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Eine junge Frau reist im Auftrag ihrer Schwiegermutter nach Griechenland. Sie soll deren Sohn suchen. Die Schwiegermutter weiß nicht, dass das Paar längst getrennt lebt. In den steinigen, verbrannten Landschaften auf der Peloponnes geht die junge Frau den Spuren ihres Ex-Mannes nach. Sie beginnt Mutmaßungen anzustellen, die Vergangenheit zu hinterfragen. Gerade, als sie sich eingesteht, wie wenig sie ihren Mann eigentlich kannte, wird er tot aufgefunden. Warum hält sie nun, da die Trennung unwiderruflich ist und sie etwas wie Trauer empfindet, die Fiktion ihrer Ehe weiterhin aufrecht? Eine neue großartige Stimme aus Amerika – selten wurden die Abgründe der Gefühle so durchdrungen wie von Katie Kitamura.
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Seitenzahl: 290
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Es beginnt mit einem Anruf der Schwiegermutter: ihr Sohn Christopher, der sich in Griechenland aufhalten soll, meldet sich nicht mehr. Seine Frau hat die Trennung bisher geheim gehalten, trotzdem reist sie auf die Peloponnes, um ihn zu suchen und sich endlich scheiden zu lassen. Doch dort wurde Christopher seit Tagen nicht gesehen – weder im Hotel, noch in der Umgebung, wo er für ein Buch über Trauerrituale recherchieren wollte. Sie beginnt Mutmaßungen anzustellen, die Vergangenheit zu hinterfragen. Gerade, als sie sich eingesteht, wie wenig sie ihren Mann eigentlich kannte, wird er tot aufgefunden. Warum hält sie nun, da die Trennung unwiderruflich ist und sie etwas wie Trauer empfindet, die Fiktion ihrer Ehe weiterhin aufrecht?
Hanser E-Book
KATIE KITAMURA
TRENNUNG
Roman
Aus dem Englischen von Kathrin Razum
Carl Hanser Verlag
Die englische Originalausgabe erschien 2017 unter dem Titel A Separation bei Riverhead Books in New York.
ISBN 978-3-446-25602-6
© 2017 by Katie Kitamura
Alle Rechte der deutschen Ausgabe
© Carl Hanser Verlag München 2016
Umschlag: Peter-Andreas Hassiepen, München © plainpicture / Susan Fox – aus der Kollektion Rauschen
Satz: Satz für Satz, Wangen im Allgäu
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FÜR HARI
Es begann mit einem Anruf von Isabella. Sie wollte wissen, wo Christopher war, was mich in die unangenehme Situation brachte, ihr sagen zu müssen, dass ich es nicht wusste. Für sie muss das unglaubhaft geklungen haben. Ich sagte ihr nicht, dass Christopher und ich uns vor einem halben Jahr getrennt hatten und ich seit fast einem Monat nicht mehr mit ihrem Sohn gesprochen hatte.
Es war ihr unbegreiflich, dass ich ihr nichts über den Verbleib ihres Sohnes sagen konnte, und sie reagierte vernichtend, wenn auch nicht wirklich überrascht, was das Ganze irgendwie noch schlimmer machte. Ich fühlte mich gedemütigt und unbehaglich, zwei Gefühle, die meine Beziehung zu Isabella und Mark schon immer gekennzeichnet haben. Dabei hatte Christopher oft gesagt, dass ich auf sie genau die gleiche Wirkung hätte, dass ich versuchen solle, nicht so reserviert zu sein, es werde zu schnell als eine Form von Arroganz aufgefasst.
Ob ich denn nicht wisse, dass manche Leute mich für einen Snob hielten? Nein, das wusste ich nicht. Unsere Ehe wurde durch das geformt, was Christopher wusste und ich nicht. Es war nicht einfach nur eine Frage des Intellekts, wobei Christopher auch in dieser Hinsicht im Vorteil war, er war zweifelsohne ein kluger Mann. Es war eine Frage des Vorenthaltens von Informationen, über die er verfügte, ich hingegen nicht. Kurz gesagt, es ging um Untreue – Verrat führt immer dazu, dass der eine Bescheid weiß und der andere im Dunkeln tappt.
Wobei Verrat nicht einmal – nicht unbedingt – der Hauptgrund für das Scheitern unserer Ehe war. Es vollzog sich langsam, selbst nachdem wir beschlossen hatten, uns zu trennen, es gab praktische Notwendigkeiten, so leicht ließ sich das Gebäude einer Ehe nicht einreißen. Tatsächlich war die Aussicht darauf so entmutigend, dass ich mich zu fragen begann, ob womöglich einem von uns Zweifel gekommen waren, ob sich in den Tiefen der Bürokratie, den Papierstapeln und Onlineformularen, vor denen wir uns so geflissentlich drückten, nicht ein Zögern verbarg.
Insofern war es vollkommen verständlich, dass Isabella mich anrief, um zu fragen, wo Christopher geblieben war. Ich habe ihm drei Nachrichten hinterlassen, sagte sie, auf seinem Handy geht sofort die Mobilbox an, und bei meinem letzten Anruf klang das Tuten ausländisch –
Der Ton, in dem sie das Wort ausländisch aussprach, war eine vertraute Mischung aus Misstrauen, Befremden (sie konnte sich nicht vorstellen, dass ihr Sohn irgendeinen Grund haben könnte, nicht mehr in ihrer Nähe sein zu wollen) und Verstimmung. Und mir fielen diese Phrasen wieder ein, Halbsätze, die im Laufe unserer Ehe geäußert worden waren: Du bist Ausländerin, du bist immer ein bisschen fremd geblieben, sie ist sehr nett, aber anders als wir, wir haben das Gefühl, dich gar nicht richtig zu kennen (und schließlich auch das, was sie bestimmt sagen würde, wenn Christopher ihr erzählte, dass es zwischen uns aus war: Es ist besser so, Schatz, letzten Endes war sie nie eine von uns).
– und deshalb möchte ich gern wissen, wo mein Sohn eigentlich ist.
Sofort begann mir der Kopf zu dröhnen. Es war einen Monat her, dass ich mit Christopher gesprochen hatte. Dieses letzte Gespräch hatten wir am Telefon geführt, zu einem Zeitpunkt, als wir uns bereits seit Wochen – mittlerweile waren es Monate – nicht mehr gesehen hatten. Christopher hatte gesagt, auch wenn wir zweifellos nicht mehr zueinanderfinden würden, wolle er den »Prozess«, anderen davon zu erzählen, noch nicht in Gang setzen – er benutzte genau dieses Wort, das etwas Fortlaufendes beschrieb statt eines einmaligen, entscheidenden Akts, und natürlich hatte er recht, eine Scheidung verlief organischer, in gewisser Weise zufallsbestimmter, als es auf den ersten Blick schien.
Ob es erst mal unter uns bleiben könne. Ich hatte gezögert – nicht dass mir der Gedanke widerstrebt hätte, die Entscheidung war damals noch frisch, und ich dachte mir, dass es Christopher wahrscheinlich ähnlich ging wie mir, dass wir uns beide noch nicht zurechtgelegt hatten, wie wir die Geschichte unserer Trennung präsentieren wollten. Aber mich störte dieser komplizenhafte Ton, den ich unpassend und unnötig fand. Trotzdem sagte ich ja. Christopher, der das Zögern in meiner Stimme hörte, bat mich, es zu versprechen. Versprich mir, dass du niemandem davon erzählst, zumindest vorläufig, bis wir das nächste Mal miteinander reden. Irritiert stimmte ich zu und legte dann auf.
Das war unsere letzte Unterhaltung gewesen. Als ich jetzt darauf beharrte, dass ich nicht wisse, wo Christopher sei, lachte Isabella kurz auf und sagte dann: Red keinen Unsinn. Ich habe vor drei Wochen mit Christopher gesprochen, und er hat mir erzählt, dass ihr zusammen nach Griechenland fahrt. Ich habe größte Schwierigkeiten, ihn zu erreichen, und da du ja offenkundig hier in England bist, muss ich wohl davon ausgehen, dass er ohne dich nach Griechenland gefahren ist.
Ich war zu verwirrt, um zu antworten. Ich konnte mir nicht erklären, warum Christopher ihr gesagt hatte, wir würden zusammen nach Griechenland fahren, ich hatte nicht einmal gewusst, dass er das Land verlassen wollte. Sie fuhr fort: Ich weiß, dass er in letzter Zeit sehr viel gearbeitet hat, ich weiß, dass er für Recherchen dort ist, und –
Sie senkte die Stimme auf eine Weise, die ich schwer zu deuten fand, vielleicht war ihr Zögern echt, vielleicht auch nur vorgetäuscht, sie war sich nicht zu schade für derartige Manipulationen.
– ich mache mir Sorgen um ihn.
Diese Behauptung wirkte auf mich nicht unmittelbar überzeugend, und ich nahm ihre Sorge zunächst nicht ernst. Isabella hielt ihr Verhältnis zu Christopher für besser, als es war, ein naheliegender mütterlicher Irrtum, der bei ihr aber gelegentlich zu sonderbarem Verhalten führte. Früher hätte diese Situation womöglich ein Triumphgefühl bei mir ausgelöst – dass diese Frau sich in einer Angelegenheit, die ihren Sohn betraf, hilfesuchend an mich wandte, hätte mir noch vor einem, ja selbst noch vor einem halben Jahr etwas bedeutet.
Jetzt aber spürte ich vor allem Beklommenheit, während ich ihr zuhörte. Er war in letzter Zeit irgendwie komisch, ich habe ihn angerufen, um zu fragen, ob ihr beide – wieder ihr beide, es war offensichtlich, dass sie nichts wusste, dass Christopher sich ihr nicht anvertraut hatte – vielleicht Lust habt, aufs Land zu kommen, ein bisschen frische Luft zu schnappen. Und da hat mir Christopher erzählt, dass ihr nach Griechenland fahrt, dass du dort die Arbeit an einer Übersetzung abschließen willst und er recherchieren wird. Aber jetzt – ein kurzer, genervter Seufzer – stelle ich fest, dass du in London bist und er nicht ans Telefon geht.
Ich weiß nicht, wo Christopher ist.
Eine kurze Pause entstand, ehe sie weitersprach.
Jedenfalls musst du sofort zu ihm fahren. Du weißt, wie stark meine Intuition ist, ich weiß, dass irgendwas nicht stimmt, es entspricht ihm einfach nicht, mich nicht zurückzurufen.
Isabellas Anruf hatte Folgen, die ich selbst heute noch erstaunlich finde. Zum einen die, dass ich dieser Frau gehorchte und nach Griechenland fuhr, wo es mich nie hingezogen hatte, zu einem Zweck, der sich mir absolut nicht erschloss. Gut, Christopher hatte Isabella angelogen, als er ihr erzählt hatte, wir würden zusammen nach Griechenland fahren. Wenn er seiner Mutter nichts von der Trennung sagen wollte, hätte er leicht irgendeinen Vorwand finden können, warum er sich allein auf die Reise machte – dass ich auf eine Konferenz musste, dass ich bei einer Freundin war, die drei Kinder hatte und deshalb immer Hilfe und Gesellschaft gebrauchen konnte.
Oder er hätte ihr die halbe Wahrheit erzählen können, zumindest den Anfang, dass wir eine Auszeit nahmen – wovon oder wo, hätte sie dann vielleicht gefragt. Doch er hatte nichts von alledem gesagt, vielleicht weil es einfacher war zu lügen oder weil es einfacher war, seine Mutter ihre eigenen Vermutungen anstellen zu lassen – dabei war für Isabella die nachträgliche Erkenntnis, geirrt zu haben, immer besonders schwierig. In diesem Moment wurde mir klar, dass wir den Stand der Dinge zwischen uns formalisieren mussten. Ich hatte ohnehin schon beschlossen, Christopher um die Scheidung zu bitten, also würde ich jetzt einfach nach Griechenland fahren und es persönlich tun.
Ich dachte mir, dass das mein letzter pflichtschuldiger Akt als ihre Schwiegertochter sein würde. Eine Stunde später rief Isabella an, um mir mitzuteilen, in welchem Hotel Christopher sich einquartiert hatte – ich fragte mich, woher sie diese Information hatte –, und mir den Reservierungscode eines Flugtickets für den folgenden Tag zu nennen, das sie in meinem Namen gebucht hatte. Hinter ihren verzichtbaren charakterlichen Eigentümlichkeiten und der Aura müßiger Eleganz verbarg sich eine außerordentlich kompetente Frau, was einer der Gründe war, warum sie eine ernstzunehmende Gegnerin gewesen war, jemand, den zu fürchten ich allen Grund gehabt hatte – aber das war alles vorbei, und bald würden wir keine Kämpfe mehr auszufechten haben.
Dennoch nahm ich zur Kenntnis, dass sie mir sichtlich nicht traute – ich war nicht die Sorte Frau, von der man erwarten konnte, dass sie ihren Mann aufspüren würde, jedenfalls nicht, ohne dass man ihr ein Flugticket und die Hoteladresse in die Hand drückte. Vielleicht war es dieser unverhohlene Argwohn, der mich dazu bewog, das Versprechen, das ich Christopher gegeben hatte, zu halten – die zweite überraschende Folge von Isabellas Anruf. Ich erzählte seiner Mutter nicht, dass wir getrennt waren, und zwar schon seit einiger Zeit, die einzige Information, die mich der Reise nach Griechenland enthoben hätte.
Keine Mutter würde ihre Schwiegertochter bitten, nach Griechenland zu reisen, um dort ihren Sohn um die Scheidung zu bitten. Ich hätte in London bleiben und mich um meine eigenen Angelegenheiten kümmern können. Aber ich sagte es ihr nicht, und ich blieb nicht in London. Hätte Isabella gewusst, dass sie mir ein Flugticket gekauft hatte, damit ich ihren Sohn um die Scheidung bitten konnte, hätte sie mich wahrscheinlich an Ort und Stelle umgebracht. So etwas lag durchaus im Bereich des Möglichen. Sie war, wie gesagt, eine außerordentlich kompetente Frau. Oder vielleicht hätte ich auch zu hören bekommen, dass sie mir dieses Flugticket schon viel früher gekauft hätte, wenn sie gewusst hätte, dass es so einfach war, uns auseinanderzubringen, unsere Ehe aufzulösen. Bevor sie das Gespräch beendete, empfahl sie mir noch, einen Badeanzug einzupacken. Angeblich habe das Hotel einen sehr schönen Pool.
In Athen herrschte starker Verkehr, irgendein Streik im Transportwesen war im Gang. Das Dorf, in dem sich Christophers Hotel befand, lag fünf Autostunden von der Hauptstadt entfernt, auf dem südlichsten Zipfel des Festlandes. Am Flughafen erwartete mich ein Taxi, Isabella hatte an alles gedacht. Auf der Fahrt, die im dichten Verkehr begann und sich dann auf einer Reihe trostloser, anonymer Autobahnen fortsetzte, schlief ich ein. Ich war müde.
Ich erwachte von einem harten, wiederkehrenden Geräusch. Draußen war es finster, während ich geschlafen hatte, war es Nacht geworden. Das Geräusch – ein wiederholtes Klopfen – vibrierte durch das Fahrzeug und hörte dann auf. Der Wagen kroch eine schmale, einspurige Straße entlang. Ich beugte mich vor und fragte den Fahrer, ob wir eine Pause machten, ob es noch sehr weit sei. Wir sind da, sagte er. Wir sind bereits angekommen. Das Klopfen ging wieder los.
Streunende Hunde, sagte der Fahrer. Draußen bewegten sich dunkle Schemen neben dem Auto, die Hunde schlugen mit dem Schwanz gegen die Karosserie. Der Fahrer hupte, um die Tiere zu verscheuchen – sie waren so nah, dass es schien, als könnte er jederzeit eines von ihnen überfahren, trotz der gedrosselten Geschwindigkeit –, aber sie ließen sich nicht abschrecken, blieben dicht neben dem Wagen, während wir auf eine große steinerne Villa zuhielten. Der Fahrer hupte weiter, kurbelte dabei das Fenster herunter und schrie die Hunde an.
Vor uns öffnete ein Portier das Tor zum Anwesen. Als der Wagen hineinfuhr, blieben die Hunde zurück. Ich drehte mich um und sah durchs Heckfenster, dass sie im Kreis vor dem Tor standen, ihre Augen so gelb wie der Schein der Rücklichter. Das Hotel lag ganz am Ende einer kleinen Bucht, und ich hörte das Meer, sobald ich aus dem Auto stieg. Ich trug meine Handtasche und eine kleine Reisetasche bei mir, der Portier fragte mich, ob ich noch mehr Gepäck hätte, was ich verneinte, ich hatte für eine Nacht, schlimmstenfalls ein Wochenende gepackt, auch wenn ich das ihm gegenüber anders formulierte.
Der Fahrer sagte irgendwas von wegen Rückfahrt; ich nahm seine Karte und sagte, ich würde ihn anrufen, vielleicht schon morgen. Er nickte, und ich fragte ihn, ob er jetzt noch nach Athen zurückfahre, es sei doch schon sehr spät. Er zuckte mit den Schultern und stieg wieder ein.
Das Foyer war leer. Ich schaute auf die Uhr – es war fast elf. Isabella hatte kein Zimmer für mich gebucht, ich war eine Frau, die ihrem Ehemann nachreiste, es hätte also nicht erforderlich sein sollen. Ich bat um ein Einzelzimmer für diese Nacht. Der Mann an der Rezeption sagte, es gebe jede Menge freie Zimmer, und erklärte mit überraschender Offenheit, das Hotel sei fast leer. Es sei Ende September, die Saison sei zu Ende. Leider sei das Meer inzwischen zu kalt, um darin zu schwimmen, fügte er hinzu, aber das Wasser im beheizten Hotelpool habe eine sehr angenehme Temperatur.
Ich wartete, bis er meine Daten aufgenommen hatte und mir den Schlüssel reichte, bevor ich nach Christopher fragte.
Soll ich in seinem Zimmer anrufen?
Seine Miene war aufmerksam, aber seine Hände hinter der Empfangstheke regten sich nicht, griffen nicht nach dem Hörer, es war schließlich schon spät.
Nein. Ich schüttelte den Kopf. Ich versuche es morgen früh.
Er nickte verständnisvoll. Sein Blick war wachsam geworden, vielleicht sah er oft ähnlich zerrüttete Beziehungen, vielleicht dachte er sich auch gar nichts dabei und hatte einfach von Natur aus eine verständnisvolle Miene, was in seinem Beruf sicher von Vorteil war. Jedenfalls äußerte er sich nicht weiter zu der Sache. Ich nahm den Schlüssel, er informierte mich über das Frühstück und bestand darauf, meine Tasche zu tragen, während er mich zum Aufzug geleitete. Danke, sagte ich. Ob ich am nächsten Morgen einen Weckanruf wünsche? Eine Zeitung? Das kann warten, erwiderte ich. Das kann alles warten.
Als ich aufwachte, war das Zimmer sonnendurchflutet. Ich griff nach meinem Handy, fand keine Nachrichten vor, es war schon neun Uhr. Das Frühstück würde bald vorbei sein, ich musste mich beeilen, wenn ich noch etwas essen wollte. Trotzdem stand ich länger als nötig unter der Dusche. Bis zu diesem Moment – während ich unter der Dusche stand und mir das Wasser in die Augen lief und die Sicht trübte – hatte ich nicht darüber nachgedacht oder mir ausgemalt, wie Christopher wohl reagieren würde, wenn er mich im Hotel sah, wenn ich ihm gegenüberstand. Ich vermutete, er würde als Erstes denken, dass ich ihn zurückgewinnen wollte.
Warum sonst sollte eine Frau ihrem entfremdeten Mann in ein anderes Land nachreisen, als um die Trennung rückgängig zu machen? Es war eine extravagante Geste, und extravagante Gesten zwischen Mann und Frau werden gemeinhin romantisch interpretiert, selbst im Kontext einer gescheiterten Ehe. Ich würde vor ihm erscheinen, und er würde – würde ihm bang zumute werden, schwer ums Herz, würde er sich fragen, was ich wollte? Würde er sich ertappt fühlen, verfolgt, würde er befürchten, dass sich irgendeine Katastrophe zugetragen hatte, dass seiner Mutter etwas zugestoßen war, er hätte sie zurückrufen sollen.
Oder würde er Hoffnung verspüren, würde er denken, es könnte doch noch zur Versöhnung kommen (und lag diese Hoffnung womöglich dem Versprechen zugrunde, das er mir abgenommen hatte, war es gar eine beiderseitige Hoffnung gewesen, schließlich hatte ich zugestimmt), und würde er dann enttäuscht sein, noch tiefer gekränkt, als er es sonst gewesen wäre, wenn ich ihn um die Scheidung bat, was ich dennoch zu tun gedachte? Mir war das alles, diese ganze Situation, extrem unangenehm, für ihn genauso wie für mich. Ich nahm an – auf Erfahrungen konnte ich ja nicht zurückgreifen –, dass die Bitte um eine Scheidung immer ungute Gefühle erzeugte, aber ich konnte mir nicht vorstellen, dass es immer eine so missliche Angelegenheit war, Ort und Umstände so unpassend.
Das Foyer war leer. Das Frühstück wurde auf der Terrasse mit Blick aufs Meer serviert. Von Christopher war nichts zu sehen, auch im Restaurant war niemand. Weiter unten lag das Dorf in der prallen Sonne, ruhig und reglos, eine Ansammlung kleiner Häuser entlang einer steinernen Uferpromenade. Ein hohes Kliff beschloss die Bucht am anderen Ende, nackter Fels, der ein grelles weißes Licht aufs Wasser warf, sodass der Ausblick von der Terrasse friedlich und dramatisch zugleich war. Am Fuß des Kliffs sah man Überreste von verkohltem Gestrüpp und Gras, als hätte es dort kürzlich gebrannt.
Ich trank meinen Kaffee. Der Kellner hatte mir die Tasse mit der Bemerkung hingestellt, dieses Hotel sei der einzige Ort weit und breit, wo ich meinen Cappuccino, meinen Latte bekäme, sonst gebe es überall nur griechischen Kaffee oder Nescafé. Es war ein romantischer Flecken – Christopher mochte luxuriöse Unterkünfte, und für Menschen einer bestimmten Gesellschaftsschicht waren Luxus und Romantik praktisch synonym –, was mir Unbehagen bereitete. Ich stellte mir Christopher hier vor, allein inmitten von lauter Paaren, es war die Sorte Hotel, wo man seine Flitterwochen verbrachte, seinen Hochzeitstag feierte. Ich fühlte mich peinlich berührt, fragte mich, was er hier wohl wollte, dieser Ort war schlicht absurd.
Ich hielt den Kellner auf, als er mir meinen Toast brachte.
Es ist sehr ruhig hier. Bin ich die Letzte beim Frühstück?
Das Hotel ist leer. Die Saison ist vorbei.
Aber es muss doch noch andere Gäste geben.
Die Waldbrände, sagte er achselzuckend. Das hat die Leute abgeschreckt.
Davon weiß ich gar nichts.
Es hat im ganzen Land gebrannt. Den ganzen Sommer über. Die Berge zwischen hier und Athen sind schwarz. Wenn Sie aus dem Dorf in die Berge hochgehen, merken Sie es, die Erde ist noch heiß vom Feuer. Es stand in der Zeitung. Weltweit. Es waren Fotografen hier – er tat so, als bediente er eine Kamera –, den ganzen Sommer über.
Er klemmte sich das Tablett unter den Arm und sprach weiter. Ein Modemagazin hat hier Aufnahmen gemacht, im Hotel. Das Feuer hatte sich bis zum Kliff ausgebreitet, man sieht es noch – da, schauen Sie, das Schwarze. Er zeigte auf die geschwärzte, narbige Felswand. Die Models mussten sich an den Pool stellen, dahinter das Feuer und das Meer – er sog die Luft durch die Zähne ein. Es war sehr dramatisch.
Ich nickte. Er zog sich zurück, als ich nichts mehr sagte. Ungebeten erschien vor meinem inneren Auge das Bild von Christopher inmitten dieses Fotoshootings. Es war unplausibel, er stand zwischen Models, Visagistinnen und Modeschöpfer und zog eine Grimasse, als könnte er nicht einmal ansatzweise erklären, was er in diesem ganzen Rummel verloren hatte. Er kam mir dadurch noch fremder vor. Unbehaglich sah ich mich auf der Terrasse um. Es war fast zehn, ich hatte ihn offensichtlich verpasst, er musste zeitig gefrühstückt haben, vielleicht hatte er das Hotel bereits verlassen und kam erst am Abend wieder.
Ich stand auf und ging ins Foyer. Anstelle des Mannes, bei dem ich mich gestern Abend angemeldet hatte, saß nun eine junge Frau mit plumpen Gesichtszügen da, sie trug das Haar straff zurückgekämmt, was ihr nicht stand, es war eine zu strenge Frisur für ihr weiches, volles Gesicht. Ich fragte sie, ob Christopher heute Morgen schon unten gewesen sei. Sie runzelte die Stirn, und ich hatte das Gefühl, dass sie es mir nicht sagen wollte. Ich fragte, ob sie bei Christopher auf dem Zimmer anrufen könne. Sie wandte den Blick nicht von meinem Gesicht, während sie wählte, ich hörte auf den Puls des Klingelzeichens, ihre Miene unter der nüchtern-geschäftsmäßigen Frisur war unverhohlen mürrisch.
Sie legte auf. Er ist nicht auf seinem Zimmer. Möchten Sie eine Nachricht hinterlassen?
Ich muss ihn dringend sprechen.
Wer sind Sie?
Die Frage war ungehobelt, fast feindselig.
Ich bin seine Frau.
Sie schien perplex, und ich begriff sofort – Christopher war ein unbekümmerter Flirter, er flirtete ganz unwillkürlich, reflexartig, so wie andere Leute Guten Tag, danke, gern geschehen sagten, so wie ein Mann einer Frau die Tür aufhält. Er war zu freigebig, was das betraf, lief Gefahr, seinen Charme abzunutzen. Wenn man erst einmal die fadenscheinigen Stellen entdeckt hatte, war es schwierig, diesen Charme – ja den Mann selbst, falls man auch nur den geringsten Argwohn gegenüber Charisma hegte – jemals wieder als intaktes Ganzes zu sehen. Aber die meisten Leute hielten sich dafür nicht lange genug in seinem Dunstkreis auf, die meisten Leute waren wie dieses junge Mädchen, ich merkte, dass sie ihn beschützen wollte, noch in seinem Bann stand.
Ihn, ihn, als gehörte er ihr. Ich trat von der Empfangstheke zurück.
Bitte sagen Sie ihm, dass seine Frau ihn sucht.
Sie nickte.
Sobald er wiederkommt. Es ist wichtig.
Sie murmelte irgendetwas vor sich hin, als ich ging, zweifellos verwünschte sie mich. Die Ehefrau ist immer Gegenstand von Verwünschungen, und in so einer Situation am allermeisten.
Ich würde gern einen Spaziergang machen.
Sie blickte auf, konnte es nicht fassen, dass ich immer noch da war, sie wartete darauf, dass ich ging, meine Anwesenheit war ihr offenkundig unangenehm. Aber ich zögerte, ich wollte tatsächlich einen Spaziergang machen und wusste nicht, wohin. Sie erklärte mir, wie man zur Uferpromenade kam, das Dorf sei klein, ich könne mich nicht verlaufen. Ich nickte und ging hinaus. Auch jetzt im September war es noch heiß, und das Licht war sehr hell. Einen Moment lang war ich fast geblendet, und ich meinte einen schwachen Holzkohlegeruch in der Luft wahrzunehmen, als würde es noch brennen – ein Moment der Synästhesie.
Fast unmittelbar nachdem ich durch das Tor des Hotels getreten war, tauchten die streunenden Hunde wieder auf. Sie kamen auf mich zu und wedelten auf eine weder freundliche noch unfreundliche Weise mit dem Schwanz. Ich mochte Hunde. Ich hätte sogar fast mal einen gekauft, aber Christopher war dagegen gewesen, er fand, wir seien zu oft auf Reisen, was stimmte. Ich streckte die Hand nach dem Hund aus, der mir am nächsten war. Sein Haar war dünn und kurz und so glatt, dass es sich eher wie Haut anfühlte als wie Fell. Sein rechtes Auge war milchig getrübt, aber der Blick war intelligent und zugleich verzweifelt, der unverstellte Blick eines Tiers.
Die übrigen Hunde wuselten um mich herum, rieben sich kurz an mir, an meinen Händen, Fingern, und ließen wieder von mir ab. Sie begleiteten mich, als ich zur Uferpromenade hinunterging, liefen vor und wieder ein kleines Stück zurück, eine langsame, spiralförmige Vorwärtsbewegung. Nur der Hund mit dem milchigen Auge blieb an meiner Seite. Es war nicht mehr lang bis zum Mittag. Das Wasser in der Bucht war klar und blau. Vereinzelte Boote hier und da.
Gerolimenas war ein kleines Fischerdorf, ich kam an einer Handvoll Läden vorbei – einem Zeitungskiosk, einem Tabakgeschäft, einer Apotheke, alle mit geschlossenen Fensterläden. Während ich weiterging, zerstreuten sich die Hunde allmählich, und ich ließ den Blick suchend über die Gesichter der wenigen vor der Taverne sitzenden Männer schweifen, zumeist faltige, wettergegerbte, braungebrannte Gesichter. Sie hatten nichts mit Christophers glattem, verzärteltem Gesicht gemein. Er war nicht übermäßig eitel, aber schon sein Leben lang attraktiv – für Frauen und ganz allgemein –, was nicht ohne Wirkung geblieben war.
Auch unter den Leuten an der Uferpromenade, müßigen Männern und Frauen sowie ein paar Fischern, war Christopher nicht. Der kleine Strand war leer. Ich stand am Wasser und schaute zum Hotel zurück, das innerhalb der zehn Minuten, die ich hierher gebraucht hatte, zu einem Fremdkörper geworden war. Solange man sich auf dem Gelände des Hotels befand, hätte man theoretisch überall sein können, Luxus hat etwas Anonymes, aber sobald man das wohlgehütete Areal verließ, war man gezwungenermaßen hier an diesem ganz konkreten Ort. Ich merkte, dass die Dorfbewohner mich beobachteten – es war ihr gutes Recht, ich war hier der Eindringling –, und ich senkte den Kopf und wandte mich wieder in Richtung Hotel.
Als ich dort ankam, war weniger als eine Stunde vergangen. Im Foyer sah ich, dass die junge Frau verschwunden war und wieder der Mann vom vorigen Abend an der Rezeption saß. Er blickte auf, dann kam er hinter der Theke hervor und eilte mir entgegen.
Entschuldigen Sie –
Ja?
Meine Kollegin hat mir gesagt, dass sie Mr Wallace’ Frau sind.
Ja, und?
Ihr Mann wollte heute Morgen eigentlich abreisen. Aber das hat er nicht getan.
Ich schaute auf die Uhr.
Es ist erst kurz vor zwölf.
Die Sache ist die, wir haben ihn schon seit ein paar Tagen nicht mehr gesehen. Er wollte einen Ausflug machen und ist bisher nicht zurückgekommen.
Ich schüttelte den Kopf.
Wo ist er denn hin?
Er hat einen Wagen gemietet, mit Fahrer, aber mehr wissen wir auch nicht. Er hat das Zimmer im Voraus bezahlt und gesagt, er wolle es behalten, solange er weg sei.
Einen ausgedehnten Moment lang schauten wir uns schweigend an. Dann räusperte sich der Mann höflich.
Also, sein Zimmer wird benötigt, verstehen Sie.
Wie bitte?
Die Leute, die dieses Zimmer reserviert haben, kommen heute an.
Aber das Hotel ist doch leer.
Er zuckte entschuldigend mit den Achseln.
Ja, ich weiß. Menschen sind absurd. Ein Hochzeitstag, glaube ich. Das Zimmer hat für sie eine besondere Bedeutung, sie haben ihre Flitterwochen dort verbracht. Wir erwarten sie heute Nachmittag, und deshalb …
Er verstummte.
Wir würden gern seine Sachen in ein anderes Zimmer bringen.
Da spricht wohl nichts dagegen.
Oder sollten wir seine Sachen lieber packen, falls er heute mit Ihnen abreisen möchte?
Ich weiß nicht, wie lang er noch hier bleiben will.
Ja, verstehe.
Er ist auf Recherche hier.
Der Mann hielt beide Hände hoch, als hätte ich etwas Überflüssiges gesagt.
Wir sollten jetzt anfangen, seine Sachen zusammenzupacken. Vielleicht könnten Sie mich begleiten?
Ich wartete, während er zum Empfang zurückging, um den Schlüssel zu holen. Zusammen gingen wir zu Christophers Zimmer, das sich am anderen Ende des Hotels befand, im Obergeschoss. Der Mann – der laut dem Namensschildchen an seinem Jackett Kostas hieß – erklärte, dass Christopher eine Suite bewohnt hatte. Das Zimmer habe einen wunderbaren Blick aufs Meer, sollte ich mich entschließen, länger zu bleiben, könne er es mir nur wärmstens empfehlen, es sei frei, sobald das Flitterwochenpaar wieder abreise, vielleicht sei ja bis dahin auch mein Mann wieder da.
Als wir das Zimmer schließlich erreichten, klopfte Kostas auf jene diskrete und zugleich bestimmte Art an, die Hotelangestellten eigen ist, die Hand schon auf dem Türknauf – einen Moment lang hatte ich die Vision, dass die Tür aufgehen und Christopher vor uns stehen würde, überrascht, aber nicht unbedingt verärgert –, dann schloss Kostas die Tür auf, und wir traten ein.
Im Zustand des Zimmers erkannte ich Christopher nicht wieder. Nicht dass er ein pingeliger Mensch gewesen wäre, aber schlampig war er genauso wenig, und gemeinhin war es da, wo er wohnte, sauber (wobei er natürlich nicht selbst saubermachte, er hatte Leute, die das für ihn erledigten – die Putzfrau, eine Weile war ich es gewesen). In diesem Zimmer aber – es war sehr groß, mit eigenem Wohnbereich und bemerkenswertem Ausblick, Kostas hatte recht, es war ein erstklassiges Zimmer, sicher eines der teureren im Hotel – herrschte Chaos.
Auf dem Fußboden lagen Kleidungsstücke herum, die schmutzige Wäsche mehrerer Tage, auf dem Schreibtisch stapelten sich Bücher und Papiere, neben dem Bett ein Wirrwarr von Kabeln, Kopfhörer, eine Kamera, auch sein Laptop lag halb geöffnet auf dem Boden. Überbleibsel vom Zimmerservice standen herum, Kaffeekannen, halbleere Wasserflaschen, sogar ein vollgekrümelter Teller – ich verstand nicht, warum das Zimmermädchen nicht wenigstens das schmutzige Geschirr weggeräumt hatte. Mitten im Zimmer stand das Bett, ungemacht und von Zeitungen und Notizbüchern übersät.
Die Oberflächen waren gewischt und der Boden gesaugt, aber es schien fast so, als hätte das Zimmermädchen um das Chaos herumgeputzt, um es zu erhalten. Er hat darum gebeten, dass nichts angerührt wird, sagte Kostas. Er zuckte die Achseln. Die Leute geben uns Anweisungen, und wir befolgen sie. Aber sehen Sie –
Er trat an den Schrank und öffnete ihn. Drinnen auf dem Boden lag noch mehr schmutzige Wäsche. Darüber eine Auswahl von Hemden und Hosen, die ich alle wiedererkannte – die Muster und Stoffe, den fein ausgefransten Rand einer Manschette. Mein Gefühl in diesem Zimmer war nach wie vor das massiver Dissoziation, und doch durchzuckte mich hier – und da – und dort – angesichts dieser Gegenstände, mit denen ich viele Jahre gelebt hatte, ein Wiedererkennen, die Erinnerung an ihren Besitzer, den Mann, der hier war und zugleich auch nicht.
Kostas klatschte in die Hände.
So. Wir packen die Sachen also ein? Ist das in Ordnung?
Ich nickte, den Blick auf die Papiere und Bücher gerichtet. Sie befassten sich anscheinend allesamt mit Griechenland, sogar ein Sprachführer war dabei. Ich schlug eines der Notizbücher auf, konnte Christophers enges Gekrakel aber nicht entziffern. Ich hatte seine Handschrift nie lesen können. Kostas wählte die Nummer der Rezeption und bat, ein Zimmermädchen hochzuschicken, das wenige Minuten später erschien und die Kleidung einzupacken begann. Er entschuldigte sich, aber es sei schon fast ein Uhr, die neuen Gäste würden jeden Moment eintreffen, und ich könne ja sehen, dass noch sehr viel zu tun war, bevor sie das Zimmer beziehen konnten.
Mein Handy klingelte. Ich griff in die Tasche. Es war Isabella, perfektes Timing. Ich meldete mich, etwas brüsk, was sie aber nicht bemerkte, sie machte sich ihrerseits gar nicht erst die Mühe, mich zu begrüßen, sondern fragte sofort, wo Christopher sei und ob sie ihn sprechen könne.
Im Hintergrund hörte ich Brittens Billy Budd. Isabella und Mark waren Opernfanatiker und hatten uns einmal zu einer Aufführung ebendieser Oper in Glyndebourne mitgenommen. Es war eine unerquickliche Unternehmung gewesen. Damals waren die Risse in unserer Ehe schon nicht mehr zu übersehen. Christopher und ich redeten kaum noch miteinander, doch Isabella und Mark ignorierten die Spannungen zwischen uns mit einer geradezu aggressiven Unbekümmertheit. Ihr Interesse an der Oper hatte etwas Unbeirrbares, an diesem Abend mehr denn je.
Ich weiß noch, wie ich im Theater saß und in einem Zustand der Benommenheit vor mich hin sann – über die Musik, die unbehagliche Situation, ich mochte Britten nicht sonderlich, was nicht dazu beitrug, Christophers Eltern für mich einzunehmen. Als ich jetzt die vertrauten Klänge hörte, dachte ich mir, dass die Ferne doch ein wesentlicher Bestandteil dieser Geschichte war, die fast ausschließlich auf See spielt. Ohne die Ferne würden die Grundelemente der Handlung nicht funktionieren – die drohende Meuterei, das Zurückgreifen auf das Kriegsrecht, der Tod von Billy Budd. Auch wenn mir die Oper nicht gefiel – die Musik war mir zu dicht, es war, als starrte man auf eine Mauer –, fand ich die Geschichte faszinierend, sie bot einen Einblick in die Welt der Männer zu einer anderen Zeit, einer Zeit, in der die Männer fortzogen, in den Krieg oder auf See.
Jetzt zogen sie nicht mehr fort – es gab, zumindest für die meisten von ihnen, keine Ozeane mehr zu erkunden, keine Wüste zu durchqueren, nur noch die Stockwerke der Bürogebäude, den morgendlichen Weg zur Arbeit, eine vertraute, monotone Landschaft, in der das Leben etwas aus zweiter Hand war, nichts, worüber man selbst bestimmen konnte. Nur an den Ufern der Untreue erlangten sie noch ein gewisses Eigenleben, eine innere Lebendigkeit, nur im Reich ihrer Treulosigkeit wurden sie für ihre Ehefrauen wieder zu Fremden, zu allem imstande.
Die Musik endete jäh, und Isabella wiederholte ihre Frage: Wo ist Christopher? Nach kurzem Zögern sagte ich ihr, ich hätte ihn nicht gefunden. Aber du bist dort? Du bist auf der Mani? Ja. Aber Christopher ist nicht hier, er ist nicht im Hotel. Wo ist er denn? Ich weiß es nicht. Er ist irgendwohin gefahren, er hat einen Fahrer angeheuert. Sein Telefon klingelt nicht, wahrscheinlich hat er sein Ladegerät nicht mitgenommen – noch während ich es sagte, fiel mein Blick auf das schlaffe Kabel des Ladegeräts, das in der Steckdose neben dem Bett steckte.
Ich warte auf ihn, sagte ich. Du kommst erst heim, wenn du ihn gefunden hast. Du musst ihn finden. Das werde ich auch, sagte ich. Aber ich bin mir nicht sicher, ob ich wirklich die Richtige bin, um nach ihm zu suchen.
Hätte sie zugehört, hätte sie nachgefragt, was ich damit meinte, dann hätte ich es ihr erzählt, denn hier in diesem Hotelzimmer schien mir die Geheimhaltung unserer Trennung nicht mehr zwingend, aber sie hielt nicht inne, schien mich gar nicht zu hören. Du kommst erst heim, wenn du ihn gefunden hast, wiederholte sie, du musst ihn nach Hause bringen. Sie klang verstört, es war im Grunde eine furchtbare Beziehung. Kein Wunder, dass Christopher sein Leben lang vor ihr davongelaufen war, zumindest seit er ein erwachsener Mann war – bevor er auf irgendetwas zulief, lief er immer davon.
Ich ließ das Handy sinken. Sagte Kostas, sie könnten Christophers restliche Sachen einpacken; wenn er zurückkomme, könne er selbst entscheiden, was damit geschehen solle. Kostas nickte, und ich drehte mich um und verließ das Zimmer. Es gab keinen Grund mehr zu bleiben.
Aber ich reiste nicht ab. Ich sagte Kostas, dass ich noch ein, zwei Tage bleiben würde, es war sehr angenehm im Hotel. Einfach dazusitzen und nichts zu tun bei diesem wunderbaren Wetter. Ich aß draußen zu Mittag, dann schwamm ich im Pool, der so warm war, wie Kostas es versprochen hatte, eher wie eine riesige Badewanne. Man hatte Isabella richtig informiert, es war ein sehr schöner Pool. Ich las ein bisschen, hatte etwas Arbeit dabei, aber nichts Anstrengendes, nichts, was dringend gewesen wäre.
Und ich war nicht böse um diese Verzögerung, dieses Warten, das, oberflächlich betrachtet, nicht wie Unentschlossenheit aussah. Aber solange eine Entscheidung nicht in die Tat umgesetzt wird, bleibt sie hypothetisch, eine Art Gedankenexperiment. Ich hatte beschlossen, Christopher um die Scheidung zu bitten, aber ich hatte es noch nicht in die Tat umgesetzt, hatte ihm nicht ins Gesicht geblickt und die Worte ausgesprochen. Das war wichtig, dieser Akt des Aussprechens, diese Worte – oder vielmehr dieses eine Wort, Scheidung