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In diesem Buch wird die Methodik der systemischen Therapie mit den Grundsätzen moderner Psychotraumatologie und Traumatherapie in Verbindung gebracht. Ziel ist es, traumatisierten Familien Lösungswege zu eröffnen, die ihnen dazu verhelfen können, nach erlittener Traumatisierung ein möglichst symptomfreies Leben zu führen. Neu ist, dass hier praxisorientiert beschrieben wird, wie Eltern und Kinder gemeinsam von Beratung oder Therapie profitieren können. Im ersten Teil werden neben historischen Aspekten der Psychotraumatologie die Ressourcen und Selbsthilfekräfte von Familien erläutert. Anhand von Beispielen wird erörtert, wie Familien und Paare nach einer Traumatisierung von außen (z. B. durch Unglücke, Krieg und Bürgerkrieg, frühkindliche Traumatisierung der Eltern, Tod eines Elternteils, traumatische Erfahrungen bei Pflegekindern) in Beratungsstellen unterstützt werden können. Im zweiten Teil des Buches werden systemtherapeutische Lösungswege im Bezugsrahmen der Kinder- und Jugendpsychiatrie vorgestellt. Die Konzepte der parentalen Hilflosigkeit und der kotraumatischen Prozesse bilden die Grundlage für detailliert beschriebene systemische Interventionen in der Therapie mit komplex traumatisierten Familien, in denen die vermeintliche Traumabewältigung von Einzelnen zur traumatischen Belastung für andere Familienmitglieder wird. Auch hier werden die theoretischen Vorüberlegungen durch Praxisbeispiele verdeutlicht. Vorworte von Gerald Hüther und Wilhelm Rotthaus leiten den Band ein.
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Seitenzahl: 598
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Alexander Korittko/Karl Heinz Pleyer
Traumatischer Stress in der Familie
Systemtherapeutische Lösungswege
Mit Geleitworten von Wilhelm Rotthaus und Gerald Hüther
Mit 8 Abbildungen
4., überarbeitete Auflage
Vandenhoeck & Ruprecht
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
ISBN 978-3-647-99628-8
© 2014, 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen / Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A.www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages.
Satz: SchwabScantechnik, Göttingen
Inhalt
Geleitwort von Wilhelm Rotthaus
Geleitwort von Gerald Hüther
Vorwort
Vorwort zur 4. Auflage
Systemische Therapie und Traumatherapie – eine gute Synthese
Erster Teil: Traumatischer Stress, der von außen auf Familien einwirkt
Stress als Bestandteil familiärer Entwicklung
Wenn nichts mehr ist, wie es war: Trauma und Familie
Die Neurobiologie des Traumas
Die Posttraumatische Belastungsstörung
Generationsübergreifende Perspektiven
Systemische Behandlungsansätze
Exkurs: Historische Aspekte der Psychotraumatologie
Was Familien Stress und Trauma entgegensetzen: Interaktionelle Ressourcen
Posttraumatisches Wachstum
Familienresilienz
Familienressourcen
Wenn die Selbsthilfekräfte wirken: Akute Traumanachsorge
Akute Reaktionen bei Kindern und Jugendlichen
Debriefing
Psychologische Erste Hilfe
Das erstarrte Mobile: Posttraumatische Familieninteraktionen
Wenn das Familienteam vom Schmerz überwältigt ist: Simultane Traumatisierung
Wenn das Familienteam getrennt war: Parallele Traumatisierung
Wenn die Familie mitleidet: Sekundäre Traumatisierung
Wenn die Kindheit katastrophal war: Entwicklungstraumata und Paartherapie
Wenn die Traumavergangenheit in die Gegenwart springt: Traumatisierte Kinder in Pflegefamilien
Wenn Familien mit Schock und Tod umgehen müssen: Traumatische Trauer
Zweiter Teil: Traumatischer Stress, der sich innerhalb von Familien entwickelt
Traumatisierte Eltern und ihre Kinder
Vorbemerkungen zum Bezugsrahmen
Überlegungen zum Trauma aus systemischer Sicht
Exkurs: Dissoziation – Wie wir Stress unter Kontrolle halten
Dissoziation hat viele Erscheinungsformen
Dissoziation als organisierende Kraft
Dissoziation als salutogene Kraft
Wenn Eltern hilflos werden
Das »parentale Trauma« als eigenständige Traumakategorie
Hilflosigkeit als Traumaphänomen
Wenn die Bewältigung des einen zum Trauma des anderen wird
Co-traumatische Prozesse
Spezifische traumatische Beziehungsmuster
»Laisser-faire« als Muster dissoziativer Beziehungsgestaltung
Traumaorientierte Familiendiagnostik
Störungsdiagnostik, ein umstrittenes Thema
Die besonderen Merkmale systemischer Diagnostik
Traumabezogene anamnestische Interviews mit Eltern
Familienfragebogen zur Indikationsprüfung einer traumaorientierten Therapie
Halbstandardisiertes Interview zum elterlichen Wirksamkeitserleben
Modifizierte DESNOS-Kriterien als Leitfaden für die Erfassung elterlicher Befindlichkeit
Systemische Vorgehensweisen
Selbstorganisation, Ressourcen-, Beziehungs- und Kontextorientierung als Prämissen
Information und Energie: Zwei Aspekte des Traumas und seiner Bewältigung
Muss man Traumatisierte zu ihrem Glück zwingen?
Einige Regeln für die Arbeit in komplex traumatischen Konstellationen
Einen Kontext schaffen, der Veränderungen anregt
Die Arbeit mit Eltern und ihren Kindern: Sechs Grundsätze
Stärkung der parentalen Kompetenz als zentrales Therapieziel
Interventionen in Muster und Strukturen
Typische Schwerpunkte im Therapieverlauf
Eine fragmentierte kindliche Persönlichkeit: Kommentierter Therapieverlauf
Ausblick
Literatur
Anhang
Informationsblätter
Diagnosestellung und Therapieverlauf
Literaturempfehlungen für Betroffene
Geleitwort
Dieses Buch hätten die Autoren auch Lehrbuch einer traumaorientierten systemischen Familientherapie nennen können. Denn sie schildern und veranschaulichen ein Arbeiten mit traumatisierten Personen im Kontext ihrer relevanten Bezugspersonen, in unserer Kultur zumeist Familienangehörige, das die Beziehungen des Traumatisierten innerhalb seines wichtigsten Bezugsfeldes in den Blickpunkt rückt und zu beeinflussen sucht, sei es mit dem Ziel der Unterstützung bei der Bewältigung der traumatischen Erfahrungen, sei es mit dem Ziel der Vermeidung sekundärer Traumatisierungen auf Seiten der Angehörigen, immer in der Absicht, eine ungestörte familiale Entwicklung wieder zu ermöglichen. Dabei konzentriert sich Alexander Korittko vorwiegend auf die Auswirkungen von Traumata, die von außen auf Familien eingewirkt haben, während Karl Heinz Pleyer komplexe Traumafolgestörungen innerhalb von Eltern-Kind-Beziehungen behandelt.
Psychische Traumata sind auf den ersten Blick höchst individuelle Folgen »eines kurz oder lang anhaltenden Ereignisses von außergewöhnlicher Bedrohung mit katastrophalem Ausmaß, das bei nahezu jedem eine tiefgreifende Verzweiflung auslösen würde« (ICD-10). Insofern ist der Gedanke naheliegend, Traumaarbeit erfordere einen individuumzentrierten, auf die psychischen Strukturen des Betroffenen ausgerichteten Blick, während eine systemische, auf die Beziehungen in einem größeren Kontext, zum Beispiel der Familie, orientierte Sicht demgegenüber dem Problem wenig angemessen erscheint.
Doch gleich im Vorwort verweisen die Autoren auf die Kurzschlüssigkeit eines solchen Denkens. Traumatisierende Erfahrungen sind nämlich keine Ereignisse, die ihre Wirkungen in direkter Abhängigkeit von Ausmaß und Schwere des Traumas entfalten. Vielmehr werden dessen Folgen durch die Bewältigungsmechanismen des Einzelnen in sehr unterschiedlicher Weise beeinflusst und modifiziert. Und diese Traumabewältigung »vollzieht sich bei Betroffenen in Kommunikation mit sich selbst und mit anderen. Ihr Erfolg ist von erlebten Beziehungen und den Reaktionen der anderen abhängig« (S. 17, Vorwort der Autoren).
Die Traumabewältigung des Einzelnen wird dabei nicht nur in rekursiven zirkulären Interaktionsprozessen mit den aktuellen Bezugspersonen beeinflusst, sondern die Bezugspersonen sind in ihrer Reaktion umgekehrt auch von der Art und Weise der Traumabewältigung des Einzelnen abhängig. Zudem ist in nicht seltenen Fällen auch eine generationenübergreifende Perspektive erforderlich, um zu erkennen, wie traumatische Erlebnisse von einer Generation auf die nächste weitergegeben werden können und damit auch die mit ihr verbundenen emotionalen Probleme.
Die Genesung des Traumatisierten in den vier bis sechs Wochen nach dem traumatisierenden Ereignis, in der ersten Schockphase also, hängt bereits entscheidend davon ab, wie sich die wichtigsten Bezugspersonen dem Traumatisierten gegenüber verhalten. Ihr Unterstützungsprozess fordert jedoch gegebenenfalls einen hohen Preis dadurch, dass sie ebenfalls den Schmerz und die Verzweiflung spüren und in einen Zustand von Erschöpfung geraten. Diejenigen, die sich um die Opfer kümmern, können dann selbst zum Opfer werden, wenn nicht auch sie angemessene Unterstützung erhalten.
Alexander Korittko zeigt im ersten Teil des Buches in eindrucksvoller Weise auf, wie gut sich Traumatherapie und systemische Therapie miteinander verbinden lassen und wie notwendig diese Verbindung ist für den, der die traumatisierten Menschen und seine Angehörigen angemessen unterstützen will. Dabei vermittelt er den erfahrenen Traumatherapeutinnen wichtige systemische Einstellungen, Haltungen und Methoden, während er den systemischen Therapeutinnen eine Fülle von Anregungen und Konzepten aus seinem Erfahrungsschatz als bereits über Jahrzehnte tätiger Traumatherapeut vorstellt.
Korittko beschränkt sich dabei weitgehend auf die Auswirkungen von Traumata, die von außen auf Familien eingewirkt haben, und behandelt systemische Vorgehensweisen, die dem Ziel dienen, in solchen Fällen posttraumatischen Stress zu bewältigen. Das ist didaktisch sicherlich geschickt, da dadurch die zusätzlichen Komplikationen, die in Fällen innerfamiliäre Gewalt zu beachten sind, zunächst einmal ausgeklammert werden. Zudem scheint diese Konstellation eher dem Erfahrungsspektrum des Autors zu entsprechen. Aber zweifellos ist gerade auch bei der Arbeit mit Traumastörungen in der Folge eines innerfamiliären Missbrauchs eine systemische Betrachtungsweise und ein systemisches Arbeiten von großer Bedeutung. Allerdings sind in solchen Fällen sowohl im Voraus als auch im Therapieprozess immer wieder neu Settingentscheidungen sehr sorgfältig zu treffen, die sicherstellen, dass primäre Opfer und eventuelle sekundäre Opfer eindeutig geschützt und nicht retraumatisiert werden.
Spätestens seit Mitte der 1990er Jahre hat Traumatherapie im psychotherapeutischen Feld eine zunehmend große Aufmerksamkeit erfahren. Immer mehr Publikationen sind erschienen, spezielle Weiterbildungsangebote wurden lebhaft nachgefragt, und es entstanden eine Vielzahl hoch spezialisierter Behandlungseinrichtungen für traumatisierte Menschen. Im Verlauf dieser Entwicklung hat sich der Traumabegriff kontinuierlich erweitert. Naturkatastrophen, technische Katastrophen und Unfälle, Terrorhandlungen und kriegerische Ereignisse mit ihren unendlich vielfältigen Missbrauchshandlungen und körperlichen und seelischen Verwundungen machten deutlich, wie verbreitet mono- und polytraumatische Erfahrungen mit ihren gravierenden langfristigen psychischen Auswirkungen sind. Immer mehr wurde im Laufe der Zeit aber auch wahrgenommen, dass nicht nur große dramatische Ereignisse Traumafolgestörungen auslösen können, sondern dass auch im Nahbereich, beispielsweise in Familien, Menschen vor allem im Kindesalter durch Vernachlässigung, inadäquate Versorgung und Misshandlungen chronischen interpersonalen Traumata ausgesetzt sind, die ein durchaus charakteristisches Störungsbild zur Folge haben. So setzt sich das 2001 in den USA gegründete nationale Traumanetzwerk für Kinder (»National Child Traumatic Stress Network« – NCTSN) dafür ein, dass die Posttraumatische Belastungsstörung in den psychiatrischen Klassifikationen um die Entwicklungstrauma-Störung ergänzt wird, da sich interpersonale Traumatisierungen in der Entwicklung in der Posttraumatischen Belastungsstörung nicht zutreffend abbilden lassen.
In diesem Konzept der Entwicklungstrauma-Störung werden die Folgen unsicherer und gestörter primärer Bindungen zu den Eltern oder sonstigen primären Beziehungspersonen für die Entwicklung eines Kindes ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt. Karl Heinz Pleyer erweitert diese Perspektive im zweiten Teil dieses Buches nun noch um eine weitere Dimension, indem er den Blick auch auf die Eltern dieser Kinder lenkt und sich mit den Traumata beschäftigt, die bei ihnen durch Lebenskrisen wie Paarkonflikte, Trennungen oder fortgesetzte Unterdrückung, aber auch durch gemeinsame Belastungen und die Entwicklung co-traumatischer Beziehungsmuster in der Folge von Behinderungen, Krankheiten, Verlust eines Kindes und dem Scheitern in der Erziehung hervorgerufen wurden. Seiner Erfahrung nach sind Eltern von Kindern mit schwerwiegenden Entwicklungs- und Verhaltensauffälligkeiten signifikant überdurchschnittlich durch eigene traumatische Erfahrungen vorbelastet. Um den Begriff des Traumas als Grundlage für die für ihn zentrale, in sehr unterschiedlichen Erscheinungsformen zu beobachtende »parentale Hilflosigkeit« zu rechtfertigen, verweist er auf Khan, der den Begriff des »kumulativen Traumas« geprägt hat, das aus Ereignissen und Belastungen resultiert, die jede für sich unterhalb der Traumaschwelle liegen, sich jedoch zu einem traumaäquivalenten Ereignis summieren.
Zudem sucht er, die Realität in solchen Familien mit dem Konstrukt der »komplexen traumatischen Konstellation« angemessen zu erfassen. Er sieht die Grundkriterien der traumatischen Konstellation erfüllt, wenn beispielsweise in belasteten Eltern-Kind-Beziehungen die biologisch verankerte existenzielle Verantwortung als wesentlicher Bestandteil vor allem des mütterlichen Selbstwerterlebens zugleich mit dem intuitiven Bewusstsein der Unentrinnbarkeit verbunden ist. Würden in der konkreten Erziehung trotz aller Bemühungen die Bewältigungsmöglichkeiten der Eltern nachhaltig überfordert, sei prinzipiell mit denselben Folgen zu rechnen, wie sie auch im Falle eines Monotraumas beschrieben werden: das Erleben von extremer Hilflosigkeit und eines Ausgeliefertseins einer Situation von existenzieller Bedrohung mit den Symptomen Übererregung, Intrusionen und Konstriktion. In der Beziehungsgestaltung mit den Kindern seien dann Verzerrungen in der Wahrnehmung, Anpassungs- und Unterwerfungsstrategien sowie dauerhafte Veränderungen im Selbst- und Weltverständnis zu beobachten. Eine belastete Beziehung zum Kind oder das Scheitern in der elterlichen Funktion würden als gleich schwerwiegend erlebt wie eine vitale Bedrohung oder der Verlust eines Kindes durch Tod. Wenn ein so schwerwiegendes Erleben die Bewältigungsmöglichkeiten von Eltern überfordere, scheine es angemessen, von einem »parentalen Trauma« zu sprechen.
Indem Pleyer nun mit dieser Traumaperspektive auf Eltern schaut, die in unterschiedlicher Weise »parentale Hilflosigkeit« erleben, eröffnet er eine Fülle von Verstehensmöglichkeiten für diese Eltern. Mütter und Väter, die so oft als »erziehungsunfähig« abqualifiziert werden und denen in vielen Fällen der Entzug der elterlichen Sorge droht, können sich nun Therapeutinnen gegenüber sehen, die ihnen nicht nur Zuversicht auf ein parentales Selbstwirksamkeitserleben und vielfältige Ideen für die gemeinsame Arbeit in Aussicht stellen, sondern die ihnen auch Erklärungsmodelle für ihr elterliches Versagen anbieten. Das macht dieses Konzept für jeden Kindertherapeuten lesens- und bedenkenswert.
Auch wenn Pleyer sein Konzept eindrucksvoll belegt und an vielen Fallbeispielen darstellt, wie dieses Verstehensmodell nicht nur einen Zugang zu den Eltern eröffnet, sondern wie sich auch vielfältige therapeutische Strategien daraus ableiten lassen, kann man sich doch irritiert fühlen durch die neuerliche Ausweitung des Traumabegriffes, die hier zweifellos erfolgt. Man fragt sich, wo die Grenze zu anderen schweren Belastungen, die die Bewältigungsmöglichkeiten einer Person überfordern und therapeutische Hilfe notwendig machen, zu ziehen ist.
Andererseits aber könnte auch ein großer Gewinn darin liegen, wenn durch die Ausweitung des Traumabegriffes die in der Traumatherapie entwickelten Konzepte und Behandlungsstrategien in die Realität mehr oder weniger alltäglicher Psychotherapiepraxis hereingeholt werden. Der Mythos »Trauma«, der in Supervisionen in den letzten Jahren vielfältig zu beobachten war und häufig zu einer Schockstarre der Therapeutinnen führte, wenn sie glaubten, sich bislang nicht hinreichend für Traumaarbeit qualifiziert zu haben, scheint sich auf diese Weise ein Stück weit aufzulösen, wovon alle Therapeutinnen und vor allem die von ihnen behandelten Eltern und Kinder profitieren könnten. Ich möchte dieses Buch als hervorragende, praxisnahe Einführung in eine traumaorientierte Familientherapie allen Therapeutinnen egal welcher »Schulenzugehörigkeit«, die mit Familien, mit Eltern und mit Kindern beziehungsweise Jugendlichen arbeiten, sehr empfehlen.
Wilhelm Rotthaus
Geleitwort
Unser Gehirn ist ein Sozialorgan – und es wird Zeit, dass wir es auch so behandeln. Das menschliche Gehirn strukturiert sich anhand der im Lauf des Lebens gemachten Erfahrungen. Primär sind das immer Erfahrungen, die wir in der Beziehung zu anderen Menschen machen. Und die entscheidenden Beziehungserfahrungen macht jeder Mensch bereits als kleines Kind in seiner Herkunftsfamilie. Die neuronalen Beziehungsmuster in unseren Gehirnen sind deshalb Ausdruck und Folge dieser primär im Zusammenleben mit den Mitgliedern unserer jeweiligen Familie gemachten Beziehungserfahrungen. Diese vor allem in der präfrontalen Rinde in Form von gebahnten Verschaltungsmustern verankerten Erfahrungen im Zusammenleben mit den Mitgliedern unserer Herkunftsfamilie bestimmen unsere Haltungen, unsere Bewertungen, unsere Entscheidungen, unser Denken, Fühlen und Handeln. Von diesen frühen Erfahrungen hängt es ab, was wir später für wichtig halten, was wir vermeiden, wofür wir uns interessieren, was wir ablehnen, wofür wir uns begeistern und was wir für bedeutsam halten. Es sind also diese frühen Erfahrungen, die darüber bestimmen, wie und wofür wir unser Gehirn fortan nutzen und damit auch weiter strukturieren.
All das ist spätestens seit der Jahrhundertwende bekannt, durch eine Vielzahl neurobiologischer Untersuchungen bestätigt und inzwischen sogar durch populärwissenschaftliche Darstellungen und Sachbücher einer breiten Öffentlichkeit bekannt gemacht. Die Spatzen pfeifen es sozusagen vom Dach.
Und dennoch wird bis heute in vielen psychotherapeutischen und psychiatrischen Einrichtungen noch immer versucht, einzelne Patienten oder gar das Gehirn der betreffenden Patienten zu behandeln. Die Erfolge dieser Therapien werden mit objektiven Verfahren, am besten doppeltblind- und placebokontrolliert, verifiziert, meist im Verlauf oder unmittelbar nach Abschluss der Behandlung. Was sich unter diesen Voraussetzungen »objektiv« nachweisen lässt, entspricht dann nicht nur den Erwartungen, es ist auch das Einzige, was unter diesen Bedingungen herausgekommen kann: Am effizientesten erweisen sich bei solchen Messungen all jene Therapieformen, die durch die Verabreichung psychoaktiver Medikamente die Funktion des Gehirns in der jeweils angestrebten Weise verändern, gefolgt von Verhaltenstherapien, die gezielt einzelne Hirnfunktionen trainieren und damit zu entsprechenden Bahnungsprozessen der dabei aktivierten neuronalen Netzwerke führen.
Systemische, familientherapeutische Ansätze landen in derartigen Wirksamkeitsstudien weit abgeschlagen. Sie lassen sich weder doppeltblind und placebokontrolliert durchführen noch zielen sie auf die Veränderung eines spezifischen Messparameters einer einzelnen Person.
Aber systemtherapeutische Lösungswege, die die ganze Familie in den Blick nehmen, sind nach allem, was die Hirnforscher in den letzten Jahren herausgefunden haben, die geeignetsten Verfahren, verstrickte oder verstörte Beziehungsmuster innerhalb der Familie aufzulösen und zu korrigieren. Nur so können die Beteiligten und nicht zuletzt auch die »Symptomträger« in der Familie neue, andere Erfahrungen in ihrer Beziehung zu den anderen Mitgliedern des Familiensystems machen. Und nur so können neue, andere neuronale Netzwerkstrukturen in ihrem Gehirn miteinander verbunden, gebahnt und nachhaltig stabilisiert werden. Dies gilt nicht zuletzt auch für Menschen, die mit traumatischem Stress umzugehen haben.
Es ist schon etwas verrückt: Genau diejenigen therapeutischen Interventionen, die dem neuesten Stand der wissenschaftlichen Erkenntnis entsprechen und aus dieser Perspektive auch als am wirksamsten einzuschätzen sind, lassen sich mit den gegenwärtig eingesetzten evidenzbasierten Messverfahren am schlechtesten im Hinblick auf ihre Wirksamkeit validieren.
Wenn sich Erfolge nicht mit den Methoden nachweisen lassen, die von anderen Disziplinen entwickelt und eingesetzt worden sind, muss man andere Wege gehen und nach anderen, geeigneteren Verfahren suchen, um zu zeigen, dass das, was man macht, auch funktioniert.
Eine – und wahrscheinlich auch die erfolgversprechendste – Vorgehensweise besteht darin, für andere Personen, die ähnliche Probleme bearbeiten und die in ihrer täglichen Arbeit vor ähnlichen Schwierigkeiten stehen, ein Buch zu schreiben.
Nicht um sie zu belehren, wie es geht und wie man es zu machen hat. Sondern um sie einzuladen, zu ermutigen und sogar ein bisschen zu inspirieren, sich mit dieser Sichtweise und diesem Ansatz auseinanderzusetzen, es so oder so ähnlich zu versuchen. Wer sich darauf einlässt, wird dann vielleicht feststellen, dass es wirklich so geht, dass es so sogar leichter geht und nachhaltiger wirkt als so vieles, was evidenzbasiert, doppeltblind und placebokontrolliert validiert worden ist. Auf lange Sicht setzt sich immer das durch, was sich im realen Leben, also im konkreten Zusammenleben in diesen Familien, bewährt.
Deshalb bin ich froh, dass Alexander Korittko und Karl Heinz Pleyer ihre in langjähriger therapeutischer Praxis gesammelten Erfahrungen über die Auswirkungen traumatischer Belastungen auf Familien und über die von ihnen erfolgreich eingesetzten systemtherapeutischen Lösungsstrategien in diesem Buch zusammengefasst haben. Solche Bücher sind ein Schatz, denn sie verraten etwas über das Geheimnis des Gelingens.
Gerald Hüther
Vorwort
Als wir uns kennen lernten und damit begannen, unsere Erfahrungen mit traumatisierten Familien auszutauschen, stellten wir bald fest, dass uns ein ähnlicher professioneller Werdegang miteinander verbindet.
Wir sind beide seit über 30 Jahren in unseren jeweiligen Praxisfeldern tätig gewesen: ambulante Jugend- und Familienberatung (Alexander Korittko) und stationäre Kinder- und Jugendpsychiatrie (Karl Heinz Pleyer). Diese Praxisfelder haben trotz ihrer unterschiedlichen Kontexte bei uns beiden eine ähnliche Sichtweise geprägt. Das in unterschiedlichen Ausprägungen und mit unterschiedlichen Symptomen vorgestellte verhaltensauffällige (verhaltensoriginelle) Kind stand in beiden Praxisfeldern zusammen mit seinen Eltern im Mittelpunkt. Waren wir zu Beginn unserer Berufstätigkeit Ende der 1970er Jahre noch voller Hoffnung, durch gute Beratung der Eltern und therapeutische Interventionen im Einzelsetting mit Kindern und Jugendlichen die erhofften Veränderungen bewirken zu können, merkten wir dabei immer deutlicher, dass Kinder nicht an ihren Eltern vorbei therapiert werden können.
Mit den ersten Fortbildungen in Familientherapie bei erfahrenen niederländischen und US-amerikanischen Kollegen setzte sich in unseren beiden Handlungsfeldern zunehmend eine systemische Sichtweise durch. Wir nahmen an einem professionellen Umdenkungsprozess teil, der in den 1980er Jahren neben großen Teilen der Psychotherapieszene auch die ambulante und stationäre Jugendhilfe erfasste. Wir setzten eine »familiendiagnostische Brille« auf, durch die das Kind in Interaktion mit seinen relevanten Bezugspersonen gesehen wurde. Systemtherapeutische Interventionen, die die Veränderung der Beziehungen der Familienmitglieder zueinander zum Ziel hatten, wurden genutzt. Die Einflüsse des sozialen Kontextes auf die Familie wurden in die Überlegungen einbezogen. Wir gelangten zu der Ansicht, dass gerade Psychotherapie und Beratung mit Kindern immer kontextorientiert sein müsse, weil sie sonst kaum erfolgreich sein kann. Was zwischen den Menschen passiert, wurde uns wichtiger als das, was bei innerpsychischen Konflikten des Einzelnen geschieht.
Heute sehen wir biologische und entwicklungspsychologische Dimensionen, familiäre und soziale Faktoren als interaktiv an. Wir gehen in einer konstruktivistischen Sicht davon aus, dass es objektive Fakten gibt, so genannte »harte Daten« (z. B. Tod, Krieg, Gewalt, Krankheiten, Körpergröße, Einkommen), und so genannte »weiche Daten«, nämlich die subjektiv geprägten sprachlichen Interpretationen von psychosozialen Wirklichkeiten, die abhängig vom Beobachter und vom Kontext benannt werden. Wir nehmen auch an, dass die Kräfte zur Veränderung in den Menschen und ihren Netzwerken vorhanden sind, wenn auch zum Teil verschüttet, und nehmen als systemische Therapeuten und Berater die Rolle eines Coachs zur Förderung der Selbsthilfekräfte der Klienten ein. Wir supervidieren Selbstheilungsversuche, die noch nicht zum gewünschten Ziel geführt haben.
Die Sichtweise, bei Auffälligkeiten von Kindern kontextbezogen zu arbeiten, hat sich inzwischen in Theorie und Praxis durchgesetzt, doch zunehmend werden Zweifel geäußert, ob Kinder wirklich alters- und kindgerecht in die Praxis der systemischen Therapie einbezogen werden. In vielen Institutionen, die systemische Konzepte anwenden, handle man erwachsenenorientiert und reduziere die Kinder auf die passive Rolle des diagnostischen Hilfsmittels, lautet die Kritik. Im Vergleich zu einem kindzentrierten Setting (z. B. Spieltherapie) oder einem elternzentrierten Setting (z. B. Elterntraining) bevorzugen wir beide sowohl eine familienzentrierte Arbeit (Eltern und Kinder in einem Raum) als auch Interventionen, bei denen Eltern und Kinder die Akteure sind. Hier greifen wir gern auf Interventionsformen unserer Familientherapie-Lehrmeister und -meisterinnen zurück, die vorrangig erlebnisorientierte Veränderungsstrategien fokussierten (z. B. Salvador Minuchin, Virginia Satir, Jay Haley, Mieke Crolla-Baggen, Martin Kirschenbaum, Carole Gammer), und vermeiden Interventionen, die den Menschen ausschließlich über den Verstand erreichen wollen. Ergebnisse der Hirnforschung unterstützen diese Haltung: Menschen lernen nachhaltiger und intensiver, wenn sie emotional beteiligt sind, sozusagen mit »Herz und Seele«.
Als wir ab Anfang der 1990er Jahre von traumaspezifischen Denkweisen, Konzepten und Interventionen erfuhren, wurde jedem von uns beiden klar, dass es sich bezogen auf Kinder und Jugendliche hier um eine Verdichtung der neuen Erkenntnisse der Neurobiologie, der Bindungsforschung, der Forschung über frühe Eltern-Kind-Interaktionen (»Baby watching«) in der Kombination mit speziellen traumaorientierten Interventionen handelt und dass dieser Fundus an wichtigen Erklärungs- und Veränderungsmodellen unbedingt in die systemische Arbeit integriert werden sollte.
Uns wurde aber auch deutlich, dass dieses neue Wissensfeld um eine systemische Perspektive bereichert werden muss. Im herkömmlichen Verständnis stören oder zerstören traumatische Erfahrungen psychische Strukturen. Dabei liegt der Fokus der herkömmlichen Psychotraumatologie überwiegend beim Individuum und seiner Befindlichkeit. Eine systemische Sichtweise bezieht jedoch die Reaktionen des Umfeldes und die Gegenreaktionen des Individuums (zirkuläre rekursive Interaktionsprozesse) mit ein. Individuelle Traumaerfahrungen veranlassen die soziale Umgebung direkt oder indirekt zu Anpassungsreaktionen, die nicht selten mit beträchtlichen Veränderungen der Beziehungsstruktur einhergehen. Auch bei kollektiven Traumatisierungen werden nicht nur individuelle intrapsychische Strukturen beeinflusst, sondern das Trauma gestaltet die Beziehungen innerhalb des Systems ebenso wie nach einer Traumatisierung des Einzelnen. Nicht selten, so stellten wir fest, hat eine Traumatisierung eine Fragmentierung von Beziehungen zur Folge, die wiederum eine gelungene Traumabewältigung unwahrscheinlicher macht.
Traumabewältigung als Selbstheilungsversuch des psychischen Systems oder als Versuch der Problemlösung vollzieht sich bei Betroffenen in Kommunikation mit sich selbst und mit anderen. Ihr Erfolg ist von erlebten Beziehungen und den Reaktionen der anderen abhängig. Individuelle Aktivitäten zur Stressbewältigung haben gestaltenden Einfluss auf Beziehungsstrukturen in Familien und in größeren Systemen. Und die kontextuellen Rückkoppelungen haben Einfluss auf die Stressbewältigung von Einzelnen. Insofern muss die therapeutische und beraterische Praxis unterschiedliche Systemebenen im Blick behalten: die neurobiologische Ebene, die innerpsychische Ebene und den körperlichen Ausdruck von Emotionen und Gedanken, die Paar- und Familienebene, das erweiterte familiäre Netzwerk und den sozialen, politischen, kulturellen und religiösen Kontext.
Traumabezogene Therapie kann auf einen systemischen Verstehens- und Interventionsrahmen nicht verzichten. Traumata fragmentieren nicht nur psychische Strukturen und führen zu traumadeterminierten Körper-, Kognitions-, Emotions- und Verhaltensmustern, sondern fragmentieren auch die Beziehungen der Menschen zueinander. Wir haben uns deshalb auch bei der Arbeit mit Traumata für eine systemische Sichtweise von menschlichem Denken, Fühlen und Handeln und für systemische Interventionsformen entschieden. Wir bevorzugen daher für unsere Arbeit mit den Traumafolgestörungen bei Kindern, Eltern und Familien die Bezeichnung »traumaorientierte systemische Therapie«.
Dies sind gemeinsame Standpunkte, die uns dazu veranlasst haben, dieses Buch zu schreiben. Es gibt aber auch Unterschiede zwischen uns. Unsere beiden unterschiedlichen Arbeitsfelder haben auch dazu geführt, dass wir uns jeweils mit unterschiedlichen Formen der Traumatisierung auseinandergesetzt haben. Alexander Korittko ist Autor des ersten Teils des Buches, in dem es vorrangig um Traumatisierungen geht, die von außen auf Familien einwirken, ein häufiger Beratungs- und Therapieanlass in der ambulanten Jugendhilfe. Karl Heinz Pleyer schildert als Autor des zweiten Teils seine Erfahrungen mit komplexen Traumafolgestörungen innerhalb von Eltern-Kind-Beziehungen aus der Kinder- und Jugendpsychiatrie. Unterschiedliche Handlungsfelder bedingen auch unterschiedliche Arbeitskontexte. In einer Beratungsstelle werden Therapeuten, auch wenn sie Teil eines multidisziplinären Teams sind, im direkten Kontakt zu der Familie eher auf sich gestellt sein. Im stationären Kontext, in dem auch eine multiprofessionelle Dienstleistung erwartet wird, kommt es darauf an, dass Therapie das Ergebnis einer Mannschaftsleistung ist. Wir meinen, dass gerade die Kombination von Erfahrungen aus unterschiedlichen Handlungsfeldern einen besonderen Reiz dieses Buches ausmachen könnte.
Natürlich haben wir uns auch gefragt, welchen persönlichen und familiären Hintergrund es haben mag, dass wir uns dem Thema Trauma besonders angenommen haben. Als Angehörige einer Generation, deren Eltern und Großeltern intensiv unter den grauenhaften Auswirkungen des Zweiten Weltkrieges zu leiden hatten, die die Flucht aus Ostpreußen beziehungsweise Schlesien überlebt hat und in den frühen 1950er Jahren in Städten und Dörfern lebte, in denen die Folgen der Bombardierung und kriegsbedingten Zerstörung direkt zu spüren waren, war unsere Kindheit direkt und indirekt von vielerlei Traumata beeinflusst. Nur wurde das damals nicht so benannt. Ein mindestens sekundäres Interesse an Fragen der Resilienz, also dem emotionalen Gedeihen trotz widriger Umstände, und an posttraumatischem Wachstum betrifft daher auch den Umgang mit traumatischem Stress in der Kriegs- und Nachkriegsgeschichte unserer eigenen Familien.
Wir haben uns dazu entschlossen, zwei wesentliche Bereiche, die im Zusammenhang mit innerfamiliärer Traumatisierung eine Rolle spielen, in diesem Buch nur geringfügig zu berücksichtigen: sexuelle Gewalt und Sucht. Obwohl wir im Laufe unserer Arbeit mit Kindern und ihren Familien auch mit sexueller Gewalt und Auswirkungen von Alkoholabhängigkeit und anderen Formen von stofflich gebundenen Süchten zu tun haben, erleben wir uns nicht als Experten in diesem Bereich. Wir schätzen und nutzen immer wieder die enorme Fachkompetenz von Kolleginnen und Kollegen in hierfür spezialisierten Institutionen.
Aus Gründen der besseren Lesbarkeit haben wir uns dazu entschieden, oft nur die männliche oder die weibliche Form zu wählen. Dies geschieht nicht in der Absicht, Frauen oder Männer zu diskriminieren.
Wir möchten schon zu Beginn des Buches unseren Dank an all die Familien zum Ausdruck bringen, von denen wir in vielen Berufsjahren lernen durften, welche Formen von Beratung und Therapie zum Erfolg führen und welche Interventionen verbesserungswürdig sind. Vielleicht haben wir von ihnen sogar mehr gelernt als von unseren therapeutischen Lehrmeisterinnen und Lehrmeistern.
Vorwort zur 4. Auflage
Seit dem Erscheinen unseres Buches 2010 sind einige Jahre ins Land gegangen und wir sind erstaunt und froh darüber, welch enormen Anklang dieser Band in der Fachwelt und darüber hinaus gefunden hat. Im Dialog mit Leserinnen und Lesern ist uns deutlich geworden, an welchen Stellen Ergänzungen und klarere Beschreibungen unserer Ideen von Nutzen sein könnten. Wir haben sie in die vierte Auflage eingearbeitet. Zusätzlich ist es unser Wunsch, neuere Entwicklungen aufzugreifen und in unsere Texte einzufügen, Entwicklungen, die in den ersten Auflagen noch nicht berücksichtigt werden konnten.
Die derzeit in Fachmedien ambitioniert geführte Debatte um die psychiatrische Diagnostik nach DSM und ICD hat uns veranlasst, dem Kapitel »Traumaorientierte Familiendiagnostik« eine Zusammenfassung der wesentlichen Argumente dazu voranzustellen. Die Skizzierung des derzeitigen Fachdiskurses mag einen Eindruck vermitteln, wie viel Klärungsbedarf nach wie vor besteht. Die Fachwelt ist noch lange nicht so weit, Traumata und Traumafolgestörungen in jedem Fall eindeutig und für Behandler und Betroffene plausibel diagnostizieren zu können.
Zum einen haben wir einen großen Nutzen darin erkannt, die »Traumabrille« aufzusetzen und hinter den so genannten psychischen Störungen weit mehr als bisher traumabezogene Zusammenhänge zu erkennen. Zum anderen wird immer deutlicher, dass Zurückhaltung geboten ist, um nicht einen unangemessen inflationären Umgang mit dem Traumabegriff zu fördern. Unser Anliegen ist deshalb lediglich, den Leserinnen und Leser zu helfen, einen eigenen Standpunkt zu entwickeln, um von Fall zu Fall zu einer realistischen Einschätzung über Chancen und Grenzen von traumaorientierten Lösungswegen zu gelangen.
Systemische Therapie und Traumatherapie – eine gute Synthese
Was beim einen Stress hervorruft, lässt bekanntlich andere unberührt. In ihrer psychischen Belastbarkeit und spezifischen Vulnerabilität unterscheiden sich Menschen ganz erheblich. Diese Tatsache unterstützt die (konstruktivistische) Sicht, dass für die Entstehung einer Traumatisierung nicht das Einwirken eines äußeren Ereignisses auf die Psyche allein ausschlaggebend ist. Als weiterer entscheidender Faktor ist viel mehr die innere Bewertung durch den oder die Betroffenen von Bedeutung, die je nach Konstitution, aktueller Befindlichkeit und den Variablen des jeweiligen Kontextes die damit verbundenen psychophysischen Reaktionen bedingen. Dieser Umstand verweist wiederum auf die bemerkenswerte Tatsache, dass die Verantwortung für die subjektive Einschätzung und Bewertung der eigenen Möglichkeiten und Grenzen grundsätzlich bei den Betroffenen liegen. Daraus leitet sich die therapeutische und beraterische Aufgabe ab, Klienten darin zu stärken, sich als aktive Gestalter ihres erlebten Schicksals und als Autoren ihrer (Trauma-)Biographie zu begreifen, und sie nicht darin zu fördern, ein Selbstbild vom hilflosen Opfer zu stabilisieren.
Traumafolgestörungen sind definiert als psychische und physische Reaktionen auf extremen Stress, der die aktuellen Bewältigungsmöglichkeiten des Betroffenen überfordert (u. a. bei Fischer, 1999). Werden durch äußere (oder innere) Stressoren willentlich nicht kontrollierbare physiologische und psychologische Notfallreaktionen hervorgerufen und werden dadurch Gefühle von Ohnmacht und Hilflosigkeit zu dominanten Lebensqualitäten, so entsteht aus systemischer Sicht die (subjektive) Überzeugung, dass die verfügbaren »inneren Landkarten« keine Orientierung mehr geben. Je nach Intensität und Dauer eines solchen Zustandes gehen nachhaltig Bereitschaft und Kraft verloren, gewohnte Bewältigungsstrategien anzuwenden. Tatsächlich verfügbare Ressourcen bleiben dann ungenutzt und das Individuum oder das Familiensystem verlieren die Fähigkeit, sich neue Ressourcen zu erschließen. So gestalten sich die Traumafolgestörungen als einengende Lösungsversuche.
Nachdem die ursächlichen Ereignisse auf die Familie eingewirkt haben und eine Kombination von Schock und Stress auslösen, die wir Trauma nennen, sowie zu einer posttraumatischen familiären Wahrnehmungs- und Interaktionseinengung führen und fragmentierte innerfamiliäre Interaktionen zur Folge haben können, hängt es wesentlich von der Qualität des innerfamiliären Unterstützungssystem und der innerfamiliären Ressourcen ab, ob einzelne Familienmitglieder oder das gesamte Familiensystem längerfristig an den Folgen des Traumas leiden. Trotz dieser Kenntnis ist es in vielen Traumakliniken und ambulanten Traumaeinrichtungen zurzeit in Deutschland noch unüblich, mit Paaren oder Familien zu arbeiten und direkt auf die gemeinsame Bewältigung Einfluss zu nehmen. Systemische Therapie, deren Fokus auf dem sozialen Kontext einer psychischen Störung liegt (von Sydow et al., 2006, S. 107), bietet jedoch die Möglichkeit, durch einen multiperspektivischen Blickwinkel, durch die Orientierung an den innerfamiliären Copingstrategien und den innerfamiliären Ressourcen, dem Vertrauen in die Selbstheilungskräfte der Familie und durch die unmittelbare Einbeziehung von Familienmitgliedern einer interaktionellen Fragmentierung direkt entgegenzuwirken. Systemische Therapeuten müssen allerdings dazu bereit sein, einen Expertenstatus einzunehmen, indem sie einerseits ihr störungsspezifisches Wissen zur Verfügung stellen (im amerikanischen Sprachgebrauch: Psychoedukation) und andererseits spezifische Interventionen anbieten, damit die Familie ihre Ressourcen gezielt nutzt (Stabilisierung) und die traumatischen Erlebnisse auf eine kontrollierte Art in einem gemeinsamen Narrativ verarbeiten kann, ohne von Emotionen überflutet zu werden (Traumaintegration).
Zu der Frage, ob die systemischen Therapie – die als Setting besonders für die Arbeit mit Eltern und Kindern geeignet ist – und die derzeit praktizierte, auf einzelne Betroffene ausgerichteten Traumatherapie miteinander in Verbindung zu bringen sind, schauen wir uns zunächst die grundsätzlichen Positionen der Traumatherapie und die der systemischen Therapie an.
Grundannahmen: Beide Therapieformen haben sich recht ähnliche Grundannahmen zu eigen gemacht. Die systemische Therapie sieht die Entstehung von Symptomen in sozialen Kontexten. Sie geht davon aus, dass sich Menschen in ihrer unmittelbaren sozialen Umgebung wechselseitig beeinflussen, wobei dies in Wechselwirkung zu kognitiv-emotionalen und somatischen Prozessen der Einzelperson steht. Sie betrachtet individuelle Störungen als unzureichende oder fehlgeschlagene Lösungsversuche, zu deren Veränderung das relevante soziale System einbezogen und fokussiert werden sollte, häufig die Familie (z. B. ein Mann möchte seine Frau vor seiner unbändigen Wut schützen und trinkt übermäßig Alkohol, um sich zu beruhigen; die Ehefrau nennt ihn einen Alkoholiker; er trinkt mehr, je mehr sie schimpft; sie schimpft häufiger, je mehr er trinkt; beide leiden und sind an einer Veränderung interessiert). Im Gegensatz zu dieser Betonung von sozialen Prozessen werden in der Traumatherapie Prozesse im Zentralen Nervensystem besonders fokussiert. Doch auch Neurobiologen weisen darauf hin, das Gehirn des Menschen als soziales Organ zu betrachten, das sich durch Interaktionen mit der Umwelt (also auch mit anderen Menschen) ein Leben lang nutzungsbedingt strukturiert. Störungen oder Symptome, die Lebensqualitäten einschränken und Anlass für eine Therapie sein können, werden als ursprüngliche Lösungsversuche im traumatischen Schock gesehen (z. B. der Mann trinkt übermäßig Alkohol, um zu vergessen, was er im Krieg erlebt hat; Alkohol hat ihm in dieser Zeit geholfen, die Unmenschlichkeit der eigenen Kriegshandlungen zu ertragen; das Gehirn hat sich so sehr an den Lösungsversuch Alkohol gewöhnt, dass es schwerer ist, andere Lösungsmöglichkeiten ins Auge zu fassen, auch wenn die Ehefrau den Alkoholkonsum kritisiert). Beide Grundannahmen ergänzen sich: Wirklichkeit ist subjektiv, sie entsteht durch die wechselseitige Interaktion von Menschen miteinander und kann auch zu Problemen führen, selbst wenn für eine Handlung ursprünglich die Lösung von Schwierigkeiten im Vordergrund gestanden hat.
Therapeuten und Therapie: In der systemischen Therapie wird der Versuch unternommen, einschränkende Kommunikations- und Wahrnehmungsmuster zu verändern (zu »verstören«). Durch Infragestellen der eigenen Gesetzmäßigkeiten soll das System dazu angeregt werden, neue Kommunikationsmuster zu entwickeln und zirkuläre Interaktionen zu verändern. Dies geschieht durch eine konsequent lösungs- und ressourcenorientierte Vorgehensweise. Es werden alternative Konzepte angeboten, vorhandene Interaktionen werden in einem neuen Rahmen betrachtet (»Reframing«). Nach einer Phase rein kognitiver Interventionen (»zirkuläres Fragen«) sind heute viele Systemiker wieder dazu übergegangen, auch die Arbeit an Gefühlen in ihr Repertoire aufzunehmen. Eine lösungsorientierte Sichtweise beinhaltet auch das Sammeln von Stärken und den Ausdruck von Komplimenten. Therapeuten erscheinen jedoch nie als Spezialisten für »richtige oder falsche« Handlungsmuster, sondern gehen davon aus, dass der Einzelne oder das Familien- oder Sozialsystem eine angemessene Lösung findet, wenn nur die Ressourcen ausreichend aktiviert sind. Dies ist exakt auch die Grundhaltung in der Traumatherapie: Nach einer traumatischen Erfahrung muss der Selbstheilungsprozess hinreichend unterstützt werden. Es ist die Aufgabe von Therapeutinnen, den Zugang zu den Ressourcen zu fördern, und zwar nach innen (z. B. Imaginationsübungen, Innere-Kind-Arbeit, veränderte kognitive Bewertungen) und nach außen (z. B. äußere Sicherheit, Affektkontrolle, Triggertoleranz, heilende Interaktionen). Die Arbeit mit Gefühlen findet in der Traumatherapie auf der Ebene einer neuen Bewertung und einer Integration auf der Körperebene statt. Aus einem Gefühl von Angst, gepaart mit der Kognition »ich bin schlecht«, Bauchschmerzen und flachen Atemmustern kann beispielsweise der Gedanke »ich bin okay« werden, einhergehend mit einem Gefühl von Zufriedenheit und einem veränderten Atemschema. Doch auch in der Traumatherapie wird das Heilungspotenzial auf der Seite der Klienten/Patienten gesehen, nicht in der therapeutischen Beziehung. Therapeutinnen haben lediglich die Aufgabe, Rahmenbedingungen zur Verfügung zu stellen, die ein neues Erleben ermöglichen und das Trauma Teil der Vergangenheit werden lassen können. Auch in dieser Kategorie liegen systemische Therapie und Traumatherapie also sehr dicht beieinander.
Zeitperspektive: Wenn die systemischen Therapeutinnen sehr viel stärker an der Gegenwart und Zukunft orientiert sind (dabei auch kleine Ausflüge in die Vergangenheit unternehmen), es bei der Traumatherapie ja eher um die Integration der Traumata aus der Vergangenheit geht, zeigen sich hier nur auf den ersten Blick Gegensätze. In der Traumatherapie wird in der Phase der Stabilisierung ausschließlich auf die Gegenwart und Zukunft fokussiert (mit Ausflügen in die Vergangenheit), zum Beispiel: »Wie schaffen Sie es im Moment, trotz der erheblichen Belastung gut für Ihre Kinder zu sorgen und auch sich selbst gut zu ›bemuttern‹? Was meinen Sie, wer könnte da in der Vergangenheit ein gutes Vorbild für Sie gewesen sein?« Auch in der Phase der Traumaintegration, in der Phase, in der sich näher mit den belastenden Erinnerungen aus der Vergangenheit beschäftigt wird, liegt der Fokus nicht nur in der Vergangenheit. Es gilt vielmehr, eine bifokale Aufmerksamkeit einzutrainieren, in der das Belastende aus der Vergangenheit parallel zu der heute sicheren Beobachterposition wahrgenommen werden kann. Traumatherapeuten arbeiten oft mit Metaphern wie »ein alter Film«, »eine alte Geschichte«, »alte Bilder«, die aus der heutigen Perspektive betrachtet werden. Arne Hoffmann, einer der profiliertesten Traumatherapeuten im deutschsprachigen Raum, hält dieses »mit einem Fuß in der Vergangenheit, mit dem anderen in der Gegenwart« für den signifikantesten Wirkfaktor traumaorientierter Psychotherapie. Selbst Ausflüge in die Zukunft werden unternommen, wie zum Beispiel: »Woran könnten Sie in den nächsten Wochen merken, dass das Belastende aus der Vergangenheit nicht mehr eine so große Wirkung auf die Gegenwart hat?«
Diagnostik: Da sich die Traumatherapie in ihren Grundzügen aus einer neurologischen/medizinischen Betrachtungsweise von psychischen Störungen entwickelt hat, ist sie stark an den Kriterien der Diagnosemanuale ICD (WHO, 1991) und DSM (APA, 1996) orientiert. Darüber hinaus gilt auch das Prinzip, dass die diagnostischen Einschätzungen bei der Wahl der Methoden helfen. Geht es zum Beispiel um eine Akute Belastungsstörung nach einem traumatischen Ereignis in den ersten vier bis acht Wochen, sind andere Interventionen angemessen als bei einer Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS). Eine weitere grobe Unterscheidung wäre die zwischen einer chronischen PTBS, einer chronischen PTBS mit Komorbitäten, einer Ego State Disorder und einer Dissoziativen Identitätsstörung. Jede Diagnose würde unter anderem eine Entscheidung über die Intensität der Stabilisierung und die Intensität der Traumaintegration zur Folge haben. So ist es zum Beispiel heute üblich, bei Menschen mit einer Dissoziativen Identitätsstörung (früher »Multiple Persönlichkeiten«) intensiv an einer Kooperation und Integration der unterschiedlichen Zustände zu arbeiten, anstatt die einzelnen, meist frühkindlichen Traumata zu explorieren. Die Diagnosestellung hat also eine hohe Bedeutung in der Traumatherapie (z. B. Impact of Event Scale – IES, Posttraumatic Stress Diagnostic Scale – PDS, Dissociative Experience Scale – DES, Somatoform Dissociation Questionaire – SDQ5). Systemiker galten dagegen eher als diagnosekritisch. Viele Jahre haben sie sich dafür eingesetzt, Diagnosen zu »verflüssigen« oder sie »aufzuweichen«. Es galt, Diagnosen als sprachliche Phänomene zu betrachten, auf die sich das »Problemsystem« geeinigt hat, die allerdings auch ganz anders bezeichnet werden können. Anstelle von Bezeichnungen, die Verhaltensweisen festigen (»Paul hat eine Depression«), wurden gern Fragen gestellt, die die Subjektivität solcher Diagnosen verdeutlichen (»Wie muss sich Paul verhalten, damit er von Ihnen für depressiv gehalten wird?«). Inzwischen hat sich jedoch auch bei Systemikern die Nützlichkeit von diagnostischen Einschätzungen durchgesetzt. Kurt Ludewig führte den Begriff »Störungswissen« ein, Arist von Schlippe und Jochen Schweitzer ergänzten ihr »Lehrbuch der systemischen Therapie und Beratung« (1996) um einen zweiten Band mit dem Untertitel »Das störungsspezifische Wissen« (2006). Zusätzlich hat die systemische Therapie eine Reihe von aussagekräftigen Diagnoseinstrumenten entwickelt, die sich vor allem auf die familiäre und partnerschaftliche Interaktion und auf die Einschätzung der Familie als Ganzes beziehen (z. B. Family Adaptibility and Cohesion Scale – FACES, Familiensystemtest – FAST, Genogramm und Familienskulptur). Auch im Bereich der Diagnostik liegen also Traumatherapie und systemische Therapie nicht weit voneinander entfernt, zumal eine diagnostische Ergänzung »durch beide Lupen« in der Arbeit mit traumatisierten Familien äußerst gewinnbringend sein kann.
Täter-/Opfer-Perspektiven: In der Traumatherapie hat sich als sehr bedeutsam gezeigt, dass Traumaüberlebende von ihren Therapeutinnen eine eindeutige Stellungnahme darüber erwarten, dass Menschen zu Tätern werden können und aus anderen Menschen Opfer machen. Sie können ihren Therapeutinnen nur dann trauen, wenn sie sich eindeutig aus Prozessen der Opferbeschuldigung heraushalten. Es ist einschränkend bekannt, dass manche Opfer durch ihre Nähe zu Tätern so genannte täterloyale Introjekte entwickelt haben, die den Ausstieg aus einer Gewaltdynamik erschweren. Unter dem Namen »Stockholm-Syndrom« sind solche engen Beziehungen zwischen Opfern und Tätern in das Bewusstsein der Öffentlichkeit gelangt. Eins muss jedoch deutlich bleiben: Hier sind nicht Opfer auf die Seite der Täter gewechselt, sondern Opfer versuchen durch Beziehungsangebote gegenüber Tätern ihre Überlebenschancen zu erhöhen. Der Kontext bleibt eine durch die Täter aufgezwungene Nähe und ein prekäres Machtgefälle. Falsch verstandene systemische Sichtweisen könnten mit dem Argument der Zirkularität Opfer zu Mittätern machen. Eine Geisel, die sich »verführerisch« verhält, könnte bezichtigt werden, in gleicher Weise an der Aufrechterhaltung eines Gewaltmusters beteiligt zu sein wie der Geiselnehmer. Solche Sichtweisen beruhen unserer Meinung nach auf einer Vermischung unterschiedlicher logischer Ebenen. Die Handlungen der Geisel entlasten den Täter nicht von seiner alleinigen Verantwortung und gegenüber der Geisel ist eine moralische Verurteilung ihres Handelns unangemessen. Sie wird alles in ihrer Macht Stehende ausschließlich mit dem Ziel tun, ihre Überlebenschancen zu erhöhen.
In allen Kriterien konnte somit gezeigt werden, dass sich systemische Grundannahmen und Vorgehensweisen mit denen der Traumatherapie nahtlos zusammenfügen lassen und dass Traumatherapie dort besonders hilfreich sein kann, wo sie den Prinzipien des systemischen Denkens folgt. Der vielleicht wichtigste Baustein dabei ist die Orientierung an der Autonomie und dem Streben nach Selbstwirksamkeit bei einzelnen Menschen und familiären Systemen.
Therapeuten und Berater sollten in ihrer traumaorientierten Arbeit besonderen Wert darauf legen, dieses Selbstmanagement der Familie zu unterstützen. Das gelingt am besten, wenn sie sich einerseits als Fachleute für das traumaspezifische Wissen deutlich positionieren, andererseits aber als Coach oder Trainer der Familie ihre speziellen »Trainingseinheiten« anbieten, ohne der Familie die Kontrolle über ihren eigenen Genesungsprozess aus der Hand zu nehmen. Dabei ist es ratsam, sich in der Rolle des Therapeuten nicht ausschließlich von dem erlittenen und verbal (oder nonverbal) mitgeteilten Grauen des Traumas gefangen nehmen zu lassen. Die Sicht auf die Ressourcen und die spezifischen Umstände des Überlebens lenkt die Aufmerksamkeit von Klienten und Therapeuten auf das vorhandene Potenzial zur Überwindung vom Trauma.
»Nur wenige Problemstellungen, mit denen man als Therapeut oder Therapeutin konfrontiert ist, laden so stark dazu ein, in eine Problemtrance zu geraten, wie die Arbeit mit schwer traumatisierten Menschen. Ein ressourcen- und lösungsorientierter Blick kann neben der notwendigen Würdigung des Schmerzes schnell verloren gehen, wenn man sich in dem Schrecklichen der geschilderten Erlebnisse und Geschichten verliert – denn diese Geschichten werden ja nicht nur erzählt, sondern von den Betroffenen vor allem atmosphärisch vermittelt und verkörpert. […] Und genau darum geht es in der Therapie: mit den Klienten gemeinsam daran arbeiten, dass das Trauma nicht das ganze Leben überschattet, sondern dass es als ein Bestandteil der persönlichen Erfahrungen einen inneren Ort bekommt, ohne das Leben zu vergiften« (von Schlippe u. Schweitzer, 2006, S. 120 f.).
Familien können auf unterschiedliche Art von traumatischem Stress betroffen sein. Es macht in der Arbeit mit Familien einen Unterschied, ob die Familie ausschließlich ein Trauma von außen überlebt hat oder ob sich Eltern und Kinder in einer komplexen traumatischen Konstellation befinden, in der die Traumabewältigung des einen zum traumatischen Stress für den anderen wird.
Wir wollen in diesem Buch vor allem Aspekte herausheben, die über die herkömmliche Sichtweise und Definitionen in der Psychotraumatologie hinausgehen und für die Arbeit in einem systemischen Denkrahmen von besonderer Bedeutung sind.
Alexander Korittko wird im ersten Teil den Umgang von Familien mit Stress und Traumata beschreiben, einen Blick auf historische Aspekte der Psychotraumatologie werfen, die interaktionellen Ressourcen von Familien verdeutlichen und dann systemische traumaorientierte Interventionen nach unterschiedlichen Traumatisierungen von außen vorstellen. Dabei wird es zunächst um die akute Traumanachsorge mit Familien gehen und im Weiteren um Interventionen, nachdem die Familie schon im Verlauf ihrer nicht gelungenen Traumaverarbeitung einengende Muster entwickelt hat: nach gemeinsamer Traumatisierung, nach paralleler Traumatisierung, nach sekundärer Traumatisierung, nach Entwicklungstraumata, in Pflegefamilien und nach traumatischen Todesfällen.
Im zweiten Teil wird Karl Heinz Pleyer erörtern, wie Familien mit komplexen Mustern beschrieben werden können, die nach Traumatisierungen entstehen, die von außen auf die Familie Einfluss haben, aber auch innerhalb der Familie zu dissoziativen Prozessen, erneuten Traumatisierungen und co-traumatischen Prozessen führen. Auch in diesem Teil wird es darum gehen, exemplarisch zu schildern, wie einengende Muster in Familien durch systemische Interventionen verändert werden können und wie systemische Therapie als Therapieverfahren und als Setting insgesamt eine hilfreiche Matrix anbieten kann.1
Am Ende des Buches wagen wir einen gemeinsamen Blick in die Zukunft und entwerfen ein Bild des zukünftigen Stellenwertes der traumaorientierten Sichtweisen in der systemischen Therapie und zeigen die Notwendigkeit von der Verbreitung traumaspezifischen Wissens in gesamtgesellschaftlichen Kontexten auf.
1 Namen und gegebenenfalls weitere Erkennungsmerkmale, die eine Identifizierung ermöglichen könnten, wurden in allen Fallbeispielen geändert.
Erster Teil: Traumatischer Stress,
Stress als Bestandteil familiärer Entwicklung
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