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Seit zwei Jahren fehlt von Ben, dem Mann, den ich liebe, jede Spur. Zwei Jahre, in denen ich gehofft und gebangt habe. Zwei Jahre, in denen ich die Hoffnung Stück für Stück verloren habe. Und dann ist er plötzlich wieder da, doch er gehört einer anderen. Und mein dummes Herz kann ihn immer noch nicht loslassen. Ich werde alles tun, um ihn zurückzugewinnen. Alles, denn es geht nicht nur um mich. Nein, es geht um viel mehr. HINWEIS: Teil 3 der "Treasure Hunt" Reihe. Für einen besseren Lesegenuss empfehlen wir, zuerst Teile 1 und 2 zu lesen!
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Seitenzahl: 316
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Im Buch vorkommende Personen und Handlung dieser Geschichte sind frei erfunden und jede Ähnlichkeit mit lebenden Personen ist zufällig und nicht beabsichtigt.
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alle Rechte vorbehalten.
OBO e-Books
M. Kluger
Fort Chambray
Apartment 20c
Gozo, Mgarr
GSM 2290
Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Epilog
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Eiskalt peitschte der Sturm über die kleine Insel und fegte den Sand durch die leeren Gassen. Aus der Ferne hörte man das Donnern der meterhohen Wellen, die auf den Strand trafen und an den Dünen nagten, um sich ihren Weg ins Inselinnere zu fressen. Matilda stolperte die Straße entlang in Richtung der etwas abseits liegenden Inselpfarrei. Nur mühsam kam sie voran. Der Wind drückte sie zurück und zerrte an ihren schweren Kleidern, und die Krämpfe, die alle paar Minuten ihren Unterleib durchzuckten, zwangen sie in die Knie. Seitdem sie ihre Anstellung als Magd bei der wohlhabenden Familie Stevens verloren hatte, war sie bei ihrer kränklichen Großmutter untergekommen. Doch diese war zu alt und zu schwach, um ihrer Enkelin in ihrer schwersten Stunde zur Seite zu stehen.
Matilda rappelte sich wieder hoch, zog den Wollschal fester um ihren zitternden Körper und legte die rechte Hand beschützend auf ihren schweren, runden Bauch. „Wir schaffen das schon“, sprach sie sich selbst und dem ungeborenen Kind Mut zu. „Jetzt geben wir auch nicht mehr auf. Nur noch über diesen Hügel da vorne.“
Der eisige Regen durchtränkte ihr knöchellanges Kleid, machte es klamm und schwer. Von irgendwo her trug der Wind wehleidige Schreie an ihr Ohr. Ob sie es war? War es nicht eine Ironie des Schicksals, dass beide Kinder in derselben Nacht auf die Welt kommen sollten - an diesem verfluchten Ort, mitten im Höllensturm? Nur dass Rebecca Stevens in ihrem warmen Bett in weißen Laken lag, umgeben von ihrer sorgenden Familie und der extra vom Festland angereisten Hebamme. Matilda hingegen konnte froh sein, wenn die mildtätige Pfarrersfrau sich ihrer armen Sünderseele erbarmte.
Doch kaum hatte sie die Spitze des Dünenhügels erklommen, stockte ihr der Atem. In dem schmalen Tal, das das Pfarrhaus und den benachbarten Inselfriedhof beherbergte, tobten die dunklen Wellen des Ozeans. Das kleine Häuschen war bis zum Dachfirst im Wasser versunken, der angrenzende Friedhof war komplett überspült. Vom Pfarrer und seiner Frau gab es keine Spur. Nur eines ihrer Schafe trieb leblos auf den alles verschlingenden Wellen. Doch es war noch etwas anderes, das Matilda viel mehr verwirrte: Im Schein des auf und ab flackernden Leuchtfeuers sah die junge Frau ein halbes Dutzend eigenartige, schwarze Kisten auf dem Wasser treiben. Erst auf den zweiten Blick erkannte sie, um was es sich dabei handelte, und sie erstarrte vor Angst. Zwei der schwarzen Kisten hatten ihren Deckel verloren und enthüllten ihren grausigen Inhalt. Die dunklen Wogen hatten den Dünensand aufgewirbelt und damit wieder an die Oberfläche gebracht, was nie wieder nach oben kommen sollte: Aus einer der beiden Kisten schwamm eine in ein strahlend weißes Kleid gehüllte Leiche. Ihre blonden Haare tanzten im Auf und Ab der Wellen um ihr eingefallenes Gesicht. Die Haut der Toten war dunkelbraun und die hellen Zähne blitzten zwischen den vertrockneten Lippen hervor. In der zweiten Kiste lag ein weißhaariger Mann in einem schwarzen Trachtenanzug. Eine goldene Taschenuhr baumelte hell blinkend aus seinem viel zu weit sitzenden Jackett. Matilda konnte sein Gesicht nicht erkennen, aber in ihrer wachsenden Panik glaubte sie, in den beiden Toten ihre verstorbenen Eltern wiederzuerkennen. Auch ihr Vater hatte einst eine solche Uhr besessen. Sie selbst hatte sie ihm mit ins Grab gegeben, als er vor drei Monaten vor Scham über seine unehelich schwangere Tochter an Herzversagen gestorben war. Kamen sie jetzt, um sie in die Hölle zu holen?
Voller Entsetzen stolperte sie zurück in Richtung Dorf. Nein! Sie durften ihr Baby nicht bekommen! Ihr Kind musste leben, niemals würde sie es hergeben! Auch wenn man im Dorf erzählte, dass es dieses Kind nie hätte geben dürfen. Aber da war es – sie spürte, wie es lebte, wie es sich in ihr bewegte und herauswollte. Ihr blieb nicht mehr viel Zeit. Obwohl sie durch den Regen und den Wind wie zu Eis gefroren war, bemerkte sie, wie etwas Warmes, Klebriges an ihren Schenkeln herunterlief. Es war so weit. Mit einem Schrei der Verzweiflung sank sie zu Boden. Noch nicht! Nicht hier! Doch die Schmerzen waren zu stark. Sie konnte nicht mehr weitergehen. „Gott, vergib mir und steh´ mir bei!“, betete sie mit schwindender Kraft. Dann durchfuhr die erste Presswehe ihren zitternden Körper.
„…Welche gefallen dir am besten?“
„Bitte? Was hast du gesagt?“
Etwas erschrocken fuhr ich herum, da ich wieder einmal beschämt feststellen musste, dass ich nicht richtig zugehört hatte. Sein Gesicht war ganz nah und blickte mich warm und freundlich an. „Die Kugeln meinte ich, für den Weihnachtsbaum. Welche gefallen dir am besten?“ Um seine Augen herum bildeten sich kleine Fältchen, und das mochte ich, weil es mich immer ein wenig an meinen Vater erinnerte.
„Oh, die silbernen sind toll. Und die weißen mit den Ornamenten drauf. Die würden bestimmt gut zusammenpassen.“ Ich nahm eine der glitzernden Kugeln von ihrem Ständer und ließ sie im Schein der Kerzen an meinen Fingern baumeln. Die Verkäuferin hinter dem Weihnachtsmarktstand nahm einen Schluck Kakao aus ihrer Tasse und zog ihren Mantel enger. Es war ungewöhnlich kalt in diesem Winter. Eine dichte Schneedecke hatte sich über ganz Hamburg gelegt und unsere hektische Großstadt in eine Märchenlandschaft verwandelt. An den Weihnachtsmarktständen baumelten warm leuchtende Lichter und von überall klangen adventliche Melodien durch die vollen Gassen. Es roch nach Zimt, Lebkuchen und gebrannten Mandeln, nach Glühwein und Zuckerwatte. Doch trotz allem konnte keine richtige Weihnachtsstimmung in mir aufkommen. Es war bereits das dritte Weihnachtsfest, das ich ohne meinen Vater verbringen musste. Vor etwas mehr als zweieinhalb Jahren war er bei einem tragischen Verkehrsunfall ums Leben gekommen, seitdem war ich auf mich allein gestellt. Für einige Wochen hatte ich mit meinem mir bis dato unbekannten Halbbruder Ben zusammengelebt, doch dieser hatte sich schließlich alleine davongemacht und mich zurückgelassen. Da Ben mein einziger noch lebender Verwandter gewesen war, hatte mich die Familie meiner besten Freundin Stella eine Weile zu sich genommen. Im vorletzten Sommer, nachdem wir gemeinsam unser Abi bestanden hatten, waren Stella und ich in eine Studenten-WG in die Hamburger City gezogen. Stella begann ein Physikstudium und ich wandte mich der Geschichte zu. Im Frühjahr lernte ich dann Noah kennen. Er war der Dozent meines Einführungskurses in die französische Geschichte und hatte sich von Anfang an sehr um mich gekümmert. Und obwohl Noah zwölf Jahre älter war als ich, hatte sich nach und nach so etwas wie eine Beziehung zwischen uns entwickelt. Es war eine langsam gewachsene und auf Freundschaft basierende Beziehung, keine leidenschaftliche Romanze, doch er gab mir ein Gefühl von Geborgenheit, das ich schon lange vermisst hatte…
Aber was war das? Nur wenige Meter von uns entfernt, ein paar Stände weiter, stand ein Mann und sah zu uns herüber. Er war eingehüllt in einen langen, schwarzen Wollmantel, der Kragen hochgeklappt, die Hände in schwarzen Lederhandschuhen versteckt. Seine dunklen Haare waren feucht und mit weißen Schneeflocken bedeckt, sein Blick wirkte verstohlen und düster, so als wolle er nicht von uns entdeckt werden. Und dennoch, es war mir, als wenn…
Konnte er es sein? Der Schock fuhr mir durch die Glieder und ließ mich so sehr erschaudern, dass mir die glänzende Kugel aus der Hand glitt und auf dem Asphalt in tausend Teile zersprang.
„Sofia? Was ist los?“ Noahs besorgte Worte vermischten sich mit dem verärgerten Gezeter der Verkäuferin. Aber das bekam ich nur am Rande mit. Ohne weiter auf die beiden einzugehen, drängte ich mich an meinem Begleiter vorbei und versuchte, gegen den Strom der mir entgegenkommenden Menschen den Mann im schwarzen Mantel zu erreichen. Doch kaum hatte dieser bemerkt, dass ich mich ihm näherte, drehte er sich um und verschwand in der Menge. Verzweifelt drehte ich mich im Kreis. Wo war er? „Entschuldigen Sie bitte!“ Hektisch schob ich einen älteren Herrn zur Seite, der gerade mitten auf dem Weg anhielt, um sich eine Zigarette anzuzünden, und erntete böse Blicke dafür. „Was erlauben Sie sich?“, fuhr mich eine Dame im Pelzmantel erbost von der Seite an, als ich ihr im Vorbeigehen versehentlich die teure Designer-Handtasche von der Schulter schob.
„Entschuldigung“, nuschelte ich und hastete vorbei, immer weiter in Richtung des Glühweinstands, an dem ich den merkwürdigen Mann zuletzt gesehen hatte. Dort hinten stand jemand, der sah ihm sehr ähnlich! Konnte es wirklich er sein? Mit klopfendem Herzen stürmte ich auf ihn zu und schnappte beherzt nach seinem Arm. „Ben?“, fragte ich mit zitternder Stimme. Verdutzt drehte sich der Mann im dunklen Mantel zu mir um. „Kennen wir uns?“, fragte er leicht belustigt, doch die junge Frau neben ihm wirkte weniger erfreut. „N-nein“, stotterte ich verlegen und ließ meine Hand ernüchtert von seinem Ärmel sinken. „Tut mir leid.“
Ich hatte ihn verloren. Oder war es doch nur ein Trugbild gewesen? So sehr hatte ich mich in den vergangenen Jahren nach einem Lebenszeichen von Ben gesehnt, dass ich manchmal schon anfing Dinge zu sehen, die gar nicht existierten.
„Sofia, da bist du ja!“ Noah, der mich inzwischen eingeholt hatte, sah mich mit verwirrter Miene an und legte mir beruhigend seine Hand auf die Schulter. „Ähm, die Kugel hab´ ich bezahlt, keine Sorge.“
Als ob ich mich um die blöde Weihnachtsbaumkugel sorgen würde!
„Was war denn los?“
„Ach, nichts. Ich dachte nur, ich hätte jemanden gesehen, den ich von früher kannte. Nicht so wichtig.“ Niedergeschlagen blickte ich zu Boden.
„Dein Gesicht sagt mir aber etwas anderes“, bemerkte Noah. „Komm her.“ Er zog mich liebevoll in seine Arme und drückte mir einen Kuss auf die Stirn. „Du kannst mir alles erzählen, das weißt du doch.“
Alles erzählen! Was sollte ich ihm denn sagen? Dass ich mich nach dem Tod meines Vaters zusammen mit Ben auf die Suche nach einem Jahrhunderte alten Piratenschatz begeben und mich während dieser Zeit in ihn verliebt hatte? Dass wir miteinander geschlafen hatten? Dass wir auf den Seychellen ein verborgenes Schiff entdeckt hatten, auf dem wir zwar keinen Schatz, dafür aber die Überreste dutzender Leichen aus vergangenen Zeiten entdeckt hatten? Dass Ben nach diesem Abenteuer spurlos verschwunden war und ich seit diesem Tag an nichts anderes denken konnte als daran, ihn zu finden?
Nichts davon konnte ich meinem neuen Freund erzählen.
„Komm, wir fahren erst einmal zu mir und ich mach´ dir eine heiße Schokolade mit einem Schuss Rum. Es ist sowieso viel zu kalt für den Weihnachtsmarkt.“
Mit einem Seufzen nickte ich Noah zu und ließ mich von ihm mitziehen. Im Vorbeigehen flog mein Blick über die Gesichter der vielen Leute, die uns entgegenkamen, doch niemand von ihnen sah aus wie Ben.
In der Seitenstraße, in der Noah seinen nagelneuen Audi geparkt hatte, wurde es langsam leerer. Nur wenige Menschen schlenderten mit tief in die Taschen vergrabenen Händen über den verschneiten Fußgängerweg. Die Gesichter bis zur Nasenspitze in ihren Schals versteckt, die Mützen bis über die Stirn gezogen, huschten sie an uns vorbei in die Richtung, aus der das Licht und die leise Weihnachtsmusik zu uns herüber ebbte. Als Noah sich unbeobachtet fühlte, zog er mich plötzlich in einen dunklen Hauseingang und drückte mich gegen die kalte Außenwand. „Entschuldige“, flüsterte er mit einem spitzbübischen Lächeln und beugte sich tief zu mir herunter, „aber du siehst heute so unwiderstehlich aus mit deinen roten Wangen und deiner blassen Nase.“ Seine Hände umfingen meinen Rücken und zogen mich fest an sich, kurz bevor seine Lippen auf meine trafen.
„Sofia?“
Erschrocken riss ich mich von Noah los und blickte ungläubig in Richtung Straße. Vor dem dunklen Hauseingang stand der Mann im schwarzen Mantel mit dem hochgeklappten Kragen, den ich auf dem Weihnachtsmarkt aus den Augen verloren hatte. „Ben“, flüsterte ich und ließ mich ungläubig zurück gegen die Hauswand sinken.
Er hatte sich verändert. Das jungenhafte, etwas überheblich wirkende Funkeln, das ich einst so unwiderstehlich gefunden hatte, war aus seinen Augen verschwunden. Er wirkte älter und ernster und ich überlegte, was er in den vergangenen zweieinhalb Jahren wohl erlebt hatte. Nahezu täglich hatte ich mich gefragt, ob er auch nur ansatzweise so oft an mich dachte wie ich an ihn. Erst als ich mir selbst immer wieder eingeredet hatte, dass dem sicher nicht so war, hatte ich mein Leben irgendwie weiterleben können. Irgendwann musste man die Vergangenheit hinter sich lassen, sonst würde man daran ersticken. Und nun hatte sie mich mit einem einzigen Donnerschlag wieder eingeholt…
„Hey“, antwortete mein Gegenüber und wagte es dabei kaum mich anzusehen. „Schön dich wieder zu sehen.“
Zögernd machte er einen Schritt auf mich zu und umarmte mich für den Bruchteil einer Sekunde, so wie man es halt macht, wenn man einem guten Bekannten nach langer Zeit plötzlich wieder über den Weg läuft. Noch immer roch er wie damals und es fühlte sich so schrecklich vertraut an, als wäre es gerade gestern gewesen, dass ich ihm das letzte Mal so nah gekommen bin.
Erst nach ein paar Sekunden wurde mir bewusst, dass ich nicht alleine hier war und es vielleicht angebracht sein könnte, auch ein paar Worte zu sagen. Es hatte mir buchstäblich die Sprache verschlagen. Doch Noah, der Ben weder kannte noch wusste, welche gemeinsamen Erlebnisse uns verbanden, reagierte schneller als ich und ergriff die Initiative. Demonstrativ legte er mir seinen linken Arm um die Taille, zog mich beschützend an seine Seite und streckte Ben freundlich, aber bestimmt seine rechte, noch freie Hand entgegen. „Noah Willford, freut mich Sie kennenzulernen.“
Ben warf Noah einen flüchtigen, abschätzenden Blick zu. Wie immer, wenn ihm etwas missfiel, zog er seine Stirn kraus und streckte sein Kinn herausfordernd nach oben. „Ben Stevens, freut mich ebenfalls“, entgegnete er mit einem kurzen Nicken. Noahs Blick wurde mit einem Schlag entspannter. „Stevens? Sind Sie ein Verwandter von Sofia? Sie hat mir nichts von Ihnen erzählt.“
Allmählich wurde es unumgänglich, mich an dem aufkommenden Gespräch zu beteiligen. Mit einem Räuspern versuchte ich meinen anfänglichen Schock zu überspielen und presste mir mühevoll ein möglichst unbefangenes Lächeln ab. „Ja… ähm,… Noah… Darf ich vorstellen, das ist mein Bruder Ben. Wir haben uns schon eine ganze Weile nicht mehr gesehen, deshalb hat es mir gerade etwas die Sprache verschlagen.“
„Du hast mir nie gesagt, dass du einen Bruder hast!“
Jetzt schien Noah wirklich erleichtert und klopfte Ben kumpelhaft auf die Schultern, was dieser sich kommentarlos, aber nicht ohne einen gewissen Widerwillen gefallen ließ. Ohne auf Noah zu achten, sah er mich durchdringend an und ich wusste auch ohne Worte, dass ihm mein neuer Freund nicht sonderlich gefiel.
„Ben und ich kennen uns auch eigentlich nicht besonders gut und sind auch eigentlich keine richtigen Geschwister“, antwortete ich möglichst gelassen. „Wir sind nicht zusammen aufgewachsen und haben uns erst nach dem Tod meines Vaters kennengelernt. Ben hat mir in den ersten beiden Monaten nach Papas Unfall geholfen, wieder Fuß zu fassen. Etwas später bin ich aber zu Stella gezogen, wie du ja weißt.“
Wir gingen ein paar Schritte weiter und ich faltete meine rechte Hand in Noahs, was Ben ebenfalls mit einem Zucken in den Augenwinkeln registrierte.
„Ich verstehe.“ Noah lächelte, ich sah ihm an, dass er eigentlich gar nichts verstand. „Dann kann ich Ihnen ja nur danken, dass Sie Sofia in dieser schweren Zeit zur Seite gestanden haben. Es ist schlimm, wenn man in so jungen Jahren mit einem Mal ganz allein dasteht.“
Anstatt zu antworten, lächelte Ben nur gepresst und schenkte Noah einen abschätzigen Blick von der Seite.
„Und ich freue mich, dass sie nun anscheinend neue Freunde gefunden hat“, entgegnete er nach einer Weile.
Hallo? Ich war auch noch da. Warum redeten sie über mich wie über ein kleines Kind? Dieses höfliche Geplänkel ging mir auf den Geist. Ich hatte so viele Fragen an Ben, dass ich es nahezu quälend empfand, vor Noah so zu tun, als würde man im Vorbeigehen einen netten Smalltalk halten. In diesem Moment wünschte ich mir nichts sehnlicher, als dass er sich von uns verabschieden würde, doch den Gefallen tat mein neuer Freund mir nicht. Im Gegenteil, er schien ganz erpicht darauf zu sein, Ben näher kennenzulernen, und verwickelte ihn in eine nervenzehrend langweilige Konversation über das Wetter, Weihnachten und die Uni, dass ich kaum noch in der Lage war, dem Gespräch der beiden zu folgen.
Wo warst du die ganze Zeit? Warum bist du damals einfach so verschwunden? Und was willst du jetzt wieder hier? Jetzt, wo ich es endlich geschafft habe, nicht mehr alle fünf Minuten über dich nachzudenken?
„… Findest du nicht auch, Sofia? … Sofia?“
„Hm?“ Erst als ich meinen Namen vernahm, wurde ich aus meinen Gedanken gerissen.
„Ich sagte, Ben könnte uns doch morgen Abend auf den Weihnachtsball der Uni begleiten. Ich hätte da noch eine Freikarte, es gibt dort immer hervorragendes Essen, gute Musik und viele hübsche Dozentinnen und Referendarinnen, die die Weihnachtstage ungerne allein verbringen. Wie klingt das für euch?“
„Also… ich weiß nicht“, wehrte Ben ab, bevor ich mich zu der Frage äußern konnte. „Ich bin hier eigentlich nur auf der Durchreise und wollte ein paar Dinge besorgen… außerdem habe ich keinen Anzug dabei. Und ich will auch nicht stören.“
„Das ist doch alles kein Problem“, widersprach Noah. „Einen Anzug kann ich dir leihen, wir haben ungefähr die gleiche Größe. Und der Bruder meiner Freundin stört uns doch nicht, ganz im Gegenteil. Ich würde mich freuen, dich näher kennenzulernen. Wenn du möchtest, kannst du auch ein paar Nächte bei mir wohnen, ich habe Zimmer genug. Dann kannst du dir das Hotel sparen.“
Wow! Jetzt waren die beiden schon per Du. Aber Ben schien es nicht entgangen zu sein, dass Noah „bei mir“ gesagt hatte und nicht „bei uns“. Nein. Davon, mit ihm zusammenzuziehen, war ich noch weit entfernt. Auch wenn Noah mich schon häufiger hatte dazu überreden wollen.
Ein flüchtiges, schiefes Lächeln huschte über Bens Gesicht.
„Okay“, sagte er zu Noah und sah doch wieder nur mich dabei an. „Zu dem Ball komme ich mit. Aber ich bleibe in meinem Hotel. Übermorgen muss ich nämlich schon wieder abreisen, da lohnt sich das Umziehen nicht.“
Hatte er mir meine Enttäuschung angesehen? Ich war immer schon schlecht darin gewesen, meine Mimik unter Kontrolle zu halten. Nur bis übermorgen? Und dann? Würde er wieder ohne eine Adresse, ohne eine Telefonnummer verschwinden? Und ich würde wieder quälend lange Monate über ihn nachgrübeln?
„Toll, das freut uns sehr“, antwortete Noah einfach schon mal pauschal für mich mit. „In welchem Hotel bist du untergekommen?“
„Im Park Hyatt Hamburg, Zimmer 409“, entgegnete Ben etwas zögernd.
Im Hyatt? Hatte Ben im Lotto gewonnen? Das war eine der nobelsten Adressen vor Ort. Ein Fünf-Sterne-Hotel in bester Lage.
„Perfekt. Dann lasse ich dir morgen Nachmittag einen Anzug zukommen. Und gegen 18.00 Uhr schicke ich dir ein Taxi, das bringt dich dann zur richtigen Adresse. Sonst noch etwas, das du brauchst?“ Noah wollte Ben anscheinend in nichts nachstehen und schien es ebenfalls zu genießen, einen auf „dicke Hose“ zu machen. Schließlich war er ja der reife Mann mittleren Alters, der mit beiden Beinen fest im Leben stand.
Ben presste die Lippen zusammen. Irgendetwas schien ihm noch auf der Seele zu liegen, doch offenbar wusste er nicht, wie er die richtigen Worte finden sollte.
„Nur noch eine Kleinigkeit“, fügte er schließlich etwas gepresst hinzu. „Sofia, du könntest mir unser Familienstammbuch mitbringen. Ich bräuchte da ein paar Abschriften für so ´n behördlichen Kram. Du bekommst es auch ganz bald zurück.“
Die Bemerkung sollte beiläufig klingen, doch es irritierte mich, dass Ben mir zum ersten Mal seit dem Beginn unserer Unterhaltung nicht mehr in die Augen sehen konnte. Stattdessen ging sein Blick an mir vorbei auf den Schneematsch, der sich unter unseren Füßen befand. Wozu brauchte er dieses olle Stammbuch?
„Kein Problem“, versicherte ich, ohne weiter nachzuhaken. „Das bringe ich dir morgen Abend mit.“
Sicher würde sich morgen noch ein Moment ergeben, in dem wir die Chance hatten, unter zwei Augen miteinander zu reden. Auf dem Weihnachtsball versammelten sich alljährlich sämtliche Mitarbeiter der Uni zu einem ausschweifenden Spektakel. Diese Tradition kannte ich bereits, als Papa noch zum illustren Kreis der geladenen Gäste zählte. In diesem Jahr gehörte ich zum allerersten Mal selbst dazu – dank Noah.
„Wir müssen jetzt los“, sagte mein Freund und schüttelte kameradschaftlich die Hand meines vermeintlichen „Nur-Bruders“. „Dann bis morgen. Hier ist meine Nummer, wenn noch irgendetwas ist.“ Er zog eine Visitenkarte aus der Manteltasche und drückte sie Ben in die Hand, der sich knapp dafür bedankte und mir dabei noch einen langen Blick zuwarf. Sieh mich nicht so an! Bitte…
Wir stiegen ein und winkten uns kurz zum Abschied. Dann tauchte unser Wagen im dichten Großstadtverkehr des anbrechenden Abends unter.
Was wollte er? Mein Gefühlschaos trieb mich noch an den Rand eines Nervenzusammenbruchs. Von über-alle-Maßen-glücklich bis zutiefst-wütend war alles dabei. Wie schön, ihn endlich wiederzusehen … Wie dreist von ihm, ohne Vorwarnung aus dem Nichts aufzutauchen … Wie merkwürdig … wie … Das Schlimmste war, dass ich niemanden hatte, mit dem ich mich über meine wirren Gedanken unterhalten konnte.
Ja, es ließ sich nicht leugnen, dass ich immer noch Gefühle für Ben hatte. Das, was ihn und mich einmal miteinander verbunden hatte, ging über normale geschwisterliche Zuneigung weit hinaus. Genau genommen waren wir auch keine Geschwister, auch wenn es so in unserem Familienstammbuch stand. Zumindest hatte Papas Bruder Michael das behauptet. Er hatte Ben erzählt, dass dieser nur das Resultat eines Seitensprungs seiner Mutter, Papas erster Ehefrau, gewesen war. Mit diesem Wissen hatte er versucht, Ben zu erpressen. Aber hatte Onkel Michael wirklich die Wahrheit gesagt? Genau wussten wir das nicht.
Meine Freundin Stella besuchte für mehrere Monate ihren neuen Freund in Australien, und Marvin, ihr Bruder und ebenfalls mein Freund, war mit seiner Familie über Weihnachten zu seinen Großeltern nach München gefahren. Natürlich hatten sie mir angeboten mitzukommen, aber bereits in den vergangenen zwei Jahren hatte ich mich wie ein Fremdkörper bei ihnen gefühlt. Bei Stella zu wohnen, war das eine gewesen. Aber mal abgesehen von ihren Eltern kannte ich ihre übrige Verwandtschaft kaum. Und es entging mir nicht, wie sie oft betreten schwiegen, wenn ich einen Raum betrat. …Armes Kind … Keine Eltern mehr … Keine anderen Verwandten … Und der einzige Bruder lässt sie im Stich … So oder ähnlich hatten sie sicher getuschelt. Das brauchte ich nicht wirklich. Nichts konnte ich weniger ertragen als das Mitleid anderer Leute. Daher hatte ich in diesem Jahr beschlossen, die Feiertage allein zu verbringen. Noahs Einladung zum Weihnachtsball kam mir da ganz gelegen, doch sie war nur ein Vorwand. Eigentlich hatte ich auch auf dieses Ereignis nicht wirklich Lust. Zumal dieser Ball die „Beziehung“ zwischen uns wesentlich vertiefen würde. Zum ersten Mal, nachdem wir uns schon über acht Monate regelmäßig trafen, würde Noah mich offiziell seinen Freunden und Kollegen vorstellen. Das war ein großer Schritt. Er zeigte sich mit mir in der Öffentlichkeit - und das obwohl er sicher von manchen Kollegen mit spöttischen Blicken gestraft werden würde. Ein 31-jähriger Uni-Dozent mit Doktortitel, der mit einer 19-jährigen Studentin im dritten Semester liiert war, das wirkte auf Außenstehende sicher befremdlich. Und ehrlich gesagt fand selbst ich diese Tatsache eigenartig. Vielleicht hatte es Noah imponiert, wie verbissen ich mich in meine Arbeit gestürzt hatte. Da war dieses uralte Tagebuch, das Ben und ich auf den Seychellen gefunden hatten, welches ich jedoch zunächst kaum hatte entziffern können. Es war abgegriffen, verblasst und zum Teil unleserlich geschrieben, noch dazu in altertümlichem Französisch verfasst, gespickt mit Redewendungen und Andeutungen, die mir fremd waren. Doch als Ben fort war, brauchte ich ein Ziel, etwas, auf das ich hinarbeiten konnte; etwas, das mich aus meinen melancholischen Gedanken riss. Also begann ich, das Buch zu übersetzen, Wort für Wort, Zeile für Zeile. Manchmal trieb es mich an den Rand des Wahnsinns, weil ich partout nicht weiterkam. Dann, ganz plötzlich, tat sich doch wieder etwas, ich entzifferte ein schwieriges Wort und auf einmal erschlossen sich mir ganze Sätze und völlig neue Zusammenhänge. Das Buch war wie eine geheime Welt, die ich nach und nach eroberte, in der hinter jeder Ecke spannende und faszinierende Entdeckungen auf mich warteten.
In den zwei Jahren, in denen ich mich mit der Übersetzung befasste, hatte ich mittlerweile ungefähr drei Viertel der über 200 handgeschriebenen Seiten entziffern können. Ein paar Seiten schienen in der Mitte zu fehlen und an drei Stellen hatte ich entnervt aufgegeben, die Einträge zu Ende zu übersetzen, da die Schrift einfach nicht mehr lesbar war; aber immerhin ergab sich für mich inzwischen ein sehr schlüssiges Gesamtkonzept.
Das Buch umfasste einen Zeitraum von April 1728 bis Juli 1731 und war von einer gewissen Madelaine Dubois geschrieben worden. Zu Beginn ihrer Aufzeichnungen war die Französin 17 Jahre alt gewesen. Sie erzählte von der spannenden Überfahrt von Frankreich nach Madagaskar und später zu der Kolonialinsel La Réunion, auf der ihr Vater als Admiral einen Außenposten der französischen Flotte befehligte. Die junge Frau begeisterte sich für die Natur und die Menschen in ihrer Umgebung, erstellte viele Skizzen und dokumentierte Beobachtungen – so detailliert, dass man fast glaubte, die Dinge direkt vor Augen zu haben, die sie beschrieb.
Doch eines Tages änderten sich ihre Einträge. Bei ihren Erkundungstouren auf der Insel hatte sie jemanden kennengelernt, der ihr nicht mehr aus dem Kopf ging. Der Mann hieß Luis Le Vasseur. Bald trafen sie sich an geheimen Orten, schrieben sich heimliche Briefe und verliebten sich ineinander. Aber Luis war nicht der standesgemäße Umgang für die gutbürgerliche Madelaine und so kam es, wie es kommen musste: Die Romanze flog auf und die beiden wurden getrennt. Madelaine fiel in eine tiefe Depression. Doch was noch schlimmer war – sie war schwanger. Ein absolutes Tabu für die Zeit, in der sie lebte. Das Mädchen wurde von ihrer Familie von der Außenwelt abgeschottet und bekam ihr Kind ohne, dass irgendjemand es mitbekam. Nur ihrer besten Freundin Victoria Stevens konnte sie sich anvertrauen.
Victoria Stevens. Stevens. So wie auch mein Nachname lautete. Ich wusste, dass Madelaines Tagebuch der Schlüssel zu meiner Vergangenheit war. Nur wie genau, das wusste ich nicht. Noch nicht.
In all der Zeit hatte Noah mich beobachtet. Ihm war aufgefallen, dass ich nach meinen Vorlesungen oft noch stundenlang in der Bibliothek saß, um an der Übersetzung des Tagebuchs zu arbeiten. Vielleicht hatte es ihm imponiert, dass ich so wissensdurstig war und meine Freizeit lieber in dunklen und muffigen Universitätsgebäuden als mit Freunden in schattigen Biergärten verbrachte. Zumindest hatte er mich irgendwann angesprochen und nach dem Buch gefragt. Und weil ich mich gerade verzweifelt an einer sehr schwierigen Stelle abmühte, hatte Noah mir seine Hilfe angeboten. Und siehe da – wir kamen weiter. Dank seiner Kenntnisse in der Franco-Romanistik gelang die Übersetzung fast doppelt so schnell wie zuvor. Ich blühte auf und war glücklich, dass ich endlich vorankam.
Aus einer Arbeitsgemeinschaft und einem gemeinsamen Interesse wurde schließlich mehr, so dass wir uns nach einigen Wochen auch einfach nur zum Essen oder Spazierengehen verabredeten. Doch obwohl ich Noah mochte und ihm vertraute, belog ich ihn, was die Herkunft des Tagebuchs anging. Statt ihm von unserer Schatzsuche auf den Seychellen zu erzählen, erklärte ich ihm, dass das Buch aus dem Nachlass meines Großvaters stammte und es daher auch nicht für mich in Frage kam, es zu verkaufen oder an ein Museum zu übergeben.
Unsere Beziehung wuchs langsam, aber stetig. Zunächst fiel es mir schwer, körperliche Nähe zuzulassen. Zu sehr hatte Ben sich in meinen Gedanken verankert. Doch dann wurde mir klar, dass die Beziehung zu Noah in die Brüche gehen würde, wenn ich ihn immer wieder zurückwies. Also überwand ich meine Hemmungen und stellte fest, dass es gut tat loszulassen. Ich konnte schließlich nicht mein ganzes Leben damit verbringen, einem flüchtigen Moment in meiner Vergangenheit hinterher zu trauern; und einem Menschen, der schon so lange fort war, dass ich mir manchmal gar nicht mehr sicher war, ob er tatsächlich real existiert hatte.
Doch jetzt war er plötzlich wieder da. Wie aus dem Nichts. Wie ein Geist, der mich in eine Welt zurück katapultierte, die ich lange weggesperrt hatte.
Ich sollte nichts mehr für ihn fühlen, verdammt!
„Park Hyatt Hotel Hamburg, Thomas Stern, was kann ich für Sie tun?“
Die Stimme am anderen Ende der Leitung klang routiniert und ein wenig gelangweilt.
Mein Hals fühlte sich trocken und kratzig an und ich musste mich räuspern, bevor ich antworten konnte.
„Sofia Stevens hier, guten Tag. Ich wollte fragen, ob Sie mich mit Herrn Benjamin Stevens verbinden können.“
„Zimmernummer?“
„409“
„Einen Moment bitte.“
Ich wartete, doch die Sekunden vergingen für mich wie Minuten. Mein Herz pochte mir bis in den Hals.
„Frau Stevens?“
„Ja?“
„Ich habe es versucht, aber Herr Stevens scheint nicht auf seinem Zimmer zu sein. Zumindest nimmt er nicht ab. Soll ich ihm eine Nachricht hinterlassen?“
„Ja… ähm… sagen Sie ihm bitte, er soll mich zurückrufen, wenn Sie ihn sehen. Meine Nummer haben Sie ja jetzt.“
„Ich werde es ausrichten.“
„Vielen Dank.“
Instinktiv wusste ich, dass ich den Nachmittag vergeblich darauf warten würde, dass Ben sich meldete. Ich würde auf ihn warten, mit rasendem Puls und zitternden Händen, und stundenlang aufs Telefon starren und es würde nichts nutzen. Das war wohl mein Schicksal – mein ganzes Leben lang auf etwas zu hoffen, dass doch nie eintreten würde. Vielleicht würde er nicht einmal heute Abend erscheinen. Aber auf der anderen Seite hatte ich ja noch etwas, das er brauchte – unser Stammbuch.
Schulterzuckend nahm ich das Kleid aus dem Schrank, das ich heute Abend anziehen wollte. Stella hatte es mir geschenkt, weil sie meinte, ich solle bei den alten Herrschaften auf dem Uni-Ball ruhig einmal ein bisschen Aufsehen erregen. Für meinen Geschmack war es etwas zu freizügig und ich hatte es eigentlich gar nicht annehmen wollen, doch jetzt hatte ich mich spontan umentschieden. Sollte Ben ruhig sehen, was ihm in den letzten zweieinhalb Jahren entgangen war! Ich würde ihm zeigen, dass aus mir eine reife, erwachsene Frau geworden war, die mit beiden Beinen im Leben stand. Siegessicher lächelte ich meinem Spiegelbild entgegen. Genau! Erwachsen – emanzipiert – selbstsicher. Kein schutzbedürftiges, unsicheres, unerfahrenes, tollpatschiges 17-jähriges Mädchen mehr… Mit einem entschlossenen Ruck zog ich den Reißverschluss meines kirschroten, rückenfreien, bodenlangen Ballkleids zu. Mist! Das war etwas zu entschlossen gewesen. Irgendwo unterhalb der Taille hatte sich der Reißverschluss im Innenfutter verhakt. Jetzt ging er weder vor noch zurück. Und ausziehen konnte ich das Kleid auch nicht mehr, dafür war es zu eng um die Hüften. Alles Ziehen und Zerren half nichts. Mist! Ich würde das Kleid ruinieren, wenn ich keine andere Lösung fand. Mit einem Fuß in meinen neuen 9-Zentimeter-Absatz-Riemchen-High-Heels und dem anderen in meinem abgetragenen Filzpantoffel humpelte ich in die Küche, um nach irgendeinem Hilfsmittel zu suchen. Kaum dort angekommen, klingelte es an der Haustür. Verdammt! Wer zur Hölle konnte das sein? Stella und Milla – meine andere Mitbewohnerin – waren über die Feiertage nach Hause gefahren und der Postbote hatte schon heute Morgen die letzten Weihnachtskarten vorbeigebracht. Vielleicht doch noch das Päckchen mit den Winterboots, die ich mir vergangene Woche bestellt hatte? Damit ich den Kurier nicht total verschreckte, warf ich mir schnell meine alte Strickjacke über, humpelte zur Wohnungstür und drückte auf den Türöffner.
„Hallo?“ Verlegen lugte ich durch die Tür und versuchte meinen einen High Heel ungelenk hinter der Wohnungstür zu verstecken. Doch wer da die Treppe hochstapfte, war nicht der Paketbote. Es war Ben.
„Hi“, begrüßte er mich verlegen und mir schoss sogleich das Blut in die Wangen. „Ich war gerade in der Gegend und… darf ich reinkommen?“
Damit hatte ich nun wirklich nicht gerechnet. „K-Klar…“, stotterte ich und fuhr mir hilflos mit der rechten Hand durch meine zerzausten, noch nicht frisierten Haare. Das war´s dann wohl mit meinem perfekten Auftritt! Ich humpelte zur Seite und ließ Ben zerknirscht eintreten. Als sein erstaunter Blick an meinem schief sitzenden Ballkleid, der schlabberigen Strickjacke und meiner außergewöhnlichen Fußbekleidung entlangstreifte, wäre ich am liebsten im Boden versunken. „Sag´ nichts!“, stoppte ich ihn, bevor er einen wenig schmeichelhaften Kommentar dazu ablassen konnte.
„Ähm… ist es denn schon so spät?“, fragte Ben stattdessen. „Ich dachte der Ball beginnt erst um acht.“
„Ich wollte das Kleid nur nochmal anprobieren… und jetzt sitzt es fest…“, antwortete ich zerknirscht. Warum nur kam mir diese peinliche Situation so seltsam bekannt vor?
Ich humpelte vor in die Küche und schob Ben einen Stuhl am Esstisch zur Seite. „Setz dich doch. Und – ähm, möchtest du etwas trinken? Vielleicht einen Kaffee?“
Unglaublich. So lange hatte ich darüber nachgedacht, ob und wie ich ihn eines Tages wiedersehen würde. Irgendwie hatte ich mir das Ganze doch etwas anders vorgestellt.
Nervös suchte ich im Küchenschrank nach dem Kaffeepulver, verschüttete dabei aber nur eine halb volle Packung Zucker, die mir plötzlich entgegengeflogen kam.
„Warte“, unterbrach mich Ben mit freundlicher Stimme. „Ist gut, ich brauche nichts zu trinken. Ich wollte nur allein mit dir reden. Es dauert auch nicht lange. Alles gut.“
Alles gut? Es dauert nicht lange? Das war nicht gut! Man konnte doch nicht zweieinhalb Jahre auf einen Menschen warten, der dann so mir nichts, dir nichts einfach wieder verschwand! Das konnte nicht sein Ernst sein!
Mühsam hielt ich mich mit beiden Händen am Spülbecken fest und rang um Fassung. Es fiel mir alles andere als leicht, die coole, selbstbewusste Erwachsene zu mimen. Kaum stand mein vermeintlicher Halbbruder neben mir, war ich wieder 17. Unsichere, unerfahrene, schrecklich tollpatschige 17 Jahre alt.
„Moment. Vielleicht kann ich dir mit dem Kleid helfen. Darf ich mal?“
Mit einer lockeren Handbewegung streifte Ben die Strickjacke von meinen Schultern und griff vorsichtig von hinten in mein Kleid. Es war nur eine winzige Berührung, nur ein kurzer Ruck und er hatte den Reißverschluss aus dem Innenfutter befreit, doch ich zuckte unwillkürlich zusammen, als seine Finger meinen nackten Rücken streiften. Unfassbar, welche Macht er immer noch über mich hatte!
Beschämt hielt ich mein Kleid mit einer Hand vor der Brust fest, damit es mir nicht vom Körper rutschte, da es jetzt komplett offen war. Mit der anderen angelte ich ungelenk nach meinem Schuh, um das Riemchen, das mein Fußgelenk umschloss, zu lösen. Als ich ins Straucheln geriet, hielt Ben mich schnell fest und lächelte mir freundlich zu. „Lass mich das machen“, kommentierte er mein Gehampel und bückte sich, um meinen Schuh zu öffnen. Wie der Prinz vor Aschenputtel kniete er nieder und umfasste meinen Fuß, so dass meine Beine zu zittern begannen und ich mich hilflos gegen die Arbeitsfläche der Küchenzeile lehnen musste. „Dummes, dummes, kleines Mädchen!“schoss es durch meinen Kopf, doch es nutzte nichts, ich spürte, dass ich ihm immer noch genauso verfallen war wie damals.
Als ich endlich befreit war, kam ich wieder zur Besinnung. „Ähm… ich zieh mich dann mal schnell um.“ Ich räusperte mich mit noch immer heiserem Unterton und huschte rückwärts in mein Zimmer, um mir in Windeseile Jeans und Pulli überzuwerfen.
„Reiß dich um Gottes Willen zusammen!“, beschwor ich mich, dann atmete ich einmal tief durch, um betont lässig zurück in die Küche zu gehen.
Da saß er nun, an meinem Küchentisch, und hatte sich mittlerweile selbst ein Glas Wasser eingeschüttet. Sein Blick hatte etwas Angespanntes, Schuldbewusstes an sich. Mit Sicherheit war er nicht gerne zurück nach Hamburg gekommen. Als er mich sah, lächelte er verlegen und schob einen der Küchenstühle für mich an die Seite. „Hey“, sagte er, „Tut mir leid, dass ich dich so überfalle. Ich weiß, das muss merkwürdig sein, mich nach dieser langen Zeit zu sehen. Aber ich verspreche dir, dass ich mich nicht weiter in dein Leben einmischen werde. Es geht nur um diese blöden Dokumente und ich gebe dir mein Wort, danach siehst du mich nie wieder.“
Als ob mich das beruhigen würde! Dachte er ernsthaft, dass ich froh wäre, ihn nie wieder zu sehen? Dachte er wirklich, dass ich ihn so gehen lassen würde?
„Ich habe nicht mehr daran geglaubt, dich noch einmal zu sehen“, sagte ich langsam und rang nach den richtigen Worten. „Aber lange Zeit warst du der erste Gedanke, der mir morgens nach dem Aufwachen in den Kopf kam und dann später der letzte, bevor ich endlich einschlafen konnte. Ständig habe ich mich gefragt, wo du wohl bist, ob es dir gut geht, ob du auch noch an mich denkst. Das macht einen auf Dauer echt wahnsinnig. Ich war so verletzt und habe lange gebraucht, um darüber hinwegzukommen, dass du mich einfach im Stich gelassen hast.“
„Sofia, bitte, ich…“ Ben sah mich gequält an, doch ich wollte nicht, dass er mich unterbrach.
„Lass mich zu Ende reden!“
Wieder musste ich mich räuspern, weil mein Hals sich wie zugeschnürt anfühlte. Das Atmen fiel mir immer schwerer. Nervös nahm ich einen herumliegenden Kugelschreiber und ließ ihn zwischen meinen Fingern kreisen.
„Wir haben so viel miteinander durchgemacht, ich habe sogar mein Leben für dich riskiert. Warum hast du mich damals auf den Seychellen alleine gelassen? Es hat so weh getan.“
Schuldbewusst blickte Ben zu Boden.
„Weil ich dachte, dass es das Beste für dich ist. Ich habe dir nur Probleme bereitet, dich nur in Gefahr gebracht. Das mit uns hätte doch nie gut gehen können. Aber es tut mir sehr leid, dass ich dich damit so verletzt habe.“
„Wenigstens hast du mich nicht in dem Glauben gelassen, dass du tot bist“, sagte ich mit einem Seufzen. „Danke, dass du mir das Buch aus dem Schiff in die Tasche gesteckt hast. Ich habe versucht, mich abzulenken, und habe begonnen, es zu übersetzen. Es ist eine unglaubliche Geschichte, Ben. Und ich bin mir sicher, dass sie etwas mit unserer Familie zu tun hat. Eine Frau, die in dem Buch erwähnt wird, hieß mit Nachnamen Stevens! Genau wie wir! Das kann doch unmöglich ein Zufall sein. Es war uns von Anfang an vorherbestimmt, auf dieses Schiff zu kommen und dieses Buch zu finden, da bin ich…“