Trauer in der Sozialen Arbeit - Tim Krüger - E-Book

Trauer in der Sozialen Arbeit E-Book

Tim Krüger

0,0

Beschreibung

Trauer ist ein allgegenwärtiges Thema der Sozialen Arbeit. Obwohl es in nahezu allen Handlungsfeldern eine Rolle spielt, wird es in Ausbildung und Praxis häufig übersehen. Das Wissen praktizierender Professioneller der Sozialen Arbeit um Trauer ist meist geprägt vom eigenen Alltagswissen oder (häufig veraltetem) Wissen angrenzender Disziplinen und Professionen. Nur wenn die Soziale Arbeit hier über eigenständiges Wissen verfügt, das aktuelle Erkenntnisse integriert und sich der Bedeutung von Sterben und Tod, aber auch von anderen Verlusten bewusst wird, können Professionelle adäquat auf Trauer reagieren. Dieses Buch trägt aktuelles Wissen um Umstände des Sterbens, Theorien und Modelle von Verlustbewältigung und Trauer zusammen und bezieht es auf die Soziale Arbeit.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 337

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inhalt

Cover

Titelei

Vorwort

Statt einer Einleitung: Sterben und Tod nach Auschwitz

1 Sterben und Tod – Grundlegendes zu einem anthropologischen Problem

1.1 Kultur als Reaktion auf das Wissen um den Tod

1.1.1 Eine Skizze zur Beziehung von Kultur und Tod

1.1.2 Der menschliche Wunsch nach Unsterblichkeit

1.1.3 Der Fall Kim Suozzi

1.2 Die Problematik der Bestimmung des Todes und der »soziale Tod«

1.2.1 Anmerkungen zur Todesfeststellung

1.2.2 Der soziale Tod – oder besser: soziales Sterben?

1.3 Orte und Gründe des Sterbens und die Frage nach der Verdrängung des Todes

1.3.1 Wo‍(ran) wird eigentlich gestorben?

1.3.2 Überlegungen zur Todesverdrängung

1.3.3 Death Education und Hospizbewegung

1.4 Zwischenfazit #1, Diskussionsfragen und Literaturhinweise

2 Die Gemeinschaft der Lebenden und der Toten – Trauer in ihrer Entwicklung und aktuellen Modellen

2.1 Zur Gemeinschaft der Lebenden und Toten mitsamt der Frage nach der Bedeutung von Orten des Trauerns

2.1.1 Einige heute noch maßgebliche Interpretationen von Trauer – eine Annährung als Skizze

2.1.2 Orte der Trauer

2.2 Freuds »Trauerarbeitshypothese« und die Folgen

2.2.1 Grundlegendes zu Freuds Trauerbegriff

2.2.2 Phasenmodelle von Trauer

2.2.3 Psychiatrisierung von Trauer – oder: Von der Melancholie zur Therapie

2.3 Aktuellere Entwürfe von Trauertheorien und Modellen

2.3.1 Die Gemeinsamkeit: Kritik an Phasenmodellen

2.3.2 Das Dual Process Model (DPM) – Die prominenteste Erweiterung der Trauerarbeitshypothese um zwei Stressoren

2.3.3 »Continuing Bonds« – Bleibende und neu zu erlernende Beziehungen im Zuge eines Verlusts

2.3.4 »Re-Learning the World« und »Meaning-Making« – Das Neu-Erlernen der Welt nach einem Verlust

2.3.5 »Disenfranchised Grief« – Es wird um mehr getrauert als um gesellschaftlich anerkannte Verluste

2.3.6 Der Sonderfall »Antizipierte Trauer«

2.4 Zwischenfazit #2, Diskussionsfragen und Literaturhinweise

3 Verlust als Gegenstand – Eine Landkarte der Sozialen Arbeit in Bezug auf Verlust und Trauer

3.1 Verlustbiografien als Gegenstand der Sozialen Arbeit

3.1.1 Therapy Culture und Palliativgesellschaft – Sehr kurze Anmerkungen zu einer Kultur, die regelmäßig Verluste produziert

3.1.2 Verluste als omnipräsente Aufgabe für die Soziale Arbeit

3.2 Trauer in Theorien und Konzepten der Sozialen Arbeit

3.2.1 Ein nötiger Hinweis: Warum Verluste kein »soziales Problem« sind

3.2.2 Trauer und Aneignung‍(sprobleme)

3.2.3 Trauer und Alltag

3.2.4 Trauer als Teil der Lebensbewältigung

3.3 Verlustdimensionen

3.3.1 Personenbezogene Verluste

3.3.2 Materielle Verluste

3.3.3 Biologisch-körperliche Verluste

3.3.4 Verlust von Bewältigungsfähigkeiten

3.4 Zwischenfazit #3, Diskussionsfragen und Literaturhinweise

4 Die Sorge um Trauernde – Trost als Aufgabe für die Soziale Arbeit

4.1 Witwen und Waisen – Verlust als Auslöser der Sorge um besonders vulnerable Gruppen

4.1.1 Skizze zur Geschichte der Sorge um Waisen und Witwen

4.1.2 Die gegenwärtige Situation von Waisen in der öffentlichen Erziehung

4.2 Trost und Seelsorge – Anmerkungen zu einer typisch menschlichen Praxis

4.2.1 Konjunkturen des Trostes – Eine Annährung

4.2.2 Funktionen des Trostes

4.2.3 Trost als freundschaftliche Handlung – Zur Beziehung der tröstenden zur getrösteten Person

4.3 Trost oder Vertröstung: Die Soziale Arbeit als »säkularisierte Seelsorge«?

4.3.1 Die Bedeutung von Trost in professionellen Kontexten der Sozialen Arbeit

4.3.2 Elemente sozialpädagogischen Trostes

5 Zum Schluss

Literatur

Der Autor

Dr. Tim Krüger ist Professor für Soziale Arbeit an der Evangelischen Hochschule Hamburg. Seine Arbeitsschwerpunkte sind theoretische und historische Grundlagen Sozialer Arbeit, erziehungswissenschaftliche Theorien und Methoden, sozialpädagogische Kasuistik und Soziale Arbeit im Kontext von Verlust und Trauer. Praxiserfahrungen in der Schulsozialarbeit, dem Allgemeinen Sozialen Dienst des Jugendamtes und in der Beratung und Fortbildung zu Verlust und Trauer.

Tim Krüger

Trauer in der Sozialen Arbeit

Bedeutung von Verlust und Trost

Verlag W. Kohlhammer

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Die Wiedergabe von Warenbezeichnungen, Handelsnamen und sonstigen Kennzeichen in diesem Buch berechtigt nicht zu der Annahme, dass diese von jedermann frei benutzt werden dürfen. Vielmehr kann es sich auch dann um eingetragene Warenzeichen oder sonstige geschützte Kennzeichen handeln, wenn sie nicht eigens als solche gekennzeichnet sind.

Es konnten nicht alle Rechtsinhaber von Abbildungen ermittelt werden. Sollte dem Verlag gegenüber der Nachweis der Rechtsinhaberschaft geführt werden, wird das branchenübliche Honorar nachträglich gezahlt.

Dieses Werk enthält Hinweise/Links zu externen Websites Dritter, auf deren Inhalt der Verlag keinen Einfluss hat und die der Haftung der jeweiligen Seitenanbieter oder -betreiber unterliegen. Zum Zeitpunkt der Verlinkung wurden die externen Websites auf mögliche Rechtsverstöße überprüft und dabei keine Rechtsverletzung festgestellt. Ohne konkrete Hinweise auf eine solche Rechtsverletzung ist eine permanente inhaltliche Kontrolle der verlinkten Seiten nicht zumutbar. Sollten jedoch Rechtsverletzungen bekannt werden, werden die betroffenen externen Links soweit möglich unverzüglich entfernt.

1. Auflage 2022

Alle Rechte vorbehalten© W. Kohlhammer GmbH, StuttgartGesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:ISBN 978-3-17-040804-3

E-Book-Formate:pdf: ISBN 978-3-17-040805-0epub: ISBN 978-3-17-040806-7

Vorwort

Was fällt Ihnen spontan zur Trauer ein? Nicht lange nachdenken!

Möglicherweise Ihr letzter Verlust, eine wichtige Person des nahen Umfelds vielleicht, ein ehemaliger Bekannter oder eine Schulfreundin. Vielleicht aber auch Aktuelles aus Film und Fernsehen. Der letzte Tatort oder die Gedenkfeier für die an COVID-19 Verstorbenen. Oder, weiter zurück, die groß angelegten und medial übertragenen Trauerfeiern für Michael Jackson? Lady Diana? Elvis Presley? Vielleicht fällt Ihnen »Tears in Heaven« von Eric Clapton ein, Ihr letzter Friedhofsbesuch, eine Traueranzeige in der Zeitung oder online für eine Person, die Sie gar nicht kannten.

Während der Arbeit an diesem Buch starben, neben den Millionen, die weltweit der COVID-Pandemie zum Opfer fielen, in Krieg und Konflikten umkamen, denen, die eines – was auch immer das heißen soll – »natürlichen Todes« starben, und neben den über 140 Opfern der größten Naturkatastrophe der deutschen Geschichte in Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz im Juli 2021, mit David Dushman der letzte noch lebende Befreier des KZ Auschwitz/Birkenau und mit Esther Bejarano eine dessen letzter Überlebenden. Es starben Werner Kieser, der Meister der Rückentherapie, der Kinderbuchautor Eric Carle, mit dessen »Die kleine Raupe Nimmersatt« wohl Generationen von Kindern aufgewachsen sind und noch aufwachsen werden, der Gründer der Computerfirma McAfee, John McAfee, der ehemalige US-Verteidigungsminister Donald J. Rumsfeld, der Fernsehkoch und Entertainer Alfred Biolek, der CDU-Politiker und erste Ministerpräsident Sachsens nach der Wiedervereinigung Kurt Biedenkopf, der »Bomber der Nation« Gerd Müller, der Journalist und Gründer des ARD-Hauptstadtstudios Jürgen Engert, der Schlagzeuger der Rolling Stones Charlie Watts, der Komponist des Sirtaki Mikis Theodorakis und unzählige andere.

Gestorben wird immer. Fernsehproduzenten treffen manchmal den Nagel auf den Kopf! Den Sargnagel vielleicht, aber auch den metaphorischen.

Welche Lücken gestorbene Menschen im Leben einzelner oder ganzer Gemeinschaften hinterlassen, was fehlt ohne sie, und wie mit diesen Lücken umgegangen wird, ist Thema dieses vorliegenden Buches – nicht direkt im Ergründen der einzelnen Bedeutungen der Genannten, aber im Versuch, den Phänomenen Verlust, Trauer und Trost nachzugehen. Und sie für die Soziale Arbeit aufzuarbeiten.

Sie ahnen es schon: Trauer ist ein universelles Phänomen. Es betrifft jeden dann und wann, manche mehr, manche weniger. In der Trauer kann man sich festhalten an Kulturellem und Sozialem, man ist dennoch auf sich selbst verwiesen. Trauerrituale erodieren, neue tauchen auf, entwickeln sich aus den alten. Und doch bleibt Trauer eine Anforderung, denen alle Menschen sich im Laufe ihres Lebens stellen müssen.

Da gibt es die offensichtlichen und die versteckten Trauerfälle. Die Verluste, die Einschnitte ins Leben bedeuten, nach denen man sich und seinen Alltag vollständig neu arrangieren, vielleicht sogar – das wird im Laufe dieses Buches diskutiert werden – neu erlernen muss. Und es gibt die Trauer, die versteckt abläuft, die nicht wahrgenommen wird, dann nämlich, wenn der Verlust vom gesellschaftlichen oder lebensweltlichen Umfeld als kaum wichtig gewürdigt wird. Wenn in Folge eines riskanten Lebensstils gestorben wird z. B. oder wenn hochbetagte Menschen sterben. Bestimmte Lebensphasen, bestimmte Lebensentwürfe und Lebensstile ziehen Verluste an. Menschen, die in Altenheimen leben, sind umgeben von Verlusten. Auch solche, die auf der Straße leben, die harte Drogen konsumieren und so weiter. Es gibt Verlustbiografien, solche nämlich, in denen Verluste kulminieren, andauernd Abbrüche erlebt werden.

Die Soziale Arbeit kennt das, denn Wege in die Soziale Arbeit führen häufig über Verluste. Und: Sie kennt es doch nicht. Verlust und Trauer sind in der Sozialen Arbeit wenig thematisierte Phänomene. Verluste können Trauer auslösen. Verluste lösen allerdings auch nicht selten sozialpädagogische Interventionen aus, teilweise sind Verluste und Abbrüche sogar das sozialpädagogische Mittel der Wahl. Kinder, die aus Familien genommen werden, der Abbruch der Beziehung zu einem für negativ gehaltenen Umfeld in der Drogentherapie. Die Soziale Arbeit erzeugt häufig Einschnitte in Biografien, die verarbeitet werden müssen. Sie ist eingebunden in die Lebensgeschichten ihrer Adressat:innen und muss sich im Zuge der Thematik ernsthaft fragen, was sie eigentlich mit Trost zu tun hat. Sie ist aber auch eingebunden in eine Kultur und Mentalitätsgeschichte, die Trauer auf eine spezifische Art und Weise thematisiert – oder vergisst zu thematisieren.

Was haben Trauer und Soziale Arbeit gemeinsam? Wo überschneiden sie sich? Wo tritt Trauer in der Praxis Sozialer Arbeit auf? Und in welchen Formen? Lässt sich da etwas systematisieren? Und wie handelt man im Angesicht der Trauer? Gibt es Patentrezepte? Gibt es, wie es neuerdings gerne heißt, Gelingensbedingungen? Was muss man wissen? Was muss man können?

Auf all das wird näher einzugehen sein, denn um diese Fragen kreist das vorliegende Buch und dennoch wird es nicht auf alle Fragen eine Antwort finden können. Es funktioniert eher als Landkarte, die ein unwägbares Gelände kartografiert, denn als etwas, das einen an die Hand nimmt und den richtigen Weg zeigt, indem er vorausgeht. Sehen Sie es so: Der Text traut Ihnen zu, selbst zu denken und eigene Wege zu finden, er spekuliert auf Ihre Entdeckungslust! Er schreibt nicht vor, aber beschreibt und macht dabei auf trügerische Versuchungen aufmerksam, indem er die Sirenen benennt, die in Bezug auf Trauer überall am Wegrand warten und versuchen, den:die interessierte:n Professionelle:n zu schnell vom Weg abzubringen und in einen vermeintlich sicheren Hafen zu locken. Seien Sie wachsam!

Im Groben ist das Buch in vier Abschnitte gegliedert. Allgemeinen Überlegungen zu Bedingungen des Sterbens (▶ Kap. 1) folgen systematischere Erkundungen im Feld der Trauer (▶ Kap. 2), die Besprechung von Verlusten als Gegenstand der Sozialen Arbeit (▶ Kap. 3) und die Diskussion, ob die Soziale Arbeit nicht eigentlich eine Profession des Trostes ist (▶ Kap. 4). Die einzelnen Abschnitte sind noch einmal untergliedert, um bestimmten Teilaspekten, wie den einzelnen Modellen von Trauer oder der Bedeutung von Trauer in ausgewählten Theoriekonzepten der Sozialen Arbeit, fundierter nachgehen zu können. Die ersten drei Abschnitte werden durch jeweils ein Zwischenfazit mit sich ergebenden Diskussionsfragen und Literaturhinweisen abgeschlossen, der vierte Abschnitt mündet ein in Bemerkungen zum Schluss, die pointiert noch einmal Wegmarken der vorhergehenden Überlegungen aufgreifen.

Zu Beginn steht allerdings ein verheerendes Thema. Der deutsche Umgang mit Sterben, Tod und Trauer nach Auschwitz stellt die notwendige Einleitung dar. Er könnte an jeder anderen Stelle des Textes stehen, nie wäre es der richtige Platz, um dieses Thema einzubinden und zu besprechen. Es ist ein eigenes Thema, das in einem solchen textlichen Rahmen eigentlich nur ungebührlich verkürzt, aber dennoch nicht ausgespart werden kann. Eine Ergründung der Trauer in der Sozialen Arbeit könnte eher ausschließlich mit den Überlegungen zur Trauer nach Auschwitz geleistet werden als gänzlich ohne. Die Überlegung, den Text als Exkurs einzufügen, zwischen einem der Hauptteile, erwies sich als ebenso unangebracht, wie das Thema regelhaft immer wieder einfließen zu lassen, aber nicht gesondert zu behandeln. Ganz dem Motiv »nach Auschwitz« folgend, der Erkenntnis, dass nach den Erfahrungen des organisierten Massenmordes, nichts ist wie es war, steht das Thema nun am Anfang. Es ist also sozusagen die Einleitung in ein Thema, das der Sozialen Arbeit möglicherweise auch wegen der zwischen 1933 und 1945 gemachten Erfahrungen schwerfällt.

Das ist, zugegeben, der schwermütigst mögliche Einstieg in einen solchen Text. Es ist aber auch ein notwendiger, wenn man verstehen möchte, welche Bedeutung Sterben, Tod, Trauer und Trost heutzutage im Leben von Menschen haben. Und auch, wenn man sich vergewissern möchte, welch wichtige Bedeutung diese Themen in professionellen Zusammenhängen der Sozialen Arbeit einnimmt.

Also stimmen Sie sich ein, hören Sie noch einmal die Matthäus-Passion oder wenigstens die Kantate »Sehet! Wir geh'n hinauf gen Jerusalem«, in der Bach Teile des wunderbaren »O Haupt voll Blut und Wunden« von Paul Gerhardt vertont hat:

Ich will hier bei dir stehen,verachte mich doch nicht,von dir will ich nicht gehen,wenn dir dein Herze bricht,wenn dein Herz wird erblassenim letzten Todesstoßalsdenn will ich dich fassenin meinem Arm und Schoß.

Oder tun Sie einfach, was Sie sonst so tun, wenn Sie sich einem wichtigen Thema nähern, wenn Sie sich vielleicht sogar besinnen wollen, und seien Sie versichert: Es wird trotz der Schwere der Thematik, und noch mehr der Einleitung in sie, auch heitere Momente geben. Versprochen!

Statt einer Einleitung: Sterben und Tod nach Auschwitz

Versuch über den Umgang mit Sterben, Tod und Trauer in der deutschen Nachkriegsgesellschaft

Vorbemerkung #1

Lassen sich Fragen nach der Institutionalisierung des Sterbens, auch der Sterbehilfe, mithin von der in diesem Buch zur Diskussion und Erarbeitung stehenden Trauer und dem Trost als Reaktion auf sie, gerade auch in ihrem Bezug zur Sozialen Arbeit, denken, ohne die Erfahrungen der NS-Diktatur, des Holocaust, der Aktion T4 mitzudenken? Das tun sie nicht. Dennoch ist es schwierig, nahezu unmöglich, sich diesem Thema zu nähern. Kann man es einfach als Kapitel wie andere abhandeln? Wo setzt man an? Bei den Todesmärschen zum Kriegsende? Bei den Vernichtungslagern? Beim Ausbruch des Kriegs? Beim sogenannten Röhm-Putsch und der darauffolgenden, auch sogenannten, »Nacht der langen Messer«? Beim Mord an Theodor Lessing, der als erster politisch motivierter Mord des Nationalsozialismus gilt? Oder gar bei den Erfahrungen des 1. Weltkrieges (der wird sowieso in den nächsten Abschnitten noch eine große Rolle spielen)? Wer kann schon die Zahlen an Toten begreifen, die die zwölf Jahre zwischen 1933 und 1945 produziert hat? Wer kann sich auf die einzelnen Geschichten einlassen?

Die Frage nach dem spezifischen Umgang mit Sterben und Tod nach der Befreiung zu ignorieren, würde aber bedeuten, dem Thema dieses Buches selbst nicht gerecht werden zu können. Die folgenden Überlegungen sind als Exkurs angelegt, als Versuch der Annährung. Mit den Unsicherheiten, die diese Zeit hervorbringt, auch der Unmöglichkeit, ein umfassendes Bild der Mentalitätsgeschichte des Nachkriegsdeutschlands in Bezug auf Sterben, Tod und Trauer zu erstellen, zu erkennen und sich darauf einzulassen, muss man sich auch an anderer Stelle auseinandersetzen. Der folgende Einschnitt beinhaltet viel mehr Fragen als Antworten, er ist fragmentierter und unfertiger als die folgenden, eher systematisch gehaltenen Abschnitte.

Vorbemerkung #2

Dieser Versuch kann nicht der Frage nach den Beschaffenheiten der NS-Diktatur, des nationalsozialistischen Faschismus, der Machtergreifung, der Organisation der Vernichtungslager, der Kinderkonzentrationslager und so vielem mehr nachgehen. Vielmehr stellt er sich der Frage, die seitdem virulent ist: Inwiefern haben die Jahre zwischen 1933 und 1945 das Verhältnis der deutschen Gesellschaft zu Sterben und Tod verändert? Wie also wird seitdem mit Sterben, Tod und Trauer umgegangen? Dies ist gerade notwendig, weil, so scheint es, auch die Soziale Arbeit sich allgemein schwertut mit einer Einbindung des Motivs »nach Auschwitz« in ihre Professionsentwicklung. Oder wie Michael Winkler und Herbert Colla festhalten: »Psychologie, allzumal die empirischen Bildungswissenschaften und selbst die [...] klinische Sozialarbeit hat die Frage nach dem Holocaust längst vergessen« (Colla/Winkler 2017, 11). Dem sollte man etwas entgegenstellen, möchte man nicht, dass der Holocaust und seine Nachwirkungen aufgehen in einer allgemeinen Geschichte menschlicher Scheußlichkeiten, sondern als singuläres Ereignis ungeahnter, unbekannter und ungreifbarer Tragweite erhalten bleiben.

Einleitendes

Interessanterweise werden Auschwitz und die gesamte bürokratisch organisierte Massenvernichtung, für die es als Symbol steht, weder in der voluminösen »Geschichte des Todes« von Philippe Ariès noch, was noch mehr verwundert, in der im folgenden Text dennoch häufiger zurate gezogenen »Theorie der Todesverdrängung« von Armin Nassehi und Georg Weber explizit thematisiert.

Heißt das, wie Eugen Kogon im Vorwort der 1974er-Auflage des »SS-Staats« befürchtet, dass das Thema nunmehr als abgeschlossen gilt? Vielleicht noch für Historiker:innen interessant, wenn überhaupt? Wie kommen zwei Soziologen wie Nassehi und Weber dazu, auf fast 500 Seiten eine Theorie der Todesverdrängung zu entwickeln und dabei – möglicherweise ist das etwas pingelig – insgesamt bloß fünfmal den Begriff »Nationalsozialismus« zu verwenden, davon viermal in Fußnoten? Warum wird nur zweimal von Auschwitz gesprochen, einmal auch als Fußnote unter der Zwischenüberschrift »Opfertod«, einmal als ein Beispiel für »soziale Todesverdrängung«? Warum kommen die Begriffe »Holocaust« oder »Shoah« überhaupt nicht vor? Zeigt sich hier auch eine wissenschaftliche Sprachlosigkeit gegenüber dem Geschehenen? Müsste diese Zeit nicht eine zentrale Rolle spielen in der Auseinandersetzung um einen gegenwärtig verdrängten Tod, um Institutionalisierung, um eine spezifische Art Sterbehilfe zu thematisieren?

Dennoch, so zeigt beispielsweise der 2021 über mehrere Ausgaben der Wochenzeitung »Die Zeit« ausgetragene Diskurs um die Bedeutung des Holocaust in einer sich zunehmend global verstehender Geschichte an Genoziden und Kolonialismus, bei der die einen für eine Betrachtung des Holocaust als eines von mehreren Verbrechen in der Menschheit (z. B. Clark, Mbembe) argumentieren, während die anderen (z. B. Friedländer, Biller) für die Singularität, die Einzigartigkeit des Holocaust streiten und somit auch gegen die neuerliche Tendenz, Vergleiche zwischen schwersten Verbrechen wie Genoziden herzustellen, dass das Thema weiterhin, insbesondere nun, da die letzten Überlebenden sterben, eines der bewegendsten Themen der Menschheit ist.

Auschwitz als Symbol

»Der Tod ist ein Meister aus Deutschland«, schreibt Paul Celan in seiner »Todesfuge« und meint damit das bürokratisierte, industrielle Töten zur Zeit des Nationalsozialismus.

Theodor Adornos berühmtes Diktum lautet: »Nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch« (Adorno 1977, 30, 1951 im Original). Auschwitz ist zum Symbol geworden, das nicht vergessen werden darf (aber vielleicht wird?), wenn in Deutschland über Sterben, Tod und Trauer, aber auch über die Auseinandersetzung damit gesprochen, unterrichtet, erzogen und diskutiert werden soll. Der Philosoph Christian Grüny dazu: »Alles, was stattfindet, findet ›nach Auschwitz‹ statt und damit im Schatten der Vernichtung und ist allein dadurch verändert.« (Grüny 2007, 198) In seiner Symbolhaftigkeit steht es, in der Lesart Adornos, für die Vernichtungsbestrebungen der Nationalsozialisten. Vermutlich ab September 1941 bis zur Befreiung wurden allein in Auschwitz zwischen 1,1 und 1,5 Millionen Menschen ermordet.

Der Psychoanalytiker und Pädagoge Bruno Bettelheim, der 1938 und 1939 etwa ein Jahr lang im KZ Dachau bei München interniert war, hält gegenüber der Fokussierung auf Auschwitz (auch auf die Symbolhaftigkeit von Auschwitz) fest:

»Durch das unvorstellbare Grauen der Todeslager mit ihren Gaskammern, in denen Millionen von Menschen vergast wurden, vergessen wir leicht die vielen anderen Lager und die zahllosen Morde, die in ihnen begangen wurden.« (Bettelheim 1979, 47)

Sterben und Tod – Ermordung und Vernichtung – im Nationalsozialismus sind ein derart komplexes Thema, das jedem:jeder einzelnen als Verstehensaufgabe mitgegeben ist. Insbesondere die gezielte, organisierte und geplante Tötung gehörten im Nationalsozialismus zum systematischen Terror gegen Menschen. Auch in der »Aktion T4«, die sich Hitlers »Euthanasiebefehl« vom 1. September 1939 anschloss, zeigt sich die ideologische Durchdringung aller Bereiche des Lebens und Sterbens. Für minderwertig erachtete Menschen wurden im Sinne einer verdrehten Vorstellung des Volkswohls getötet.

Das Motiv »nach Auschwitz« weist darauf hin, dass sich alles Sterben – und damit auch Leben – nach Auschwitz verändert hat. Der Versuch der Etablierung von Folter und Mord als Normalität im Sterben hat einen großen mentalitätsgeschichtlichen Einfluss zur Folge. Auschwitz hat, in Adornos Verständnis, dazu geführt, etwas Höheres, Überwältigenderes und Schlimmeres als den Tod zu fürchten, nämlich das Sterben selbst (vgl. Adorno 1966, 362). Erst durch Auschwitz wurde diese Möglichkeit denkbar:

»Man kann nicht sagen, dass dies zuvor lediglich dem Bewusstsein der Menschen entgangen war; erst dadurch, dass es stattgefunden hat, ist es eine reale Möglichkeit geworden, die nicht mehr wegzudenken ist.« (Grüny 2007, 197)

Auschwitz steht für die Möglichkeit der Institutionalisierbarkeit und Industrialisierbarkeit des Mordens. Die systematische Vernichtung anderer Menschen durch die Nationalsozialisten ist nicht ausschließlich von historischer Bedeutung, sondern beeinflusst das Weiterleben aller folgenden Generationen, die sich mit ihr philosophisch, theologisch, soziologisch, psychologisch, aber auch pädagogisch und alltagspraktisch auseinandersetzen müssen.

Gleichzeitig überfordert Auschwitz das Verstehen und das Wissen. Es kann nicht in Gänze begriffen werden und stellt somit das Wissen um die Sterblichkeit in Frage. »Nach Auschwitz« wird so zum Motiv praktischer Disziplinen, wie der Pädagogik mit der »Forderung, daß Auschwitz nicht noch einmal sei« (Adorno 1971, 88). So beschreibt der Philosoph Giorgio Agamben auch das Wissen um Auschwitz als zentralen Prüfstein der Ethik. Alle Moralphilosophie müsse sich nach 1945 auf das »Symbol Auschwitz« beziehen, auf die Möglichkeit des industriellen Tötens. Als dieses steht Auschwitz für eine große Sinnkrise und die tiefe Verunsicherung, die sich in postmodernen, kaum noch an etwas metaphysisch Höheres gebundenen Gesellschaftsformen, zeigt. Grüny schreibt hierzu:

»Auschwitz wirft seinen Schatten auf beinahe jede politische und gesellschaftliche Diskussion, sei es die Sterbehilfe, die europäische Einigung oder der Krieg gegen Jugoslawien. [...] Die empirische Frage, ›wie einer stirbt‹, lässt sich nicht durch den schlichten Rekurs auf Auschwitz beantworten, aber sie wird durch diesen untilgbaren Hintergrund immer wieder beunruhigt.« (Grüny 2007, 209)

Für Agamben ist insbesondere die Figur des »Muselmannes« zentraler Bezugspunkt jeder Ethik. Gemeint sind diejenigen, die innerhalb der Vernichtungslager zwar noch am Leben, aber aufgrund von Krankheit, Siechtum, Haltung und nicht mehr vorhandener Sorge um das eigene Leben bereits als tote Figur betrachtet wurden, deren »Menschsein völlig zerstört wurde« (Agamben 2003, 117). Mit dem »Muselmann« zeigt sich der soziale Tod von seiner dunkelsten, gefährlichsten und deprimierendsten Seite. Er beschreibt Menschen der Konzentrations- und Vernichtungslager, die in Agonie ihr Schicksal hinnahmen:

»Begreiflich ist es auch bei jener verhältnismäßig großen Schicht, die schon längst den echten Lebenswillen verloren hatte. Sie hießen in den Lagern ›Muselmänner‹, also Leute von bedingungslosem Fatalismus. Ihre Untergangsbereitschaft war aber nicht etwa ein Willensakt, sondern Willensgebrochenheit. Sie ließen mit sich geschehen, was eben geschah, weil alle Kräfte in ihnen gelähmt oder bereits vernichtet waren. Widerstand von ihnen erwarten, hätte geheißen, ihren seelischen Zustand verkennen; sie konnten einfach nicht mehr.« (Kogon 1974, 400)

Auschwitz, so hält Grüny fest, ist der »Tiefpunkt, der alles Davorliegende rückwirkend zu seiner Vorgeschichte macht und für alles Nachfolgende den Ausgangs- und Referenzpunkt bildet.« (Grüny 2007, 195). Er greift hier auf den Historiker Burkhard Liebsch zurück, der Auschwitz als Experiment interpretiert, dass ein »schuldloser, indifferenter Mord möglich ist« (zit. n. ebd.). Gemeint sind eine derartige institutionelle Verschleierung und bürokratische Teilung der Aufgaben, mithin der gesamtgesellschaftlichen Erzeugung eines Klimas, die das Ausmachen eines:einer Schuldigen verunmöglichen sollte.

Auschwitz steht für die Grenzen menschlichen Verstehens und die dennoch zutiefst menschlichen Versuche, für Geschehenes eine Sprache und Ausdrücke zu finden, wie beispielsweise Paul Celan mit der »Todesfuge«. Oder, in der Sprache der Musik, der Komponist Dmitrij Schostakowitsch mit seiner 13. Sinfonie, die Gedichte zum Massaker in Babij Jar vertonte. Oder in wissenschaftlichen Zugängen, klar soziologisch-präzise, oder erzählend psychoanalytisch wie im nächsten Abschnitt.

Sterben und Tod nach Auschwitz – Schlaglichter

Bereits im Dezember 1945 erschien »Der SS-Staat« von Eugen Kogon. Kogon, selbst Soziologe und über sechs Jahre im KZ Buchenwald interniert, fing sofort nach dem Krieg an, Einzelprotokolle und Augenzeugenberichte aus dieser »Welt für sich« (Kogon 1974, 6) zusammenzutragen – in der Absicht und auch in der Hoffnung: »Nichts als die Wahrheit kann uns freimachen.« (ebd.) Nichts sollte ausgespart werden, minuziös alles Wissen zusammengestellt und öffentlich gemacht werden. Aufklärung durch wissenschaftliche Exaktheit.Hat sich die Hoffnung verwirklicht? Im Vorwort zur 21. Auflage des Buches, im Jahr 1974, schreibt Kogon:

»Mehrere Jahre war ›Der SS-Staat‹ nicht auf dem deutschen Büchermarkt. Ich bin gefragt worden, ob ich zu der Meinung gekommen sei, man halte in der Bundesrepublik das Thema nun für ›archiviert‹ [...]. Man kann wohl davon ausgehen, daß viele der Meinung sind, es sei richtig, nach wie vor Kenntnis vom System des Terrors im seinerzeit geplanten SS-Staat zu geben – dreißig und mehr Jahre nun davon entfernt, weit genug, um aus der nazistischen Herrschaftsinhumanität leichter die Schlußfolgerungen ziehen zu können, als es den Älteren gleich nach dem Ende des Krieges und des Regimes möglich gewesen war.« (ebd., 5)

Man müsste nun in eine Rezeptionsgeschichte einsteigen. Wird es noch gelesen? Lösen die beschriebenen Gräuel, die dargestellte Lagerrealität, die ständige Präsenz des Todes, heute noch etwas aus? Kann man sich überhaupt vorstellen, wie es ist, sechs Jahre in Buchenwald zu sein? Sechs Jahre.

Es steht zu befürchten, nein. Zumindest, wenn man gegenwärtigen Rezeptionen Aufmerksamkeit schenkt. Im Wissen darum, dass das Folgende nicht exemplarisch ist, keine Darstellung des gegenwärtigen Umgangs mit der Diktatur und den Vernichtungslagern im allgemeinen und Kogons Buch im Besonderen, lohnt es sich dennoch, aus einem Blog zu zitieren. Und zwar gerade, weil es sich hier scheinbar nicht um eine Holocaustleugnerin handelt, um niemanden, die systematisch versucht, sich von der Last des Nationalsozialismus zu befreien, keine, die sagt, »genug ist genug«. Sondern um eine 29-jährige Bloggerin, die neben Büchern wie »Mord an Halloween, Band 3«, »Wenzel und die wilden Räuber« oder »Die Troll-Chroniken« im April 2021 auch »Der SS-Staat« rezensiert. In ihrer Rezension1 finden sich insgesamt drei Absätze (von denen einer den engen Satz und die kleine Schrift des Buches bemängeln) und ein Satz als Fazit. Der »Schreibstil« sei »so fesselnd und spannend«, dass sie das Buch »nicht mehr aus der Hand legen« wollte. Das Fazit lautet: »Ein unglaublich spannendes Buch, welches einen einmaligen Einblick in die schreckliche Zeit ermöglicht. Ich bewerte das Buch mit fünf Sternen.«.

Auch unter einer Berücksichtigung der für einen Blog üblichen Sprache (»Eure Melanie«) und dem Übersehen, dass die bibliografischen Angaben falsch sind (die Ersterscheinung ist nicht der 1. Dezember 1988), fragt man sich: Kann man den Holocaust und dessen schmerzhafte, mühsame Beschreibungen genauso besprechen, wie man die »Troll-Chroniken« bespricht? Ist »spannend« ein passendes Adjektiv, um die Beschreibung eines (ja sehr erfolgreichen) Versuches der systematischen Vernichtung von Menschen zu bewerten? Und überhaupt: Lädt eine Bewertung entlang von einem bis fünf Sternchen (immerhin gibt es für den »SS-Staat« satte fünf von fünf) nicht ein, das Buch in einen nur schwer begründbaren Vergleich mit anderen »Werken« zu stellen? Kann man die Situation in den Lagern verstehen, indem man sie einfach wie eine fiktive, literarische Welt, z. B. wie die in »Herr der Ringe« oder »Harry Potter«, interpretiert? Oder trägt man mit all dem, obwohl man doch eigentlich nur ein Buch besprechen möchte, ganz harmlos, schon zur Relativierung bei?

Unmittelbar nach der Befreiung des KZ Buchenwald im April 1945 durch die US-amerikanische Armee setzte die Re-Education ein, eine pädagogische Bestrebung zur Entnazifizierung der deutschen Gesellschaft. Hier trat die Konfrontation mit dem Tod als pädagogisches Moment auf. Eindrucksvoll und beklemmend festgehalten ist dies im Dokumentarfilm »Die Todesmühlen«, in dem in 22 Minuten (einsehbar auf Wikipedia oder YouTube) Aufnahmen der Lager unmittelbar nach der Befreiung zusammengeschnitten sind. Die Aufnahmen sind schrecklich, Leichenberge, befreite Kinder, die ihren Namen vergessen hatten. Auch nach der Befreiung starben noch etwa 30.000 Menschen, an Krankheiten, Seuchen, auch an Überernährung durch die Alliierten, Nahrung, die über Jahre erniedrigte und mangelernährte Menschen nicht mehr vertrugen.

Der Film zeigt auch bereits eine Erziehungsmaßnahme der Alliierten, die es im ganzen Land des Frühjahrs und Sommers 1945 gab: Die Konfrontation der deutschen Bevölkerung mit den Verbrechen. Der Tod, Tote, das Sterben, alles ist präsent, offen, in der Zeit des Kriegsendes. In Flossenbürg in der Oberpfalz werden die Dorfbewohner:innen konfrontiert mit den Opfern eines Todesmarschs, der, kurz bevor die Soldaten der US-Armee den Ort einnahmen, noch von der SS initiiert wurde. Die Leichen der Erschossenen, die immer noch in einem Wald nahe dem Ort in einer Grube lagen, mussten von den Dorfbewohner:innen geborgen und begraben werden. In Buchenwald wurden etwa 1.000 Bewohner:innen des nahen Weimar von der US-Armee mit den Zuständen im befreiten Lager konfrontiert (▶ Abb. 1). Leichen liegen übereinandergestapelt. Männer, Frauen und Kinder wurden, einem Sommerspaziergang gleich, in Richtung Lager geführt und dort mit den Gräueln konfrontiert. Überall im Land wurde die deutsche Bevölkerung den Verbrechen, den Toten gegenübergestellt.

Der Film »Die Todesmühlen« ist ein Zusammenschnitt von Bildern aus den Vernichtungslagern und der ersten Konfrontation der Weimarer Bevölkerung mit den Zuständen in Buchenwald. Doch wer schaute sich den Film an? Für wen war er?

Als in der zweiten Jahreshälfte des Jahres 1945 die Kinos wieder öffneten, lief der Film im Anschluss an das Hauptprogramm. Er war gedacht als pädagogische Maßnahme, als Konfrontation der Menschen mit dem, was in ihrer Nachbarschaft passiert war. Das Ziel war die Verbindung der allgemeinen Gräuel mit einem Verständnis für individuelle Verantwortung. Aber: Wer schaute sich also den Film an? Es waren, schreibt der Historiker Brewster Chamberlin (vgl. 1981, 422), weniger Angehörige der Mittelschicht als vielmehr Intellektuelle, ehemalige Soldaten, Displaced Persons, Kommunist:innen und Sozialdemokrat:innen.

Abb. 1:Die Weimarer Bevölkerung beim Besuch des KZ Buchenwald kurz nach der Befreiung (Walter Chichersky, National Archives, Washington)2

Für den Umgang mit den Verbrechen zur Zeit des Nationalsozialismus ist ein Ausdruck exemplarisch für den Zustand der deutschen Nachkriegsgesellschaft geworden: Die Unfähigkeit zu trauern. Die Psychoanalytiker:innen Alexander und Margarete Mitscherlich veröffentlichten in den späten 1960er Jahren einen Essayband mit eben diesem Titel. Was sie ausmachten, war »[...] eine Reaktionsträgheit, die sich in unserem gesamten politischen und sozialen Organismus bemerkbar macht.« (Mitscherlich/Mitscherlich 1967, o. S.)

Gegenstand ihrer Untersuchung war der größtmögliche Bruch, den eine Gesellschaft erleben kann, und der individuelle Umgang damit. Es ging darum, die Rückkehr in den Alltag nach 1945 zu verstehen – wie konnte der gelingen? Wie erklärte man sich das Geschehene?

»Wir verlangen also nach näherer Aufklärung über den Sprung, den so viele vom Gestern ins Heute taten. Es war eine blitzartige Wandlung, die man nicht jedermann so mühelos zugetraut hätte.« (ebd.)

Aus psychoanalytischer Perspektive (auf die wir mit Freud in den nächsten Abschnitten noch zu sprechen kommen werden) wird der Zusammenbruch des Regimes insbesondere für diejenigen, die ihm anhangen oder zumindest indifferent gegenüberstanden, zu einer persönlichen Niederlage, allerdings weitgehend ohne individuelles Verantwortungsgefühl. »Die Unfähigkeit zu trauern« beschreibt die Abwehrmechanismen der deutschen Nachkriegsgesellschaft, einen Nicht-Willen, sich mit dem Geschehenen auseinanderzusetzen. Ähnlich den Kinobesucher:innen von »Die Todesmühlen«, die die Bilder schrecklich fanden, gleichzeitig aber keine persönliche Verantwortung zu erkennen vermochten. Trauer stehe, ganz psychoanalytisch interpretiert, den beobachtbaren Abwehrmechanismen diametral gegenüber. Letztere zielten darauf ab, Realitätseinsicht und Schmerz zu vermeiden. Beides seien allerdings grundlegende Aufgaben und Folgen der Trauer. Dargestellt wird eine Gesellschaft, die, Mitte der 1960er Jahre, auf dem Weg zum Vergessen ist, ohne jemals getrauert zu haben.

Eingebunden ist diese Analyse in die Zeitgeschichte der 1960er Jahre. Wirtschaftsaufschwung und Restauration sind die charakteristischen Triebfedern der Gesellschaft:

»Im Zusammenhang mit dieser wirtschaftlichen Restauration wächst ein charakteristisches neues Selbstgefühl. Auch die Millionenverluste des vergangenen Krieges, auch die Millionen getöteter Juden können nicht daran hindern, daß man es satt hat, sich an diese Vergangenheit erinnern zu lassen. Vorerst fehlt das Sensorium dafür, daß man sich darum zu bemühen hätte – vom Kindergarten bis zur Hochschule –, die Katastrophen der Vergangenheit in unseren Erfahrungsschatz einzubeziehen, und zwar nicht nur als Warnung, sondern als die spezifisch an unsere nationale Gesellschaft ergehende Herausforderung, mit ihren darin offenbar gewordenen brutal-aggressiven Tendenzen fertig zu werden.« (ebd.)

Die Studie »Unfähigkeit zu trauern« machte also in einem gesellschaftlichen Klima der Verdrängung einerseits und der durch die 68er-Bewegung geforderten Thematisierung der Rolle der Eltern zur Zeit des Nationalsozialismus andererseits ein psychoanalytisches Deutungsangebot. Das Gesellschaftsbild dieser Zeit lässt sich auch mit der wunderbaren Dokumentation »Kulenkampffs Schuhe« (2018) verstehen. In dieser geht es um die Showmaster Hans-Joachim Kulenkampff, Hans Rosenthal und Peter Alexander, die allesamt Kinder zur Zeit des Nationalsozialismus gewesen waren (Rosenthal als Jude versteckt in einem Berliner Kleingarten, Kulenkampff und Alexander als Gegenstände von Hitlers Vereinnahmung der Jugend durch Jungvolk und Hitlerjugend) und im Nachkriegsdeutschland zu Größen des Fernsehens – dem einigende Kraft attestiert wird – aufstiegen.

»Auf eine Behandlung sozialer Probleme im Stil der ›Endlösung‹ kann kein müheloser Übergang in den zivilisierten ›Alltag‹ folgen, ohne daß eine Bewußtseinsspaltung eintritt.« (Mitscherlich/Mitscherlich 1967, 24), schreiben Mitscherlich und Mitscherlich. Interessanterweise spielt diese komplizierteste aller Auseinandersetzungen um Trauer – die Thematisierung von Verantwortung in kollektiven Geschehnissen und Verhältnis zu diesen – in der gegenwärtigen Fachliteratur bestenfalls eine untergeordnete Rolle. Möglicherweise liegt das daran, dass die gegenwärtige Psychologie sich hauptsächlich verhaltenstherapeutisch versteht (auch darauf werden wir noch zurückkommen) und die psychoanalytische Tradition zunehmend in den Hintergrund tritt.

Stimmt also, was eingangs befürchtet wurde: Psychologie, Soziale Arbeit, Pädagogik und so weiter haben das Thema Auschwitz längst abgehakt? In den Standardwerken zur Trauer, die insgesamt hauptsächlich verhaltenstherapeutisch-psychiatrisch dominiert sind, finden sich keine expliziten Abschnitte zur Nachkriegszeit, Re-Education, kollektiver Verantwortung, Auseinandersetzung mit den Erfahrungen und Aufgaben, die das Wissen um Auschwitz stellt. Es taucht höchstens dort auf, wo auf biografische Aspekte der Trauertherapie hingewiesen wird. In den meisten Familiengeschichten finden sich Unausgesprochenes, Verdrängtes, Ignoriertes. Aber als Gesamtthema einer Auseinandersetzung um Trauer ist es merkwürdig still um die Zeit, die erst vor 75 Jahren zu Ende ging. Umso eindrücklicher erscheinen Dokumentationen mit Zeitzeug:innen wie das am 6. Mai 2021 ausgestrahlte »Kinder des Krieges« des Hessischen Rundfunks oder der Sachbuch-Bestseller »Wolfszeit«, in dem aber auch überraschend wenig auf die Auseinandersetzung mit Sterben und Tod eingegangen wird.

Kann man über all das sprechen, losgelöst von bloß betroffener Sprach- und Wortlosigkeit oder, schlimmer noch, Relativismus? Was muss man verstehen, um eine Idee davon zu erlangen, wie sich die Erfahrungen, auch die verdrängten, ignorierten Tatsachen, ausgewirkt haben auf den Umgang mit Sterben, Tod und Trauer?

Das Thema ist zu groß und umfassend. Ratlosigkeit stellt sich ein und bleibt. Gleichwohl bleibt festzuhalten, welch tiefen Einschnitt die Verbrechen der Nationalsozialisten in der Gesellschaft hinterlassen haben. Dies betrifft ganz konkret unseren Umgang mit Sterben und Tod, unsere Sichtweise auf diese Phänomene. Wenn ein ehemaliger Bundesligaprofi vom »Trainieren bis zur Vergasung« spricht, wenn im Bundestag über Sterbehilfe debattiert wird, wenn es um Erinnerungskultur und Denkmäler geht, auch die verspätete Gründung stationärer Hospize, die zunächst als »Sterbekliniken« tituliert wurden: Immer schwebt die Zeit der NS-Diktatur mit. Sie wirkt sich noch immer auf die Mentalität aus. Auch in dem, was vergessen wurde, was die Nationalsozialisten erfolgreich vernichtet haben: Jüdisches Leben mitsamt seiner Kunst, seiner Art zu philosophieren, den Alltag zu gestalten, aber auch das von allen anderen, Sinti und Roma, Menschen mit Behinderung. Wie viele literarische Werke von Weltrang, Musikstücke, Schauspiele, philosophische Werke und so weiter sind verhindert oder vergessen gemacht worden?

Sterben, Tod und Trauer können nicht ohne das Wissen um die Vernichtungslager der Nationalsozialisten gedacht werden. Oder doch? Kann man ignorieren, was geschehen ist? Und wenn man thematisieren möchte: Benötigt man Worte und wo kommen sie her? »Die Unfähigkeit zu trauern«, »der Tod ist ein Meister aus Deutschland«, »nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben ist barbarisch«, oder noch einmal Adorno: »Seit Auschwitz heißt den Tod fürchten, Schlimmeres zu fürchten als den Tod.« (Adorno 1966, 358)

Das alles sind Ausdrücke, die in die Allgemeinsprache übergegangen sind. Das Wissen um die Möglichkeit von Auschwitz verändert jeden Bezug zum Sterben. Sterben, Tod und Trauer sind nicht mehr denkbar ohne das Wissen um die systematische Vernichtung von Juden, Sinti und Roma, Menschen mit Behinderungen, Alten, Kranken, politischen Gegner:innen. Eigentlich.

Endnoten

1Nachzulesen auf: https://fabelhaftebucherwelt.wordpress.com/2021/04/19/rezension-der-ss-staat-das-system-der-deutschen-konzentrationslager-von-eugen-kogon/

2https://commons.wikimedia.org/wiki/File:BesichtigungKLB.jpg

1 Sterben und Tod – Grundlegendes zu einem anthropologischen Problem

Eigentlich müsste das Thema Sterben und Tod also präsent sein, eigentlich auch die Trauer und der Trost. Oder, wenn man die »Unfähigkeit zu trauern« bedenkt, hat diese Zeit eine genau umgekehrte Wirkung, vielleicht hat sie auf eine spezifische Art, dazu beigetragen, dass man sich schwer tut mit diesen Themen.

Um sich der Trauer in der Sozialen Arbeit zu nähern, bedarf es eines grundlegenden Verständnisses umfangreicherer Fragen, das Sterben und den Tod betreffend. Es bedarf des Verständnisses dafür, dass diese Themen anthropologisch – also menschlich – sind, aber ebenfalls des Verständnisses dafür, dass doch die Mentalität zu verstehen ist, wenn man sich Umgängen mit diesen Themen nähern will.

Trauer bezieht sich auf das Sterben (und auf weitere Formen von Verlusten, wie in ▶ Kap. 3 dieses Buches deutlich werden wird). Um allerdings Trauer als Reaktion auf das Sterben zu verstehen, müssen wir uns zunächst ein allgemeines Verständnis vom Sterben und dem menschlichen Umgang mit dem Tod aneignen.

In diesem ersten Abschnitt werden einige Schlaglichter auf den Umgang von Menschen mit ihrem Wissen um die eigene Endlichkeit gelegt, die fundierend für die Auseinandersetzung um Trauer sind. Der menschliche Umgang mit Sterben, Tod und Trauer ist eingebunden in kulturelle Entwicklungen und gesellschaftliche Annahmen, also Normen, Werte und Rituale.

Der erste Abschnitt gliedert sich in drei grundlegende Unterkapitel, die die Überschriften »Kultur als Reaktion auf das Wissen um den Tod« (▶ Kap. 1.1), »Die Problematik der Bestimmung des Todes und der ›soziale Tod‹« (▶ Kap. 1.2) sowie »Orte und Gründe des Sterbens und die Frage nach der Verdrängung des Todes« (▶ Kap. 1.3) tragen. Hierbei handelt es sich um einen Versuch, die Betrachtung von Sterben und Tod in der deutschen Nachkriegsgesellschaft – und in seinen allgemeinen anthropologischen Bedingungen – zu rahmen, in dem Wissen darum, dass es hierfür eigentlich eine eigene Monografie bräuchte.

1.1 Kultur als Reaktion auf das Wissen um den Tod

Wissen Sie, woran und wann Sie sterben werden? Vermutlich nicht. Möglicherweise befremdet Sie sogar die Frage. Erstens möchte man sich damit nun wirklich nicht allzu oft auseinandersetzen, die Zeit kommt schon noch früh genug. Und zweitens gilt der Tod weiterhin als das große Unbekannte, als das Nicht-Planbare, als das einzig gesicherte Faktum menschlichen Lebens, wie schon Augustinus im 4. Jahrhundert n. Chr. festhielt. Es gilt noch immer, wenn auch abgewandelt, der mittelalterliche Spruch: Der Tod ist sicher, die Stunde nicht! Denn längst geht der Trend zur Planung des eigenen Todes. Das eigene Sterben wird zunehmend als Projekt verstanden, als organisierbare Komponente des Lebens, wie der Theologe Reimer Gronemeyer festhält (vgl. 2007, 51 f.). Und nein, damit ist nicht die minuziös vorgeplante Trauerfeier gemeint, nicht die Organisation des Begräbnisses und auch nicht die Regelung von Erbe und Nachlassenschaft. Das alles gehört dazu, gemeint ist aber etwas anderes: Die konkrete Planung des eigenen Todes.

Um diesen Gedanken nachzuvollziehen und überhaupt dieses Phänomen greifbar machen zu können, braucht es einen bereits in der Einleitung angedeuteten Blick in allgemeinere Kulturtheorien. Sterben und Tod sind nämlich, möglicherweise mehr als alles andere, verbunden mit der allgemeinen und spezifischen Kulturentwicklung. Unter anderem bei dem Sozialphilosophen Zygmunt Bauman werden Kulturen, gleich welcher konkreten Ausprägung, als Reaktionen auf den Tod und das Wissen um ihn gedeutet. Gemeint sind all die Dinge, die der Begriff »Kultur« umfasst: Religionen, Institutionen, Normen und Werte, Gebäude, Kunstwerke und so weiter.

Kasten 1:Kultur

Wortgeschichtlich (etymologisch) ist das deutsche Wort »Kultur« entstanden aus dem lateinischen »cultura«. Dieses beschreibt den »Ackerbau«, also einen Bereich menschlichen Lebens, der in Auseinandersetzung mit der Natur vom Menschen gestaltet und erschaffen ist. Zwar werden »Natur« und »Kultur« häufig als Gegensatzpaar verstanden. Gleichzeitig ist »die Kultur«, die es so übrigens auch nicht gibt, abhängig von den natürlichen Voraussetzungen. Dies zeigt sich beispielsweise in Kleidungsstilen oder Essgewohnheiten in bestimmten Gegenden der Welt. Auch die menschliche Praxis des Begräbnisses ist als »Kultur« zu verstehen, sie ist in allen menschlichen Kulturen und Gesellschaften zu finden. Wie begraben wird, ist allerdings häufig ebenfalls abhängig von klimatischen Bedingungen, der Natur im weiteren Sinne.

1.1.1 Eine Skizze zur Beziehung von Kultur und Tod

Der Mensch weiß nicht nur. Er weiß auch, dass er weiß, und er kann sein Wissen nicht rückgängig machen. Die Kultur ist, Bauman folgend, der Versuch des Menschen, des Wissens um die eigene Sterblichkeit habhaft zu werden, ihm etwas entgegenzustellen und, wie man aus Erziehungs- und Bildungstheorie weiß, das Wissen zu tradieren, wenn der Einzelne schon sterben muss (Bauman 1994). Kultur bedeutet in dem Fall Transzendenz, das Überschreiten des bereits vorgegebenen. Die Kultur ist sehr viel schneller wandelbar als die Natur. In Bezug auf das Sterben sind Kulturen ein Versuch des Menschen, dem Tod seine ausschließlich biologische Seite zu nehmen: Durch Kultur ist der Tod nicht mehr nur das Ende des Essens, Verdauens und Zeugens. Bauman schreibt hierzu:

»[...] das Wichtigste und Wertvollste im Leben [...] braucht nicht mit unserem Stoffwechsel aufhören, nicht am Tag danach und niemals. Dem Wertvollsten Dauer zu verleihen, es nicht enden, nicht ›mit uns ins Grab sinken‹ zu lassen, ist jene Mission, die Kultur uns aufgetragen hat.« (Bauman 1994, 12 f.)

Dass der bzw. die Einzelne sterblich ist und darum weiß, liegt hierbei allen Kulturentwicklungen zugrunde. In den Totentanz-Darstellungen des christlichen Mittelalters wurde der Tod im Tanz mit den verschiedenen Ständen der Gesellschaft gezeigt in Erinnerung an die Sterblichkeit der höchsten, aber auch niedrigsten Mitglieder der Gesellschaft. Der Tod war der großer Vereiner, gottgewollt und nicht zu vermeiden.

Gleichzeitig schaffen die kulturellen Möglichkeiten überhaupt erst die Sinngebung des einzelnen Lebens und damit das Streben, es noch besser, reizvoller, angenehmer zu machen. Verschwinden diese Möglichkeiten – der Glaube an Sinn im weitesten Sinne –, entsteht die anomische Situation, die Émile Durkheim in seiner klassischen Studie »Der Selbstmord« (1973 [1897]) als einen Grund für suizidales Handeln ausmacht. Kurz gesprochen heißt es also, dass die kulturell verfügbaren Möglichkeiten Sinn bereitstellen und entziehen.

Als Beispiel noch einmal das christliche Mittelalter (es wird noch häufiger als Vergleich angeführt): Der Tod galt als allgegenwärtig. Permanent war man Todesgefahren ausgesetzt, etwa durch Kriege und Seuchen. Da das Leben hauptsächlich als Übergang ins Jenseits interpretiert wurde und man die Gefahr, das ewige Leben in der Hölle zu verbringen, für sehr real hielt, galt es, im Diesseits ein einwandfreies Leben zu führen. Vorbereitet zu sein war die Maxime.

Kasten 2:Christliches Mittelalter