Totgetrieben - Andreas Stammkötter - E-Book

Totgetrieben E-Book

Andreas Stammkötter

4,8

Beschreibung

Zwei Leipziger Professoren, beide glänzende Psychoanalytiker, diskutieren die Aktualität der Freud’schen Thesen über den Liebes- und den Todestrieb eines Menschen. Einer der beiden behauptet, er sei in der Lage, den Liebestrieb eines jeden Individuums herunterfahren zu können. Dadurch würde der Todestrieb überhandnehmen und den Menschen zum Verbrecher machen. Beweisen will er diese Theorie an Cori Landmann, die zufällig in der Nähe sitzt. Eine scheinbar harmlose Wette folgt, die tödliche Konsequenzen hat …

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 288

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
4,8 (16 Bewertungen)
12
4
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Andreas Stammkötter

Totgetrieben

Kriminalroman

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Besuchen Sie uns im Internet:

www.gmeiner-verlag.de

© 2015 – Gmeiner-Verlag GmbH

Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung: Mirjam Hecht

E-Book: Benjamin Arnold

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © Marcel Schauer / Fotolia.com

ISBN 978-3-8392-4656-6

Zitat

… and then you treated my woman to a flake of your live,

and when she came back, she was nobodies wife …

Leonard Cohen (Famous Blue Raincoat)

JULI

Magda, die attraktive Kellnerin im GONZALES musste schmunzeln, als sie die dritte Flasche Rotwein an den Tisch im Außenbereich brachte. Chateau Margaux, guter Jahrgang. Ein erlesenes Tröpfchen, und vor allem: nicht billig. Aber die beiden Männer, die an dem Tisch saßen und heftig diskutierten, konnten sich das edle Getränk leisten. Das wusste sie. Sie kannte sie.

Sie hielt vor dem Tisch an und goss die übliche Verkostungsmenge in das Weinglas, das ihr am nächsten stand, und wartete, bis einer der Herren probieren würde. Aber die Gäste beachteten sie kaum. Sie erntete nur ein knappes Handzeichen, das ihr bedeutete, die Gläser anständig zu füllen. Sie füllte die Gläser zu einem Drittel, stellte die Flasche auf den Tisch und ging wieder in den Gastraum. Die übliche Frage, ob sie sonst noch etwas für die Gäste tun könnte, verkniff sei sich. Sie hätte ohnehin keine Antwort bekommen.

»Aber diese Theorien von Freud sind doch über 80 Jahre alt!«, schrie der kleinere der beiden. Er nippte an dem frischen Weinglas und sah sein Gegenüber eindringlich an. »Freud hat sicherlich große Verdienste für die Psychoanalyse geleistet, aber seine Theorien sind doch alle größtenteils überholt, oder sagen wir, zumindest nicht mehr auf dem neuesten Stand der Wissenschaft. Das weißt du doch genauso gut wie ich.«

Der größere der beiden, er war schlank und hatte die 40 gerade erst überschritten, trank hastig sein halbes Glas leer. Er war vollkommen in seine Gedanken vertieft und schien nicht zu merken, dass er das gute Zeug wie Wasser wegkippte. »Aber das behaupte ich doch gar nicht. Natürlich weiß ich auch, dass es wissenschaftliche Abhandlungen gibt, die aktueller sind als der gute alte Sigmund Freud. Schließlich stammen ja die meisten aus meiner Feder. Was ich sagen will, ist: Die Grundlagen stimmen immer noch. Die Trieblehre von Freud wurde in ihren Ansätzen doch nie bestritten. Konrad Lorenz hat sie in den 60er und 70er Jahren noch ausdrücklich bestätigt. Freud hat nur die falschen Schlussfolgerungen gezogen. Darin liegt das Problem.«

Der Dicke lehnte sich entspannt zurück. Er hatte die Gelassenheit des Professors, der in wenigen Monaten seinen verdienten Ruhestand antreten darf. Er schwenkte sein Weinglas und roch an der Blume. »Dann bin ich jetzt aber gespannt.«

»Also gut. Fangen wir noch mal von vorne an. Freud hat erkannt, dass in jedem Menschen zwei Triebe leben, die er im ES angesiedelt hat: der Liebestrieb und der Todestrieb. Der eine Trieb sucht nach Harmonie, nach sexueller Befriedigung und ist unerlässlich für die Arterhaltung. Der Todestrieb strebt nach Zerstörung und Tod, er möchte lebende Materie in ihren Ursprungszustand, die tote Materie, zurückverwandeln. Er dient der Abwehr von Gefahren und dem Erlegen von Beute, also auf seine Weise auch der Arterhaltung.«

»Das ist nichts Neues. Da kann ich dir nicht widersprechen.«

Der junge Professor stellte sein Weinglas auf die Mitte des Tisches und richtete sich auf. Er brauchte jetzt seine Hände als Erklärungshilfe. »Die Frage ist doch immer, welcher Trieb ist dominant und steuert das für Dritte wahrnehmbare Verhalten? Freuds Theorie besagt, die Steuerung der Triebe wird durch so etwas wie eine eigene Moral, das Gewissen, gesteuert. Das eigene Gewissen, die Schuldgefühle, regeln das Ausleben des jeweiligen Triebes. Ich möchte gerne jemanden umbringen, aber mein Gewissen sagt mir, dass es verboten ist. Also tue ich es nicht. Und genau da liegt Freuds Fehler.«

Sein Gegenüber saß immer noch entspannt zurückgelehnt auf seinem Stuhl. »Es muss ja nicht gleich Mord sein. Wir suchen doch ganz allgemein nach dem Entstehen der Aggressivität, oder?«

»Ja genau.« Er trank wieder hastig aus seinem Weinglas. »Ich wollte doch über Freuds Fehler reden. Ich glaube nicht, dass das Gewissen die entscheidende Instanz ist, die den Liebes- oder Todestrieb unterdrückt. Das Gewissen spielt sicherlich auch eine Rolle, aber nur eine eher kleinere, eine untergeordnete.« Er streckte seine Arme nach vorne und hielt sie parallel über den Tisch. »Wenn es so ist, halten sich beide Triebe die Waage. Es passiert nichts. Ich glaube, dass das Vorhandensein der Triebe in der jeweiligen Stärke dazu führt, das sich der Todestrieb nicht entfalten kann. Es ist auch nicht schlimm, wenn der Liebestrieb stärker ist als der Todestrieb.« Seine rechte Hand wanderte nach oben, und die linke Hand näherte sich der Tischplatte. »Problematisch wird es nur, wenn sich der Todestrieb stärker entfaltet als der Liebestrieb.« Seine Hände verschoben sich. Die linke Hand war auf Schulterhöhe, und die rechte Hand fiel mit einem dumpfen Geräusch auf den Tisch. »Wenn das Verhältnis so ist, also der Todestrieb extrem überwiegt, fehlen die ihn korrigierenden Regularien des Liebestriebes und es entstehen Aggressionen. Dann hilft auch kein Gewissen mehr.«

Er sah seinen alten Freund an und wartete gespannt auf dessen Reaktion. Diese erfolgte zeitverzögert. »Interessante Theorie. Wo holst du sie her?«

»Nimm doch mal ein ganz einfaches Beispiel: Wir alle wissen, dass Kinder, die in einem schwierigen sozialen Milieu aufgewachsen sind, eine wesentlich höhere Kriminalitätsrate aufweisen als Kinder, die in einem wohlbehüteten Elternhaus groß geworden sind. Sie haben keine Liebe empfangen und wissen dementsprechend auch nicht, wie man Liebe weiter gibt. Der Liebestrieb ist auf einem verdammt niedrigen Niveau. Nach meiner Theorie heißt das: freie Bahn für Aggressionen.«

»Du weißt doch genau, dass diese Erklärung viel zu einfach ist und vor allem viel zu plakativ.«

Er füllte sein Weinglas nach und bemerkte nicht, dass er schon die halbe Flasche allein geleert hatte. »Da hast du natürlich recht. Es ist auch nicht nur dieses eine Beispiel, das die Richtigkeit dieser Theorie in mir reifen ließ. Es ist die Masse der Beispiele: Denk doch nur an die moderne Verbrechensanalyse. Die meisten Tötungsdelikte entstehen aus Spontanreaktionen. Der Liebestrieb wird, wenn auch nur für einen kurzen Moment, reduziert, und der Todestrieb, nenne es ruhig Hass, setzt sich durch. Denk an die Kriminalität an Ausländern: Die Menschen vergessen, dass ihnen fühlende Menschen gegenüberstehen. Es regiert die blanke Aggression. Du kannst auch die religiös motivierten Morde nehmen. Was machen die denn? Es ist doch eine ganz einfache Klaviatur: Den Menschen, immer schon im Kindesalter, wird suggeriert, dass alle Ungläubigen eine Bedrohung sind. Der Liebestrieb wird bewusst unterdrückt, es wird ihnen eine Denkstruktur eingepflanzt, die ein Empfinden von Nächstenliebe bewusst ausblendet. Gleichzeitig wird der Todestrieb gefördert, indem die andersgläubigen Menschen noch als Gefahr für die einzig wahre Religion dargestellt werden. Der Todestrieb wird bewusst geschürt, er gewinnt die Oberhand und dann …«, seine Hand fiel mit einem lauten Krachen auf die Tischplatte, »patsch!«

Der alte Professor konnte nicht verhehlen, dass ihn die Theorie seines jungen Kollegen zum Nachdenken brachte. Er kratzte seine spärlich behaarte Kopfhaut. Das tat er immer, wenn er ins Nachdenken geriet.

»Vielleicht hast du ja recht. Ich muss zugeben, das ist zumindest eine interessante Theorie. Aber es ist eben nur eine Theorie. Deine Beispiele machen ja auch Sinn, aber den Beweis bleibst du schuldig. Und du kennst doch die Anforderungen in unserer Wissenschaft. Man braucht immer Beweise, also empirische Studien und so weiter.«

Zum ersten Mal seit Beginn der Diskussion schien der junge Wissenschaftler zur Ruhe zu kommen. Er war zufrieden, dass sein erfahrener Kollege seine Gedanken ernst nahm. Er atmete tief durch. »Da hast du natürlich schon wieder recht. Ich werde es beweisen, aber dazu brauche ich dich.«

Er erntete einen langen ungläubigen Blick. »Mich? Wieso brauchst du mich dazu?«

»Du bist einer der anerkanntesten Psychoanalytiker. Du stehst kurz vor deiner Pension. Niemand wird dir noch überschwänglichen wissenschaftlichen Ehrgeiz nachsagen. Du bist die perfekte Instanz, um meine Theorie fachlich zu begleiten und zu kommentieren.«

Der alte Professor schenkte sich Rotwein nach. Er ließ die rubinrote Flüssigkeit langsam in seinem Glas kreisen und betrachtete betont überlegend das kostbare Getränk. Er tat so, als würden ihn die erwartungsvollen Blicke seines jungen Kollegen nicht interessieren. »Und wie stellst du dir das vor … nur so interessehalber?«

Sein ehrgeiziger Kollege lehnte sich zurück und schlug die Beine übereinander. Er nahm sein Weinglas in die Hand und erhob es in Richtung seines Kollegen. »Ich werde einen empirischen Versuch starten, und du musst ihn begleiten. Von Anfang an. Natürlich nur, wenn du einverstanden bist. Ich kann dich ja zu nichts zwingen.«

»Und, wie stellst du dir das vor … nur so Interesse halber?«, wiederholte er sich in dem gleichen Tonfall wie zuvor.

»Ich werde eine Person, eine weibliche, auswählen, von der du bestätigen kannst, dass ich sie definitiv vorher nicht kannte. Ich werde eine Beziehung mit ihr anfangen und über einen Zeitraum von wenigen Monaten ihren Liebestrieb sehr hochfahren. Und dann werde ich den Liebestrieb von einem auf den anderen Moment auf null setzten, und du wirst sehen, sie wird ein Aggressionspotenzial entwickeln, das sie vorher noch nicht kannte.«

Der Alte konnte sich nicht vorstellen, dass sein junger Kollege seine Äußerung tatsächlich ernst meinte. Er schaute auf die Weinflasche und glaubte, darin den wahren Grund für die abwegige Geschichte zu erkennen. Er blieb gelassen und lächelte. »Wenn du richtig liegst, bringt sie dich um. Hast du darüber schon mal nachgedacht?«

Er ging nicht auf sein Lächeln ein. Er sah es nicht oder wollte es nicht sehen. Sein Blick war starr. »Natürlich habe ich daran gedacht. Aber so weit wird es nicht kommen. Ich bin doch Herr des Experimentes. Wenn es zu gefährlich wird, breche ich natürlich ab oder fahre den Liebestrieb wieder hoch.«

Der Alte war irritiert. Sein Kollege schien es tatsächlich ernst zu meinen, mehr noch: Er war besessen von der Idee. »Sag mal, Jochen, meinst du das jetzt wirklich ernst? Du willst eine ahnungslose Frau mehrere Monate an der Nase herumführen, nur um zu testen, ob sie aggressiv wird, wenn du die Beziehung beendest?«

Jochen Kramer breitete die Arme aus und machte ein unschuldiges Gesicht. »Mein lieber Karl, wir leben im 21. Jahrhundert. Eine Beziehung wird in die Brüche gehen. Na und? Dass passiert doch jeden Tag 100.000e Male auf dieser Welt. Nur ich tue es im Dienste der Wissenschaft. Das ist doch wenigstens noch ein akzeptables Motiv. Außerdem ist es natürlich nicht so einfach. Mein Plan ist schon sehr viel dezidierter. Aber das würde heute Abend zu weit führen.«

Karl Schneeweiß fühlte sich nicht wohl in seiner Haut. Er war immer noch entschlossen, seinem jungen Kollegen dieses Experiment auszureden. Aber er erkannte auch, dass er zumindest am heutigen Abend damit keinen Erfolg haben würde. Er würde es am nächsten Tag versuchen. Vielleicht hatten sich die Ambitionen ja dann ein wenig gelegt, und er musste nicht mehr diesen Mantel der Besessenheit durchbrechen. »Also lass uns da doch bitte morgen noch einmal drüber reden. Ich denke, wir sollten beide noch mal …«

»Du musst doch gar nichts machen!«, unterbrach ihn sein Kollege. »Ich schicke dir nur meine täglichen Berichte zu. Du musst sie lediglich durchlesen und irgendwann bestätigen, dass alles mit rechten Dingen zugegangen ist.« Er lächelte. »Das kannst du sowieso nicht verhindern. Ich lasse die Berichte jeden Tag in deinem Lehrstuhl hinterlegen.«

Karl Schneeweiß überlegte, ob er eher erleichtert oder besorgt sein sollte, dass ihm keine tragende Rolle in diesem fragwürdigen Experiment zukam. Aber auch er war Wissenschaftler. Er musste sich eingestehen, dass er eine gewisse akademische Neugier nicht verbergen konnte. »Wo holst du eigentlich die Frau für dein Experiment her?«

Jochen Kramer war zufrieden. Er hatte das Interesse seines Kollegen geweckt. Mehr hatte er nicht erwarten können. »Dreh dich jetzt bitte nicht sofort um.« Er deutete mit einer Kopfbewegung auf den Tisch, der in der zweiten Reihe hinter seinem Kollegen stand. »Da drüben sitzt ein Pärchen. Auf dem Tisch liegt eine rote Rose. Die beiden reden nicht viel. Was sagt dir das?«

Der alte Professor zuckte mit den Schultern. »Klingt nach der üblichen klischeehaften Geschichte: Die beiden haben sich über eine Singlebörse im Internet kennengelernt. Die Rose war vermutlich das Erkennungszeichen für den heutigen Abend. Wenn sie nicht viel miteinander reden, heißt das wohl, dass das Treffen aus Sicht eines von beiden ziemlich enttäuschend war.«

Kramer nickte anerkennend. »Genau richtig. Aber es kommt noch besser: Die Dame war gerade auf der Toilette. Als sie hineinging, hatte sie keine Brille auf. Als sie wieder zurückkam, hatte sie sie aufgesetzt. Offensichtlich hat sie Probleme mit ihren Kontaktlinsen. Bevor sie den Kerl getroffen hat, war sie noch eitel. Sie hat aber die erstbeste Gelegenheit genutzt, um die Brille wieder aufzusetzen. Sie ist von dem Treffen enttäuscht. Sie gibt sich keine Mühe mehr, hübsch auszusehen.«

»Und was hast du noch beobachtet?«

»Sie hat gerade unterm Tisch auf ihrem Handy rumgetippt. Wahrscheinlich bekommt sie gleich einen Anruf von einer Freundin, die ihr einen Vorwand liefert, das Treffen zu beenden.«

Professor Kramer hatte den Satz gerade beendet, als sich das Handy der jungen Frau meldete. Sie setzte eine dramatische Mine auf und telefonierte mit kurzen Sätzen. Dann gab sie ihrer neuen Bekanntschaft mit einer entschuldigenden Geste zu verstehen, dass sie dringend das GONZALES verlassen müsste. Der Mann äußerte noch ein paar Minuten sein Bedauern. Er versuchte, sie zu überreden, das Treffen doch bald zu wiederholen. Sie beruhigte ihn mit Sätzen, wie ›wir bleiben in Kontakt‹ oder ›wir können ja noch mal miteinander telefonieren‹. Dann nahm sie ihre Handtasche und verabschiedete sich mit einem Handschlag. Als der Mann versuchte, sie auf die Wange zu küssen, zog sie zurück. Kramer konnte erkennen, dass sie die Augen verdrehte, als sie an ihrem Tisch vorbeiging.

Professor Kramer lächelte kaum merklich. Er hatte sein Versuchskaninchen gefunden. Und Schneeweiß war dabei gewesen. Das war mehr, als er von diesem Abend erwarten konnte.

JANUAR

Das Silvesterfeuerwerk in Leipzig war auf seinem Höhepunkt. Der Himmel über Leipzig erinnerte mehr an eine Krisenregion im Nahen Osten als an die Stadt der friedlichen Demonstration von 1989. Raketen zischten in den dunklen Himmel und warfen ihre bunten Leuchtkörper in die Nacht. Die dumpfen Schläge der Böller, die eigentlich die bösen Geister im kommenden Jahr vertreiben sollen, schufen eine Atmosphäre von Straßenkampf. Hauptkommissar Kroll von der Leipziger Kriminalpolizei feierte, wie in den letzten Jahren immer, im kleinen Freundeskreis. Zum Jahreswechsel wurde er immer sentimental. Er ließ das alte Jahr Revue passieren und machte sich Gedanken, was das nächste Jahr wohl bringen würde. Der Silvesterabend war für ihn immer ein sehr persönlicher Moment, den er gerne mit guten Freunden erlebte. Auf die Massenknutscherei auf irgendwelchen Partys hatte er keine Lust.

Er hatte auf den letzten Drücker noch zwei Tüten Raketen im Baumarkt gekauft und half den Kindern des Gastgebers, natürlich mit der gebotenen Vorsicht, die Raketen in den Sektflaschen anzuzünden. Sein Zündmechanismus bestand aus einer dicken Zigarre von der Tankstelle.

Mit einem lauten Zischen hob die Rakete ab, um kurze Zeit später ihre leuchtende Fracht über Leipzig auszubreiten. Das unaufhörliche Vibrieren seines Handys, das in der Hosentasche steckte, nahm er nicht wahr.

Erst als er mit seinen Freunden vor dem Gartentor noch mit einem Glas Sekt anstieß, spürte er das Brummen. Für einen kurzen Moment hoffte er, dass ihm nur irgendjemand ein Frohes Neues Jahr wünschen würde. Seine Hoffnung wurde aber jäh enttäuscht, als er auf das Display sah. Staatsanwalt Reis. Er drückte auf die Taste mit dem grünen Hörer.

»Frohes Neues Jahr, Kroll. Ich hoffe, du kannst noch fahren. Sonst lass ich dich abholen.«

Kroll sah in die Runde und machte eine entschuldigende Geste. »Frohes Neues Jahr, Herr Reis.« Er sah auf sein halb volles Sektglas. »Noch kann ich fahren. Viel später hätten sie aber nicht fragen dürfen. Was gibt’s?«

Es hatte sich im Lauf der Zeit so eingeschliffen, dass Staatsanwalt Reis die Polizisten duzte, diese ihm gegenüber aber beim Sie geblieben waren. »Tut mir wirklich leid, Kroll. Ich weiß, du steckst gerade auf einer Feier. Aber wir haben eine Leiche in Leutzsch. Direkt vorm Gartentor. Du musst da leider hin. Wiggins habe ich auch schon die Feier verdorben. Nur zum Trost: Ich bin auch schon unterwegs.«

Der Staatsanwalt teilte die genaue Anschrift mit.

Kroll ging mit hängendem Kopf zu seiner Freundin Anja. Sie kannte diesen Gesichtsausdruck und wusste sofort, was nun kommen würde. »Eine Leiche, stimmt’s?«

Kroll nickte. »Vielleicht dauert es ja nicht lange.«

»Das wäre das erste Mal«, entgegnete Anja mit wenig Begeisterung.

»Tut mir leid, Schatz.« Er gab ihr einen Kuss, den sie leidenschaftslos erwiderte. Anja arbeitete in der Verwaltung des Thomanerchors. Sie und Kroll hatten sich kennen- und liebengelernt, als Kroll im Umfeld des berühmten Chores ermitteln musste. Sie war auch einiges gewohnt, was Krolls Arbeitszeiten anging, aber ausgerechnet Silvester, das musste nun wirklich nicht sein. Diesmal würden sie in der Silvesternacht nicht miteinander schlafen.

Das Haus in der Paul-Michael-Straße hätte Kroll auch ohne die nähere Beschreibung des Staatsanwalts gefunden. Im Garten und auf der Straße waren unzählige Lichtmasten aufgestellt, die mit hellem Licht aus Neonröhren jeden Quadratzentimeter ausleuchteten. Der Fundort der Leiche war weiträumig abgesperrt, die Mitarbeiter der Spurensicherung verrichteten in weißen Overalls ihre Arbeit. Krolls Kollege, Kriminalhauptkommissar Wiggins, betrachtete den Toten, der noch nicht mit einem Laken bedeckt war. Man brauchte wirklich keine gerichtsmedizinischen Fachkenntnisse, um zu erkennen, dass der Pfeil, der mitten im Herzen des Mannes steckte, die Todesursache war. Kroll stellte sich neben ihn. »Alles Gute im Neuen, Wiggins. Der hier hat uns also die Party verdorben?«

Wiggins wandte seinen Blick kurz von der Leiche ab und nickte Kroll zu. Dann sah er zu der Villa, die zirka 50 Meter hinter dem Gartentor lag. Ein alter Bau aus der Gründerzeit, den vermutlich eine reiche Kaufmannsfamilie über Generationen bewohnt hatte. Das Haus war erst vor wenigen Jahren gründlich renoviert worden und strahlte trotz der Dunkelheit in weißem Glanz. Ein Weg aus hellen Natursteinplatten teilte den gepflegten Rasen.

Wiggins schaute wieder auf die Leiche. »Dass der so viel Kohle macht, hätte ich jetzt auch nicht gedacht.« Er zeigte mit dem Finger auf die Schuhe. »Die Latschen wollte ich mir auch mal kaufen. Pferdeleder, handgenäht in London. Kostenpunkt: 598,99 Euro. Hat leider mein Beamtengehalt nicht hergegeben. Und schau dir mal den Anzug an! Der ist nicht von Herrn van der Stange.« Wiggins schien die Bekleidung des Toten mehr zu interessieren als alles andere. »Und die Krawatte. Die kostet mehr als alle, die du im Schrank hast, zusammen!«

Kroll überlegte kurz, wo seine Krawatte war. Er hatte sie sich für die Hochzeit eines Freundes gekauft und vermutlich noch auf der Hochzeitsfeier vergessen. »Du kennst ihn?«

Wiggins rollte mit den Augen. Seine Laune schien auf dem Nullpunkt angekommen zu sein, was vermutlich an dem Zeitpunkt ihres Einsatzes lag. »Ach, Kroll. Du solltest in unseren Gerichtsverhandlungen nicht immer demonstrativ den Raum verlassen, wenn die gerichtspsychiatrischen Gutachter angehört werden.«

»Ist das etwa einer von denen, die immer erzählen, wie harmlos die ganzen Täter sind, die wir mühsam eingefangen haben, und die dann irgendwas von schwerer Kindheit labern und das Gericht glauben machen, dass mit ein paar Sozialstunden alles wieder gut ist?«

Wiggins überhörte die provokante Bemerkung. »Das ist Professor Doktor Jochen Kramer. Der Superstar am Himmel der Psychoanalytiker. Lehrstuhl in Leipzig, Gastprofessur in Michigan. Bücher ohne Ende.« Sein Mund zeigte jetzt den Ansatz eines Lächelns. »Spitzname: George Clooney der Psychoanalytiker.«

Staatsanwalt Reis stellte sich zwischen die Polizisten. »Ich glaube, ich muss euch nicht sagen, wer der Tote ist. Professor Kramer ist alles andere als ein No-Name-Produkt in Leipzig.«

Kroll ging es langsam auf die Nerven, dass die Person des Toten viel mehr Raum einnahm, als im derzeitigen Ermittlungsstadium üblich. Jetzt reagierte auch er gereizt. »Nachdem wir jetzt alle darüber geredet haben, wie toll und berühmt unsere Leiche ist, und nachdem wir auch seine feinen Klamotten bewundert haben, können wir vielleicht auch mal mit der Polizeiarbeit anfangen. Unser berühmter Herr Professor hat einen kleinen Pfeil im Herzen. Nicht gerade eine Tötungsmethode, mit der wir es jeden Tag zu tun haben.«

Staatsanwalt Reis schien der Pfeil nicht besonders zu interessieren. »Der stammt von einer Armbrust. Ich kenne die Dinger nur zu gut. Das sind heutzutage Präzisionswaffen. Hat jeder Zuhälter im Kofferraum.«

»Gut!« Kroll war immer noch gereizt. »Dann möchte ich gerne wissen, wo man so etwas kaufen kann, dann klappern wir die Läden ab, und es würde mich mal interessieren, ob man das Schießen mit einer Armbrust üben muss, ob es da Vereine gibt. Wenn ja werden wir uns die Mitglieder genauer anschauen und so weiter.«

Wiggins und der Staatsanwalt sahen Kroll ungläubig an. »Morgen, oder besser gesagt heute, ist Feiertag. Da müssen wir wohl noch einen Tag warten.«

Kroll ging zum Leiter der Spurensicherung und erkundigte sich nach der Spurenlage. Sein Kollege machte ihm nicht viel Hoffnung. Die Nacht war kalt und trocken. Der Täter oder die Täterin hatte wahrscheinlich irgendwo auf dem Gehweg gestanden. Ein Schuh hinterließ bei diesen Witterungsbedingungen auf den Betonplatten keine Abdrücke. Außerdem lag von der Knallerei ohnehin alles Mögliche in der Gegend herum.

Kroll stellte sich wieder zu Wiggins, der noch immer vor dem Toten stand. »So ein schöner Mann feiert doch nicht alleine Sylvester. Wo sind denn die Partygäste?«

Wiggins sah wieder in Richtung der Villa. »Im Haus sitzt eine junge Frau, vermutlich seine Lebensgefährtin. Sie hat den Professor gefunden und den Notarzt informiert. Der konnte aber nur noch den Tod feststellen und hat uns dann angerufen. Dr. Schmidt ist bei ihr. Er wollte ihr eine Infusion legen.«

Die Polizisten erreichten das Haus über vier Treppenstufen und betraten zunächst eine Veranda, die von mächtigen weißen Säulen umrahmt war. Innen durchquerten sie zunächst einen Empfangsraum, dann einen großzügigen Flur, um schließlich in das Wohnzimmer zu gelangen. Der Hausherr war offenbar ein Anhänger moderner Kunst. An den Wänden hingen großformatige Gemälde, auf dem Boden standen abstrakte Skulpturen. Melanie Nieblum saß zusammengekauert auf einem großen Sofa, das mit mattschwarzem Leder bezogen war. Sie war eine elegante schlanke Frau Mitte 30. In der Hand zerknüllte sie ein Taschentuch. Dr. Schmidt klebte gerade ein Pflaster auf ihren Unterarm. Das kurze Nicken in Richtung der Kommissare bedeutete, dass er die junge Frau für vernehmungsfähig hielt.

Kroll stellte sich und seinen Kollegen vor und sprach Melanie Nieblum sein Beileid aus. Sie sah die Polizisten mit einem verständnislosen Blick an. Ihr Gesicht war verquollen. Die Unterlippe zitterte.

Krolls Tonfall war behutsam. »Frau Nieblum, wir wissen natürlich, dass das alles unheimlich schwer für Sie ist. Aber wir müssen unbedingt wissen, was in dieser Nacht geschehen ist. Sind Sie in der Lage, uns ein paar Fragen zu beantworten?«

Melanie Nieblum nickte. Ihre langen braunen Haare hingen wie ungeordnete Fäden herab. Sie suchte nach Worten. »Wir wollten doch nur Sylvester feiern, nur wir beide, ganz allein, keine große Party wie in den letzten Jahren.« Ihre Stimme versagte. Sie trank einen Schluck Wasser und räusperte sich. Dann schnaufte sie in ein frisches Taschentuch. »Wir haben die Übertragung aus Berlin geguckt. Um Mitternacht haben wir angestoßen. Es war so schön. Nur mit ihm. Er war so …« Ihre Stimme brach wieder ab. Wiggins machte sich Notizen. Die Polizisten warteten geduldig, bis Melanie in der Lage war, fortzufahren. »Wir wollten gerade nach oben gehen, als es an der Tür klingelte. Auch er hatte keine Ahnung, wer so spät noch zu uns wollte. Jochen hat mich ratlos angesehen, zumal wir ja allen erzählt hatten, dass wir in diesem Jahr alleine feiern wollten. Jochen ist dann an die Sprechanlage gegangen. Er kam zurück und sagte, dass noch jemand kommen würde. Er war alles andere als begeistert. Beruhigte mich aber mit den Worten, dass unser Gast mit Sicherheit nicht lange bleiben würde. Das Wort Gast sagte er in so einem komischen Tonfall. Er sagte, dass er gleich wiederkommen würde. Dann ist er hinausgegangen. Ich habe noch gehört, wie die Tür ins Schloss gefallen ist. Aber er kam nicht wieder. Nach ungefähr einer Viertelstunde bin ich dann raus. Und da habe ich ihn …«

Die Kommissare warteten wieder, bis Melanie Nieblum sich einigermaßen gefangen hatte. »Wann hat es denn an der Haustür geklingelt? Ich meine so ungefähr?«, fragte Wiggins.

»Das war ziemlich genau um halb eins. Ich habe noch auf die Uhr gesehen. Ich war erstaunt, dass überhaupt noch jemand kam. Da wollte ich wissen, wie spät es ist.«

»Und haben Sie eine Ahnung, wer da vor der Tür stand, oder zumindest einen Verdacht?«

Melanie Nieblum schüttelte den Kopf. Kroll und Wiggins sahen sich kurz an. »Frau Nieblum, wir haben erst mal keine Fragen mehr. Haben Sie vielen Dank. Sie sollten jetzt nicht alleine sein. Gibt es jemanden, der sich um Sie kümmert?«

Sie sah zu Boden. »Gleich kommt eine Freundin.«

»Er kannte seinen Mörder«, sagte Kroll, als sie wieder draußen standen. »Das macht die Sache bestimmt einfacher.«

»Jetzt müssen wir nur noch herausfinden, wer in der Silvesternacht um halb eins auf die Klingel gedrückt hat.«

Kroll schaute auf die Uhr. Es war schon fast vier. »Morgen um neun im Büro?«

»Ich liebe meinen Job«, stöhnte Wiggins.

JULI

Jochen Kramer setzte sich noch an die Theke, nachdem sein alter Kollege gegangen war. Es war schon halb zwei. Der Gastraum hatte sich inzwischen geleert. Stefan, der Inhaber des GONZALES, trocknete Gläser ab.

»Gibst du mir noch einen Tequila zum Abschluss? Dann zieh ich auch Leine, das verspreche ich dir.«

»Kein Problem«, beruhigte ihn Stefan und stellte das kleine Glas auf eine Serviette.

»Du sag mal, Stefan, da draußen, zwei Tische hinter uns, da saß eine junge Frau mit so einem Mann. Die hatten sich nicht viel zu sagen. Kennst du die?«

Stefan lachte mitleidig. »Ich versteh die nicht. Das ist die Cori, also Corinna. Die ist so ein liebes Mädchen. Total nett. Aber irgendwie klappt das bei der nie mit den Männern. Ich glaube, die kriegt jetzt so langsam Torschlusspanik. Ist viel in den ganzen Singlebörsen im Internet unterwegs. Das heute war bestimmt auch so ein Kunde. Ich habe den auf jeden Fall noch nie hier gesehen.«

Kramer stellte sein Glas ab. »Heute hat es garantiert auch nicht gefunkt. Sie ist ziemlich früh gegangen, und in ihrem Gesicht stand eher die Enttäuschung als die große Liebe. Machst du mir noch einen?«

Stefan holte die Flasche aus dem Regal und schenkte großzügig nach. »Sag ich doch. Irgendwie klappt das bei ihr nie. Kann einem wirklich leidtun. Aber ich kann ihr auch nicht helfen. Bin ja schon vergeben.«

»Was macht sie denn beruflich?«

»Grundschullehrerin in der Lessingschule. Drüben im Waldstraßenviertel.«

Der Professor nippte nachdenklich an seinem Glas. »Hobbies? Hat sie irgendwelche Hobbies?«

Stefan zuckte mit den Schultern. »Sie hat mal erzählt, dass sie einmal in der Woche zu irgend so einem Rumgehopse geht. Wie heißt das noch mal? Ach ja, Zumba.«

Stefan sah den Professor ungläubig an. »Warum interessierst du dich eigentlich so für die Kleine? Du hast doch zurzeit eine Lebensabschnittsgefährtin. Oder hat sich das auch schon wieder erledigt?«

»Nur so«, war die knappe Antwort.

Stefan legte das Handtuch beiseite und zapfte sich ein kleines Bier. »Falls du etwas mit ihr vorhast, lass es lieber. Sie ist nichts für so einen Draufgänger wie dich. Die ist total zerbrechlich. Ihr passt nicht zusammen, glaub es mir.«

Die letzte Bemerkung hatte das Interesse des Professors geweckt. »Wie meinst du das? Warum ist sie total zerbrechlich?«

Stefan zuckte mit den Schultern. »Die muss irgendwann mal etwas Schlimmes durchgemacht haben. Was, weiß ich aber nicht. Sie redet nicht drüber. Aber eine Freundin von ihr hat da mal so eine Andeutung gemacht.«

Der Professor lächelte kalt. Er hatte die richtige Person für sein Experiment ausgesucht. Jetzt war er sich ganz sicher.

JANUAR

Trotz der kurzen Nacht wurde Kroll schon um sieben Uhr wach. Gerade am Anfang eines neuen Falles waren die ersten Stunden und Tage von entscheidender Bedeutung. Er wollte keine wertvolle Zeit verlieren. Kroll sah zu Anja, die auf der Seite lag, das Gesicht von ihm abgewandt. Als er in der Nacht nach Hause gekommen war, hatte sie schon geschlafen. Er küsste sie auf ihre Haare und bewegte sich vorsichtig aus dem Bett, um sie nicht zu wecken. Als er sich gerade aufrichten wollte, schnellte ein Arm hervor und hielt ihn fest. »Nicht so schnell, mein Lieber! Jetzt ermittelst du erst mal, worauf deine liebe Freundin gerade Lust hat. Schließlich haben wir etwas nachzuholen.« Sie zog ihn unter ihre Bettdecke.

Gut, dass sie nicht mehr sauer ist, war Krolls erster Gedanke. Es sollte vorerst auch sein letzter bleiben. Die Leidenschaft ergriff seinen ganzen Körper.

Als Kroll ziemlich genau um neun Uhr morgens das Präsidium betrat, saß Wiggins schon beschäftigt am Schreibtisch. Kroll hängte seine Strickmütze und die dicke Jacke auf den Haken. Er atmete in die Handflächen. »Eine scheiß Kälte ist das. Wie sieht’s aus?«

Wiggins tippte auf der Tastatur seines Computers herum. »Na, Feiertag eben. Der Bericht der Spusi kommt erst morgen. Die KTU hat sich auch für frühestens morgen angekündigt. Nur Dr. Schmidt ist schon fleißig bei der Arbeit. Er obduziert gerade unseren Professor. Willst du runter gehen?«

Kroll schlürfte geräuschvoll einen Pott Kaffee. Er schüttelte den Kopf. »Nicht nötig. Ich brauch heute Morgen keine Leichen. Der Dok wird uns schon benachrichtigen, wenn es was Interessantes gibt.«

Wiggins ließ von der Tastatur ab und drehte sich zu Kroll. »Ich hab mich mal schlaugemacht, wie man mit so einer Armbrust umgeht. Das ist wirklich nicht ganz einfach. Ein bisschen Übung braucht man da schon. Und denk dran: Unser Täter hat mitten ins Herz getroffen. Und das vermutlich mit dem ersten Schuss. Wir suchen hier einen geübten Schützen.«

Kroll stellte die Kaffeetasse ab und sah seinen Kollegen erwartungsvoll an. »Und du hast doch sicher schon herausbekommen, welche Vereine in Leipzig Armbrustschießen anbieten.«

Wiggins überlegte angestrengt. »Es gibt eigentlich nur einen Verein. Die machen da gleichzeitig Bogenschießen und die Armbrust. Sie sitzen in Plagwitz. Rate mal, wie die heißen.«

»Robin Hood e.V.«, kam es wie aus der Pistole geschossen.

Wiggins war überrascht. »Wusstest du das oder hast du jetzt geraten?«

Kroll lächelte unschuldig. »Tut mir leid. Aber bei Bogenschießen fällt mir nur Robin Hood ein, und dann hört es schlagartig auf.«

»Ich habe bereits mit dem Vorsitzenden telefoniert.« Wiggins sah auf seine Notizen. »Ein gewisser Dieter Bernstein. Er ist jetzt gerade im Vereinsheim und hätte Zeit für uns.«

Das Vereinsgelände des Robin Hood e.V. in Plagwitz lag auf einem ehemaligen Garagenareal, wie es zu DDR-Zeiten häufig anzutreffen war. Ein großes rechteckiges Grundstück, die Längsseiten und eine Stirnseite waren mit Garagenreihen bebaut. Die ersten vier Einheiten auf der rechten Seite wurden als Vereinsheim genutzt, die übrigen dienten wohl als Geräteschuppen. Autos wurden dort nicht mehr untergestellt.

Die Polizisten betraten das Clubhaus durch eine nicht verschlossene Tür. Es war sofort erkennbar, dass der gesamte Innenraum von den Vereinsmitgliedern in Eigenbauweise errichtet worden war. Obwohl nicht alles perfekt war, strahlte das Herzstück des Vereinslebens doch eine gewisse Gemütlichkeit und sogar ein wenig Charme aus.

Dieter Bernstein saß an einem der Tische und füllte Unterlagen aus. Er war bereits über 70, machte jedoch einen rüstigen Eindruck. Als er die Polizisten sah, ging er ihnen entgegen und gab ihnen die Hand. Er war von kleiner, leicht untersetzter Statur und hatte weiße gescheitelte Haare.

Kroll beschloss, mit ein wenig Small Talk zu beginnen. Er sah sich um. »Nett haben Sie es hier. Wenn man sich die alten Garagen von außen anschaut, vermutet man gar nicht so ein gemütliches Vereinsheim. Das war doch bestimmt eine Menge Arbeit.«

Der Gedanke an die Mühen der Vergangenheit ließ den Präsidenten des Vereins noch einmal laut stöhnen. »Das können Sie ruhig laut sagen. Wir haben hier einen ganzen Sommer dran gearbeitet. Haben alles nach und nach erledigt. Aber es war schon ein gewaltiger Kraftakt. Zum Glück hatten wir viele helfende Hände.«

»Wie viele Mitglieder hat denn Ihr Verein?«, wollte Wiggins wissen.

»Wir haben genau 105 Mitglieder«, verkündete der Präsident nicht ohne Stolz. »Damit gehören wir nicht gerade zu den kleinsten Vereinen in Leipzig. Und jetzt kommt das Beste: 58 Mitglieder, das sind über 50 Prozent, sind Menschen mit Behinderung. Alles Rollstuhlfahrer. Wir sind das größte Integrationsmodell in der Stadt.«

»Alle Achtung«, nickte Kroll anerkennend. »Ist Bogenschießen bei behinderten Menschen so beliebt?«

»Das ist, glaube ich, der einzige Sport, bei dem sich behinderte mit nicht behinderten Sportlern auf Augenhöhe messen können. Ein Bogen oder eine Armbrust abzufeuern, ist für einen Menschen im Rollstuhl die gleiche Herausforderung wie für einen Fußgänger. Auch deshalb haben wir den Namen Robin Hood gewählt. Das hat auch eine soziale Komponente.«

Wiggins beschloss, zum Anlass ihres Besuches zu kommen. »Herr Bernstein, ich hatte Ihnen ja bereits am Telefon erzählt, dass in der letzten Nacht ein Mann mit einer Armbrust getötet wurde. Wir verstehen überhaupt nichts von derartigen Waffen. Sie können uns da bestimmt ein bisschen auf die Sprünge helfen.«

»Erst mal mache ich uns einen Tee. Den kann man bei diesem Wetter doch immer gut gebrauchen.« Er verschwand in einer kleinen Küche, die sich hinter der Theke befand.

Kroll und Wiggins nutzten seine Abwesenheit, um sich ein wenig umzusehen. An den Wänden hingen zahlreiche Fotos von den einzelnen Mannschaften und verschiedenen Siegerehrungen. Auf den Fensterbänken und in der extra angefertigten Vitrine standen unzählige Pokale. Neben der Vitrine hing ein Foto, auf dem Leipzigs Oberbürgermeister Dieter Bernstein freudig in die Kamera lächelnd einen Scheck über 200 Euro überreichte. Nicht gerade eine üppige Summe für so eine reiche Stadt wie Leipzig, aber es war ja wirklich kein Geheimnis, dass sich die Stadtverwaltung nicht ernsthaft für den lokalen Sport interessierte. Vermutlich war dies eine Anerkennung für die Integration der behinderten Sportler.

Der Präsident kam mit einem Tablett zurück, auf dem sich drei große Teetassen befanden. Er stellte sie auf einem Tisch ab und setzte sich mit einer einladenden Geste hin. »Was wollen sie denn von mir wissen?«

»Alles«, lächelte Kroll. »Fangen wir einmal vorne an: Was gibt es denn für verschiedene Modelle von Armbrüsten, und aus welcher Entfernung kann man damit schießen?«

»Oh je!«, stöhnte Bernstein. »Gehen sie doch mal nur so zum Spaß ins Internet. Von Modellen werden sie da quasi erschlagen. Aber ich versuche, die Sache einmal einzugrenzen. Wir im Verein schießen hier aus 10, 30, 50 und 70 Metern Entfernung. Aus der Zehnmeterdistanz wird auf die gleichen Zielscheiben geschossen, wie man sie auch beim Luftgewehrschießen verwendet. Das sind also ziemlich kleine und leichte Pfeile. Ich kann mir nicht vorstellen, dass man mit diesen Dingern jemanden umbringen kann.«

Kroll legte eine durchsichtige Plastiktüte auf den Tisch, in der sich der Pfeil befand, den man aus Professor Kramers Körper entfernt hatte. »Wir suchen eher so etwas hier.«

Bernstein betrachtet das Corpus Delicti aufmerksam. »Das ist schon etwas Größeres. Damit schießt man bei Wettkämpfen von 30 aufwärts. Wir haben dann die gleichen Zielscheiben wie die Bogenschützen.«

»Lässt sich der Pfeil einem bestimmten Modell zuordnen?«, wollte Wiggins wissen.