Töte sie alle - Rachel Amphlett - E-Book
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Töte sie alle E-Book

Rachel Amphlett

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Beschreibung

Ein skrupelloser Serienmörder, der sich hinter Selbstmorden versteckt
Die fesselnde Fortsetzung der Thriller-Reihe, um eine Ermittlerin mit einem dunklen Geheimnis

Der Ruf einer Bahnstrecke als „Selbstmordmeile“ wird mit dem neuesten Fund einer Leiche in Frage gestellt, als herauskommt, dass der Tote Opfer eines kalkulierten Mordes war. Detective Kay Hunter nimmt sich dem Fall an und entdeckt ein grausames Muster hinter den angenommenen Suiziden. Plötzlich ermittelt sie in gleich mehreren komplizierten Mordfällen. Dabei muss sie nicht nur dem grausamen Serienmörder, sondern auch den eigenen Gegnern einen Schritt voraus sein, die ihre Vergangenheit gegen sie verwenden wollen. Als innerhalb einer Woche nach dem ersten Mord ein zweiter geschieht, wird ihr klar, dass sich der Plan des Mörders geändert hat und ihr die Zeit davonläuft, ihn aufzuhalten …

Weitere Titel in der Reihe
Lass sie nicht sterben (ISBN: 9783987789649)

Erste Leser:innenstimmen
Dieser Kriminalroman hat alles, was ich mir wünsche: eine starke Ermittlerin, einen fesselnden Fall und jede Menge unerwartete Wendungen.
Kay Hunter ist einfach eine grandiose Ermittlerin! Ihr Kampf gegen die Zeit und die geschickt eingeflochtenen persönlichen Herausforderungen machen diesen Krimi zu einem fesselnden Leseerlebnis.
Die Auflösung war überraschend und schlüssig zugleich.
Detective Kay Hunter ist eine faszinierende Hauptfigur, die sich trotz aller Widerstände nicht davon abhalten lässt, die Wahrheit aufzudecken.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

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Seitenzahl: 261

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Über dieses E-Book

Der Ruf einer Bahnstrecke als „Selbstmordmeile“ wird mit dem neuesten Fund einer Leiche in Frage gestellt, als herauskommt, dass der Tote Opfer eines kalkulierten Mordes war. Detective Kay Hunter nimmt sich dem Fall an und entdeckt ein grausames Muster hinter den angenommenen Suiziden. Plötzlich ermittelt sie in gleich mehreren komplizierten Mordfällen. Dabei muss sie nicht nur dem grausamen Serienmörder, sondern auch den eigenen Gegnern einen Schritt voraus sein, die ihre Vergangenheit gegen sie verwenden wollen. Als innerhalb einer Woche nach dem ersten Mord ein zweiter geschieht, wird ihr klar, dass sich der Plan des Mörders geändert hat und ihr die Zeit davonläuft, ihn aufzuhalten …

Impressum

Deutsche Erstausgabe August 2024

Copyright © 2024 dp Verlag, ein Imprint der dp DIGITAL PUBLISHERS GmbH Made in Stuttgart with ♥ Alle Rechte vorbehalten

E-Book-ISBN: 978-3-98998-115-7 Hörbuch-ISBN: 978-3-98998-196-6

Copyright © 2017, Rachel Amphlett Titel des englischen Originals: Will to Live

The moral rights of the author have been asserted (in translated language and in English)

Die Urheberpersönlichkeitsrechte der Autorin wurden geltend gemacht (in übersetzter Sprache und in Englisch)

Übersetzt von: Helga Köller Covergestaltung: Buchgewand unter Verwendung von Motiven von depositphotos.com: © RomaSt16, © hiv360 shutterstock.com: © Wandering views stock.adobe.com: © masisyan, © ludovic Korrektorat: Marita Pfaff

E-Book-Version 06.08.2024, 13:18:22.

Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Sämtliche Personen und Ereignisse dieses Werks sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit real existierenden Personen, ob lebend oder tot, wären rein zufällig.

Abhängig vom verwendeten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

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Töte sie alle

1

Elsa Flanagan war stinksauer. Die Wut brodelte in ihr, ihre Fingerspitzen zuckten in Richtung Taschenlampe. Ein kräftiger Schlag auf das Gehäuse, das Licht flackerte, erlosch für einen Herzschlag und flammte dann wieder auf. Ein kleiner Trost in ihrer aufgewühlten Stimmung. Hatte sie Dennis nicht gestern gebeten, neue Batterien zu besorgen? Natürlich hatte er es vergessen, schließlich musste er sich im Pub Bier hinter die Binde kippen. Typisch Dennis. Und nun stand Elsa hier, allein gelassen, während sie mit Smokey in der zunehmenden Dunkelheit über die Weide stapfte.

Der Hauch des nahenden Frühlings hing schwer in der Luft, begleitet vom zarten Duft der Erde und der Pflanzen, die sich zu regen begannen. Elsa atmete tief durch und versuchte, den Ärger zu verdrängen und die Schönheit der erwachenden Natur um sich herum zu genießen. Doch die Dämmerung schritt von Minute zu Minute voran und Elsas Nervosität wuchs. Die Geräusche der anbrechenden Nacht drangen gedämpft an ihr Ohr: das Rascheln der Blätter im Wind, das leise Zwitschern der Vögel und das entfernte Summen eines Insektes.

Plötzlich begann Smokey aufgeregt zu bellen und riss Elsa aus ihren Gedanken. Wie ein geölter Blitz schoss der Border Collie durch den Lichtkegel auf der Jagd nach flüchtenden Kaninchen. Seine Schnelligkeit und Wendigkeit waren beeindruckend, aber sein impulsives Verhalten verstärkte nur Elsas wachsende Nervosität. In einiger Entfernung ertönte das Horn eines Zuges, der sich von der belebten Londoner Victoria Station her näherte. Elsa pfiff und ihr treuer Begleiter kehrte zu ihr zurück. Liebevoll kraulte sie ihm zwischen den Ohren und befestigte die Leine an seinem Halsband.

Doch als Elsa sich umdrehte, spürte sie, wie Smokey plötzlich an der Leine riss. Seine Augen waren starr auf den Bahndamm am Ende der Wiese gerichtet. Ein eisiger Schauer lief ihr über den Rücken und sie begann unkontrolliert zu zittern, als der Hund leise knurrte. Ihr Herz raste und ein Gefühl beklemmender Angst überkam sie. „Was ist los?“, flüsterte sie ängstlich und griff reflexartig in ihre Tasche. Nichts. Das verdammte Handy lag in der Küche. Elsa zog entschlossen an der Leine und befahl Smokey, zu ihr zu kommen, aber er riss nur noch fester.

Sie stolperte und kämpfte um ihr Gleichgewicht, als plötzlich der verzweifelte Schrei eines Mannes ertönte. „HIIILFEEE!“ Elsa reckte den Hals, um etwas zu sehen. Die Stimme schien von den Gleisen zu kommen. Ihr Herz begann wild zu klopfen, als sie einen Schritt vortrat. Wieder zerrte der Hund an der Leine. Bei jeder Bewegung ging ihr Atem schneller, ihr Puls raste. „Hallo?“, rief Elsa unsicher, aber es kam keine Antwort. Wie aus dem Nichts schrie die Stimme erneut: „Hilfe! Bitte, ich brauche Hilfe!“

Elsa setzte sich in Bewegung und rannte über das unebene Gelände. Dabei stolperte sie mehrmals, aber sie fing sich immer wieder und lief weiter. Sie ignorierte den schmerzhaften Stich in ihrer arthritischen Hüfte und eilte die sanfte Böschung zu den Gleisen hinunter. Vor dem Sicherheitszaun, der von dichten Ranken überwuchert war, blieb sie stehen. Fieberhaft überlegte sie, suchte nach einer Lücke und fand sie schließlich. Doch die Erleichterung währte nur kurz. Der Zaun war viel zu hoch, sie konnte nicht darüberklettern.

„Bitte, helft mir! Ich kann mich nicht bewegen!“ Schwer atmend hielt sie die Taschenlampe in Richtung der Stimme. Das Licht durchdrang die Dunkelheit und fiel auf einen Mann, der regungslos auf den Schienen lag. Ein Schauer lief ihr über den Rücken, doch dann bewegte er sich. Seine Glieder zitterten vor Anstrengung und Schmerz, er kämpfte verzweifelt um sein Leben. „Der Zug kommt! Hilfe!“, brüllte er mit letzter Kraft, seine Stimme voller Panik und verzweifeltem Flehen.

Elsa schrie auf, schlug die Hand vor den Mund und ließ die Taschenlampe fallen. Der Boden unter ihren Füßen bebte, ein Ruck ging durch ihre Beine, als der Zug mit voller Geschwindigkeit heranraste. Die Welt schien für einen Moment stillzustehen, während das Donnern des Zuges und die panischen Schreie des Mannes zu ihr drangen. Verzweifelt rüttelte sie am Zaun, um ihn zu durchbrechen, doch er hielt stand. Panik erfüllte sie und sie fühlte sich so hilflos. „Steh auf!“, schrie sie verzweifelt.

Warum bewegte er sich nicht? Nur wenige Meter von ihr entfernt vibrierten die Schienen unter dem Gewicht des Zuges. Wieder ertönte das Signalhorn und der Mann schrie und flehte sie an, den Zug anzuhalten, ihm zu helfen. Doch das Gitter gab nicht nach.

Die Lokomotive bog um die Kurve und die grellen Scheinwerfer fielen auf Elsa. Sie blickte auf die Schienen. Der Mann hob mühsam den Kopf und starrte sie entsetzt an. Die Räder der Lok kreischten über den Stahl, als das Licht die Gestalt auf den Schienen anstrahlte. Aber der Zusammenstoß war unvermeidlich.

Elsa schloss die Augen, versuchte dem Anblick zu entkommen, doch es war zu spät. Die Schreie des Mannes wurden von einem fürchterlichen Knirschen übertönt. Blut spritzte über den Stoßfänger der Lokomotive. Die Bremsen quietschten ohrenbetäubend, als der Zug zum Stehen kam. Nur das Zischen der Druckluftbremsen durchbrach die Stille. Der Hund winselte einmal, dann drückte er sich zitternd an Elsas Beine. Sie drehte sich um und übergab sich ins Gebüsch.

2

Detective Sergeant Kay Hunter drehte sich der Magen um, als sie den Einsatzwagen hinter einem Geländewagen der britischen Verkehrspolizei parkte. Sie sollte das Opfer eines schrecklichen Zugunglücks untersuchen und fürchtete sich vor dieser Aufgabe.

Als die Sonne bereits untergegangen war, wurden sie und ihre Kollegin zu den Gleisen gerufen. Sie erhielten nur spärliche Informationen, aber der Ernst der Lage war deutlich zu spüren. Die British Transport Police war bereits seit Stunden vor Ort und der Streckenbetreiber drängte darauf, den Betrieb wieder aufzunehmen.

Kay wandte sich an Constable Carys Miles. Beim Anblick ihrer ins Leere starrenden Augen und ihres totenbleichen Gesichts wurde ihr das Herz schwer. „Wenigstens musst du das Chaos nicht aufräumen“, sagte Kay mit einer Spur von Galgenhumor.

„Das hilft nicht“, erwiderte Carys mit leiser, kaum hörbarer Stimme. Kay nickte grimmig und stieg aus dem Auto.

Eine bunte Ansammlung von Krankenwagen, Bussen und Polizeifahrzeugen säumte die schmale Landstraße. Ein uniformierter Polizist stand in einer Lücke im Dickicht und wies die Einsatzkräfte auf einen Weg, der von der Straße abzweigte und über eine Wiese führte. Scheinwerfer leuchteten den Pfad aus und zeichneten seinen Verlauf nach. Als Kay der Spur mit den Augen folgte, sah sie den Zug mit den acht Waggons voller eingeschlossener Pendler auf den Gleisen dahinter.

„’n Abend, Graham“, begrüßte sie ihren Kollegen.

„Hallo, Sarge.“

„Wer hat hier das Sagen?“, fragte Kay. Der Constable deutete auf die kleine Gruppe von Leuten, die am Rand der Wiese stand.

„Dave Walker von der BTP. Er hat uns angerufen.“

„Okay, dann wollen wir mal.“ Kay stapfte über das Feld, umging dabei die matschigen Stellen. „Diese verdammte Strecke“, murmelte sie. „Die haben doch einen Zaun aufgestellt, um so etwas zu verhindern.“

„Passiert das hier öfter?“ Carys musste sich beeilen, um nicht zurückzufallen.

„Früher nannte man diesen Abschnitt ‚Selbstmordmeile’. Durch die Barriere ist es ruhiger geworden, zumindest in den letzten anderthalb Jahren. Aber wenn sich jemand das Leben nehmen will …“

„Da kenne ich bessere Methoden“, sagte Carys.

„Wem sagst du das.“ Kay schnaubte.

Kurz bevor sie die Gruppe erreichten, trat ein Mann heraus und kam ihnen entgegen. „Detective Sergeant Kay Hunter?“

„Das bin ich.“ Sie reichte ihm die Hand.

„Sergeant Dave Walker.“

Kay stellte Carys vor und deutete in Richtung der Gleise. „Ein Selbstmord?“

„Es ist nicht ganz klar“, sagte Sergeant Walker. „Eine Augenzeugin sagt, der Mann habe um Hilfe gerufen und wir fanden verdächtige Spuren. Deshalb wurden Sie angefordert.“

„Können Sie das näher erläutern?“, fragte Kay.

„Am besten wenden Sie sich selbst an die Zeugin“, er deutete mit dem Daumen über seine Schulter, „die Frau spricht gerade mit Ihrer Kollegin. Sie ist ziemlich aufgewühlt, weil sie mit ansehen musste, wie ein Mensch von einem Zug überfahren wurde. Es ist unglaublich tragisch, denn sie wollte eigentlich nur mit ihrem Hund frische Luft schnappen.“

Der Krankenwagen rumpelte über die Wiese und entfernte sich in Richtung Straße. „Bleiben die Sanitäter nicht, um den Mann für tot zu erklären?“

„Das ist nicht nötig.“ Er deutete auf ein kleines blaues Zelt, das vor der Lok aufgebaut war. „Sein Kopf liegt da drüben.“

Carys wandte sich stöhnend ab.

„Wie ist der Stand der Dinge?“, fragte Kay.

„Wir warten auf die Bestätigung der Leitstelle, dass die Strecke sicher ist und keine Lokomotiven zwischen den Stationen rangieren. Sobald wir grünes Licht bekommen, können wir die Passagiere in Busse setzen und von hier abtransportieren. Wir sind froh, wenn endlich Bewegung in die Sache kommt. Der Verkehr auf dieser Strecke ist völlig zum Erliegen gekommen und die Straßen zwischen Maidstone und Tonbridge sind mit Bussen verstopft. Es herrscht das totale Chaos!“

„Wie lange wird es noch dauern, bis wir loslegen können?“

„Eine Viertelstunde, schätze ich.“

„Dann reden wir in der Zwischenzeit mit der Zeugin.“ Kay und Carys gingen auf einen Streifenwagen zu, dessen Türen offen standen. Auf dem Rücksitz saß eine ältere Frau, die Arme um den Körper geschlungen, die Augen weit aufgerissen. Eine uniformierte Beamtin stand mit einem Notizblock daneben und schrieb eifrig. Kay streichelte kurz den Border Collie, der neben dem Auto hockte, und ließ sich Elsa Flanagan vorstellen. „Mrs Flanagans Aussage lege ich Ihnen morgen auf den Schreibtisch“, erklärte die Beamtin. „Ihr Mann holt sie ab, er müsste jeden Moment hier sein.“

Kay nickte knapp und ging in die Hocke, um auf Augenhöhe mit der Frau reden zu können. „Mrs Flanagan, Sie haben gerade mit meiner Kollegin gesprochen, aber würden Sie mir bitte noch mal erzählen, was heute Abend passiert ist?“

Die Frau atmete zitternd aus und zog die Rettungsdecke fester um ihre Schultern. „Es war schrecklich“, sagte sie mit bebender Stimme. „Ich wusste nicht, dass da unten jemand war. Ich war mit Smokey spazieren, und als er zu mir zurückkam, knurrte er. Dann habe ich den Mann gehört. Er schrie wie am Spieß.“

„Wo haben Sie gestanden, als Sie den Mann gehört haben?“

„Da drüben bei der Senke, ein Stück den Acker hinauf. Sehen Sie?“ Sie zeigte auf die Stelle. Kay schirmte die Augen gegen das grelle Scheinwerferlicht ab und machte den Bereich vor dem Absperrband aus. „Der Trampelpfad dort hinten führt zu unserer Straße. Den benutzen nur wir und eine Nachbarin, wenn wir mit den Hunden Gassi gehen.“

Kay nickte und fuhr fort. „Ist Ihnen unterwegs jemand aufgefallen?“

„Nur meine Nachbarin, die mit ihrem Yorkshire Terrier nach Hause ging.“

Kay warf der Uniformierten einen fragenden Blick zu. „PC Debbie West ist vor zwanzig Minuten los, um mit ihr zu sprechen“, sagte sie.

Kay wandte sich wieder der Zeugin zu. „Sie haben also einen Mann schreien gehört. Was ist dann passiert?“

„Ich dachte, es könnte ein Dieb sein und bekam Angst. Eigentlich gehe ich nicht so gerne allein raus“, sie beugte sich zu dem Hund hinunter und kraulte ihm die Ohren, „aber Smokey gefällt es dort.“

Kay wartete geduldig, bis Mrs Flanagan sich wieder gefangen hatte. Nichts lag ihr ferner, als die traumatisierte Frau zu drängen.

Diese seufzte und lehnte sich mit gesenktem Blick zurück. „Smokey hat jedenfalls wie verrückt an der Leine gezogen. Ich glaube, er wusste, dass etwas nicht stimmte. Er wurde immer lauter, und als ich merkte, dass das Geschrei vom Bahndamm kam, war das Signalhorn schon zu hören.“ Zitternd hielt sie sich die Hand vor den Mund. „Ich bin zum Zaun gerannt, aber da war nichts. Dann habe ich mit der Taschenlampe geleuchtet und den Mann gesehen.“

„Wo genau lag er?“

„Er lag quer über den Gleisen. Ich konnte nicht über den Zaun klettern und habe versucht, die Bespannung herunterzureißen. Aber auch das ging nicht. Der Zug kam immer näher und der Mann schrie ununterbrochen. Dann ist die Lok um die Kurve gekommen. Ich glaube, der Lokführer hat ihn sogar gesehen, weil er gebremst hat. Aber da war es schon zu spät …“

Kay legte der Frau die Hand aufs Knie. „Danke, Mrs Flanagan.“

„Sarge, Mr Flanagan ist hier“, sagte Carys. Kay richtete sich auf und sah einen Mann in den Siebzigern. Er rief nur „Elsa“, woraufhin seine Frau die Decke wegwarf und in seine Arme fiel. Nachdem er gefragt hatte, ob er sie mitnehmen dürfe, gab Kay ihm ihre Visitenkarte.

„Mrs Flanagan, wir werden uns in den nächsten Tagen wieder bei Ihnen melden. Bitte zögern Sie nicht, professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen. Ein solch traumatisches Erlebnis sollte man nicht auf die leichte Schulter nehmen.“

Elsa Flanagan bedankte sich. Das Paar ging den hell erleuchteten Weg zurück. Kay sah ihnen nach und drehte sich um, als Sergeant Walker auf sie zukam.

„Es kann losgehen“, verkündete er. „Ich bringe Sie zur Unglücksstelle.“

Er ging voraus zum Zaun, der durchschnitten worden war, damit die Einsatzkräfte auf den Bahndamm gelangen konnten. Die aufgebrachten Passagiere wurden so aus den Waggons geführt, dass sie die Lok nicht sehen konnten.

„Wo ist der Lokführer?“, fragte Kay, während sie in den Schutzanzug und die Überschuhe schlüpfte, die ihr jemand in die Hand gedrückt hatte.

„Redet mit meinem Kollegen“, antwortete Walker. „Sie werden seine Aussage so schnell wie möglich bekommen.“

„O mein Gott“, murmelte Carys entsetzt, als sie auf den Triebwagen zugingen. Zerstückelte Gliedmaßen, Fleischfetzen und Kleidungsstücke lagen unter den blutverschmierten Rädern.

Ein paar Meter weiter stand die Leiterin der Spurensicherung. Kay begrüßte sie und ließ sich die Situation erklären, während sie sich den Overall anzog und die Haare zusammenband. Harriet Baker war eine scharfsinnige und angesehene Forensikerin, die seit einiger Zeit mit Kay zusammenarbeitete.

Sie warf dem Fotografen einen auffordernden Blick zu, der sofort erwidert wurde. „Wir sehen uns die Sache kurz an, dann sperren wir den Bereich ab. Es reicht, wenn einer von euch mitkommt.“

Kay betrachtete Carys’ blasses Gesicht und ihre weit aufgerissenen Augen und wusste, dass sie diese Aufgabe übernehmen musste. „Carys, du wartest hier und meldest dich später bei der Spusi, okay?“

„Klar, Sarge.“ Carys war die Erleichterung deutlich anzuhören.

„Er wäre nicht der erste Lebensmüde, der es sich im letzten Moment anders überlegt“, meinte Kay. „Wofür genau braucht ihr uns?“

Walker führte die Gruppe zum hinteren Teil der Lokomotive. Er ging in die Hocke und richtete seine Taschenlampe unter das Fahrgestell. „Es war kein Selbstmord.“

Kay starrte fassungslos auf das Gemetzel. Sie biss die Zähne zusammen und schüttelte den Kopf, um sich auf ihre Aufgabe zu konzentrieren. „Was genau soll ich mir ansehen?“

Statt zu antworten, richtete Walker seine Taschenlampe auf das gegenüberliegende Gleis. „Da drüben hängt ein zerfetztes Seil. Der Mann war an die Gleise gefesselt.“

3

Kay stieß mit dem Ellenbogen die Tür zum Einsatzraum auf und lehnte sich dagegen, während sie versuchte, einen Stapel Akten und ihre Handtasche zu balancieren.

„Eine Sekunde, bitte, ich kümmere mich darum.“

Sie blickte auf und sah PC Gavin Piper die Treppe heraufeilen. „Danke, Gavin“, sagte sie erleichtert, als er ihr die Tür aufhielt.

Kay ging auf einen Schreibtisch zu, der bereits mit einem Computer ausgestattet war. Die anderen Arbeitsplätze wurden gerade eingerichtet. Bis der Rest des Teams eintraf, schloss Gavin einige Tastaturen an und schaltete die Geräte ein.

Die Tür öffnete sich und Detective Constable Ian Barnes trat ein. Bis zu seinem Sabbatical hatte Kay jahrelang mit ihm zusammengearbeitet. Sie freute sich darauf, wieder mit seinem trockenen Humor in Berührung zu kommen, auch wenn sie über seine schroffe Art hinwegsehen musste.

Lächelnd kam er auf sie zu, zwei Becher Kaffee in der Hand. „Lange nicht gesehen, Hunter.“

„Schön, dass du wieder da bist, Ian“, erwiderte sie.

„Das sagst du nur so“, erwiderte er scherzhaft.

Sie schüttelte lachend den Kopf. „Diesen wunderbaren Platz habe ich für dich freigehalten.“ Sie deutete auf den Schreibtisch gegenüber.

„Genial, so komme ich leichter an deine Sachen.“

„Toll!“ Sie schnaubte in gespielter Missbilligung.

Er hängte sein Jackett über die Stuhllehne. Dann streckte er sich ausgiebig. „Wo ist Sharp?“

„Er bespricht sich gerade mit Larch und dem Chief Super. Er müsste jeden Moment hier sein.“ Kay nahm einen der dampfenden Becher von ihm entgegen und lehnte sich zurück. „Hervorragend, vielen Dank.“

„Ich dachte, du könntest das gebrauchen. Ist es gestern spät geworden?“, fragte er aufrichtig interessiert.

„Ich war so gegen elf zu Hause.“

„Und Adam?“

„Der hat tief und fest geschlafen. Er schnarchte immer noch, als ich heute Morgen ging“, erzählte sie.

„Der Glückliche“, sagte Barnes. „Ich hätte Emma nicht mitten in der Nacht von diesem blöden Boygroup-Konzert in London abgeholt, wenn ich gewusst hätte, dass ich heute anfangen muss.“

Kay grinste. „Das machst du doch gern für sie.“

Er lächelte und fummelte am Deckel seines Styroporbechers herum. „Da hast du tatsächlich recht“, gab er gähnend zu. Dann nahm er einen großen Schluck Kaffee.

„Alles halb so schlimm, Ian. Stell dir vor, du hättest mit auf das Konzert gehen müssen.“

Er zuckte zusammen, verschluckte sich und schlug sich mit der Faust auf die Brust. „Zum Totlachen.“

Kay kicherte, griff über den Schreibtisch und schaltete den Computer ein. „Bist du Carys schon über den Weg gelaufen?“

„Ja, vorhin. Ich glaube, sie schüttet sich gerade ihren dritten Kaffee hinter die Binde.“

„Sie ist die Schnittstelle zur Forensik bei diesem Fall.“

„Okay. Ist überhaupt noch was von dem armen Kerl übrig?“

Kay würgte, verzog das Gesicht und stellte den Kaffeebecher zur Seite. „Nicht wirklich. Mir tun die Kollegen der Spusi und die Einsatzkräfte leid, die dort aufräumen mussten. Schrecklich.“

„Stimmt es, dass er geköpft wurde?“

Kay stöhnte nur und nickte.

„Wenigstens ging es schnell.“

„Aber er wusste, was ihm bevorstand“, sagte Kay und schüttelte sich. Dann räumte sie ihren Schreibtisch auf und verstaute die Akten in den Ablagekörben. Der aktuelle Fall hatte zwar Vorrang, aber sie durfte die anderen laufenden Ermittlungen nicht aus den Augen verlieren.

Detective Inspector Sharp betrat das Büro, ging zum Whiteboard und rief das Team zusammen.

Kay blickte auf und ihre Kehle schnürte sich zu. Detective Chief Inspector Angus Larch baute sich neben Sharp auf und durchbohrte sie mit seinem stechenden Blick.

4

Die Spannung in der Luft war greifbar, als Kay Larchs Blick begegnete. Sein Groll gegen sie war unverkennbar, eine ständige Erinnerung an ihre gescheiterte Beförderung zum Detective Inspector und an die Fehlgeburt, die sie unter dem Stress der internen Ermittlungen gegen sie erlitten hatte. Obwohl sie entlastet und der Fall zu den Akten gelegt worden war, torpedierte Larch seither ihre Beförderung. Außerdem stellte er immer wieder ihre Kompetenz infrage.

Sharp wurde von zwei Männern flankiert. Er stellte sie als Sergeant Dave Walker und Sergeant Robert Moss von der British Transport Police vor. Sie sollten die Truppe bei diesem Fall unterstützen, da sie sich auf dem Schienennetz bestens auskannten. Während die BTP-Beamten Platz nahmen, wurden Begrüßungsworte gemurmelt.

„Hunter, berichten Sie von gestern Abend“, forderte Sharp sie auf.

Kay trat vor, schilderte die Ereignisse und kam zu dem Schluss: „Es war auf keinen Fall Selbstmord. Der Mann war an den Hand- und Fußgelenken an die Gleise gefesselt. Zerfetzte Seilreste wurden gefunden. Außerdem gibt es eine Augenzeugin, die ihn auf den Gleisen entdeckt und alles gesehen hat.“ Es wurde still im Raum, einige Kollegen zuckten zusammen.

Sharp übernahm wieder. „Zum Umgang mit den Medien: Dieser Fall wird in der Öffentlichkeit zunächst als Suizid dargestellt, um den Täter in Sicherheit zu wiegen.“

„Es ist ziemlich clever, einen Mord als Schienensuizid zu tarnen, denn der Tote geht einfach in die Statistik ein“, meinte Kay.

„Das liegt doch auf der Hand, Hunter!“, blaffte Larch.

Kay biss sich auf die Lippe, holte tief Luft und schluckte eine Erwiderung hinunter. Stattdessen fuhr sie sachlich fort: „Bei der Besichtigung des Tatorts hatte ich das Gefühl, dass hier nicht zum ersten Mal ein Mord auf diese Weise vertuscht werden sollte. Denn es wirkte durchdacht.“

„Sie und Ihre wilden Theorien!“, stieß Larch mit hochrotem Kopf aus. „Haben Sie eine Ahnung, wie viele Menschen in den letzten Jahren auf diesem Teil der Strecke ums Leben gekommen sind? Das sollen alles Morde gewesen sein? Dass ich nicht lache!“

„Ich glaube, sie hat recht“, sagte Carys Miles unerwartet und sah Larch mit erhobenem Kinn an.

Kay drehte sich kurz um und erklärte: „Es sah aus wie geplant. Ich glaube, wir haben es hier mit einem Wiederholungstäter zu tun.“

„Ganz aus der Luft gegriffen ist das nicht“, meinte Sharp. „Im gegenwärtigen Stadium sollten wir diese Möglichkeit in Betracht ziehen.“

Larch funkelte Kay an, aber sie hielt seinem Blick stand. Schließlich seufzte er und sagte: „Wie Sie meinen, Sharp. Machen Sie sich ruhig lächerlich, indem Sie auf Hunter hören und nach einem ‚Eisenbahn-Serienmörder’ suchen.“ Er machte Anführungszeichen in die Luft und stapfte schnaubend aus dem Zimmer.

Nachdem die Tür krachend ins Schloss gefallen war, deutete Sharp auf Carys. „Hat sich die Spurensicherung schon gemeldet?“

Carys schlug ihr Notizbuch auf und räusperte sich. „Der Mann wurde enthauptet. Die Lok hat ihn in voller Fahrt erfasst, sein Kopf wurde in das Gestrüpp neben den Gleisen geschleudert.“ Ein kollektives Stöhnen ging durch den Raum. Kay hörte das Gemurmel einiger Kollegen, dass ihnen dieser Anblick zum Glück erspart geblieben war. „Von der Leiche ist nicht mehr viel übrig. Sergeant Walkers Team hat die Überreste geborgen. Das meiste ist verstümmelt.“

Sharp nickte. „Das war unter den Umständen zu befürchten. Wann kommt der vorläufige Bericht des Gerichtsmediziners?“

„Wahrscheinlich heute“, antwortete Kay. „Die Autopsie wird vorgezogen, damit die Leiche so schnell wie möglich identifiziert werden kann.“

„Wurden verdächtige Fahrzeuge oder Personen in der Nähe des Tatorts gesehen?“, fragte Sharp die BTP-Beamten.

„Nein“, antwortete Walker. „Ihre Leute haben den Tatort weiträumig abgesperrt. Unvollständige Schuhabdrücke wurden unterhalb des Bahndamms gefunden. Das Unterholz war zertrampelt. Beides wurde untersucht und die Spuren gesichert.“

„Wir haben eine Liste von Anwohnern und Kneipen in der Umgebung. Die werden wir in den nächsten Tagen abklappern, um möglichst viele Zeugenaussagen zu sammeln“, erklärte Kay.

Sharp sah auf die Uhr. „Bis sich die Spusi meldet, arbeiten wir mit dem, was wir haben. Ein paar Kollegen aus der Verwaltung werden zusammen mit der BTP alle registrierten Selbstmorde entlang der Strecke noch einmal durchgehen. Vielleicht findet sich im Nachhinein etwas Verdächtiges, das damals übersehen wurde. Barnes, Sie befragen die Augenzeugin, vielleicht fällt ihr noch etwas ein. Dann wird die Frau mit dem Yorkshire Terrier vernommen. Sie war vor der Dämmerung am Bahndamm, vielleicht hat sie jemanden gesehen.“

„Ja, Chef.“

„Miles, Sie fahren zur Forensik. Möglicherweise gibt es dort Kleidungsreste oder andere Dinge, die uns bei der Identifizierung des Mannes helfen können. Hunter, Sie gehen zur Autopsie. West, Sie besorgen die bereits aufgezeichneten Aussagen der Anwohner. Achten Sie auf Widersprüche, ungewöhnliche Beobachtungen. Und finden Sie heraus, ob es jemanden gibt, den wir noch einmal verhören müssen. Dann erarbeiten Sie eine Ermittlungsstrategie. Am frühen Nachmittag möchte ich über den aktuellen Stand informiert werden.“

„Ja, Chef.“ Die junge Polizistin senkte den Kopf. Mit gerunzelter Stirn machte sie sich eifrig Notizen.

Kay lächelte; Debbie West war ein weiterer aufsteigender Stern und eine Bereicherung für das Team.

Sharp sah noch einmal auf die Uhr. „Nachbesprechung um sechzehn Uhr. Seien Sie pünktlich.“

Nachdem sich das Team verteilt hatte, nahm Kay Carys beiseite. „Können wir uns kurz unterhalten?“

„Sicher. Was gibt’s?“

Kay zog einen Stuhl heran, setzte sich neben ihre Kollegin und kam mit gedämpfter Stimme zur Sache. „Hör auf, dich meinetwegen mit Larch anzulegen, auch wenn’s gut gemeint ist.“

Carys’ Lächeln verrutschte. „Was? Ich weiß nicht …“

„Danke für die nette Geste, aber nein, danke. Lass es in Zukunft!“ Sie setzte ein Lächeln auf, um ihre Worte etwas zu entschärfen. Diesen Kampf musste sie persönlich ausfechten.

5

Gavin Piper überquerte mit großen Schritten den Parkplatz und blieb abrupt stehen. Er war kreidebleich, seine Hände bebten und mit brüchiger Stimme rief er Kay zu: „Sarge?“

Kay schloss den Wagen ab und ging zu ihm. „Muffensausen?“, fragte sie leise und fasste ihn am Arm.

„Na ja, es ist meine erste Autopsie“, murmelte er mit gesenktem Blick.

Kay ging voraus zum Eingang der Gerichtsmedizin, ließ ihren Kollegen eintreten und hielt ihn mit erhobener Hand zurück. „Tief durchatmen. Und denken Sie an etwas anderes.“

Er schluckte den Kloß hinunter, der sich in seinem Hals gebildet hatte. „Okay, Sarge.“

Mit forschen Schritten marschierte Kay zur Anmeldung, nahm zwei Schutzanzüge entgegen und gab einen davon Piper. Zielstrebig ging sie zu einer Tür und sagte: „Die Männerumkleide ist direkt hinter Ihnen. Ihre Sachen können Sie in einem der Spinde verstauen.“

Kurz darauf standen sie wieder auf dem Flur. Sie lächelte ihm schwach zu. „Bringen wir’s hinter uns.“

Sie betraten den sterilen Obduktionssaal, dessen grelles Deckenlicht dem stählernen Sektionstisch einen unbarmherzigen Glanz verlieh. „Guten Morgen, Hunter“, begrüßte sie der Pathologe Lucas Anderson. „Sharp hat Sie schon angemeldet.“

„Ich soll Ihnen seinen Dank ausrichten, dass Sie die Autopsie so kurzfristig durchführen.“

„Na ja, da von dem Mann nur noch Fragmente übrig sind, wird es nicht lange dauern. Außerdem hatte der Spezialist nur heute früh Zeit, deshalb haben wir schon angefangen.“

Kay stellte Gavin vor und ging um den Seziertisch herum. „Was gibt es bisher zu sagen?“

Anderson deutete auf die Leichenteile, die er auf der glänzenden Oberfläche ausgebreitet hatte. „Im Prinzip das, was Sie hier sehen. Keine Tätowierungen, keine Narben, keine chirurgischen Eingriffe, keine Stahlplatten. Nicht gerade viel, um ihn zu identifizieren.“ Er legte eine verstümmelte Hand zur Seite.

„Würden Sie uns Fotos von seinem Gesicht schicken, damit wir in der Vermisstendatei suchen können?“, fragte Kay.

„Darum kümmere ich mich später.“

„Ziemlich dürftig, oder? Der Fall wird sich wahrscheinlich ewig hinziehen.“ Kay schnaubte und verdrehte die Augen.

„Nicht unbedingt. Mit dem Schädel kann man etwas anfangen. Schauen Sie mal.“ Lucas legte den abgetrennten Kopf auf den Tisch und drehte das Gesicht in ihre Richtung.

Kay schaltete gedanklich in den Leerlauf und versuchte, den Halsstumpf zu ignorieren. Lucas öffnete den Mund mit den Daumen. Sein Assistent richtete die Lampe auf die Mundhöhle und leuchtete sie aus. „Bei Enthauptungen kann der plötzliche Blutverlust dazu führen, dass die Totenstarre später oder weniger stark einsetzt. Nach einigen Tagen lässt sich der Mund nicht mehr öffnen. Hier sieht man, dass er in den letzten Jahren einige größere Zahnbehandlungen hatte. Die hinteren Backenzähne sind stark abgenutzt, möglicherweise durch stressbedingtes Knirschen. Außerdem wurden ihm zwei Zähne gezogen und durch Implantate ersetzt.“

„Können wir ihn damit identifizieren?“

„Früher oder später schon. Es wurden bereits Röntgenaufnahmen und Gebissabdrücke gemacht. Wir werden mit den Zahnärzten vor Ort Kontakt aufnehmen und dann hoffentlich mehr wissen. Momentan kann ich nur sagen, dass er zwischen fünfunddreißig und fünfzig Jahre alt war.“

„Sonst noch was?“

„Vom Oberkörper ist kaum etwas übrig. Aber wir konnten Abstriche von den Fingern nehmen. Die linke Hand war unbrauchbar, von der rechten sind noch drei intakt. Am Mittelfinger ist eine kleine Kerbe, die von einem Ring stammen könnte. Fingerabdrücke wurden genommen, aber für einen kompletten Satz reichen sie natürlich nicht.“

„Dann lassen wir die Ergebnisse durch HOLMES laufen. Wenn der Mann vorbestraft war, finden wir ihn dort. Ansonsten stehen wir wieder mit leeren Händen da“, sagte Kay und unterdrückte den Drang, durch die Nase zu atmen. Den Fehler hatte sie schon einmal gemacht. Damals war sie den penetranten Geruch der Leichenhalle den ganzen Tag nicht losgeworden. Stattdessen deutete sie auf die entstellten Leichenteile. „Gibt es sonst noch etwas über ihn zu sagen?“

Anderson verzog das Gesicht. „Solange die Röntgenbilder und der Zahnstatus nicht ausgewertet sind oder er als vermisst gemeldet wird, nichts.“

Kay bedankte sich und marschierte ohne Umschweife zur Damenumkleide. Sie holte ihre Sachen aus dem Spind, stopfte den Schutzanzug in den Behälter für biologische Gefahrstoffe und verließ den schmucklosen Raum.

Gavin wartete bereits im Flur auf sie und tigerte ungeduldig durch die desinfektionsmittelgeschwängerte Luft. „Kommen Sie, wir sind hier fertig.“

Das ließ er sich nicht zweimal sagen. Fluchtartig verließ er das Gebäude, steckte die Hände in die Hosentaschen, hob die Nase zum Himmel und atmete mit geschlossenen Augen tief durch.

„Geht’s?“

„Geben Sie mir ’ne Minute“, sagte er.

„Ich gebe Ihnen auch zwei. Beim ersten Mal musste ich fast kotzen, obwohl ich schon Leichen gesehen hatte.“

Er öffnete die Augen. „Vielleicht gewöhne ich mich irgendwann daran.“

Sie lächelte und zog eine Bonbonschachtel aus der Tasche. „Hier, versuchen Sie’s mit einem Pfefferminz.“

Hektisch fummelte er eines heraus und gab ihr die Packung zurück. „Helfen die denn?“

„Nicht wirklich, aber sie lenken einen etwas ab.“

Er folgte ihr zum Wagen. „Macht es Ihnen nichts aus? Sie haben nicht mal mit der Wimper gezuckt.“

Kay rang sich ein Lächeln ab, dann ballte sie die Hände zu Fäusten. Sie verdrängte den zerstückelten Mann aus ihren Gedanken, schloss den Wagen auf und sagte: „Das heißt noch lange nicht, dass es mich kaltlässt. Man lernt, sich auf die Fakten zu konzentrieren, um den Fall voranzubringen. Denn später kann etwas auftauchen, das nicht mit dem Autopsieergebnis übereinstimmt. Der Obduktionsbericht gibt nur begrenzt Auskunft, deshalb ist unsere Anwesenheit unerlässlich. So haben wir die Möglichkeit, einzugreifen und Details zu entdecken, die sonst vielleicht übersehen worden wären. Hier ist Teamarbeit gefragt.“

„Wird es irgendwann erträglicher?“, fragte Gavin hoffnungsvoll.

„Nicht wirklich. Aber Sie werden einen Weg finden, damit umzugehen“, beruhigte Kay ihn.

Er knirschte auf dem Rest des Pfefferminzbonbons herum und sein Blick wurde hart. „Was für ein krankes Arschloch tut einem Menschen so etwas an?“

Kay drehte den Zündschlüssel um. „Das werden wir noch herausfinden.“

6

Als Kay in die Einsatzzentrale zurückkehrte, hatte das Team bereits eine Liste aller dokumentierten Suizidfälle für den betreffenden Streckenabschnitt erhalten.

„Wir konzentrieren uns auf die letzten fünf Jahre“, erklärte Sharp. Er tigerte in seinem Büro auf und ab, während die Dateien ins System geladen wurden. „Immerhin können wir den Mann einer Altersgruppe zuordnen. Dann können wir wenigstens einige Personen aussortieren.“

Kay drehte sich mit zusammengekniffenen Lippen auf ihrem Stuhl um. Sharp tauchte zum x-ten Mal hinter ihr auf. „Chef, wenn Sie so weitermachen, renke ich mir noch den Nacken aus. Setzen Sie sich bitte.“

Er seufzte und ließ sich auf seinen Stuhl sinken. „Besser?“

Sie nickte und sagte: „Wir sollten außerdem zwei Kategorien erstellen: identifiziert und unbekannt. Anschließend durchkämmen wir die Vermisstendatei.“

„West soll sich darum kümmern. Sobald wir Namen haben, suchen Sie, Barnes und Miles die Hinterbliebenen auf.“