Weiße Mäuse - Andreas Stammkötter - E-Book

Weiße Mäuse E-Book

Andreas Stammkötter

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Beschreibung

Als der beliebte Cheftierarzt des Leipziger Zoos, Dr. Hans Hasenhaus, mit seinem Sportflugzeug bei Garmisch-Partenkirchen abstürzt, steht Leipzig unter Schock. Die Kommissare Kroll und Wiggins glauben nicht an einen Unfall. Als sie im Wrack Spuren von Sprengstoff entdecken, haben sie Gewissheit. Doch was hat es mit der goldenen Münze auf sich, die in den Trümmern gefunden wurde? Die Ermittlungen bringen den tadellosen Ruf des Tierarztes ins Wanken, wobei possierliche Nager eine Hauptrolle spielen …

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Andreas Stammkötter

Weiße Mäuse

Kriminalroman

Zum Buch

Tierisch kriminell Als der beliebte Cheftierarzt des Leipziger Zoos, Dr. Hans Hasenhaus, mit seinem Sportflugzeug in der Nähe von Garmisch-Partenkirchen abstürzt, steht Leipzig unter Schock. Warum ist er bei diesem Wetter überhaupt gestartet? Die Kommissare Kroll und Wiggins glauben nicht an einen Unfall. Als sie im Wrack der Maschine Spuren von Sprengstoff entdecken, haben sie Gewissheit. Aber was hat es mit der goldenen Münze auf sich, welche die Kommissare in den Trümmern des Flugzeugs finden? Die Ermittlungen bringen den tadellosen Ruf des Tierarztes ins Wanken, denn Kroll und Wiggens finden heraus, dass eine wertvolle Münzsammlung aus dem Stadtgeschichtlichen Museum verschwunden ist. Hatte der Tierarzt etwas mit dem Diebstahl zu tun? Welche Rolle spielt ein fragwürdiges Kosmetikunternehmen, für das Dr. Hasenhaus nebenbei gearbeitet hat? Und warum versucht ein kleiner Flugfreundeverein, die Ermittlungen zu behindern? Die Kommissare stehen vor vielen Rätseln, wobei possierliche Nager eine Hauptrolle spielen …

Dr. Andreas Stammkötter, Jahrgang 1962, lebt als Rechtsanwalt in Leipzig. Er war dort viele Jahre Dozent an der Fachschule für Bauwesen und ist Autor zahlreicher Fachveröffentlichungen. »Weiße Mäuse« ist Stammkötters fünfter Leipzig-Krimi im Gmeiner-Verlag.

 

Bisherige Veröffentlichungen im Gmeiner-Verlag:

Predigerblut (2016)

Totgetrieben (2015)

Goldkehlchen (2013)

Messewalzer (2011)

Impressum

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Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage 2019

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung: Julia Franze

E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © Frank Vincentz

https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Leipzig_-_Zoo_-_Gründer-Garten_-_Kongresshalle_(Parkhaus)_01_ies.jpg

Druck: CPI books GmbH, Leck

Printed in Germany

ISBN 978-3-8392-6000-5

Haftungsausschluss

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Sonntagnacht

Die Piper PA-32R war eigentlich solide gebaut und konnte einen Flug vom kleinen Böhlen bei Leipzig nach Turin problemlos schaffen. Das galt aber nur bei schönem Wetter.

Gemeinsam mit dem erfahrenen Piloten, einem 76 Jahre alten Fluglehrer, der seinen Beruf immer noch zuverlässig ausübte, studierte er die Wetterinformationen, die ihnen das Internet zur Verfügung stellte. Die Stirn des Fluglehrers legte sich in Falten. »Die Wetterlage gefällt mir überhaupt nicht.« Er zeigte mit dem Finger auf das Alpenvorland, die Region um Garmisch-Partenkirchen. »Die Stratokumulus-Schicht bereitet mir große Sorgen. Unsere alte Piper hat kein Vereisungssystem. Die Sache wird zu gefährlich.«

Er trommelte ungeduldig mit dem Fuß auf den Boden. Er musste fliegen. Der Termin in Turin war unaufschiebbar und ein Linienflug war keine Alternative. Mit seinem speziellen Gepäck würde er keine Flughafenkontrolle überstehen. Das war auch der Grund, warum sie in Böhlen starten wollten. Ein kleiner Flughafen, nur für Sportflugzeuge, keine Kontrollen, keine Polizei und kein Zoll. Auch die Ankunft in Turin würde keine Schwierigkeiten bereiten. Dort hatten sie sich gleichfalls für einen kleinen Flughafen entschieden. Ein Flug unter diesen Bedingungen war, was Grenzüberschreitungen anging, mit einer Autofahrt zu vergleichen. Keinerlei Kontrollen. Ein Hoch auf die EU.

Seine Stimme wurde lauter. »Wir müssen fliegen! Du weißt genau, dass wir unser Treffen in Turin nicht verschieben können. Komm schon, du fliegst jetzt über 50 Jahre. Da macht man sich doch wegen ein paar Wolken nicht in die Hose.«

Der Pilot starrte immer noch auf den Bildschirm seines Laptops. Seine Sorgenfalten waren nicht weniger geworden. »Ich rede hier nicht von ein paar Wolken. Was wir hier haben, ist die klassische Icing-Situation. Wenn wir auch nur eine Sekunde zu lang in dieser Schicht bleiben, fallen wir vom Himmel wie eine totgeschossene Ente.«

»Dann fliegen wir eben drüber. Das kriegst du doch locker hin, oder?«

Dem Piloten war alles andere als wohl in seiner Haut. Wenn sich die Wolkenschicht vergrößern würde, waren sie verloren. Er musste darauf hoffen, dass sich die Wetterlage zumindest nicht verschlimmerte. Dann könnten sie die gefährliche Schicht mit ein bisschen Glück überfliegen. Aber eigentlich hatte er keine Alternative. Sein Passagier zahlte gut und er brauchte das Geld. Wenn der Termin platzen würde, wäre auch das schöne Geld futsch gewesen.

Er stöhnte laut. »Also gut, fliegen wir los.«

Die Flugverkehrskontrolle in München traute ihren Augen nicht, als sie die Piper im Voralpenland auf dem Radar entdeckte. Die Maschine identifizierte sich über die Frequenz 120.175. Im Kontrollturm hörten sie nur ein Wort: »Icing«.

Die Piper PA-32R verlor rapide an Höhe. Weitere Funksprüche kamen nicht mehr zustande. Die Maschine schlug im Voralpengebiet auf. Die beiden Insassen fanden den Tod.

Montagmorgen

Die Nachricht vom Tode des Tierarztes Dr. Hans Hasenhaus hatte sich in Leipzig in Windeseile herumgesprochen. In den Radiosendungen und den Internetzeitschriften gab es kein anderes Thema. Dr. Hasenhaus war der leitende Tierarzt des Leipziger Zoos. Er hatte zahlreiche Tierbabys medienwirksam zur Welt gebracht: den berühmten Elefanten Voi Nam, zahlreiche süße Tiger- und Löwenbabys und vor allem den tollpatschigen Eisbären Robert. Auch sorgten viele Berichte mit dem schielenden Opossum Heidi für eine enorme Medienpräsenz. Jeder Leipziger kannte Dr. Hasenhaus. Die Anteilnahme war groß. Vor dem Leipziger Zoo wurden Kerzen aufgestellt, in den einschlägigen Internetforen überschlugen sich die Nachrichten und Kommentare.

Die Leipziger Hauptkommissare Kroll und Wiggins saßen in ihrem Büro im Präsidium. Auch sie konnten sich den aktuellen Ereignissen nicht entziehen. Schon meldeten sich die ersten Experten und versuchten, die genauen Umstände des Unglücks zu erklären. Kroll erinnerte dies an den medialen Auftrieb nach der German-Wings-Katastrophe. Auch damals hatten alle Experten sofort eine plausible Erklärung parat, bis hin zu einem Abschuss durch die Russen, und als sich endlich herausgestellt hatte, dass ein depressiver Pilot sich selbst und die anderen Flugzeuginsassen absichtlich in den Tod gerissen hatte, stellte sich heraus, dass ausnahmslos alle Experten falschgelegen hatten. Würden die Menschen nie schlauer werden?

Sie wurden aus ihren Gedanken gerissen, als die Tür aufflog und Staatsanwalt Reis hereinstürmte. Zeit für eine Begrüßung war offensichtlich genauso wenig vorhanden wie für ein Anklopfen. Nichts Neues im Präsidium.

»Ihr müsst sofort zur Absturzstelle.« Reis knallte eine Karte auf Krolls Schreibtisch. Mit einem roten Filzstift war die Stelle, an der das Flugzeug, oder besser gesagt das, was noch davon übrig geblieben war, lag, unübersehbar markiert. Der Staatsanwalt legte seinen wurstigen Zeigefinger auf die markierte Stelle. »Es ist hier. Wir dürfen keine Zeit verlieren. Am Flughafen wartet ein gecharterter Privatjet auf euch. Er bringt euch nach München und von da aus geht es mit dem Dienstwagen der bayerischen Kollegen gleich ab zur Unfallstelle. Los, beeilt euch!«

Kroll und Wiggins sahen sich ratlos an. Sie verstanden nur Bahnhof. Sie waren beide seit fast 20 Jahren im Dienst, aber dass ihnen ein Privatjet hingestellt wurde, hatten sie noch nie erlebt. Eher das Gegenteil: Die Staatsmacht sparte, wo sie nur konnte. Die Wahrscheinlichkeit mit dem Fahrrad nach München geschickt zu werden war größer, als auch nur eine halbwegs realistische Fahrtkostenabrechnung durchzubekommen. Und jetzt: ein Privatjet.

Kroll versuchte seine Gedanken zu ordnen. »Gibt es denn überhaupt schon Anhaltspunkte für ein Verbrechen?«

Die Antwort des Staatsanwaltes war knapp. »Es liegt ein unnatürlicher Tod vor, das reicht, um Ermittlungen aufzunehmen.«

Natürlich hatte der Staatsanwalt recht, aber das rechtfertigte noch nicht diesen immensen Aufwand. Schließlich gab es ja auch in Bayern Polizisten.

»Und der Privatjet? Den kriegen wir jetzt wohl immer?«, fragte Kroll.

Der Staatsanwalt sah ein, dass es wohl einfacher war, seinen Polizisten die Umstände der Ermittlungsarbeit genauer zu erklären. »Dieser Fall wird die Medien wochen- oder sogar monatelang beschäftigen. Ihr wisst doch auch, dass die sächsische Justiz sich in der letzten Zeit nicht immer mit Ruhm bekleckert hat. NSU, al-Bakr und so weiter. Der Justizminister hat mich persönlich angerufen und mir klargemacht, dass man sich keinen weiteren Skandal mehr leisten könne. Ich solle meine besten Männer runterschicken und zwar sofort. Man will nicht warten, bis ihr nach sechs Stunden Autofahrt angekommen seid. Deshalb der Flieger. Er hat sogar schon mit seinem bayerischen Amts- und Parteikollegen gesprochen. Die Kollegen warten an der Unglücksstelle auf euch. Nicht einmal die Leichen werden abtransportiert, bevor ihr die gesehen habt.«

»Aber was sollen wir denn da? Wir haben doch keine Ahnung von Flugzeugabstürzen. Wir sehen doch nur einen Haufen Schrott, mit dem wir nichts anfangen können«, wandte Wiggins ein.

»Die Experten sind natürlich auch vor Ort.« Der Staatsanwalt machte eine kleine Pause und holte tief Luft. Er versuchte sich und seine Beamten ein wenig zu beruhigen. »Ich muss zugeben, dass es in dieser Sache ein paar Dinge gibt, die wirklich nicht zusammenpassen oder zumindest ein paar Fragen aufwerfen, die unbedingt beantwortet werden müssen. Insoweit kann ich die Vorsicht der Politik schon ein bisschen nachvollziehen.«

»Als da wären?«, fragte Kroll.

»Kurz vor dem Absturz hat die Maschine Icing, also Vereisung, gefunkt. Am Steuer saß ein erfahrener Pilot, der über 50 Jahre Flugerfahrung besaß. Die Piper hatte kein Enteisungssystem. Bei dieser Wetterlage war es schon fast Selbstmord, in diese Region zu fliegen. Warum haben die das gemacht? Die Maschine war in den USA zugelassen. Was hat das zu bedeuten? Und vor allem: Warum hat sich Dr. Hasenhaus nicht einfach in einen normalen Flieger gesetzt. Das wäre billiger und sicherer gewesen. Er wollte in Turin angeblich ein Tierbaby untersuchen. Warum dieser enorme Aufwand? Dafür braucht man keinen Privatflieger. Was hatte er zu verbergen?«

So langsam verstanden Kroll und Wiggins, warum diese Angelegenheit aus Sicht der Politik von so großer Bedeutung war. Hasenhaus war der leitende Tierarzt des Leipziger Zoos. Er war bekannt für sein eher bescheidenes Familienleben. Bislang hatte er ein Flugzeug sicherlich nur für Urlaubs- und Dienstreisen benutzt. Und jetzt das – wirklich ungewöhnlich.

Montagmittag

Die dunkle Mercedes M-Klasse mit Allradantrieb erwartete die Polizisten gleich auf dem Rollfeld. Die Auswahl des Fahrzeuges ließ darauf schließen, dass das Wrack in einer nur schwer zugänglichen Gegend lag. Sie fuhren gut eine Stunde über die Autobahn, dann noch ein kleines Stück Landstraße, um schließlich in einen Waldweg abzubiegen. Die Gegend war schon von den naheliegenden Alpen geprägt. Es ging ständig bergauf und bergab, überall waren Felsen und Felswände, der Wald war dicht und dunkel. Der Wagen meisterte die Anforderungen, die das Gelände an ihn stellte, mit Bravour. Der Fahrer hatte Erfahrung, das war nicht zu übersehen.

Die Absturzstelle befand sich in einer großen Lichtung, die vom grellen Licht der Mittagssonne durchflutet wurde. Das Wrack der Piper war nicht mehr als Flugzeug zu erkennen. Es war vollständig in sich zusammengestaucht, lediglich das noch einigermaßen intakte Heck und eine Tragfläche, die in 300 Metern Entfernung lag, ließen vermuten, dass der Schrotthaufen einmal ein intaktes Fluggerät war. Die Leichen lagen in 15 Metern Entfernung zum Flugzeug auf dem Boden. Sie waren mit einem Tuch bedeckt.

Ein groß gewachsener, beleibter Mann und mit mächtigem Schnäuzer, kam den Kommissaren mit ausgestreckter Hand entgegen. »Grüß Gott. Ihr seids wohl die Kollegen aus Leipzig. Ich bin der Pahlhuber, Alois.«

Kroll und Wiggins stellten sich vor, was der Kollege aus dem einzig wahren Freistaat jedoch nur beiläufig zur Kenntnis nahm. Kroll hätte schwören können, dass der Kollege ihre Namen schon wieder vergessen hatte.

»Könnts ihr euch als Erstes scho ma die Leichen anschaun? Der Doktor will die mitnehmen. Die müssen jetzt langsam untersucht und vor allem gekühlt werden.«

Kroll nickte.

Pahlhuber ging strammen Schrittes voran. Als er die toten Körper erreicht hatte, zog er das Tuch mit blanken Händen nach vorne, sodass der Schädel der vorderen Person frei lag. Der Anblick war fürchterlich: Die rechte Schädelhälfte war weggeplatzt. Das Gehirn war aus der linken Hälfte herausgelaufen und verteilte sich auf dem Boden. In der linken Schädelhälfte steckten Glassplitter, Metallteile und Dreck. Das Auge fehlte. »Des is der Viecharzt«, bemerkte er emotionslos, so als hätte er gerade eine Postkarte gezeigt. Er zog das Tuch wieder über die Leiche von Dr. Hasenhaus und legte den Schädel des Piloten frei. Sein Kopf war noch vollständig erhalten, an der linken Seite befand sich eine große Platzwunde mit Fraktur der Stirnpartie. Die schräge Kopfhaltung ließ vermuten, dass das Genick gebrochen war.

Kroll nickte und Pahlhuber zog das Tuch wieder über die Leiche. Die sterblichen Überreste wurden in Transportsärge gelegt und in die bereitstehenden Leichenwagen geschoben. Kroll sah sich um. Zahlreiche Mitarbeiter, er schätzte etwa 20, waren damit beschäftigt, Spuren zu sammeln und zu sichern.

»Habt ihr schon etwas Auffälliges gefunden?«, fragte Kroll seinen Kollegen.

»Für mi is der Fall eh klar. Der hat unser Wetter unterschätzt. Is ja nich der erste Fliaga, dens hier in de Gegend dabazt hat. Immer des Gleiche. Die Preußen trauen sich zu viel zu.«

Wiggins ignorierte das Desinteresse des Kollegen. »Habt ihr irgendetwas gefunden, was einen Gewissen Wert hätte? Größere Geldmengen, Schmuck, Gold oder so etwas Ähnliches?«

»Nix.«

»Zeig mir doch bitte einmal das Gepäck.«

Pahlhuber musste nicht lange suchen. In unmittelbarer Nähe der Leichen lagen ein Pilotenkoffer und zwei Reisetaschen. »I hab mi schon alles angschaut. Nichts Ungewöhnlichs. In dem Pilotenkoffer sind nur Kardn. In de Tasch Woäsche für einen Tag und Waschzeig.«

Kroll und Wiggins zogen sich Latexhandschuhe an und untersuchten den Inhalt des Koffers und der Taschen. Die Angaben des Kollegen schienen zu stimmen. Etwas Außergewöhnliches fanden sie zumindest nicht.

»Bringt ihr die Sachen nach Leipzig?«, fragte Kroll schon eher bestimmend.

Pahlhuber zuckte mit den Achseln. »Freili.«

Die Leipziger Kommissare sahen sich das Wrack näher an. Sie konnten nichts Auffälliges entdecken. Etwas anderes hatten sie auch nicht erwartet, sie waren eben keine Experten für Flugzeugunfälle.

Kroll und Wiggins sahen sich ratlos an. Es war genau die Situation eingetreten, die sie vorausgesehen hatten. Was sollten sie hier? Sie waren zu nichtinformierten Handlangern der Politik geworden. Morgen würde in der Zeitung stehen, dass die sächsische Justiz ihre erfahrensten Spezialisten sofort zur Absturzstelle geschickt hatte, um die Umstände des Unglücks restlos aufzuklären und um auch nur dem leisesten Verdacht einer Straftat nachzugehen. Aber so war das nun einmal. Sie waren Beamte, also Staatsdiener. Noch nie waren sie sich dieser Funktion so ungefiltert bewusst geworden.

»Schauen wir uns einmal in der Gegend um«, schlug Kroll vor. »Vielleicht entdecken wir ja etwas Ungewöhnliches.«

Wiggins hatte wenig Hoffnung, aber er hatte auch das dringende Bedürfnis, ihr teures Dasein irgendwie zu rechtfertigen. Außerdem mussten sie noch einen Bericht schreiben, der sicherlich auch von den höchsten politischen Würdenträgern gelesen werden würde. Und da machte es sich einfach gut, wenn sie wenigstens ein bisschen sinnvolle Arbeit vortäuschen würden.

Sie sahen sich um. Sie standen in der weiten Lichtung. Das Wrack lag in der Mitte der großen unbewaldeten Fläche. Es machte keinen Sinn, Untersuchungen im Waldgebiet anzustellen. Das Gelände war wegen des dichten Bewuchses mit Bäumen und Sträuchern derart unzugänglich, das dort mit Sicherheit keine Spuren zu erwarten waren. Die hügelige Landschaft tat ihr Übriges. Sie entschieden sich dazu, in immer größer werdenden Kreisen um das Flugzeug herumzugehen. Eher gelangweilt nahmen sie ihren spiralförmigen Weg auf. Sie redeten über Belanglosigkeiten, um ihren Frust zu überspielen. Die Polizisten waren aber Profi genug, um den konzentrierten Blick auf den Boden nicht zu verlieren. Schritt für Schritt. Runde für Runde. Die bayerischen Kollegen würden sich bestimmt schon über sie lustig machen. Zwei sächsische Polizisten drehen sinnlose Runden, um ein offensichtlich verunglücktes Flugzeug zum Anlass zu nehmen, den Solidaritätszuschlag zu rechtfertigen, mit dem die Bayern gefühlt alleine die ehemalige DDR finanzierten. »Die gnießen die guade bayerische Luft, bevor sie wieder diesen Braunkohle­nebel einatmen müssen«, glaubte Wiggins gehört zu haben.

Plötzlich hielt Wiggins an und fasste Kroll an den Arm. »Was ist das denn?« Er zeigte seinem Kollegen zwei Abdrücke, die sich tief in die Erde gedrückt hatten. Im Boden sahen sie zwei Vertiefungen, von ungefähr fünf Metern Länge. Deren Breite war circa 30 Zentimeter, der Abstand so um die zwei Meter. Die Kanten der Eindrücke waren scharf. Dies war ein sicheres Zeichen dafür, dass die Vertiefungen noch nicht alt sein konnten. Es waren Abdrücke in einem unbefestigten Boden. Der Wind und der Regen hätten das Gelände in kurzer Zeit wieder eingeebnet.

»Was ist das?«, fragte Wiggins.

Kroll musste nicht lange überlegen. Er kannte sich mit sämtlichen Fortbewegungsmitteln seines Arbeitgebers zu Land, zu Wasser und in der Luft bestens aus. »Hier ist ein Hubschrauber gelandet, und das ist noch gar nicht so lange her.«

»Scheint so, als würde unser Einsatz hier auf einmal einen Sinn bekommen«, bemerkte Wiggins in einer Mischung aus Zufriedenheit, Anspannung und Ironie.

Kroll nahm die Bemerkung seines Kollegen nur unbewusst wahr. »Hier sind Schuhabdrücke. Vermutlich von Springerstiefeln.«

Jetzt, als sie wussten, wonach sie suchen mussten, ergab sich ein klares Bild. Es waren deutliche Schuh­abdrücke neben dem Abdruck der rechten Kufe zu erkennen. Mehr nicht.

»Eine Person ist aus dem Hubschrauber gesprungen. Die Wucht des Aufpralls hat die Erde eingedrückt. Dann ist er bestimmt in Richtung der Piper gelaufen. Da finden wir jetzt keine Abrücke mehr. Dafür ist der Boden zu hart.«

Sie eilten zu Pahlhuber und bestanden darauf, dass in der Umgebung der Landestelle des Hubschraubers sämtliche Spuren untersucht und sichergestellt werden. Kroll verlangte, dass Leichen- und Drogenspürhunde eingesetzt werden. Den zaghaften Widerspruch des bayerischen Kollegen würgte Kroll mit dem Hinweis ab, dass er die Ermittlungen leite, und dass die Sache politisch hochbrisant sei.

»Schleichts euch!«, waren seine letzten Worte, und Kroll überlegte kurz, ob er sich in dieser Fremdsprache richtig ausgedrückt hatte. Wahrscheinlich nicht. Sie machten sich mit einer kurzen, höflichen Verabschiedung wieder auf den Weg nach Leipzig.

Montagabend

Der SUV brachte die Kommissare nicht zum Flughafen zurück, sondern zum Hauptbahnhof in München. Die Justiz hatte wieder in den alten Sparmodus zurückgeschaltet. Kein Wunder. Kroll und Wiggins war das letztendlich egal.

Kroll holte vier kalte Bier aus dem Speisewagen. Es sollten nicht die letzten bleiben. Ermittlungen in Bayern machten durstig.

Wiggins kramte in seinen Gedanken herum. »Reis hat recht. Es gibt zu viele Fragezeichen. Warum fliegt ein so erfahrener Pilot bei so einer beschissenen Wetterlage mit so einem Schrottflieger überhaupt los? Und jetzt wissen wir noch, dass neben dem Wrack ein Hubschrauber gelandet ist. Wie passt das zusammen?«

Kroll stellte die leere Bierflasche auf den Tisch des Großraumwaggons und schob sie in Richtung des Fensters. »Der Pilot hat Icing gefunkt. Der Hubschrauber wird die Piper wohl kaum mit Eiswürfeln beworfen haben.«

»Das ist es ja gerade, was mir zu denken gibt. Alles ist mysteriös und verdächtig, aber der Funkspruch ist eindeutig. Wie die Fälle, in denen es einen Abschiedsbrief gibt, aber trotzdem alles für einen Mord spricht.«

»Gutes Beispiel«, bestätigte Kroll und öffnete die zweite Flasche Bier.

Sie kamen spät in Leipzig an. Weil sie noch nicht müde waren, beschlossen sie, noch einen Absacker in der Münzbar zu trinken. Die Münzbar war eine gemütliche Fußballkneipe, in der sie die Spiele schauten, die nicht im frei empfangbaren Fernsehen übertragen wurden. Hier waren sie seit vielen Jahren Stammgäste, kannten dort viele Leute und gingen deshalb auch dorthin, wenn kein Fußballspiel übertragen wurde. Matthias, der Kellner war unermüdlich. Die Bar war seine Passion. Auch wenn zu später Stunde nicht viele Gäste da waren, machte er keine Anstalten den Laden zu schließen. »Bei mir wird Service großgeschrieben«, war sein berufliches Glaubensbekenntnis, und, ich kann auch nicht verstehen, warum man Deutschland als Dienstleistungswüste bezeichnet. Matthias war ein ehemaliger Fußballprofi, er hatte über 200 Bundesligaspiele für Carl Zeiss Jena absolviert, und war deshalb auch für die vielen Gäste, die sich nicht so gut im Fußball auskannten, ein gefragter Gesprächspartner. Natürlich sah man ihm an, dass er keinen Sport mehr trieb. Sein Hemd spannte über dem Gürtel und die Haare hatten sich scharenweise dazu entschlossen, das warme Nest der Kopfhaut zu verlassen. Aber auf Frauen hatte er immer noch eine gewisse Anziehungskraft, wenn auch nicht mehr bei den ganz so jungen.

Als Kroll und Wiggins die Münzbar betraten, erkannten sie ein vertrautes Gesicht. An der langen Theke saß Günther Hirte, der Lokalchef des »Leipziger Tageblattes«. Auch er war ein ehemaliger Fußballprofi in der Zweiten Liga bei Mainz 05, der es geschafft hatte, die Karriere nach der Karriere erfolgreich zu gestalten. Er zeichnete sich aus durch einen kompetenten und humorvollen Schreibstil, ein erstaunliches Netzwerk und, was für die Kommissare wichtig war, ein unglaubliches Recherchetalent.

Der Reporter stellte das dar, was man landläufig mit »berufsjugendlich« bezeichnen würde: löchrige Jeans, Sportstudiobody, Solariumsbräune und lange blonde Harre, die er meistens zu einem Pferdeschwanz gebunden hatte.

Kroll und Wiggins kannten ihn schon lange und hatten sich mit ihm angefreundet. Die Zusammenarbeit mit ihm hatte schon häufig Früchte getragen. Es war ein Geben und Nehmen. Informationen gegen Informationen. Natürlich mussten die Polizisten aufpassen, dass sie keine brisanten Informationen an die Presse durchsteckten, aber auf Günther war Verlass.

Als er die Kommissare erkannte, bestellte er drei Zacapa Rum. Die Polizisten setzten sich zu ihm.

Günther kam gleich zum Thema. Er wirkte niedergeschlagen. »Das mit dem Dr. Hasenhaus hat mich richtig mitgenommen. Ich habe ihn vor vielen Jahren dienstlich kennengelernt, und daraus hat sich eine richtig gute Freundschaft entwickelt. Er war ein feiner Kumpel.« Er nippte nachdenklich an seinem Glas. »Warum musste er sterben? Könnt ihr mir das erklären?«

Kroll zuckte mit den Schultern. »Das müssen wir noch rauskriegen. Wir sind ja erst seit heute Morgen an dem Fall dran. Die Frage ist natürlich, warum ist er bei diesem Scheißwetter überhaupt mit dieser Piper losgeflogen. Sein Pilot war sehr erfahren, unsere Experten sagen, das war ein Harakiri-Flug.«

Hirte leerte sein Glas und bestellte einen neuen Zapaca. Seine ihm stets eigene Spontanität schien verschwunden. Er war mit seinen Gedanken bei seinem toten Freund. Er starrte einfach in den Raum. »Kennt ihr seine Tochter Sabi, also Sabine?«

Kroll und Wiggins schüttelten mit dem Kopf. Günther wollte weitererzählen, und sie wollten ihn nicht unterbrechen.

»Sie war sein Ein und Alles. Sein Leben. Er hätte beide Augen für sie hergegeben, wenn es ihr geholfen hätte.«

»Brauchte sie Hilfe?«, hakte Kroll in leisem Ton nach.

Hirte lachte kurz und freudlos. »Das klingt jetzt harmlos, ist es aber nicht. Sabi hat eine Hausstaub­allergie.« Er rieb sich die Augen, wischte wohl eine Träne weg. »Das war so schlimm – der Horror! Ihre Haut schälte sich ständig ab, die Allergie schlug auf die Atemwege, sie bekam kaum noch Luft. Erstickungsängste. Irgendwann hat sie es nicht mehr ertragen und sich die Pulsadern aufgeschlitzt. Nicht amateurhaft, quer, wie im Fernsehen, sondern professionell.« Sein Zeigefinger der rechten Hand fuhr langsam von der Handwurzel der linken Hand nach unten. »Der Doc hat sie zufällig gefunden und sie dann wieder zusammengenäht. Wäre Hans zwei Minuten später gekommen, wäre sie gestorben, aus eigener Hand.«

Hirtes Blick war immer noch starr in den Raum gerichtet. Er leerte das Rumglas und gab Matthias ein Zeichen. »Hans hat den Anblick des Blutes und seiner halbtoten Tochter nie überwunden. Er musste sich in psychiatrische Behandlung begeben. Schlaflosigkeit, Angstzustände und so weiter. Aber bei Sabi war es nicht nur die Allergie. Zwei Tage vor ihrem Suizidversuch hat sie ihren Mann verloren, und wisst ihr wodurch?«

Kroll und Wiggins sahen den Reporter nur interessiert an.

»Durch einen Flugzeugabsturz mit einem Sportflugzeug, genauso wie Hans. Es war so eine beschissene Zeit, für alle, aber natürlich in erster Linie für Sabi. Ich glaube, der Hans hat gespürt, dass sie sich etwas antun will. Deshalb ist er auch noch mal dahin. Wahrscheinlich war es dann doch kein Zufall, sondern so etwas wie väterliche Eingebung.«

Die Kommissare trauten ihren Ohren nicht. Das war unglaublich. Dr. Hasenhaus und sein Schwiegersohn waren beide durch einen Flugzeugabsturz ums Leben gekommen. War das Zufall? Auf jeden Fall mussten sie der Sache nachgehen.

»Wie ging es dann weiter?«, wandte sich Kroll wieder an Günther Hirte.

»Sie mussten etwas verändern. Sabi hat dann eine Behandlung in Davos begonnen. Hausstaubmilben können in der Höhe nicht überleben. Dazu kommen noch die gute Bergluft und tolle Ärzte. Sabi hat sich gut erholt, körperlich und ich glaube auch psychisch. Sie wohnt immer noch in Davos. Inzwischen kann sie sogar wieder arbeiten. Sie jobbt im Hotel Seehof in der Verwaltung. Teurer Fünf-Sterne-Kasten. Alles vom Feinsten. Ich habe sie dort schon ein paar Mal besucht. Zum Glück hat sie mir einen Sonderpreis gemacht. Sonst könnte ich kleiner Journalist mir das gar nicht leisten. Wie sagt man so schön: Da wo’s teuer ist.«

Hirte schlug beide Hände vor das Gesicht. »Mein Gott. Und jetzt ihr Vater! Das wird sie nicht wegstecken. Hoffentlich ist jemand bei ihr, der versucht, sie aufzufangen.«

Dienstagmorgen

Sie trafen sich um acht Uhr im Büro des Staatsanwaltes und brachten ihn auf den neuesten Stand, einschließlich der Neuigkeiten, die sie von Günther Hirte erfahren hatten.

Staatsanwalt Reis war nachdenklich. Er überlegte lange. »Das sind mir zu viele offene Fragen. Und jetzt noch der Hubschrauber und der Absturz des Schwiegersohnes. Sieht nach einer Menge Arbeit aus. Was wollte der Hubschrauber an der Unfallstelle?«

Wiggins schaute von seinen Notizen auf. »Wir können erst einmal davon ausgehen, dass der Pilot unauffällig war. Das heißt, die Lösung liegt bei Dr. Hasenhaus.«

»Wir haben immer noch dieses Icing«, gab Kroll zu bedenken. »Wann sind die Untersuchungen des Wracks abgeschlossen?«

»Das kann Tage dauern«, stöhnte der Staatsanwalt. »Wahrscheinlich noch länger. Allein bis die alle relevanten Teile des Fliegers gesammelt und zur Untersuchung nach München gebracht haben, sind schon die ersten zwei Tage vergangen. Ich versuche natürlich mit den bayerischen Kollegen die Sache zu beschleunigen. Aber hexen können die auch nicht.«

Staatsanwalt Reis war entschlossen. »Wir richten eine Soko ein. Wie viele Leute braucht ihr?«

Kroll überlegte nur kurz. »Einen für die Untersuchung im Umfeld des Schwiegersohnes und drei für die allgemeinen Recherchen. Nehmen wir noch einen Mitarbeiter für Unvorhergesehenes dazu. Fünf sollten erst einmal reichen. Um Hasenhaus und sein näheres Umfeld kümmern sich Wiggins und ich.«

»Geht klar.« Der Blick des Staatsanwaltes war wehmütig. »Ihr wisst, wo ihr jetzt hinmüsst?«

Die Kommissare nickten.

Silke Hasenhaus, die Frau des Tierarztes, wohnte in der Menckestraße im Leipziger Stadtteil Gohlis, unweit des Zoos. Der Stadtteil Gohlis war bei den Leipzigern als Wohnviertel sehr beliebt, den Spruch »Wenn’s dir wohl is, zieh nach Gohlis« kannte in Leipzig jeder. Dieser Spruch stammte eigentlich aus dem Mittelalter, in dem es in Leipzig wohl sehr gestunken haben muss und sich viele Menschen in den damaligen Vorort Gohlis flüchteten, wo die Luft deutlich besser war. Hierzu gehörte auch Friedrich Schiller, der in Gohlis angeblich die Ode an die Freude geschrieben haben soll.

Die Menckestraße war, wie viele Stadtviertel in Leipzig, geprägt durch wunderschöne und liebevoll restaurierte Gründerzeithäuser. Leipzig hatte, was die Entwicklung des Stadtbildes anging, zwei Mal Glück: Die Stadt wurde im Krieg nicht allzu sehr zerbombt und die DDR hatte kein Geld, die schönen Gebäude abzureißen, um auch dort die hässlichen Plattenbauten hinzustellen. Die Familie Hasenhaus wohnte im Dachgeschoss.

Während der Fahrt hatten Kroll und Wiggins Angst vor dem, was sie in der Menckestraße erwartete. Es war der mit Abstand schlimmste und belastendste Teil ihrer Arbeit, mit Menschen reden zu müssen, die gerade einen geliebten Angehörigen verloren hatten. Bei Silke Hasenhaus kam noch die besondere Situation hinzu, in der sich ihre Tochter befand.

Es dauerte lange, bis sich die Tür öffnete. Silke Hasenhaus war eine schöne Frau, sogar ungeschminkt. Sie war Ende 40 und hatte eine zierliche Figur. Die Witwe trug eine blaue Jeans und eine weiße Bluse. Die schwarzen Haare hatte sie zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Eigentlich hatte sie ein freundliches oder sogar fröhliches Gesicht, das konnte man selbst jetzt erkennen. Ihre Augen waren rot und verweint. In der Hand knuddelte sie ein Taschentuch.

Die Polizisten stellten sich an der Wohnungstür vor. Silke Hasenhaus bat sie, ins Wohnzimmer zu kommen. Die Wohnung war geschmackvoll und gemütlich eingerichtet. Die Familie Hasenhaus hatte sich für eine gekonnte Mischung aus Antike und Moderne entschieden, die sehr gut zu dem Charakter des Hauses mit dem alten Parkett, den hohen Fenstern und Decken, den Stuckelementen und den schönen Erkern passte.

»Das ist meine Tochter Sabi, Sabine Zehr«, sagte sie, wobei sie auf eine junge Frau deutete, die auf dem Sofa saß. Sabi Zehr erhob sich und gab den Kommissaren zur Begrüßung die Hand. Sabi war Ende 20 und gut einen halben Kopf größer als ihre Mutter. Von ihrer Mutter hatte sie die schönen schwarzen Haare geerbt. Ihr Gesicht hatte feine Züge, die Nase, wohl vom Erbgut des Vaters, war ein wenig zu groß, gab ihr jedoch eine besondere Note und zerstörte nicht den Gesamteindruck einer charmanten und äußerst attraktiven Frau. Kroll konnte sofort verstehen, warum der Tierarzt diese Frau in sein Herz geschlossen hatte, obwohl dies sicherlich nichts mit ihrem Aussehen zu tun hatte.

Kroll war bemüht, gefasst zu wirken, was ihm auch gelang. »Wir möchten Ihnen zunächst unsere herzliche Anteilnahme ausdrücken.«

»Danke«, flüsterten die Frauen nahezu synchron.

»Glauben Sie, dass Sie uns ein paar Fragen beantworten können?«

Silke Hasenhaus nickte. »Warum interessiert sich die Polizei für den Fall? Wir sind von einem schrecklichen Unfall ausgegangen.«

»Es sind noch einige Fragen offen, die geklärt werden müssen.« Wiggins machte eine Pause. Die Frauen mussten erst den Umstand verarbeiten, dass sich die Polizei für den Tod ihres Mannes und Vaters interessierte. »Wir fragen uns natürlich, warum Dr. Hasenhaus mit diesem Sportflugzeug und nicht mit einer normalen Linienmaschine nach Turin geflogen ist. Das wäre doch einfacher und sicherer gewesen.«

»Das habe ich ihn natürlich auch gefragt«, antwortete Silke Hasenhaus. »Aber ich habe, ehrlich gesagt, keine zufriedenstellende Antwort bekommen. Er sagte mir, dass Horst, das ist der Pilot, Horst Werner, ihm das angeboten habe und dass er da eigentlich Lust zu hatte. Horst ist zwar verrückt nach der Fliegerei, aber ich habe das meinem Mann nicht geglaubt. Aber sie kannten Hans nicht. Wenn der etwas nicht erzählen wollte, dann war einfach nichts aus ihm herauszubekommen. Deshalb habe ich dann auch nicht weiter gefragt. Ich wollte ihn auch nicht der Lüge bezichtigen.«

»Dieser Pilot, Horst Werner, kannten Sie ihn näher?«, fragte Wiggins.

»Er war ein guter Freund der Familie. Wir haben ihn vor Jahren kennengelernt, weil er der Fluglehrer meines Schwiegersohnes …«, sie machte eine kleine Pause, bevor sie fortfuhr, »… war.«

Kroll und Wiggins sahen kurz zu Sabi. Sie saß regungslos auf dem Sofa.

Wiggins blieb beim Thema. »Wir stellen uns auch die Frage, warum die beiden überhaupt losgeflogen sind. Die Wetterlage war sehr kritisch und die Piper war für so etwas gar nicht gebaut. Unsere Experten sagen, dass das Risiko kaum zu verantworten war.«

Jetzt meldete sich erstmals Sabi zu Wort. »Das verstehen wir ja auch nicht. Horst war eigentlich ein sehr zuverlässiger und vor allem ein sehr verantwortungsvoller Pilot. Der ist eigentlich jedem Risiko aus dem Weg gegangen, auch wenn es noch so klein war. So etwas war einfach nicht sein Stil.«

»Wir wissen«, überlegte Kroll laut, »dass Ihr Mann in Turin ein Tierbaby untersuchen wollte, an dem der Leipziger Zoo interessiert war.«

Silke Hasenhaus nickte. »Das ist vor Tierkäufen üblich.«

»Gab es vielleicht noch einen anderen Grund für die Reise? Hat Ihr Mann etwas erzählt?«

Kroll und Wiggins merkten, dass ihre Fragen die Damen sehr belasteten. Sie beschlossen, zum Ende zu kommen.

»Eine Frage noch«, sagte Kroll in einem behutsamen Ton. »Wissen Sie noch, was Ihr Mann an Gepäck hatte?«

Silke Hasenhaus musste nicht lange überlegen. »Seine Aktentasche und einen kleinen Koffer. Er wollte ja nicht lange bleiben.«

Die Polizisten verabschiedeten sich. »Bitte entschuldigen Sie, dass wir sie in dieser Situation mit unseren Fragen belästigen mussten. Haben Sie vielen Dank.«

Silke Hasenhaus stand auf und begleitete sie zur Tür. »Wir möchten alles, was in unserer Kraft steht, tun, um Licht ins Dunkel zu bringen. Bitte halten Sie uns auf dem Laufenden.«

»Eine Aktentasche haben wir in der verunglückten Maschine nicht gefunden«, merkte Wiggins spontan an, als sie im Auto saßen.

»Vielleicht erklärt das die Anwesenheit des Hubschraubers«, antwortete Kroll.

Die konstituierende Sitzung der Soko Tierarzt fand in dem kleinen Besprechungsraum im Präsidium statt. Staatsanwalt Reis führte kurz in den bisherigen Stand der Ermittlungen ein und gab das Wort an Kroll, der ihre bisherigen Erkenntnisse noch einmal vertieft und detailliert darstellte. Jeder der anwesenden Polizisten bekam einen eigenen Aktenordner und zahlreiche Fotos. Schließlich wurden die Aufgaben verteilt: Untersuchung des Flugzeugabsturzes von Daniel Zehr, dem Schwiegersohn des Tierarztes, Ermittlungen im Umfeld des Piloten Horst Werner, Suche nach dem Hubschrauber, der neben dem Wrack gelandet war, Ermittlungen im familiären Umfeld und im Freundeskreis des Tierarztes, Untersuchung der wirtschaftlichen Verhältnisse, Vergleich mit ähnlichen Straftaten in der Vergangenheit. Letzteres war ein Routinevorgang, der in der Polizeiarbeit stets als Aktenfresserei verspottet wurde. Aber eigentlich war es eine sehr komplexe und vor allem keine leichte Arbeit. Man musste zunächst einige wenige Merkmale herausfiltern, die der jeweiligen Straftat ihren prägenden Charakter gaben. Hierbei konnte man schon die ersten folgenschweren Fehler machen. Anschließend erfolgte der Vergleich mit unzähligen Straftaten in Deutschland und darüber hinaus. Dies erforderte immer eine hohe Konzentration, das Wichtigste war, nichts zu übersehen.

»Und dann will ich noch wissen, wer alles von Hasenhaus’ Tod profitiert«, rief Kroll im Gehen.

»Der Natur auf der Spur« ist das Motto des Leipziger Zoos, ein ehrgeiziges Ziel, mit dessen Umsetzung im Jahre 2000 begonnen wurde und das im Jahre 2020 abgeschlossen sein soll. Die auch für einen Zoologischen Garten große Fläche von 26 Hektar, gelegen am Rosenthal, wird hierzu in sechs Themenbereiche aufgeteilt: Afrika, Asien, Südamerika, Gründer-Garten, Pongoland und Gondwanaland. Der Besucher erkennt sofort, dass der Leipziger Zoo auf einem guten Weg ist.

Der Arbeitsbereich von Dr. Hasenhaus war in dem Gebäude, in dem sich auch die Kongresshalle befand, gleich neben dem Haupteingang an der Pfaffendorfer Straße. Weil sie die Entwicklung des Leipziger Zoos jedoch nur aus der Zeitung kannten und weil das Wetter schön war, beschlossen sie, sich noch Zeit für einen kleinen Rundgang durch den Zoo zu nehmen. Schon beim ersten Blick über die weite Anlage bekamen die Polizisten einen sehr angenehmen Eindruck: Das Konzept »Der Natur auf der Spur« beinhaltet zunächst einen Zoo ohne Käfige. Die Horrorbilder aus früheren Zeiten, in denen wilde Tiere psychisch gestört vor einem Gitter pausenlos auf und ab liefen, gehören glücklicherweise der Vergangenheit an. Wo früher kleine Käfige waren, befinden sich jetzt großräumige Flächen, die der natürlichen Umgebung in der Heimat der Tiere nachempfunden wurden. Allein die Kontinente Afrika und Asien machen circa 40 Prozent der gesamten Fläche des Zoos aus. Die wilden Tiere liegen in großen Steppen, Savannen und Wiesen. Wo früher Gitter waren, werden die Besucher jetzt durch Wassergräben, natürliche Barrieren oder kleine Mauern geschützt.

Nachdem die Polizisten Südamerika und Afrika durchquert hatten, besuchten sie das Pongoland, die größte Menschenaffenanlage der Welt, die eine Fläche von 30.000 Quadratmeter umfasst. Das Pongoland ist nicht nur eine Attraktion für die Besucher, es ist ein Kooperationsprojekt mit dem Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie und damit auch eine wichtige Forschungseinrichtung.