Träume, die im Regen splittern - Kari Lessír - E-Book

Träume, die im Regen splittern E-Book

Kari Lessír

4,7

Beschreibung

Träume sind magisch und alltäglich zugleich. Sie begleiten uns nachts, mitunter auch tagsüber - dann in Gestalt von Tagträumen, die oft zuckersüß und von Wünschen durchwoben sind. Was geschieht mit ihnen, wenn wir innehalten und genauer hinschauen? Dann stehen wir plötzlich einer Frau gegenüber, hinter deren Depressionen sich tiefe Trauer verbirgt. Oder wir treffen auf einen alten Mann, der siebzig Jahre nach Kriegsende noch immer nicht im Heute angekommen ist. Und was ist mit der Taxifahrerin, die zwar ein Unfallopfer rettet, sich selbst jedoch nicht helfen kann? Dreiundzwanzig Kurzgeschichten, Märchen und Erzählungen über alltägliche Situationen, von Kari Lessír wunderbar prägnant formuliert.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 140

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
4,7 (12 Bewertungen)
8
4
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Träume, die im Regen splittern

Träume, die im Regen splitternTRÄUMENachtzug in die VergangenheitDie FamilienschandeDer WaldseeTaxi zum HimmelLIEBEWer ist Mark Brenner?Annas TraumDas DuellKINDHEITDer rote FerrariDie Kiste im KellerDer grün schimmernde SteinDas KaminzimmerMÄRCHENDer Kranich und die WildgansDie FeenköniginFAMILIEDad ist coolAus der Kurve geschleudertWarum nur diese roten Locken?Der ReitunfallALLTAGDas Paket vor der HaustürIch habe auch einen deutschen PassBerlin? Berlin!LIEBE TEIL ZWEITicket nach HamburgFeueralarm über den WolkenDas zweite LebenABGESANGNachwortQindieÜber die AutorinWeitere Bücher der AutorinImpressum

Träume, die im Regen splittern

Kurzgeschichten und Erzählungen

Kari Lessír

TRÄUME

Nachtzug in die Vergangenheit

2008

Fast geräuschlos glitt der letzte Nachtzug aus der Halle. Der Bahnsteig war leer bis auf einen einzelnen Mann. Er hatte sich eine Zigarette angezündet und starrte dem Zug nach, dessen rote Schlusslichter rasch kleiner wurden.

Am Morgen war er aufgestanden und hatte sogleich gewusst, dass er an diesem Tag nach Chemnitz reisen würde. Seit Wochen hatte er gespürt, dass dieser Zeitpunkt einmal kommen musste.

Angefangen hatte alles mit seinen Recherchen über Roman Mercurius. Endlich konnte er ihn nach mühevoller Kleinarbeit unter dem Namen Robert Müller in Chemnitz aufspüren. Nach dem Tod seiner Frau vor zwei Jahren hatte er Zeit und irgendwann nur noch diesen einen Lebensinhalt gehabt. Schließlich war Mercurius an allem schuld.

Der alte Mann inhalierte ein letztes Mal den Rauch seiner Zigarette, bevor er sie in einem Aschenbecher ausdrückte. Er straffte die Schultern und ging zu einem Seitenausgang des Bahnhofs, hinter dem sich der Taxistand befand. Gepäck hatte er keines dabei. Für seine Reise genügte ihm die Erinnerung.

Er näherte sich dem vordersten Taxi und klopfte an die Scheibe der Beifahrertür. Gleichmäßig surrend fuhr sie herunter.

»Ja?«, tönte es gedämpft von innen heraus.

Er fühlte mit den Fingern nach dem Zettel in seiner Manteltasche, doch er kannte die Adresse in einer Chemnitzer Plattenbausiedlung auswendig.

»Steigen Sie ein«, sagte der Taxifahrer.

Der alte Mann nickte und nahm im Fond Platz. Dann setzte sich der Wagen in Bewegung. Der Alte öffnete die oberen Knöpfe seines Mantels, lehnte sich zurück und schloss die Augen. Das schüttere weiße Haar stand ihm wirr vom Kopf ab. Falten hatten sich tief in sein fleischiges, bleiches Gesicht eingegraben. Er öffnete die Augen wieder und blickte nach draußen in das von gelegentlichen Lichtern durchzogene Dunkel der regnerischen Nacht.

Fast ein Jahr hatte es gedauert, bis er Roman Mercurius endlich gefunden hatte. Mercurius hatte nach dem Krieg einen anderen Namen angenommen und war in die damalige Ostzone gegangen, ein sicheres Versteck, solange West- und Ostdeutschland voneinander getrennt waren. Nach dem Mauerfall änderte sich dies freilich, sodass er Mercurius vor gut sechs Monaten ausfindig machen konnte. Mercurius zerstörte sein Leben, denn er verriet ihn Anfang 1944 an die Gestapo, ihn, den Halbjuden, der sich seit über einem Jahr in ausgebombten Häusern versteckt gehalten hatte. Welch eine Ironie des Schicksals, dass er gerade diesem dürren Hänfling Mercurius in die Arme lief! Kurze Zeit später holten ihn Hitlers Schergen ab. Was danach kam, verdrängte er weitgehend, solange seine Frau noch lebte: Theresienstadt, die ständige Angst, der Gestank, das Ungeziefer, der Hunger, die Demütigungen. Nach Marlenes Tod war alles wieder hochgekommen – mit dem Bedürfnis, den Verräter für seine Schuld bezahlen zu lassen.

Vor dessen Haus stand er jetzt. Mercurius wohnte im obersten Stockwerk. Er blickte die Hausfassade empor. Ein grauer, alter Mann vor einem grauen, heruntergekommenen Gebäudekoloss, spärlich beleuchtet von einer einzelnen Straßenlaterne und dem bläulichen Schwarz des Nachthimmels. Was wollte er von ihm?

Heute Morgen nach dem Aufstehen hatte er noch den Moment des Erkennens genießen wollen. Er wollte in Mercurius’ Gesicht sehen, wenn er ihm seinen Hass, seine Wut und den Schmerz der schrecklichen Erlebnisse entgegenschleuderte. Er wollte ihn wie einen Käfer zertreten.

Jetzt stand er unschlüssig vor der Klingel und konnte den Arm nicht heben, um den Knopf zu drücken und alle Szenarien wahr werden zu lassen, die er in seinem Kopf entwickelt hatte. Irritiert horchte er in sich hinein und suchte den Hass, der ihn all die Jahre begleitet hatte, der ihn hatte verstummen lassen. Er hatte nie darüber gesprochen, was ihm während der Zeit im Untergrund und in Theresienstadt widerfahren war.

Der alte Mann spürte einen Stich in der Brust und lehnte sich gegen die Tür des fremden Hauses. Sein Herz schmerzte. Die Erinnerungen taten weh. Der Gedanke an seine Frau ließ ihm sogar die Tränen in die Augen steigen. Marlene hatte immer Kinder gewollt, aber er ignorierte ihren Wunsch ohne Begründung. Sie war zwar bei ihm geblieben, doch ihre Ehe wurde kalt und gefühllos.

Der alte Mann schluckte. Ein Schluchzen, das er seit fünfundsechzig Jahren unterdrückt hatte, bahnte sich den Weg durch seine Kehle nach draußen und rüttelte ihn auf. Was wollte er hier und jetzt von Mercurius? Die Aussicht darauf, einem ebenso alten Kerl in das zerknautschte Gesicht zu starren, erschien ihm plötzlich wenig verlockend. Es war Zeit, mit der Vergangenheit abzuschließen. Vielleicht hatte er noch eine Zukunft.

Er schlug den Kragen hoch, steckte die Hände in die Manteltaschen, zerknüllte den Adresszettel und warf ihn in einen Gully. Aufrecht ging er durch die Nacht in die Richtung, in der er den Bahnhof vermutete.

Die Familienschande

2009

Aus dem anfänglichen Klopfen an der Wohnungstür war ein wütendes Hämmern geworden.

»Fabian, mach die Tür auf!«

Stumm schüttelte er den Kopf und hielt sich die Ohren zu, doch die Stimme seines Vaters drang weiter zu ihm durch.

»Wir sind siebenhundert Kilometer gefahren, um dich zu sehen. Du wirst uns nicht hier draußen stehen lassen!«

»Tut mir leid. Ich hab keine Zeit. Ich muss bis morgen ein wichtiges Projekt abschließen.« Seine Finger verkrampften sich um die Greifreifen des Rollstuhls. Würden seine Eltern ihn jetzt endlich in Ruhe lassen? Er wollte sie heute genauso wenig sehen wie in den letzten beiden Jahren.

Er hörte Gemurmel im Treppenhaus, dann die Stimme seiner Mutter: »Wir haben ein Zimmer in der Pension Anuschka und werden so lange in der Stadt bleiben, bis wir dich gesehen haben. Fabian, was ist nur los mit dir? Du kommst nicht mehr zu Besuch, vergräbst dich in deine Arbeit und rufst nur gelegentlich an. Warum?«

Jedes ihrer Worte war ein Stich in seine Brust. Die Schmerzen stiegen auf, verklumpten in seinem Hals und bildeten schließlich einen See, in dem sein Blick zu schwimmen begannen. Wenn seine Eltern wüssten, wie recht sie hatten!

Er musste aus dem Flur hinaus, in ein anderes Zimmer, damit sie ihn nicht hörten, wenn die Mauer seiner Selbstbeherrschung einstürzte. Das Wohnzimmer kam nicht infrage, da es von der Terrasse aus einsehbar war. Also blieb nur das Schlafzimmer, wo ihn blickdichte, bodenlange Gardinen schützten, seitdem es ihm unangenehm war, dabei beobachtet zu werden, wie er sich an- und auszog und vom Rollstuhl ins Bett und wieder zurück stemmte.

Vor zwei Jahren hatte ihn ein Unfall aus seinem Leben gekickt. Daraufhin hatte er alle Kontakte zu früher weitgehend abgebrochen. Nie hätte er erwartet, dass ihn seine Eltern besuchten. Durch die große Entfernung und die Arbeit auf dem Bauernhof hatte er sich sicher gewähnt. Bis heute.

Fabian rollte ins Schlafzimmer, drückte hinter sich die Tür zu und lehnte seinen Kopf gegen das kühle Holz. Nun konnte er seine Tränen nicht mehr unterdrücken. Ein Schluchzer bahnte sich seinen Weg nach oben, presste sich aus der verkrampften Kehle und ließ ihn keuchend einatmen. Sein Blick fiel auf den Spiegel. Schnell drehte er den Kopf weg. Er wollte weder sein rot verquollenes Gesicht noch seine nutzlosen, dürren Beine sehen. Seine Eltern sollten keinesfalls von der Behinderung erfahren. Als sein kleiner Bruder mit dem Down-Syndrom auf die Welt kam, war dies schon eine Schande für die Familie gewesen. Wie würden sie auf die Querschnittslähmung ihres ältesten Sohnes reagieren?

Dabei sehnte er sich nach den starken Armen seines Vaters. Wie gut hatte es getan, wenn er ihn als Kind in die Luft geworfen und wieder aufgefangen hatte! Seine Mutter hatte seine goldenen Locken geliebt und ihm ständig, selbst als er schon erwachsen war, durch die Haare gewuschelt. Auf all das hatte er zwei Jahre lang verzichtet.

»Ich vermisse euch«, flüsterte er gegen die Schlafzimmertür. Sofort hörte er in Gedanken seine Mutter sagen: Wir bleiben so lange in der Stadt, bis wir dich getroffen haben.

»Ich brauche euch.«

Von seinen eigenen Worten überrascht richtete er sich auf und drehte sich samt Rollstuhl um. Zum ersten Mal fiel ihm auf, wie groß und leer sein Schlafzimmer war. Es war niemand da, weder hier noch in seinem Leben. Als er daraufhin durch die Wohnung jagte, wuchs das Gefühl der Einsamkeit mit jeder Sekunde und bohrte sich immer tiefer in seine Brust.

Plötzlich schoss ihm ein neuer Gedanke, der ihm Angst einflößte, durch den Kopf: Wenn seine Eltern doch nicht in der Pension blieben und dort auf ihn warteten?

Selten war es ihm gelungen, so schnell aus der Wohnung ins Auto zu gelangen. Ungeduldig ließ er sich vom Navigationsgerät zur Pension Anuschka leiten, doch je näher er kam, desto mehr schwand sein Mut. Seine Hände waren schweißnass und zitterten, sodass er Mühe hatte, den Rollstuhl aufzufalten und sich aus dem Wagen daraufzuhieven.

An der Rezeption versagte schließlich seine Stimme. »Erster Stock … und ohne Aufzug?«, wiederholte er heiser. »Wie soll ich …«

Da legten sich zwei Hände von hinten auf seine Schultern. Zwei große und schwere Hände. Er kannte dieses Gefühl ebenso wie die Wärme in seinem Rücken.

»Vater«, flüsterte er.

Eine weitere Hand strich durch seine Locken, bevor seine Mutter neben ihn trat und ihn wortlos in die Arme nahm. Fabian schloss die Augen und hielt sich an ihr fest.

Der Waldsee

2008

Johanna saß auf einem Felsblock, der wie eine Festung in den kleinen Waldsee hineinragte, und hielt ihre Knie mit den Armen umfasst. Ihr zu Füßen ruhte das Wasser wie ein schwarzes Tuch zwischen den Bäumen. Lediglich den Felsen umspielten zaghaft ein paar Sonnenstrahlen, die sich in Johannas Haaren verfingen.

Sie hatte ihren Blick starr auf das gegenüberliegende Ufer gerichtet, das im Schatten der dichten Nadelbäume seine Konturen verlor. Dunkel konnte sie den am Boden liegenden Baumstamm erahnen. In ihrer Erinnerung sah sie noch immer Gerry darauf balancieren. Ein leises Lächeln huschte über ihre Lippen, doch es erreichte nicht ihre Augen.

Ihr sechsjähriger Sohn Gerry war von klein auf ein Wildfang gewesen. Wie oft hatte sie ihn mit zerrissenen Hosen und aufgeschlagenen Knien aus dem Kindergarten abgeholt! Auch auf dem Lindenhof, einem Aussiedlerhof, den Johannas Familie seit Generationen bewirtschaftete, war der Junge stets dort zu finden, wo es interessant und gefährlich war.

Eine seiner Lieblingsbeschäftigungen war die Heuernte. Er saß bei seinem Vater auf dem Traktor, während dieser das Heu mähte, ebenso später, wenn die großen, zylinderförmigen Strohballen geschnürt und zum Hof gebracht wurden. In der Scheune kletterte Gerry am liebsten ganz oben auf einen Querbalken und beobachtete von dort, wie das Stroh Ballen für Ballen aufeinander gestapelt wurde und es zu ihm in die Höhe wuchs.

Auch der Mähdrescher hatte es ihm angetan. Er stand zwischen den Beinen seines Vaters und durfte die schwere Maschine steuern. Wenn die gedroschenen Weizenkörner aus dem Auslaufrohr in den Traktoranhänger rieselten, quietschte er jedes Mal vor Vergnügen. Auf dem Hof beaufsichtigte er das Umfüllen der Körner vom Anhänger in das Röhrensystem des Weizenlagers. Oft fegte er noch spätabends die danebengefallenen Körner in den Trichter. Genau wie sein Vater war er erst nach getaner Arbeit bereit, ins Bett zu gehen. Manchmal durfte Gerry in den Weizenkörnern waten, die zum Trocknen eingelagert waren. Dabei sank er wie in Schneewehen ein und juchzte bei jedem Schritt.

Wenn im Frühherbst die Äpfel reiften, war Gerry nicht mehr zu halten. Er nahm sich sein Kinderrad und fuhr mit seinen kurzen Beinen rund einen Kilometer bergauf bis zu den Streuobstwiesen des Hofes. Dicht gedrängt standen hier die Apfelbäume in mehreren Reihen, vorne die kleineren, weiter hinten die größeren, die schon seit Jahren Früchte trugen. Immer wieder hatte ihm sein Vater verboten, alleine dorthin zu fahren, aber der Junge ließ sich nicht davon abhalten. Er kannte jeden einzelnen Baum und wusste, an welchem er sich so weit hochziehen konnte, dass er es bis auf den untersten Ast schaffte. Von dort war es für ihn ein Leichtes, in die Baumkrone hinaufzuklettern und die süßesten Äpfel zu pflücken. Mit baumelnden Beinen und leuchtenden Augen saß er dann im Geäst und futterte die Früchte samt Kernen und Kerngehäuse.

Meist vergaß Gerry in seinem Glück das Verbot des Vaters und brachte seiner Mutter einen Apfel als Geschenk mit. Johanna konnte ihm nicht wirklich böse sein, wenn er vor ihr stand, sie anstrahlte und ihr das rotbackige Obst entgegenstreckte. Als wäre es erst gestern gewesen, hörte sie seine Stimme: »Der ist für dich, Mama.«

Vom anderen Seeufer drangen jetzt sein Lachen und Rufen zu ihr herüber, woraufhin sie ihm zaghaft winkte. Immer ausgelassener sah sie ihn auf dem Baumstamm herumklettern.

Johanna verkroch sich tiefer in sich selbst. Aus all den Tagen, die sie in den letzten beiden Jahren hier verbracht hatte, wusste sie, was gleich geschehen würde. Trotzdem zuckte sie zusammen. Ihre Stimme versagte, wo doch ihre Seele von Gerrys Namen widerhallte. Ihre Kehle schnürte sich auch heute mehr und mehr zusammen, als sie ihren Sohn wieder vom Baumstamm fallen, sich überschlagen und kopfüber in den See stürzen sah.

Johanna schloss die Augen. Ein gequältes Stöhnen kroch über ihre Lippen, als Gerry vom Wasser verschlungen wurde. Ohne hinzusehen, kannte sie jede Luftblase, die aus der Tiefe an die Oberfläche stieg, dort zerplatzte und ihre Kreise zog. Johanna krümmte sich noch stärker zusammen. Ihre Beine zuckten und wollten auch diesmal hin zu Gerry rennen. Sie hatte ihn retten wollen, ihn aus dem Wasser gezerrt und Luft in seinen schlaffen Körper gepumpt, aber es gelang ihr damals so wenig wie jetzt. Sie hatte zu schreien begonnen, auf ihn eingeschlagen, ihn geschüttelt und schließlich versucht, das Wasser aus ihm herauszuschütten wie aus einem alten Gummistiefel. Noch heute spürte sie die Hände, die sie von ihrem Sohn wegzogen: eine Frau, die sie fest in ihre Arme nahm, und ein Mann, der sich um Gerry kümmerte. Doch schon bald schüttelte er den Kopf. Sie hatten verloren.

Sie hatte verloren – ihr einziges Kind.

Taxi zum Himmel

2007/2012

Ich hatte die Funkanlage meines Taxis leiser gestellt und döste vor mich hin. Der neue Tag war gerade erst vier Stunden alt, und der Wiesbadener Hauptbahnhof lag im Dunkeln. Die Luft roch feucht vom nahenden Regen. Um diese Zeit waren die Taxistellplätze am östlichen Seiteneingang nur spärlich besetzt, die Autos verriegelt, hie und da glomm kurz ein Leuchten auf. Der S-Bahn-Betrieb begann erst in rund einer halben Stunde. Bis dahin würde hier kaum jemand nach einem Taxi verlangen. Sollte die Zentrale einen Auftrag für mich haben, würde ich es hören. Ansonsten würde ich sowieso am Bahnhof warten müssen, bis ich an der Reihe war.

Ein weiteres Taxi fuhr in den Wartebereich und beleuchtete für einen Moment die Umrisse des Bahnhofsgebäudes. Träge öffnete ich die Augen und folgte dem Lichtschein. Weiter hinten, wo nur noch die Gleise überdacht waren, schien die Putzkolonne am Vorabend einen Berg Unrat vergessen zu haben, dessen Konturen in der Schwärze der Nacht nur zu erahnen waren. Ich versuchte, wieder einzudämmern.

Dann fiel eine Autotür zu, und Schritte ertönten, zuerst zögernd, schließlich direkt auf die Seitentür des Bahnhofs zu. Sie verklangen im Inneren. Wieder wurde es still. Zaghaft klopfend begann es zu regnen. Wie durch einen Weichzeichner hindurch verschwammen die Konturen der Umgebung noch stärker.

Plötzlich durchbrach ein Schrei die Nacht. »Hilfe! Hier liegt jemand!«

Der Ruf riss mich aus meinem Halbschlaf. Die Kollegen vor mir öffneten bereits die Wagentüren und stiegen aus.

»Was ist los? Wer ruft da?«, hörte ich sie fragen.

Eine Frau stand auf dem Fußweg und deutete in das Dunkel. »Hier in der Ecke liegt jemand. Es ist alles voller Blut.«

»Das ist bestimmt ein Junkie«, meinte einer der Taxifahrer.

»Das weißt du doch gar nicht«, erwiderte eine andere Männerstimme.

»Ich geh da nicht hin. Das ist mir zu gefährlich«, sagte die Frau, die um Hilfe gerufen hatte.

Vom sinnlosen Gerede meiner Kollegen genervt, griff ich nach der Taschenlampe in meinem Handschuhfach, zog den Verbandskasten unter dem Beifahrersitz hervor und stieg aus. Nun regnete es stärker. Trotz der Frühlingstemperaturen war mir kalt. Ich zog den Reißverschluss meiner Regenjacke hoch, um wenigstens trocken zu bleiben.

»Lasst mich mal durch«, sagte ich und ging mit festen Schritten an den Kollegen vorbei. Anscheinend war ich hier die Einzige, die bereit war zu handeln. Ich ließ das Licht meiner Taschenlampe umherwandern, bis es an der Ecke des Gebäudes auf einen Körper stieß, der am Boden lag. Unter ihm hatte sich eine Blutlache gebildet. Ich fröstelte. Einem der Herumstehenden drückte ich die Taschenlampe in die Hand, holte Einmalhandschuhe aus dem Verbandskasten und streifte sie über. Dann kniete ich mich hin. Vorsichtig berührte ich die auf dem Boden liegende Gestalt, tastete nach dem Hals und suchte den Puls. Als ich ein leichtes, dahinhuschendes Pochen spürte, lächelte ich erleichtert. Der Mann lebte.

Ich blickte kurz auf. »Wir brauchen einen Krankenwagen.«

»Schon unterwegs«, antwortete einer der Kollegen.

Wieder wandte ich mich dem Bewusstlosen zu, der zusammengekrümmt auf der Seite lag. Ich musste ihn aus der Ecke ziehen, um Erste Hilfe leisten zu können. Kurzerhand griff ich unter seinen feuchten Übergangsmantel, suchte den Hosenbund und zog daran. Der Mann ließ sich überraschend leicht bewegen – bestimmt durch das Blut, das unter ihm wie ein Schmiermittel wirkte. Ich richtete mich auf, stieg über ihn hinweg und öffnete seinen Mantel und das Jackett.

»Mist«, stieß ich hervor, als ich das blutgetränkte Hemd entdeckte.

Der Unbekannte hustete heftig. Ein Schwall Blut lief aus seinem Mund, und die Augen flatterten. Er stöhnte und zitterte.

Ich wich zurück, obwohl ich helfen wollte, doch ich wusste nicht, wie. Wieder kniete ich mich hin. Ein Martinshorn ertönte und kam schnell näher.

»Halten Sie durch«, sagte ich und strich dem Mann über die Haare. Erneut versuchte er, seine Lider zu öffnen. Ich zog meine Jacke aus, drehte das Äußere nach innen und legte sie ihm vorsichtig unter den Kopf.

»Sie schaffen das«, raunte ich ihm zu.