und zudem von der Verfügbarkeit kultureller Ressourcen abhängig macht. Der Aufbau einer komplexen Mathematik setze den schon Primaten gegebenen Sinn für Quantität sowie sozial-kognitive Fähigkeiten der Perspektivenübernahme und einer darauf fußenden alternativen Auffassung konkreter Objekte und Objektmengen voraus. Der kulturspezifische Bedarf an Mathematik bestimme schließlich, inwieweit diese Fertigkeiten zu mathematischen Zwecken genutzt werden. Sowohl der Sprache als auch der Mathematik schreibt Tomasello demnach eine kulturelle Geschichte zu, nur die Sprache sieht er aber als ‚Universale unter den Völkern der Erde‘ (Tomasello 2002: 60). Sprachliche Symbole seien daher vermutlich bereits erfunden worden, bevor der moderne Mensch sich in verschiedene Populationen aufteilte, wohingegen der Bedarf nach einer komplexen Mathematik bzw. die Bereitstellung der notwendigen kulturellen Ressourcen erst nach der Trennung der Populationen und je nach Kultur in unterschiedlicher Ausprägung gegeben war.
Zur Verwirklichung kognitiver Kompetenzen der Sprache und Mathematik ist nach Tomasello neben einem historischen Entwicklungsprozess auch eine beachtliche ontogenetische Entwicklung notwendig. Hier unterscheidet Tomasello zwischen einer individuellen Entwicklungslinie und einer kulturellen Entwicklungslinie der Kognition. Erstere sei mit Dingen befasst, die der Organismus kennt und ohne direkten Einfluss anderer Individuen und ihrer Artefakte lernt. Letztere betreffe intentionale Phänomene, bei denen das Individuum das Verhalten anderer oder deren Perspektive auf etwas Drittes übernimmt, also Dinge, die der Organismus mit Unterstützung anderer von seiner kulturellen Umgebung lernt. Beide Entwicklungslinien seien bereits in frühester Kindheit unauflösbar miteinander verschränkt. Das Kind übernehme kulturelle Konventionen (durch Imitation oder andere Formen kulturellen Lernens) und mache dann einen über diese Konventionen hinausgehenden kreativen Sprung, indem es auf der Basis primatentypischer Fähigkeiten der Kategorisierung kategorielle bzw. analoge Beziehungen herstelle. Während in den ersten Jahren die Tendenz zur Nachahmung dominiere, gewinne die Tendenz zur Verwendung eigener kognitiver Strategien ab einem Alter von 4-5 Jahren die Oberhand, da zu diesem Zeitpunkt bereits zahlreiche Perspektiven (vor allem über sprachliche Interaktionen) verin-nerlicht seien, die eine stärker selbstregulierende Reflexion und Planung möglich machten.
Die Unterscheidung der beiden Entwicklungslinien hält Tomasello insofern für sinnvoll, als (1) mit ihrer Hilfe geklärt werden könne, inwiefern Mensch und Menschenaffe sich in kognitiver Hinsicht unterscheiden, und (2) ein Verständnis der dialektischen Spannung zwischen konventionellem und kreativem Tun ermöglicht werde. Auf der Grundlage der beschriebenen Gedanken und in Abgrenzung von Modultheoretikern gelangt Tomasello schließlich zu seinem Modell der dualen Vererbung: Da Tiere durch die Aufzucht innerhalb menschlicher Kulturen nicht plötzlich zu Kulturwesen würden und Menschen mit bestimmten Defekten nicht in vollem Maße an Kultur partizipierten, sei die Annahme einer biologisch vererbten Fähigkeit zur kulturellen Lebensform unausweichlich. Diese Fähigkeit sieht Tomasello im Verstehen anderer als intentionale oder geistbegabte Akteure, das wiederum den Weg bereite für die humanspezifische kulturelle Vererbung, die auf Prozessen der Soziogenese sowie kulturellem Lernen beruhe. Als Fundament dienen der Soziogenese und dem kulturellen Lernen kognitive Fertigkeiten, über die alle Primaten verfügen, die durch menschliche Kulturprozesse jedoch in neue Fertigkeiten transformiert würden.
Das Verstehen anderer als intentionale Akteure tritt laut Tomasello in der menschlichen Ontogenese zum ersten Mal in einem Alter von etwa neun Monaten auf und entfaltet seine volle Tragweite erst allmählich, wenn Kinder es mit Hilfe der Sprache und anderer kultureller Errungenschaften zu beherrschen lernen. Jüngere Säuglinge wirkten weitgehend hilflos, verfügten dennoch aber über gewisse kognitive Fähigkeiten, die das Verstehen von Dingen, anderen Personen und sich selbst betreffen. Während sie hinsichtlich des Verstehens von Dingen einfach ihre Primatenerbschaft ausspielten, sprächen im Bereich des Verstehens anderer Personen zwei Verhaltensweisen bereits für eine besondere Sozialität: Zum einen partizipierten Säuglinge schon kurz nach der Geburt an so genannten Protokonversationen mit den sie umsorgenden Personen (vgl. Trevarthen 1979). Dabei handele es sich um Interaktionen, die eine klare Struktur von Rollenwechseln aufweisen und bei denen der Säugling und der Erwachsene ihre Aufmerksamkeit auf den je anderen richten und ihre Stimmung mit Lauten und Berührungen ausdrücken und teilen.9 Zum anderen zeigten schon Neugeborene eine gewisse Tendenz zur Nachahmung der Körperbewegungen von Erwachsenen (Kopfbewegungen, Herausstrecken der Zunge etc.). Wenngleich es sich hier in der Regel lediglich um eine durch Reize gesteigerte Häufigkeit ohnehin verfügbarer Bewegungen handele, habe man in Studien (vgl. Meltzoff/Moore 1977, 1989) zeigen können, dass den Säuglingen auch eine Modifikation des natürlichen Verhaltens zur Anpassung an das Verhalten des Erwachsenen möglich sei. Inwiefern nichtmenschliche Primaten über die genannten Fähigkeiten verfügen, sei bisher nicht klar, sodass Tomasello vorerst offen lässt, ob schon Säuglinge auf eine spezifisch menschliche Weise sozial sind oder ob die soziale Einzigartigkeit des Menschen erst mit Entwicklungen im Alter von neun Monaten ihren Anfang nimmt. Gemein sei Säuglingen und nichtmenschlichen Primaten vermutlich ein Sinn für das ökologische Selbst, insofern sie sowohl ihre eigenen Verhaltensziele als auch das Ergebnis ihrer Handlungen erführen, wenn externe Dinge ihren zielorientierten Aktionen nachgeben.
Mit dem Beginn der so genannten Neunmonatsrevolution bestehe dann keinerlei Zweifel mehr an kognitiven Unterschieden zwischen Kindern und nichtmenschlichen Primaten. In diesem Alter zeigten Kinder zahlreiche neue Verhaltensweisen, die – besonders in sozialer Hinsicht – auf eine ‚Revolution ihres Weltverständnisses‘ (Tomasello 2002: 77) hindeuteten. Im Gegensatz zu jüngeren Kindern, deren Interaktionen typischerweise dyadischen Charakters seien (Kind-Erwachsener oder Kind-Gegenstand), beteiligten neun bis zwölf Monate alte Kinder sich an triadischen Interaktionen mit einem referentiellen Dreieck aus Kind, Erwachsenem und einem Gegenstand bzw. Ereignis, wobei die Aufmerksamkeit von Kind und Erwachsenem gemeinsam auf den Gegenstand oder das Ereignis gerichtet werde, sodass Tomasello derartige Interaktionen und die entsprechenden kognitiven Kompetenzen mit dem Terminus ‚gemeinsame Aufmerksamkeit‘ bzw. ‚Joint Attention‘ belegt (vgl. hierzu Moore/Dunham 1995). Kinder dieses Alters stellten sich auf die Aufmerksamkeit und das Verhalten von Erwachsenen bezüglich Gegenständen oder Ereignissen ein, indem sie z. B. deren Blicken folgten oder deren Umgang mit Gegenständen imitierten. Zudem brächten sie Erwachsene dazu, sich auf ihre (des Kindes) Aufmerksamkeit gegenüber Gegenständen oder Ereignissen einzustellen, indem sie deiktische Gesten benutzten (auf einen Gegenstand deuten bzw. ihn hochhalten). Statt der für Schimpansen beschriebenen dyadischen Ritualisierungen handele es sich hier um triadische Interaktionen, bei denen das Kind gegenüber dem Erwachsenen auf eine dritte Entität verweist. Hinsichtlich dieser triadisch organisierten Gesten unterscheidet Tomasello noch einmal zwischen imperativen (den Erwachsenen dazu bringen, etwas mit dem Gegenstand/Ereignis zu tun) und deklarativen (den Erwachsenen dazu bringen, auf ein Ereignis/einen Gegenstand zu achten) Äußerungen. Letzteren komme insofern besondere Bedeutung zu, als es dem Kind in diesem Fall allein um das Teilen der Aufmerksamkeit gehe. Mit anderen Theoretikern (vgl. z. B. Baron-Cohen 1993) betrachtet Tomasello dieses einem anderen Individuum gegenüber hervorgebrachte Deuten auf eine Entität „[…] zum alleinigen Zweck der Aufmerksamkeitslenkung [als] ein spezifisch menschliches Kommunikationsverhalten […], dessen Mangel ein wesentliches Merkmal des Autismussyndroms während der Kindheit darstellt.“ (Tomasello 2002: 79)
In verschiedenen Studien (vgl. z. B. Carpenter/Nagell/Tomasello 1998) sieht Tomasello auch den Nachweis einer konsistenten Reihenfolge hinsichtlich des Auftauchens von Fertigkeiten gemeinsamer Aufmerksamkeit erbracht. Zunächst seien Kinder mit 9-12 Monaten in der Lage, die Aufmerksamkeit des Erwachsenen zu prüfen. Dazu müsse das Kind lediglich wissen, dass der Erwachsene anwesend ist und zuschaut. Präzisere Fertigkeiten gemeinsamer Aufmerksamkeit seien involviert, wenn Kinder mit 11-14 Monaten der Aufmerksamkeit eines Erwachsenen folgen oder sie im Alter von 13-15 Monaten gar steuern. In diesen Fällen müsse das Kind nicht nur wissen, dass der Erwachsene Teil der Interaktion ist, sondern auch erkennen, worauf genau er seine Aufmerksamkeit richtet.
Im Gegensatz zu nativistischen und lernorientierten Ansätzen soll Tomasellos Modell berücksichtigen, (1) warum alle Fertigkeiten gemeinsamer Aufmerksamkeit miteinander korreliert auftreten und (2) warum dies gerade im Alter von neun Monaten geschieht. Als Grundvoraussetzung für gemeinsame Aufmerksamkeit sieht Tomasello das Verstehen anderer als intentionale Akteure, die eine aktive Wahl zwischen verschiedenen Verhaltensmitteln zum Erreichen ihrer Ziele treffen und in diesem Kontext im Sinne einer intentionalen Wahrnehmung entscheiden, worauf sie ihre Aufmerksamkeit richten. Das beinahe gleichzeitige Auftreten unterschiedlicher Verhaltensmuster gemeinsamer Aufmerksamkeit spreche dafür, dass es sich weder um isolierte kognitive Module (nativistischer Ansatz) noch um einzeln gelernte Verhaltenssequenzen (lerntheoretischer Ansatz), sondern stattdessen um Manifestationen eines heraufdämmernden Verständnisses anderer als intentionale Akteure handelt.
Die ontogenetischen Ursprünge der im Rahmen der Neunmonatsrevolution neu auftretenden Verhaltensweisen sucht Tomasello in der – schon von Theoretikern wie Vico, Dilthey, Cooley und Mead vorgetragenen – Einsicht eines in Analogie zum eigenen Selbst kreierten Verständnisses anderer Personen. Sie veranlasst ihn zum Entwurf eines Simulationsmodells, demzufolge Kleinkinder dasjenige, was sie an sich selbst erfahren, anwenden, um andere Personen zu verstehen. Zur entscheidenden Grundlage des Modells erklärt Tomasello eine humanspezifische biologische Anpassung, die bereits in den ersten Lebensmonaten zum Vorschein komme: das Verstehen anderer als ‚mir ähnlich‘. Dieses werde zum Schlüsselelement für das im Alter von neun Monaten auftretende Verstehen anderer als intentionale Akteure, sobald Kinder mit 8-9 Monaten ihre eigenen intentionalen Handlungen verstehen, um dann mit Hilfe der ‚mir-ähnlich‘-Einstellung das Verhalten anderer in Analogie zum eigenen intentionalen Verhalten zu deuten. Zwar agierten schon unter acht Monate alte Säuglinge insofern intentional, als ihr Verhalten bereits zielgerichtet sei, erst mit acht Monaten seien Kinder aber fähig, (a) verschiedene Mittel für denselben Zweck einzusetzen und (b) verhaltensmäßige Zwischenglieder bei der Zielverfolgung zu erkennen und zu gebrauchen (vgl. Piaget 1974, 1992). In jenem Alter werde also vermutlich ein neues Niveau intentionaler Tätigkeiten erreicht, das Kinder in die Lage versetzt, ihr Ziel und die für das Erreichen dieses Ziels eingesetzten Verhaltensmittel deutlich zu unterscheiden. Demzufolge sei zu differenzieren zwischen (1) einem schon deutlich vor dem Alter von acht Monaten einsetzenden Verstehen anderer als Lebewesen mit der Fähigkeit zu spontaner Selbstbewegung, das keinerlei Zuschreibung von Intentionalität oder Identifikation mit dem Selbst erfordere, und (2) dem mit etwa neun Monaten einsetzenden Verstehen anderer als intentionale Akteure, „[…] in deren Verhalten Ziel, Aufmerksamkeit und Verhaltensstrategie miteinander verknüpft sind.“ (Tomasello 2002: 92) Erst wenn das Kind Ziel und Verhaltensmittel seiner eigenen Handlungen deutlich unterscheidet, biete sich ihm die Möglichkeit, auch andere als Individuen mit Absichten zu verstehen, die sich zwischen verschiedenen Verhaltensstrategien entscheiden können.10 Womöglich wendeten Kinder einige Simulationen auch auf unbelebte Gegenstände an und gelangten so zu einer Vorstellung davon, wie gewisse physische Ereignisse andere nach sich ziehen.
Schimpansen (und einige andere nichtmenschliche Primaten) haben aus Tomasellos Sicht ein Verständnis davon, wie ihre Handlungen auf die Umgebung wirken, wissen bei intentionalen Handlungen verschiedene Verhaltensmittel für dasselbe Ziel einzusetzen und sind zur Verwendung von Zwischengliedern (z. B. Werkzeuge) befähigt. Dass sie andere nicht als intentionale Wesen auffassen, könne also nicht in diesem Aspekt begründet liegen, sondern finde in ihrer mangelnden Identifikation mit Artgenossen die passende Erklärung. Auch die besonderen Fertigkeiten (imperatives Zeigen, Imitationslernen) akkulturierter Affen einerseits und die an ihren Handlungen dennoch ablesbaren Beschränkungen (keine deklarativen Kommunikationssignale, kein aktiver Unterricht) andererseits ließen vermuten, dass derartige Tiere zwar einen effektiven Umgang mit ihrer Umgebung von Menschen erlernen, sich dadurch aber nicht mit anderen zu identifizieren lernen. Auch autistische Kinder zeigten (je nach Ausmaß des Traumas) Schwächen hinsichtlich gemeinsamer Aufmerksamkeit, deklarativer Gesten und symbolischer Spiele, die vermutlich in einer mangelnden Identifikation mit anderen begründet seien.
Die Identifikation mit Artgenossen und das darauf aufbauende Verstehen anderer als intentionale Akteure eröffneten dem Kind schließlich die Welt der Kultur und der in ihr manifestierten kognitiven Ressourcen. Als soziale Umwelt schaffe die Kultur gleich in zweierlei Weise den Kontext für die kognitive Entwicklung des Kindes. Die spezifische Lebensweise einer bestimmten sozialen Gruppe, mit der sich das Kind ob der Abhängigkeit von den Erwachsenen seiner Gruppe tagtäglich konfrontiert sehe und mit der es seine Erfahrungen mache, bezeichnet Tomasello als den (1) Habitus der Kindesentwicklung. Er stelle das Rohmaterial (Modi sozialer Interaktion, verfügbare Gegenstände, mögliche Lernerfahrungen) für die Entwicklung der kindlichen Kognition. Trotz offenkundiger Unterschiede im Habitus von Menschen- und Schimpansengruppen werde die kognitive Entwicklung beider Arten über Formen individuellen Lernens in ganz ähnlicher Weise vom jeweiligen Habitus beeinflusst (auch junge Schimpansen essen das, was ihre Mütter essen usw.). Nur in menschlichen Gesellschaften böten Erwachsene ihren Kindern aber zusätzliche Hilfe in Form (2) aktiven Unterrichts. Kindern, die augenscheinlich Probleme beim Erwerb einer Fertigkeit haben, werde häufig ein (a) Gerüst bereitgestellt (‚Scaffolding‘, vgl. Wood/Bruner/Ross 1976), indem der Erwachsene ihnen die Aufgabe erleichtert, ihre Aufmerksamkeit auf entscheidende Komponenten lenkt, einen Teil der Aufgabe übernimmt oder die gesamte Aufgabe vorführt. Andere Dinge würden derart wichtig genommen, dass man sie den Kindern über (b) direkte Anweisungen vermittle. Aufgrund seines Interesses an den Fortschritten des Kindes wohne der Erwachsene dem Lernprozess in beiden Fällen solange bei, bis das Kind ein gewisses Niveau erreicht habe. Auf diese Weise sichere aktiver Unterricht die kulturelle Weitergabe und werde zu einer „[…] der bedeutendsten Dimensionen menschlicher Kultur.“ (Tomasello 2002: 99)
Den Zugriff auf die von der Kultur verfügbar gemachten Ressourcen erhielten Kinder erst mit dem Einsetzen des Imitationslernens, das Tomasello als ontogenetisch früheste Form kulturellen Lernens auffasst.11 Auf der Grundlage des Verstehens anderer als intentionale Akteure starteten Kinder mit etwa neun Monaten die Reproduktion der intentionalen Handlungen von Erwachsenen gegenüber äußeren Entitäten, wohingegen jüngere Kinder einzig zu einer dyadischen Nachahmung von Angesicht zu Angesicht in der Lage seien. Den Ergebnissen verschiedener Studien (vgl. z. B. Meltzoff 1988, 1995; Carpenter/Akhtar/To-masello 1998) sei zu entnehmen, dass Kleinkinder sich bereits um ihren ersten Geburtstag auf das Ziel und die zur Erreichung des Ziels gewählten Verhaltensmittel einstellten und beides reproduzierten (sie unterschieden zwischen absichtlichen und zufälligen Handlungen und reproduzierten nicht einfach das sichtbare Verhalten, sondern die vom anderen intendierte Handlung), anstatt lediglich das Ergebnis eines Verhaltens anzustreben oder seine sensu-motorische Form nachzuahmen.
Das Imitationslernen nimmt aus Tomasellos Sicht eine bedeutende Rolle in verschiedenen Bereichen der kindlichen kognitiven Entwicklung ein. Es ermögliche dem Kinde z. B., Kulturgegenstände oder Artefakte als etwas zu erkennen, das zusätzlich zu sensu-motorischen Angeboten – die bereits von jüngeren Kindern über individuelles Lernen ergänzt durch Emulation erkannt würden – auch intentionale Angebote aufweist. Während es eine andere Person beim Gebrauch eines Artefakts beobachte, versuche das Kind, das Ziel dieser Person über einen Prozess des Imitationslernens zu erkennen, und gelange so zu einer Auffassung von den intentionalen Beziehungen, die andere über das Artefakt zur Welt unterhalten (ein Hammer wird zum Hämmern benutzt usw.). Das so genannte symbolische Spiel, bei dem Kinder ab etwa ihrem zweiten Geburtstag beispielsweise einen Bleistift als Hammer einsetzen, erfordere gar einen weiteren Schritt: Das Kind müsse hier nicht nur die intentionalen Angebote des Artefakts wie beschrieben verstehen, sondern zusätzlich eine Entkopplung der intentionalen Angebote von den entsprechenden Artefakten vornehmen.
Entscheidende Bedeutung komme dem Imitationslernen auch im Bereich gestischer Kommunikation zu. Mit etwa 11-12 Monaten begännen Kinder, von durch Ritualisierung gelernten dyadischen imperativen Gesten (Arme recken, um hochgehoben zu werden) zu triadischen deklarativen Gesten (Formen des Hinweisens) überzugehen. Zwar könnten auch diese Gesten durch Ritualisierung gelernt werden, wenn sie vom Kind nur aus der eigenen Perspektive und als Signal (nach Tomasello ein Verfahren zur Erreichung bestimmter Ziele) verstanden werden, schon bald nach ihrem ersten Geburtstag lernten Kinder aber, durch Imitation zu zeigen. Hierfür müsse das Kind den intentionalen kommunikativen Akt des Erwachsenen verstehen (Zeigegeste als Mittel, das kommunikative Ziel der Aufmerksamkeitslenkung zu erreichen) und ihn reproduzieren (d. h. dasselbe Mittel für denselben Zweck wählen). Intersubjektivität wird hier von Tomasello über die Art des Lernprozesses bestimmt, denn erst das Imitationslernen generiere geteilte Symbole.
Schließlich begründe die Neunmonatsrevolution auch das Lernen selbstbezogener Inhalte. Wenn Kinder den intentionalen Beziehungen anderer zur Welt folgten, beobachteten sie sogleich deren intentionale Beziehungen dem eigenen Selbst gegenüber und lernten etwas über die Einstellungen, die andere ihnen gegenüber vertreten (was z. B. zu Schüchternheit führen könne). An diesem frühen Punkt der kognitiven Entwicklung sei noch nicht von einem vollwertigen Selbstkonzept auszugehen, sondern von der neu eröffneten Möglichkeit, vom Standpunkt anderer etwas über die Welt und somit das eigene Selbst zu lernen. Diese selbstbezogenen Inhalte würden dann genutzt, um sich selbst in Relation zu anderen zu kategorisieren.
Nach Tomasellos Auffassung ist die natürliche Sprache keine genetische Mutation, die aus dem Nichts entstand (vgl. Chomsky 1980), sondern „[…] eine symbolisch verkörperte soziale Institution, die sich historisch aus zuvor existierenden sozio-kommunikativen Tätigkeiten entwickelte.“ (Tomasello 2002: 114) Auch im Verlauf der Ontogenese gingen der Sprache verschiedene Tätigkeiten gemeinsamer Aufmerksamkeit und vorsprachlicher Kommunikation voraus. Mit dem Erwerb sprachlicher Symbole komme es dann insofern zu einer radikal veränderten Weltauffassung, als Kinder von unmittelbaren subjektbezogenen Repräsentationen (aufbewahrte Wahrnehmungen aus der eigenen Erfahrung) zu symbolischen Repräsentationen übergingen. Diese symbolischen Repräsentationen zeichneten sich insbesondere durch ihre (a) Intersubjektivität und (b) Perspektivität aus:
„Der zentrale theoretische Punkt ist, daß sprachliche Symbole die unzähligen Weisen der intersubjektiven Auslegung der Welt verkörpern, die in einer Kultur über einen historischen Zeitraum hinweg akkumuliert wurden; und der Erwerb des konventionellen Gebrauchs dieser symbolischen Artefakte, und damit die Verinnerlichung dieser Auslegungen, verwandelt die Eigenart der kognitiven Repräsentationen von Kindern grundlegend.“ (Tomasello 2002: 116)
Den Aspekt der Intersubjektivität behandelt Tomasello in Verbindung mit den sozio-kognitiven Voraussetzungen des Spracherwerbs. Hierzu zählt er neben einem Verstehen anderer als intentionale Akteure (1) Szenen gemeinsamer Aufmerksamkeit, (2) das Verstehen kommunikativer Absichten und (3) die Imitation des Rollenwechsels. Unter Szenen gemeinsamer Aufmerksamkeit versteht Tomasello soziale Interaktionen, bei denen das Kind und der Erwachsene für eine gewisse Zeit ihre Aufmerksamkeit auf eine dritte Entität richten und zusätzlich auf die Aufmerksamkeit des jeweils anderen betreffs dieser Entität achten. Im Gegensatz zu Szenen gemeinsamer Wahrnehmung bezögen Szenen gemeinsamer Aufmerksamkeit sich nur auf einen Teilbereich der Dinge, die gegenseitig betrachtet werden können. Sie seien intentional definiert, insofern sie ihre Identität und Kohärenz erst dadurch erlangten, dass die Beteiligten ihr Wirken (das, was wir tun) als zielgerichtete Tätigkeit verstünden. Ihrerseits stellten Szenen gemeinsamer Aufmerksamkeit den für einen Symbolisierungsprozess erforderlichen intersubjektiven Kontext für Szenen der Referenz, die in einem sprachlichen Ausdruck symbolisiert würden. Da Kinder alle drei an Szenen gemeinsamer Aufmerksamkeit beteiligten Elemente – den Erwachsenen, den Gegenstand gemeinsamer Aufmerksamkeit und sich selbst – auf derselben Ebene und aus einer Außenperspektive verstünden (im Gegensatz zu der Innenperspektive jüngerer Kinder und nichtmenschlicher Primaten), würden auch die Mitspielerrollen austauschbar. Dies sei von großer Wichtigkeit für den Spracherwerb, da dem Kind so im Zuge eines Rollentauschs ermöglicht werde, einen Ausdruck eines Erwachsenen ihm gegenüber auf dieselbe Weise dem Erwachsenen gegenüber zu verwenden.
Aufbauend auf dem Verstehen anderer als intentionale Akteure und der Teilnahme an Szenen gemeinsamer Aufmerksamkeit entwickle sich das Verstehen kommunikativer Handlungen, die eine kommunikative Absicht ausdrücken. Erst mit dem Verstehen kommunikativer Absichten gehe das Kind darüber hinaus, sprachliche Ausdrücke als bloße Geräusche mit bestimmten Dingen zu assoziieren. Um eine kommunikative Absicht zu erschließen, hält Tomasello unter Bezugnahme auf Grice (1975) folgende Verstehensleistung für notwendig: A muss erkennen, dass B die Absicht hat, [dass A seine Aufmerksamkeit auf (X) richtet]. Anders als beim Verstehen einfacher Absichten müsse also nicht nur das Ziel einer anderen Person gegenüber einem Gegenstand bestimmt werden, sondern ihr Ziel hinsichtlich der eigenen Aufmerksamkeit und der eigenen Absichten gegenüber einer dritten Entität.