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Treue und Vertrauen sind Tugenden oder Ressourcen, ohne die zwischenmenschliches Leben und eine bedürfnisgerechte Behandlung und Pflege nicht möglich sind. Die Haltung der Treue ist zentral für das Verhältnis eines Menschen zu sich selbst und der Wahrheit. Treue ist lebenswichtig für die Gesellschaft im Sinne von Verbindlichkeit und Verlässlichkeit. Vertrauen ist eine Erfahrung, die es Menschen erlaubt, sich auf Unsicherheit und Ungewissheit einzulassen. Wenn auch Vertrauen ein riskantes Gefühl ist, so ist es auch ein sozialer Kitt und Klebstoff, der uns zu sozialen Wesen macht und verbindet und zur 'Software ethischen Verhaltens' gehört. Obwohl es sich um zentrale Kategorien handelt, sind Treue und Vertrauen bislang in ihrer Bedeutung noch nicht ausreichend beschrieben, begriffen und mit Blick auf die Praxis reflektiert worden. Erörtert man dabei auch Synonyme wie Liebe, Loyalität, Solidarität und Verbundenheit, dann ergeben sich daraus viele für das Gesundheitswesen essenzielle Handlungsfelder. In seinen drei Teilen bietet das interdisziplinäre Handbuch Menschen, die Gesundheitsberufen tätig sind, grundlegende Informationen, Konzepte sowie Empfehlungen und bezieht dabei aktuelle gesellschaftliche Diskussionen sowie Fragen der persönlichen Lebensgestaltung mit ein. Somit passt es in eine komplizierte Zeit, die vielfach von Verunsicherung und Ungewissheit geprägt ist, da es angemessen provoziert, mahnt, aber auch Mut macht, anregt und Lösungen beschreibt. Treue und Vertrauen zwischen Einzelnen, Gruppen und innerhalb von Gesellschaften sind wie Wasser: im Idealfall überall, alles durchdringend, Leben nährend. Wie eine Landschaft ohne Wasser zur Wüste wird, vertrocknet auch Zwischenmenschliches und verdorren Lebensgemeinschaften aller Art. Treue und Vertrauen sind der Kitt, der Kontinente, Länder, Gesellschaften und Gemeinschaften jeder Art -zusammenhalten könnte - würde man sich die Mühe machen, sie auch wirklich breitbandig zu leben. Was geschieht, wenn diese beiden Essenzen vernachlässigt werden, wird an den verschiedenen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Zerfallserscheinungen der letzten Jahre und Jahrzehnte mehr als deutlich.
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Seitenzahl: 972
Mit finanzieller Unterstützung der St. Leonhards Akademie gGmbH
Treue und VertrauenThomas Hax-Schoppenhorst Michael Herrmann (Hrsg.)
Wissenschaftlicher Beirat Programmbereich Pflege:
Jürgen Osterbrink, Salzburg; Doris Schaeffer, Bielefeld; Christine Sowinski, Köln; Franz Wagner, Berlin; Angelika Zegelin, Dortmund
Thomas Hax-SchoppenhorstMichael Herrmann(Hrsg.)
Treue und Vertrauen
Handbuch für Pflege-, Gesundheits- und Sozialberufe
Mit Beiträgen von
Rüdiger Becker
Daniela Bernhardsgrütter
Gerhard Bliersbach
Michael Bossle
Franzisca Domeisen Benedetti
Sonja Ehret
Klaus-Dieter Eichler
Astrid Elsbernd
Martin Endreß
Ulrike Farin
Hartmut Fillhardt
André Fringer
Alexis Fritz
Jenny Grünberg
Sven-Joachim Haack
Lydia Hasenbichler
Mareike Hechinger
Jakob Hax
Peter-Michael Hax
Martin Hecht
Ekkehard Höhl
Thomas Holtbernd
Detlef Horster
Ellis Huber
Reto A. Wernli Kaufmann
Frank Klammer
Ursula Maria Lang
Dietmar Meier
Giovanni Maio
Dietmar Mieth
Bodo Müller
Christoph Müller
André Nienaber
Ina Schmidt
Anke Schmietainski
Diana Staudacher
Lia Steinicke
Ludger Ägidius Schulte
Wilhelm Tolksdorf
Peter Walschburger
Andreas Weingartz
Niels Weise
Jean-Pierre Wils
Alexandra Wimmer
Christiane Wirtz
Elisabeth Wüthrich-Güdel
Mit einem Geleitwort von Prof. Dr. Rita Süssmuth, Bundestagspräsidentin a.D.
Thomas Hax-Schoppenhorst (Hrsg.), Lehrer, Düren
Am Hinzenbusch 17
DE-52355 Düren
E-Mail: [email protected]
Michael Herrmann (Hrsg.), Lektor und Übersetzer, Puerto del Rosario
Apto. 39
ES-35600 Puerto del Rosario
Spanien/Prov. Las Palmas
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Lektorat Pflege
z. Hd.: Jürgen Georg
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3012 Bern
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Tel. +41 31 300 45 00
www.hogrefe.ch
Lektorat: Jürgen Georg, Martina Kasper, Lena-Marie Klose, Julien Lehmann
Bearbeitung: Michael Herrmann
Herstellung: Daniel Berger
Umschlagabbildung: Jürgen Georg, Schüpfen
Umschlag: Claude Borer, Riehen
Illustration/Fotos (Innenteil): Tina Brenneisen, Browne/Distr. King Features Syndicate, Inc./Distr. Bulls, Bettina vom Eyser, Ulrike Farin, Jürgen Georg, Thomas Hax-Schoppenhorst, Michael Herrmann, Mikael Ross/Avant Verlag, Heiko Sakurai, Dorothee Schoppenhorst, St. Leonhards Akademie gGmbH, Andreas Weingartz, Eusebius Wirdeier
Satz: Claudia Wild, Konstanz
Druck und buchbinderische Verarbeitung: Finidr s.r.o., Český Těšín
Printed in Czech Republic
1. Auflage 2020
© 2020 Hogrefe Verlag, Bern
(E-Book-ISBN_PDF 978-3-456-96009-8)
(E-Book-ISBN_EPUB 978-3-456-76009-4)
ISBN 978-3-456-86009-1
http://doi.org/10.1024/86009-000
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„Einander wortverwandt: Treue und trauen/vertrauen. Auch ‚Trauer‘ vielleicht?“
Kurt Marti
(geb. am 31.01.1921 in Bern, gest. am 11.02.2017 ebenda)
Allen im Gesundheitswesen Tätigen gewidmet
Ein Buch, das sich sehr umfangreich den Begriffen Treue und Vertrauen widmet, mag auf den ersten Blick Erstaunen auslösen, ist es doch gerade ein in verschiedenen gesellschaftlichen Kontexten beklagter Mangel an Loyalität und Zuverlässigkeit, auch eine Dimension von Treue, der Gefühle von Orientierungslosigkeit, Unsicherheit und auch Verzweiflung nährt. In Zeiten wachsenden Misstrauens scheinen die Ressourcen des Vertrauens gefährdet bzw. immer mehr zu schwinden.
Eben diese Entwicklung war ausschlaggebend bei der Entscheidung, eine Veröffentlichung anzubieten, die sich mit diesen gesellschaftlichen und individuellen Problemen auseinandersetzt und notwendige Neuausrichtungen aufzeigt.
Treue zählt unter anderem zu den Tugenden, mit der die Verlässlichkeit eines Menschen gegenüber einem anderen, einem Kollektiv oder einer Sache ihren Ausdruck findet. Sie ist im Zusammenleben der Menschen unverzichtbar und muss thematisiert und praktiziert werden.
Vertrauen – die Erfahrung, dass man sich auf jemanden oder auf sich selbst verlassen kann – bildet das Fundament unserer Psyche. Es macht soziales Miteinander überhaupt erst möglich. Menschen, die vertrauen können, haben mehr Kraft, mit Unsicherheit umzugehen.
Tagtäglich sind Patientinnen und Patienten in nachvollziehbarer Sorge um die Wiedererlangung ihrer körperlich-seelischen Gesundheit auf die Menschen angewiesen, denen sie vertrauen können und in dieser Erwartung nicht enttäuscht werden; sie legen ihr Schicksal vertrauensvoll in die Hände professioneller Akteure, die ihnen – ethischen Prinzipien treu – vollends zur Seite stehen. Gerade angesichts der in unserem Gesundheitswesen derzeit stattfindenden großen Umwälzungsprozesse ist hiermit erneut ein Höchstmaß an Verantwortung verbunden.
Zahlreiche der an diesem Buch beteiligten Autorinnen und Autoren erläutern, diskutieren und hinterfragen aus ihrer jeweiligen fachlichen Perspektive und beruflichen Praxis die Bedeutung von Treue und Vertrauen für die in Gesundheitsberufen Beschäftigten. Weitere Texte rücken darüber hinaus das Thema in den gesamtgesellschaftlichen Fokus; diese Erweiterung ist sinnvoll und konsequent, da der Umgang mit Menschen, die mehr und mehr der Hilfe bedürfen, auch ein Spiegelbild unserer Gesellschaft ist.
Das Buch „Treue und Vertrauen“ tritt mit wissenschaftlichen Beiträgen, Essays, Projektbeschreibungen, Erfahrungsberichten und persönlichen Statements facettenreich, dabei durchaus auch zu kontroverser Diskussion Anlass gebend, an Interessierte heran. Dabei ist der Praxisbezug wichtig, gerade auch für die Empfehlungen im beruflichen Alltag.
Diese Beiträge orientieren sich ausdrücklich an den Bedürfnissen kranker, beeinträchtigter und benachteiligter Menschen, plädieren aber gleichzeitig für ein gesellschaftliches Miteinander, bei dem Treue und Vertrauen nicht marginal, sondern zentral sind.
In diesem Sinne wünsche ich dem Buch zahlreiche Leserinnen und Leser sowie eine lebendige Debatte.
Unterschrift
Bundestagspräsidentin a.D.
Titelbilder sollen möglichst in Bruchteilen von Sekunden Neugier und Interesse wecken. Im Idealfall präsentieren sie die Essenz eines Buches noch bevor das erste Wort gefallen ist. Diesbezüglich Zeit, Kreativität und Energie zu investieren, erweist sich als sinnvoll, denn schon für so manches Werk war eine gekonnte Covergestaltung das Nadelöhr auf dem Weg zur aufmerksamen, nicht flüchtigen Wahrnehmung durch potenzielle Leserinnen und Leser.
Zwei Hände als (Leit-)Motiv? Die erste Reaktion auf diese Wahl könnte verhalten ausfallen, schließlich bedient man sich oft genug dieser recht vertrauten und treffenden Symbolik, vor allem im Gesundheitswesen. Wie viele Kliniken signalisieren damit, dass Patientinnen und Patienten bei ihnen in guten Händen sind?
Handelt es sich folglich um eine pragmatische, gar schnelle Lösung der Wahl eines Bildes, mit dem man sich auf jeden Fall auf der sicheren Seite weiß? Keineswegs!
Um das zu begründen, bietet es sich an, mit unserer Leserschaft eine kurze Gedankenreise anzutreten, die von dem ausgeht, was zu sehen ist, zugleich aber die Frage aufwirft, wie es weitergehen könnte.
Die unmittelbare Situation ist relativ eindeutig, das Vorausgegangene und Folgende Gegenstand von Vermutungen …
Eine starke männliche Hand hält die einer Person fest, die sich in einer bedrängenden Situation, einer Notlage befindet. Schon bei dem Versuch, Aussagen über ihr Geschlecht und ihr Alter zu tätigen, kommt Unsicherheit auf. Erkennbar ist, dass die Halt gebende Person der Gruppe der professionellen oder der ehrenamtlichen Helfenden angehört. Sie führt die Hand der hilfebedürftigen Person nah an sich heran, sie ruht gewissermaßen in deren Schoß: Sicherheit gebende Impulse, derer das Gegenüber bedarf. Dabei geht es um den Augenblick, um die Botschaft, dass jemand, der weiß, was es in solchen Situationen zu tun gilt, sich kümmert und nötige Schritte kenntnisreich und souverän einleitet, um weiteren Schaden, größere Gefahren abzuwenden. Es geht um das Signal: „Ich bin da, vertraue mir!“
Der Helfer, aufgrund der Optik seiner Jacke der Feuerwehr, dem Rettungsdienst oder der Notfallseelsorge zuzuordnen, leistet einen entscheidenden Beitrag im Rahmen dessen, was in diesem kurzen Moment möglich ist. Für dieses innere Stabilität, Fachwissen und Mut erfordernde, sicher auch kräftezehrende Amt dürfte ihm der Dank aller gewiss sein, denen er zur Hilfe kam. Zu wünschen wäre ihm auch, dass er seine Tätigkeit unter stabilen Rahmenbedingungen ausübt: Eine gebührende Bezahlung, ein ihn tragendes und stützendes familiäres und privates Umfeld, gute Kolleginnen und Kollegen sowie ein wertschätzendes gesamtgesellschaftliches Klima könnten dazu beitragen, dass er seiner Aufgabe auch in Zukunft mit Herzblut nachkommt, ohne emotional auszubrennen.
Ähnlich gute Wünsche, Hoffnungen und Erwartungen verbinden wir mit der in eine Notlage geratenen Person. Das Bild legt die Schlussfolgerung nahe, dass es sich hier um eine Grenzerfahrung, den Beginn eines längeren, schmerzlichen Leidensweges handelt. Ist diese Person (schwer) erkrankt, verletzt oder in ein dramatisches Geschehen verwickelt, das große Sorge um ihr nahestehende Menschen zur Folge hat? Der Zusammenhang bleibt unklar. Dennoch ermöglicht das Bild eine Fortsetzung der gedanklichen Reise …
Geht man hierzu davon aus, dass sich eine weitere Behandlung, zum Beispiel eine umfangreiche internistische Therapie oder gar eine Operation mit längerem Krankenhausaufenthalt anschließt, kommen umgehend Phantasien auf, was sich nun besten- oder schlimmstenfalls abspielen könnte. Natürlich ist auch hier die bestmögliche Wendung als „heilige“ Pflicht des Gesundheitssystems eines der wohlhabendsten Länder der Erde wünschenswert.
Moderne medizinische Behandlung, professionelle und fürsorgliche Pflege, eine generell gute Betreuung durch alle weiteren Berufsgruppen (z.B. Sozialarbeit, Seelsorge, Physio- und Ergotherapie) sowie ein positives Gesamtklima gehören zu den maßgeblichen Faktoren, die bei Patientinnen und Patienten das Gefühl entstehen lassen, sich gut aufgehoben zu fühlen und vertrauen zu können. Wird im täglichen Kontakt mit den professionell Tätigen deutlich, dass diese ihren Beruf mit Überzeugung, unter Wahrung von Werten, ausgeglichen, zuversichtlich und in ökonomischer Sicherheit ausüben, findet der Heilungs- und Genesungsprozess beste Rahmenbedingungen. Diese können noch stabilisiert werden, indem das soziale Umfeld verständnisvoll-entlastend reagiert und die erzwungene Auszeit keine weiteren beruflichen, finanziellen und sozialen Probleme mit sich bringt.
Versuchen wir das zuvor Beschriebene auf einen Nenner zu bringen: In einem dem Menschen dienenden Gesundheitswesen sind Treue und Vertrauen zentrale Kategorien, erstrebenswerte Tugenden. Derzeit offenbaren sich jedoch zahlreiche Gefährdungen, die es zu benennen gilt. Zugleich gibt es viele Konzepte, die Hoffnung machen. Letztlich aber ist jedes Gesundheitswesen nur so gut, wie es eine Gesellschaft zulässt. Und jede Gesellschaft wird langfristig nur bestehen können, wenn sie bestimmte Rechte und Prinzipien wahrt und so den Nährboden für Vertrauen schafft, statt sie sukzessive in Frage zu stellen und auszuhöhlen.
Treue und Vertrauen zwischen Einzelnen, Gruppen und innerhalb von Gesellschaften sind wie Wasser: im Idealfall überall, alles durchdringend, Leben nährend. Wie eine Landschaft ohne Wasser zur Wüste wird, vertrocknet auch Zwischenmenschliches und verdorren Lebensgemeinschaften aller Art. Treue und Vertrauen sind der Kitt, der Kontinente, Länder, Gesellschaften und Gemeinschaften jeder Art zusammenhalten könnte – würde man sich die Mühe machen, sie auch wirklich breitbandig zu leben. Was geschieht, wenn diese beiden Essenzen vernachlässigt werden, wird an den verschiedenen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Zerfallserscheinungen der vergangenen Jahre und Jahrzehnte mehr als deutlich.
Somit ist das Titelbild ein Ausschnitt eines großen Bildes, welches das Miteinander der Menschen im Gesundheitswesen und im gesellschaftlichen Raum zum Thema macht. Die Autorinnen und Autoren dieses Werkes betrachten Treue und Vertrauen aus verschiedenen Winkeln, aus der Sicht ihrer jeweiligen Disziplin und ermöglichen damit eine fundierte Diskussion, der sich Veränderungsprozesse anschließen könnten und sollten. Ihnen und der St. Leonhards Akademie gilt unser besonderer Dank für die Unterstützung dieses Projektes!
Gemeinsam mit ihnen wünschen wir eine erkenntnisreiche und gewinnbringende Lektüre!
Düren (DE)/Puerto del Rosario (ES), im März 2020
Thomas Hax-Schoppenhorst
Michael Herrmann
Martin Hecht
InZeiteneinersichimmerhektischerwandelndenMultioptionsgesellschaft gerät die Treue ins Hintertreffen. Egal, ob zum Ehepartner, zu den Freunden oder zum Fußballverein. Switchen, hoppen, weiterziehen. Wir alle sind, im Vergleich zu unseren Vorfahren, ziemlich treulose Tomaten geworden. Treue ist eine alte, manche sagen veraltete und scheinbar aussterbende Tugend. Aber hat sie in Zeiten von Unsicherheit und Überforderung nicht auch ihre geheimen Vorzüge? Worin bestehen sie? Nimmt sie uns alle am Ende vor uns selbst in Schutz – und ist vielleicht nicht schon bald die Tradition der neue Fortschritt? Treue – worin liegen ihre Chancen und Risiken, und was ist sie uns noch wert?
Wer in Frankfurt am Main den „Eisernen Steg“ oder in Köln die Deutzer Brücke (Abb. 1-1) überqueren möchte, begegnet dort einem Phänomen, das es seit Jahren auch auf vielen anderen Brücken dieser Welt gibt: Tausende Vorhängeschlösser am Geländer, in das Metall eingraviert die Namen zweier Liebenden. So viele hängen am „Eisernen Steg“, dass die Stadt Frankfurt 2016 schon mit der Flex anrücken musste. Durch die Verwitterung war es zur Korrosion der Stützstangen gekommen. In Paris kennt man dasselbe Problem, hier ist das Geländer des Pont des Arts vor ein paar Jahren unter der Last der Liebesschlösser buchstäblich in die Knie gegangen – und zusammengebrochen.
Abbildung 1-1: Treueversprechen an der Deutzer Brücke, Köln (© Foto: Thomas Hax-Schoppenhorst)
Auf dem Grund der Seine, des Mains oder des Rheins, die unter diesen Brücken fließen, dürften genauso viele Schlüssel liegen, wie oben an der Brücke Schlösser festgemacht sind. Denn das Ritual sieht vor, dass man nach dem Treueschwur das Schloss feierlich verschließt und den Schlüssel, womöglich rückwärts über die Schulter, ins Wasser wirft, auf dass ihn niemand je wiederfinden kann. Und damit ist eines so sicher wie das Amen in der Kirche: Das Schloss bleibt verschlossen. Es sei denn, die Stadtverwaltung rückt an. In alle Ewigkeit. Und genauso lange soll auch die Liebe halten.
Wenn man über solch eine Brücke geht, kann man sich fragen: Wie viele dieser Beziehungen, die da beschworen wurden, sind wohl heute noch lebendig? Wie viele sind trotz Vorhängeschloss längst Vergangenheit, aufgelöst in Schmerzen der Trauer und Wut oder vielleicht auch ausnahmsweise einmal in beiderseitigem Einvernehmen? Wie viele dieser „auf ewig geschlossenen“ Beziehungen halten bis heute? Und wie viele davon halten gar länger, egal, wie lange, einen Tag oder zehn Jahre, weil es diese Schlösser gibt? Wie viel mehr an Bindekraft vermag ein Ritual, ein Schwur verleihen, wie sehr vermag er die normale Haltbarkeit menschlicher Liebesbeziehungen verlängern? Ganz ähnlich sieht es aus, wenn man die Praxis von immer mehr eher jüngeren Menschen in den Blick nimmt, die sich den Namen ihrer Liebsten als Treue-Tattoo unter Schmerzen irgendwo auf die Haut stechen lassen. Unauslöschlich und in alle Ewigkeit. Es ist genauso der Wunsch nach Unverbrüchlichkeit, Beständigkeit und Dauer, der diese Praktik regiert.
Was ist also Treue? Ein Impuls? Eine Haltung? Eine Sehnsucht? Eine Weltanschauung gar? Treue klingt nach bedingungslosem Zusammenhalt, auf Biegen und Brechen, auf Leben und Tod. Nach Gehorsam, Militär oder wahlweise Fußballverein. Aber auch nach Größe und Edelmut. Wir alle haben mit ihr unsere Erfahrungen gemacht. Erfahrungen, in denen wir treu waren oder untreu, Erfahrungen, in denen andere uns treu waren – oder eben nicht.Das Konzept der Treue folgt der Idee, einen gefühlten Idealzustand in einer Beziehung verewigen zu wollen.
In der Treue liegt der Wunsch nach emotionaler unbedingter Verlässlichkeit, Verbindlichkeit in einer Beziehung. Irgendwie etwas sehr Altes. Aber auch Unscharfes, Schillerndes, Ambivalentes, etwas Faszinierendes und gleichzeitig, zumindest ab einem gewissen Punkt, Unfreies, Befremdliches.
Treue ist eine Tugend. Philosophisch gesehen gehört sie nicht zu den sogenannten Kardinaltugenden – Weisheit, Gerechtigkeit, Tapferkeit und Mäßigung. Auch nicht zu den christlichen Tugenden, nämlich Glaube, Liebe, Hoffnung. Sie taucht erst bei den sogenannten Rittertugenden auf. Ist sie ein Wert an sich? Oder nur eine „Sekundärtugend“? Man kann sagen, Treue ist eine Art Ableitung der Liebe. Andererseits, wenn man wirklich liebt, muss man eigentlich gar nicht treu sein, oder? Denn wo echte Liebe waltet, braucht es keine Treue mehr. Sie ergibt sich von selbst, könnte man einwenden. Oder doch nicht?
Die Liebe, zu jeder Zeit, sie soll immer währen. Aber heute scheint der Wunsch nach dieser Ewigkeit größer zu sein denn je. Wohl weil uns auch schon in ihrem Anfangszauber klar ist, wie zerbrechlich menschliche Beziehungen in einer Zeit geworden sind, in der Flexibilität, Mobilität unsere Welt und auch unser Beziehungsleben prägen, ja generell „Veränderungsakzeptanz“ zu einem unumstößlichen Wert geworden ist – und gleichzeitig Abschied, Trennung und Beziehungsbruch, neue Isolation und Einsamkeit zu immer häufiger wiederkehrenden Realerfahrungen zählen. Nie war das Leben so ungewiss wie heute – und nie die Liebe. Aber es sträubt sich da scheinbar etwas in uns – und wir wollen dem Vorschub leisten, den „Bestand sichern“ und wappnen uns mit Symbolen, Ritualen und Treueschwüren gegen den immer schnelleren Wandel, der alles mitzureißen droht.
Die Liebesschlösser am Brückengeländer sind gewissermaßen wie eine Gegenbewegung zu all den Shorttime-Dating-Beziehungen aus dem Internet, wo man sich einfach wegwischt und zum nächsten Partner wechselt, wenn man den alten satthat. Man will der Bewegung etwas entgegensetzen, was bleibt. Der Journalist Markus Spieker hat zur Treue ein Buch geschrieben, „Mono. Die Lust auf Treue“ (2011). „Es gibt Zeiten“, so behauptet er, „wo durch Wohlstand, durch eine bestimmte Bildung vielleicht das Expressive, das Gefühlige ganz wichtig ist und jeder dann sein Ding macht, gerne experimentiert. Und es gibt wieder Zeiten, wo man enger zusammendrückt, mehr kuscheln will. Und ich glaube, in so eine Zeit gehen wir jetzt“ (Spieker, zit. in Hecht, 2019, S. 5). Ist das wirklich so?
Bei der Treue denkt man vor allem an die Ehe. Treue zwischen Ehepartnern, Vorhängeschlösser, die zwei dicke platonische Freunde an einem Brückengeländer anbringen – sie gibt es so gut wie nicht. Dennoch ist die Treue als psychologischer Beziehungsverstärker nur auf den ersten Blick den Liebespaaren dieser Welt vorbehalten. Im Grunde waltet sie in allen menschlichen Beziehungen, die eine gewisse Nähe und Intensität aufweisen – auch in der Freundschaft. Was es dort allerdings kaum gibt, ist das Äquivalent eines Treueversprechens, das da lautet, „bis dass der Tod euch scheidet“. Mag sein, dass es in alten Western die Blutsbrüderschaft – etwa zwischen Old Shatterhand und Winnetou – gibt, die da ganz ähnlich beschworen wird. Und im Kindesalter gibt es Banden, in denen man erst per Ritual aufgenommen wird und dann schwören muss, die „Schwarze Hand“ nie zu verlassen – oder gar zur Konkurrenz aus der Nachbarstraße überzulaufen. Dennoch, unter Freunden thematisiert man so gut wie nie die Treue – oder drückt sie gar durch ein feierliches Ritual aus. Sie verbindet zwei meist unausgesprochen – ohne Gelöbnis.
Bemerkbar macht sie sich aber dennoch. Und zwar jedes Mal, wenn wir einem Freund die Stange auch dann noch halten, wenn er etwas getan hat, was wir eigentlich missbilligen. Wir tun das, weil das alte Wohlwollen ihr oder ihm gegenüber die Entgleisung, die sie oder er sich da geleistet hat, aufwiegt: Wir nehmen sie ihr/ihm nicht übel (oder zumindest nicht so sehr), weil viel mehr Grund und Boden da ist, auf dem diese Freundschaft steht, als dass sie von einer Irritation weggespült werden könnte: Treue ist ein Bestandteil der Beziehungskonstruktion, die gewährleistet, dass eine Freundschaft über eine Meinungsverschiedenheit oder einen handfesten Konflikt hinaus Bestand hat – als solche ist sie immer schon in eine Freundschaft eingebaut. Wer genau hinsieht, erkennt Treue aber auch schon in der Routine. Ich muss nicht mehr jedes Mal prüfen, ob ich jemandem, der mein Freund ist, vertraue, ob ich die Zeit mit ihm gerne verbringe – das ist alles geklärt, aufgehoben im Treuegefühl. Treue spart Zeit und lässt Freunde schneller zum Wesentlichen kommen: dem Spaß am Zusammensein, der Freude am gegenseitigen Verständnis und Teilnehmen am Leben des anderen.
Eines der ersten Merkmale moderner Beziehungen, egal, ob Partnerschaft oder Freundschaft, ist die Freiwilligkeit, auf der sie gründen. Im Unterschied zu Blutsverwandtschaften gehen wir sie freiwillig ein – Goethes Begriff der Wahlverwandtschaft trifft dies gut. Die Psychologin Monika Keller (1996) hat in ihren Untersuchungen zur Freundschaft jedoch immer wieder den Gedanken umkreist, dass auch in Freundschaften über kurz oder lang Pflichten einziehen – man „sollte“ mal wieder. Wie in der Verwandtschaft, wo man auch nicht unbedingt „will“, sondern sich aus purer Konvention einmal wieder bei Tante Erna „blicken lassen sollte“, so regen sich im Verlauf einer Freundschaft ganz ähnliche Pflichtgefühle unter Freunden.
Die „reine“ Freiwilligkeit ist also eher nur eine Art Anfangsmoment in der Beziehungswahl. Sobald wir Beziehungen eingehen, regieren bald auch andere moralisch gesteuerte Reaktionsweisen unsere Freundschaften. Daraus lässt sich ableiten: Die Treue selbst wird nicht immer nur von der „Selbstaufgabe in der Hingabe“ getragen, die dem reinen Gefühl und Willen entspringt, sondern auch von unserem Moralempfinden, das sich über unser Gewissen regt. Und wenn es sich dann regt, dann können wir das Treuegefühl erleben. Ganz konkret.
Dennoch, das, was bei allen Tugenden zutreffen dürfte, ist wohl auch bei der Treue so: Interessant wird es erst, wenn man prüft, was sie in der Belastung auszuhalten vermag, wenn eine Beziehung auf die Probe gestellt wird, dann etwa, wenn die Gefühle allein nicht mehr ausreichen, sie wie von selbst in Gang zu halten. Treue ist also eher etwas für die grauen oder stürmischen Tage einer Beziehung. Eine Art Reserverad für die Krisenzeit. Es gibt genügend Paare oder Gruppen, die sich einst voller Leidenschaft, Aufrichtigkeit und in tiefem Glauben Treue geschworen haben, und diese dennoch irgendwann wieder aufgekündigt haben. Das Entscheidende ist also nicht das Vorhängeschloss am Anfang, sondern ob man es nach fünf oder zehn Jahren noch gemeinsam aufsucht. Treue bewährt sich erst lange nach dem anfänglichen Sturm des Begehrens, in der Not, in der Krise. Treue ist ihrem Wesen nach immer indifferent gegen die Zeit, den sich ändernden Willen oder ein sich änderndes Gefühl einer Person gegenüber. Man könnte also fragen: Fängt die Treue nicht erst da an, wo die Liebe aufhört?
Wie stark kann die Treue dann sein? Was kann sie richten? Kann man eine Beziehung, die aus eigener Gefühlskraft nicht mehr halten würde, aufgrund einer Idee von Treue aufrechterhalten? Man kann – wenn man sich für sie entscheidet. Wir können, denn wir haben die Wahl.
Wir leben heute in einer Zeit der Wahlfreiheit unserer Beziehungen. Diese Freiheit kann unser Beziehungsleben anfälliger für das Auseinanderstreben, für den Bruch, die Vereinzelung machen. Das ist oft beklagt worden. Sie kann sie aber gleichermaßen viel erfüllender machen, denn in ihr liegen ganz neue Chancen: Erst in der Wahlfreiheit kann Treue zu einem ganz besonderen Wert werden, der viel mehr Schönheit hat als noch jene traditionelle Form, die unsere Vorfahren zwangsweise zu einem Leben mit mehr oder weniger Ungeliebten verpflichtet hat. Die Philosophin Barbara Bleisch, die in ihrem Buch „Warum wir unseren Eltern nichts schulden“ (2018) über die Beziehungsethik zwischen Kindern und Eltern geschrieben hat, erkennt diesen neuen spezifischen Wert der Treue, der erst durch die Wahlfreiheit entsteht:
„Früher waren Beziehungen einfach entweder sowieso schon vermittelt, das heißt, man hat den Eintritt in die Beziehung gar nicht gewählt, oder es waren Beziehungen, Ehe-Beziehungen zum Beispiel, die man auch gar nicht mehr verlassen konnte. Die Treue war sozusagen einfach mitgeliefert. Und weil wir uns heute entscheiden können, den Partner oder die Freunde zu wechseln und sehr viele Optionen haben, wird die Treue selbst zu einer Option. Und deswegen erscheint sie uns vielleicht auch wieder wichtiger, weil wir sie aktiv wählen müssen.“ (Bleisch, zit. in Hecht, 2019, S. 5f.)
Auch Markus Spieker betont diesen Aspekt, dass Treue heute eine Option ist, wir heute darüber bestimmen können, wenn und wem wir treu sein wollen. Das Treue-Organ ist für ihn wie eine innere Hemmung. Und wir sind frei, diese zu aktivieren:
„Tatsächlich greift das dann, wie die Bremsen bei einem Auto, solange ich auf einer Geraden unterwegs bin, vor mir keiner fährt, ich nicht abbiegen muss, brauche ich die Bremse nicht. Aber irgendwann brauche ich sie vielleicht doch. Das ist das Schöne am Menschen, dass wir eben nicht rein triebhaft sind oder einem Automatismus folgen, sondern dass es die Möglichkeit gibt, durch Gefühlstäler, durch Höhen zu gehen, oben wieder Kraft schöpfen, um in einer schwierigen Situation trotzdem beim Partner zu bleiben.“ (Spieker, zit. in Hecht, 2019, S. 7f.)
Es wäre dennoch zu kurz gegriffen, Treue nur als Notfallkoffer zu sehen, wenn die Liebe ins Schlingern kommt. Treue ist genau besehen doch mehr als nur eine Art selbstauferlegte Disziplin oder Durchhaltevermögen in Krisenzeiten. Sie hat ihre Qualitäten auch in Zeiten der Harmonie, auch wenn diese dann vielleicht nur im Verborgenen schlummern. „Treue ist auch etwas Inneres und in gewisser Weise vorhanden, wenn sie nicht geprüft wird, auch am Anfang der Liebe“, behauptet Nils Spitzer (zit. in Hecht, 2019, S. 8), Psychologe und Autor des Buches „Ungewissheitsintoleranz und die psychischen Folgen“ (2019). Es gebe so etwas wie ein Wissen darüber, dass einem Menschen eine Beziehung besonders wertvoll ist, „auch wenn man sie gerade nicht gegen etwas anderes, äußeres, verteidigt“, eine stille Treue gewissermaßen: „Eine Treue, die man auch hat, wenn man gerade nicht herausgefordert ist“ (Spitzer, zit. in Hecht, 2019, S. 8).
Damit ist letztlich die Tiefendimension der Treue angesprochen, die in jeder Form der Treue angelegt ist. Denn zum Wesen der Treue gehört das Vertrauen in den anderen, das auch noch in der Krise lebendig ist. Barbara Bleisch stellt fest:
„Ich glaube, in der Treue steckt auch das Zugeständnis, dass man Fehler machen darf, dass man weiß, man kann sich einen Fehltritt erlauben und der Andere ist nicht gleich weg. Dieser Vertrauensvorschuss, den man gewährt, das ist ganz wesentlich für die Treue. Er gehört zur Liebe dazu. Deswegen finde ich, es braucht ziemlich viele Fehler, bevor man einen wirklich guten Freund oder bevor man einen Liebespartner, den man wirklich auch für den Partner des Lebens hält, wirklich vor die Tür setzt.“ (Bleisch, zit. in Hecht, S. 9)
So gesehen ist Treue dann doch mehr als nur Notnagel für harte Zeiten. In ihr steckt auch die Liebe, die dann noch trägt, wenn viel gegen sie spricht, wenn es konfliktreich wird, wenn es nicht mehr rund läuft. Und sie hat eine weitere Qualität, die sie all jenen offenbart, die sie unter sich bewahren: durch ihre Langfristigkeit schafft sie eine tiefere Form der Begegnung. „Wenn ich mit jemandem sehr, sehr lange zusammen bin, dann lerne ich jemanden so gut kennen, wie es sonst gar nicht geht“, stellt Nils Spitzer fest, „und zwar in all seinen Zügen, in all seinen Gefühlen und Alltäglichkeiten. In der Interaktion, dem Hin und Her von Beziehungen, lerne ich mich am Ende selbst auch differenzierter kennen, als das in einer anderen Weise möglich wäre. Denn im schnellen Wechsel verpasse ich diese Selbsterkenntnis“ (Spitzer, zit. in Hecht, 2019, S. 9).
Treue, so edel sie sein kann, sie bleibt ein ambivalentes Wertgebilde. Sie hat ihre problematischen Seiten. Das wird schon deutlich, wenn man ihre Kulturgeschichte nachvollzieht. Historisch-psychologisch gesehen ist Treue vor allem eine Art eingeimpftes schlechtes Gewissen, eine subtile Form von Fremdbestimmung und manipulativer Herrschaftsausübung dessen, der sie einfordert. Treue ist, was herauskommt, wenn bestehende Herrschaftsverhältnisse ethisch überhöht werden. Sie dient dann letztendlich nicht so sehr den Menschen, sondern in erster Linie der Stabilisierung eines Systems. Treue bewahrt den Untertan vor dem Ausscheren und garantiert den Machterhalt, indem sie die Gefolgschaftspflicht verinnerlicht. Nichts besonders Schönes. Immer lauert in der Treue die Gefahr der Unfreiheit und des Zwangs.
Man kann sogar noch weitergehen und einwenden, selbst die nicht manipulative, sondern ganz und gar frei gewählte Treue habe ihre Tücken. Etwa, wenn man sie mit Feigheit oder Bequemlichkeit verwechselt. „Tugend war zu jeder Zeit, nur Mangel an Gelegenheit“, hat Wilhelm Busch einmal gedichtet. Ist es vielleicht mit der Treue auch so? Viel spricht dafür. Ist sie vielleicht nur ein Reflex der Gescheiterten, die aus der Not eine Tugend machen, wenn Hans neben Suse und Suse neben Hans sitzt, nur weil beide keinen anderen abgekriegt haben? Es wird klar: Treue ist nie ein Selbstwert, sondern immer eine individuelle relationale Größe, deren Legitimität sich immer wieder neu entscheiden muss.
Wer würde leugnen, dass es unzählige Beziehungen gibt, in denen es der mutigere und richtige Schritt wäre, sie zu beenden, als sie künstlich am Leben zu erhalten? Formen etwa der „hündischen Treue“, die es auch dann noch gibt, wenn die Beziehung schlecht, ausbeutend und so ist, dass es besser wäre zu gehen?
Wenn die Treue zu anderen so sehr mit dem eigenen Selbstbild kollidiert, wenn ich un-authentisch werde und meine eigenen Werte verrate, dann ist es wichtig, sich daran zu erinnern, dass es auch eine Treuepflicht sich selbst gegenüber gibt, dann wird es Zeit, über eine ganz andere Treue nachzudenken: die Treue zu sich selbst. Das sind die Momente im Leben, in denen man vor einer weittragenden Entscheidung steht: Welche Treue ist mir mehr wert?
Natürlich ist das „Sich-selber-treu-Bleiben“ oft eine hohle Formel, die man vor allem von jenen zu hören bekommt, die nur egoistisch sind und nur ihre Wünsche und Interessen durchsetzen. Aber im Kern bedeutet sich selbst treu zu bleiben, tatsächlich im Einklang mit sich und den Werten zu bleiben, für die man einst eingetreten ist und von denen man sich entfernt und entfremdet hat. Dazu kann es auch gehören, anderen die Treue kündigen zu müssen. Christian Morgenstern hat einmal gesagt: „Wer sich selbst treu bleiben will, der kann nicht immer anderen treu bleiben“ (Morgenstern, zit. in Hecht, 2019, S. 10). Die Gretchenfrage lautet: Wie kann ich mir selbst treu sein – und anderen zugleich? Wie kann ich anderen gegenüber treu sein, ohne gleichzeitig im Gefängnis eines selbst auferlegten Zwanges zu sein? Wie kann ich gleichzeitig meinem Willen folgen oder meinen Wünschen, meinen Gefühlen und trotzdem nicht automatisch anderen gegenüber untreu werden? Gibt es einen Einklang zwischen sich und anderen treu zu sein – oder ist es ein ewiger Widerspruch?
Worauf es heute mehr denn je ankommt, ist, eine Entscheidungskompetenz auszubilden. Für die wiederkehrenden Situationen, in denen wir modernen Individualisten wissen müssen, ob wir treu bleiben möchten oder nicht mehr, und ob wir uns selber noch treu bleiben, wenn wir eine Beziehung weiterführen oder nur dann, wenn wir sie kündigen. Es geht um unsere Verantwortung. Was wir heute also brauchen, ist nicht so sehr eine Neubeschwörung oder Stärkung der guten, alten Treue, sondern eher eine Stärkung unseres Treue-Organs, das in der heutigen Zeit immer wieder neu organisieren muss, wem wir unsere Treue schenken und wem nicht. Das ist eine große Aufgabe, denn die Entscheidungen, jemandem die Treue zu halten oder sie zu kündigen, gehören wohl zu den wichtigsten im Leben.
Bleisch, B. (2018). Warum wir unseren Eltern nichts schulden. München: Hanser.
Hecht, M. (2019). Die nie vergehende Liebe. Wie treu wollen wir heute noch sein? Radio-Feature (SWR 2, gesendet am 2. Mai 2019). Zugriff am 28.01.2020 unter https://www.swr.de/-/id=23715568/property=download/nid=660174/6lckz8/swr2-leben-20190502.pdf
Keller, M. (1996). Moralische Sensibilität: Entwicklung in Freundschaft und Familie. Weinheim: Beltz/Psychologie Verlags Union.
Spieker, M. (2011). Mono.Die Lust auf Treue. München: Pattloch.
Spitzer, N. (2019). Ungewissheits-Intoleranz und die psychischen Folgen. Berlin: Springer.
P. Ludger Ägidius Schulte OFMCap
Es ist nicht zu fassen: Liegt „Treue“ im Trend? Mehr als 90%, so eine Studie aus Hamburg und Leipzig, wünschen sich Treue. Allerdings, 50% der Befragten geben zu, in ihrem Leben schon einmal fremdgegangen zu sein. Das heißt: „Fast alle wollen es, doch nur die Hälfte tut es: treu sein, lebenslang. Wunsch und Wirklichkeit klaffen drastisch auseinander.“ Mit diesem Satz und den aufgezählten Fakten beginnt ein Beitrag in der „Zeit“ aus dem Jahr 2011 mit dem Titel „Das ewige Ideal. Wie wollen wir es mit der Treue halten?“ (St.Kara, 2011).
Es ist nicht zu fassen: Der Journalist Markus Spieker meint in seinem Buch „Mono. Die Lust auf Treue“ (Spieker, 2011): „Es ist verblüffend, aber das Ideal der Treue übersteht mühelos alle Varianten des Zeitgeistes – bürgerliche, unbürgerliche, antibürgerliche, konservative, liberale, rechte, linke“ (ebd., Cover). Er hält es für die Nachricht des Jahrzehnts: „Die Treue kommt zurück“ (ebd., S. 15ff.). Unglaublich?
Der gegenwärtige Sprachgebrauch verrät diesen Trend nicht. „Treue“ ist kein Modewort. Nachhaltig sein, authentisch sein, ganzheitlich sein, auf Augenhöhe sein, spontan und kreativ sein – das sind Leitworte der Gegenwart. Aber treu sein? Das Wort „treu“ klingt altbacken, nicht mobil und flexibel, wenig weltoffen, etwas tuttelig und rückständig. Ein treuer Hund, das mag angehen. Ein treuer Mensch – da fürchtet man schon den treuen Dackelblick. Wenn einer sagt: „Das ist ein treuer Geselle!“, dann ist fast schon das „treudoof“ mitzuhören.
In der Öffentlichkeit steht Treue nicht im Vordergrund – eher das Gegenteil: Untreue. Breitgetretene Promiaffären, Seitensprungdramen im nahen Umfeld, Scheidungs- und Familiendramen. Ist das prickelnder, aufregender, dramatischer und eben auch für die mediale Öffentlichkeit verkaufsfördernder?
Mit der Treue scheint es sich so zu verhalten wie mit dem ICE. Kommt er pünktlich an, so redet keiner davon. Gibt es Oberleitungsstörungen oder entgleist er gar, so ist es eine Nachricht, die jeden beschäftigt und die sich einprägt. Seitensprünge königlicher Hoheiten und prominenter Politiker*innen füllen die Blätter. So bleibt der Eindruck, Treue ist etwas Seltenes, eine aussterbende Haltung. Tatsächlich aber sind Paare einander häufiger treu als untreu. Statistisch leben (die Untersuchung begrenzt sich auf Großstädte) im Jahr 10% der Menschen in Partnerschaften in Untreue zu ihrem Partner (St.Kara, a.a.O.), aber 90% nicht!
Fatal scheint bei diesen ersten thematischen Schlaglichtern, dass der Begriff der Treue heute nicht nur aus der Mode gekommen, sondern auch besonders inhaltsleer geworden ist. „Im allgemeinen Bewusstsein wird er schnell mit dem Gegenbegriff der Untreue, also mit Fremdgehen, assoziiert und damit nicht nur negativ bestimmt, sondern auf den Bereich sexueller Beziehung eingegrenzt“ (Knieps-Port le Roi, 2008, S. 51). Das aber ist eine Engführung und eine bedauerliche inhaltliche Fixierung.
Die Haltung der Treue hat viel größere Bedeutung für unser Leben als uns vordergründig bewusst ist. Selbst unser Denken braucht Treue. Es darf und sollte sich nicht kurzfristig Moden verschreiben, wenn es Bestand haben soll. Will es sich einer Oberflächlichkeit und Beliebigkeit widersetzen, steht Treue hier für eine gewisse Besonnenheit. Nur so widersteht das Denken der Verführung der Quote, der Mehrheitsmeinung und der Popularität. Treue im Denken bedeutet dann, die „Weigerung, sein Denken ohne gute und stichhaltige Gründe zu ändern, und – weil permanentes Überprüfen unmöglich ist – für wahr zu halten, was einmal klar und eindeutig befunden worden ist, bis eine Überprüfung etwas anderes ergibt. Also weder Dogmatismus noch Unbeständigkeit. Man hat das Recht, seine Ansichten zu ändern, doch nur dann, wenn es Pflicht ist“ (Comte-Sponville, 1996, S. 37).
Treue ist für mein Verhältnis zu mir selbst von ebenso zentraler Bedeutung wie Treue zu mir und der Wahrheit, die mich über meine täglichen Gefühle und Stimmungen hinaus beansprucht, dem Gewissensspruch (Guardini, 1987). Nur so kann ich durch die Zeit, bei aller Entfaltung, mit mir identisch bleiben und in den Frieden mit mir gelangen.
Treue ist ebenso lebenswichtig für Gemeinschaft und Gesellschaft im Sinne von Verbindlichkeit und Verlässlichkeit. Und nicht zuletzt ist sie das Lebenselixier jeder Freundschaft, die ohne Treue keine Freundschaft ist.
In der ethischen Tradition begegnet Treue einem daher gewöhnlich als Tugend, also als Lebenshaltung, die in der Bereitschaft des Menschen besteht, seine Taten seinen Versprechungen anzupassen:
„Ich mache mich unabhängig von meinen wandelnden Gefühlen morgen und übermorgen. Nietzsche sagt einmal: ‚Versprechen können ist das Höchste im Menschen.‘ Das heißt, sich unabhängig machen von den verschiedenen Zuständen, die ich durchlaufe, das heißt, ich bürge für mich. Versprechen heißt, dem anderen einen Anspruch einräumen, sich auf mich zu verlassen“ (Spaemann, 2010, o. S.).
Verträge, Eide, Gelöbnisse sind institutionelle Formen von Treue in unserer Gesellschaft.
Das Treueversprechen verhindert nicht, dass unsere Gedanken und Gefühle sich irgendwann einmal ändern können, aber es verbietet, daraus die Legitimation abzuleiten, uns nicht mehr an unser Versprechen halten zu müssen. Der Sinn dieser Selbstverpflichtung liegt gerade darin, unsere Treue nicht abhängig zu machen von glücklichen Umständen oder der Gunst des Schicksals (Knieps-Port le Roi, 2008, S. 232).
Daher ist die Treue eine Kraft, die es mit der Zeit aufnimmt. „Sie überwindet Wandel und Vergehen und gibt unserer Vergänglichkeit einen Hauch von Ewigkeit“ (Kaemper, 2014, S. 26). Sie macht es erst möglich, „dass Menschen und Gruppen trotz aller Veränderungen miteinander verbunden bleiben“ (ebd.). Sie erfüllt somit eine wichtige soziale Funktion. Sie bringt dauerhafte Verbindungen von Einzelnen und Gruppen hervor. Ohne sie ist Gemeinschaft nicht möglich.
Treue steht für Stetigkeit, Beständigkeit, Beharrlichkeit, Zuverlässigkeit, Verbindlichkeit, Loyalität, eben für dauerhaftes, übergreifendes Verbundensein. Das Gegenteil wäre: Nachlässigkeit, Wortbrüchigkeit, Veruntreuung, Schlampigkeit, Trägheit, Willkür und die Neigung, nur das zu tun, wozu man gerade Laune hat. Treue „ist nicht ein Wert unter anderen, eine Tugend unter anderen; sie ist das, wodurch und weswegen es Werte und Tugenden gibt. Was wäre die Gerechtigkeit ohne die Treue der Gerechten? Der Friede ohne die Treue der Friedfertigen?“ (Comte-Sponville, 1996, S. 31).
Ein Mensch der Treue hält an seiner Verantwortung fest, auch wenn ihm selbst Schaden oder Gefahr droht. Er steht zu seinem gegebenen Wort auch dann, wenn es für ihn ungünstig ist. „Treue geht damit weit über eine innere Haltung hinaus. Es geht um die Tat“ (Kaemper, 2014, S. 26).
Beziehungen (Nation, Gemeinschaft, Freundschaft, Partnerschaft, Familie…) schaffen nicht nur Bindungen, sie fordern auch Bindung und damit Treue. Denn Bindung will nicht nur entdeckt und eingestanden sein, sie will auch bestätigt und bewahrt werden. In der Liebesbeziehung bekommt dies eine besondere Note.
Es liegt in der Logik der Liebe selbst, dass Liebende sich bewusst und aktiv aneinander binden wollen. „Dies heißt ja zunächst nichts anderes, als dass beide wollen, dass es so bleibt, wie es jetzt ist, und dass jeder das Seinige dazu tun will, dass es auch so bleiben kann“ (Knieps-Port le Roi, 2013, S. 48f.). Die beiderseitige Absichtserklärung, sich aneinander zu binden, beinhaltet, das eigene Verhalten in Zukunft so auszurichten, „dass die Liebe einen geeigneten Lebensraum erhält, in dem sie erhalten bleibt und gedeihen kann“ (Knieps-Port le Roi, zit. in Röser, 2011, o.S.). Die Partner sichern sich Verlässlichkeit zu und erlegen sich die nötige Entschlossenheit auf, sich auch tatsächlich so zu verhalten. Kurz gesagt: „Die Frage nach der Liebe ist mit innerer Notwendigkeit eine Frage nach der Treue: ‚Liebst du mich?‘ heißt im letzten: ‚Bleibst du bei mir?‘“ (Schaller, 1994, S. 69).
Dass dies eine gewisse Reife der Person voraussetzt, Lernfähigkeit in Krisen erfordert und Wandlungsfähigkeit im Ablegen „egozentrischer Anteile“ sowie Standhaftigkeit gegenüber Schicksalsschlägen, ist mit Händen zu greifen und wird noch eigens zu thematisieren sein.
Natürlich gibt es auch den Missbrauch der Treue. Ein echter Missbrauch durch die Beschwörung von „Hingabe und Treue“ für Staat und Vaterland wurde in der Zeit des Nationalsozialismus erschreckend sichtbar. „Räuberbanden“ können zu nichts Gutem in großer Treue miteinander verbunden sein, dazu braucht man nicht nur an die Mafia, den „Islamischen Staat“ oder andere verbrecherische Gruppierungen denken. Das heißt, Treue ist nicht gleich Treue. Treue ist danach zu bewerten, welchen Werten man Treue erweist. Treue zum Bösen ist schlechte Treue.
Auch in der psychotherapeutischen Praxis ist zu beobachten, dass Partner, die sich in einer Beziehung in falscher Selbstverleugnung stets treu den Bedürfnissen des Partners unterordnen, depressiv werden. Es gibt krankmachende Treue, aus Ich-schwacher Anhänglichkeit und bewusst ausgenutzte Abhängigkeit. Eine gesunde Treue setzt eine vorangeschrittene Entfaltung der Ich-Identität voraus (Krüger, 2010). Ich-Identität bedeutet: Ich weiß, wer ich bin. Ich kenne (mehr und mehr) meine Grenzen, Stärken und Wachstumsfelder. Ich weiß, inwiefern ich mich von anderen unterscheide und kann dies und meine Bedürfnisse angemessen zum Ausdruck bringen. Offenbar setzt die Fähigkeit zur Treue eine große innere Stabilität voraus. Wirklich treue Menschen sind emotional starke Persönlichkeiten, die sowohl mit sich selbst als auch mit der Umwelt intensiv in Kontakt stehen. Sie sind im psychologischen Sinne bindungsstark, das heißt, sie finden in sich die Kraft und das Engagement, auch dann noch zu einer Gruppe oder einer Person zu stehen, wenn sie nicht dem gewünschten Idealbild entspricht.
Wenn es nicht wenig Missbrauch der Treue gibt und psychologische Deformationen, die gesunde Treue verunmöglichen, dann stellt sich umso mehr die Frage: Ist Treue ein Ideal oder, an den Realitäten gemessen, doch eine Überforderung? Wie „geht“ Treue? Und darüber hinaus, wie kann der Mensch in einem Treueversprechen überhaupt in der Lage sein, die (eigene) Zukunft in einem Moment zu überblicken und ihr vorzugreifen, in dem er eine solche Lebensentscheidung trifft?
Eine erste Antwort müsste lauten: Verantwortlich treu kann ich nur sein, wenn ich „genügend“ innere Freiheit von Verletzungen, falschen Selbstbildern und besetzenden Lebensmustern beziehungsweise Lebensstrategien habe. Wer im ständigen Unfrieden mit sich selbst lebt, wer Realitäten der Lebensführung aus seiner Wahrnehmung ausschließt und wer keine freilassende Nähe aufbauen kann, ist auch ethisch nicht in der Lage, treu zu sein. Er benötigt Heilung zur Treue.
In einem zweiten Antwortversuch ließe sich zum Risiko der Treue sagen: „So ist es: Leben ist lebensgefährlich und Treue ist gefährdete Treue.“ Das Wagnis gehört zur menschlichen Existenz. Auch für die Treue gilt: Es gibt nichts Großes ohne Risiko, Mut, Widerstreit und Demut, also ohne das Wissen, dass es nicht einfach „nur“ in unserer Hand liegt.
In einem dritten Antwortversuch wäre zu sagen: Wenn wir es zulassen, wenn wir tief genug in uns hineinhören – dann gibt es in uns eine „‚tiefe Bitte unserer Existenz‘, wir möchten doch dem, was wir im Grunde unseres Herzens wollen, treu bleiben können; wir möchten, nach dem bekannten Wort von Saint-Exupéry, fähig werden, ‚zeitlebens verantwortlich zu bleiben für das, was wir uns anvertraut haben‘ (Schaller, 1994, S. 12).
Zugespitzt: Die Treue zu unserem Weg entscheidet über den Sinn und Unsinn unseres Lebens.
Treue ist nicht einfach der Ausdruck für eine biedere Verlässlichkeit, eine uneinlösbare Sehnsucht nach Halt oder eine überforderte Hoffnung auf Kontinuität von Beziehungen. All das wäre ja schon aus gesundheits-, sozial- und finanzpolitischen, also pragmatischen Gründen höchst erstrebenswert und sinnvoll für den Einzelnen und die Gesellschaft. Die Frage nach der Treue ist fundamentaler. Ohne Treue ist der Mensch im Selbstwiderspruch, kann er weder wahrhaft „Ich“ sagen noch weniger ernsthaft ein „Du“ meinen oder ein tragendes „Wir“ finden. Ohne Treue kann man sein Leben mit zahlreichen Optionen erweitern, niemals vertiefen, auf den Punkt bringen, Richtung und Sinn empfinden. Treue mag in manchen Lebensphasen ein leuchtendes Ideal sein. Sie mag in anderen Phasen zu einer Überforderung heranwachsen und doch ist sie uns zum vollen Menschsein aufgegeben. Von Mutter Teresa stammt das wichtige Wort: „Gott hat uns nicht zum Erfolg berufen, nur zur Treue.“
Natürlich weiß ich, dass ich ins Rutschen und Fallen kommen kann und nicht immer treu bin. Ich benötige Vergebung. Mein Handeln ist nicht immer identisch mit meinem Versprechen, eben untreu. Menschliches Leben braucht deshalb immer wieder Umkehr und Neuausrichtung. Reue ist der schmerzhafte Weg zum Wiederauffinden der Treue zu uns selbst, zum anderen, zu Gott.
Jedoch, konkretes, sich immer wieder verstrickendes menschliches Leben benötigt mehr als nur Reue, es braucht den Raum des Verzeihens und der Vergebung. Verzeihen heißt aber nicht: Du bist eben so. Das wäre der Tod, die Vernichtung meiner besseren Zukunft. Vergebung gibt mir die Möglichkeit, mich von meinen eigenen Handlungen zu distanzieren und wieder treu zu werden.
Versprechen und Verzeihen sind die wichtigsten menschlichen Akte, meint der Philosoph Robert Spaemann (2010). Nur im Versprechen können wir der Zukunft des uns Anvertrauten verantwortlich begegnen und im Verzeihen neue Zukunft eröffnen. Erst durch Versprechen und Verzeihen können wir als Menschen in der Zeit bestehen. Versprechen und Verzeihen sind Formen der Treue. Dies mag für das Versprechen schneller einleuchten als für das Verzeihen. Doch treue Beziehungen benötigen eine liebende und verzeihende Grundhaltung aller Beteiligten. Treue öffnet einen weiten Raum. Partner, Freunde können atmen und haben das Gefühl, trotz Mängel und Fehler sein zu dürfen. Ich darf vertrauen, der andere wird zu mir stehen. Die Treue hat aber auch das Recht, die Hoffnungen, mit denen man angetreten ist und die sich immer auch ändern, einzubringen, „Hoffnungen, die in sich auch Ansprüche enthalten, die nicht überfordern, aber doch in einem guten Sinn einen Anreiz zum Wachsen, etwas Salz zur Verlebendigung enthalten“ (Schaller, 1994, S. 49). Die Treue wird verzeihend an das Versprechen erinnern.
All das Gesagte macht überdeutlich: Mögliche Unmöglichkeit und zutiefst menschliche Notwendigkeit sehen sich auf dem Weg der Treue ins Auge. Ein Leben im Wagnis. Gerade dies aber zeigt uns: Treue ist nicht starres Festhalten am Gewohnten oder eine fossilienhafte Verhärtung, sondern Offenheit für Wandlungen. Das betrifft nicht nur unsere eigene Geschichte, die Entwicklung unserer Person. Auch unsere vielseitigen Beziehungen und Kontakte müssen je nach Zeit und Alter neu gestaltet werden, um lebendig zu bleiben. Sie müssen sich wandeln, damit Treue möglich ist. Gewohnheiten, Absprachen, Haltungen können helfen und sind nötig auf dem Weg der Treue. Aber auch sie benötigen Veränderungen:
„Eines ist es, ein Jawort zu geben, ein anderes, die Bedingungen dafür zu schaffen, dass es gehalten werden kann. […] Wir müssen Sorge tragen, darauf zu achten, was uns in der Treue zu uns selbst wie zu anderen wachsen lässt, und was uns hilft und was uns schadet.“ (Schaller, 1994, S. 54)
Zwei Leitfragen können hilfreich sein:
Was hilft, damit Vertrauen lebendig bleibt?Was hilft zu immer neuen, präsenten Begegnungen und nicht nur zu Beziehungen, die funktionieren?Nicht die Asche der starren Treue, sondern die Glut der schöpferischen Treue ist die Herausforderung. Es ist die Kunst und das Abenteuer des Lebens: Neue Situationen sind ein Anfang und enthalten die Möglichkeit, unserer Sehnsucht treu zu werden, eine Grundentscheidung persönlich zu vertiefen und zu verlebendigen. Treue ist eine Kraft, „welche die Zeit, das heißt Wandel und Vergehen, überwindet – aber nicht, wie die Härte des Steins, in starrer Festgelegtheit, sondern lebendig wachsend und schaffend“ (Guardini, 1987, S. 68). Wir sind schöpferisch in der Treue, wenn wir Grundentscheidungen unter veränderten Bedingungen immer wieder neu konkretisieren.
Das deutsche Wort Treue hat dieselben sprachlichen Wurzeln wie das Wort Baum (gotisch: triu, altengl.: trow, neuengl.: tree. Man hört hier noch das Wort treu heraus. Treue wächst wie ein Baum – langsam. Fast unmerklich in den vielen Entscheidungen des Lebens. Die Dichterin Hilde Domin umschreibt die schöpferische Treue mit einer bemerkenswerten Zeile: „Man muss weggehen können und doch sein wie ein Baum“ (Domin, 2018, o.S.). Kurz gesagt: Treue ist Lebendigkeit mit Wurzeln.
Die Liebe nimmt es in der Treue mit der Zeit auf. „Treue ist das, was die fließende Zeit überdauert. Sie hat etwas von Ewigkeit in sich“, schreibt der große Theologe und Religionsphilosoph Romano Guardini (1963, S. 85). Damit leitet er die menschliche Treue von Gottes großer Treue ab. Er betont: Gott „hält die Welt im Sein. Jeden Augenblick besteht sie aus seiner Treue […] Von Gott her kommt die Treue in die Welt. Wir können nur treu sein, weil Er es ist, und weil Er uns, seine Ebenbilder, ihr zugeordnet hat“ (Guardini, 1987, S. 73f.). Damit sagt er, Gottes Treue trägt uns und macht uns fähig, treu zu bleiben. Sie ist Gabe seines Geistes (vgl. Gal 5,22). Die Treue macht uns Gott ähnlich.
Unzählige Male bezeugt die Heilige Schrift die Treue Gottes. Der Beter der Psalmen wird nicht müde zu singen: „Alle Pfade des Herrn sind Huld und Treue“ (Ps 25,10). Die Dauer seiner Treue währt „von Geschlecht zu Geschlecht“ (Ps 119,90). Sie wird nie aufhören. Der Umfang seiner Treue reicht „bis zu den Wolken“ (Ps 36,6). Sie kennt keine Grenzen. „Wie schön ist es am Morgen deine Huld zu verkünden und in den Nächten deine Treue“ (Ps 92,3). Gott macht seine Treue zum Menschengeschlecht besonders erfahrbar in der Geschichte des Bundes, den er mit seinem auserwählten Volk geschlossen hat.
Auch wenn die menschliche Treue häufig „wie der Tau ist, der früh verschwindet“ (Hosea 6,4). Gottes Treue ist zuverlässig (Deuteronomium 7,9; Römer 3,3f.; 2 Timotheus 2,13). Sie ist die Grundlage der menschlichen Treue. Gerade wenn das Vertrauen in Gott angefochten ist, ist die Hoffnung auf die Treue Gottes letzter Halt:
„Ich sprach: Dahin ist mein Glanz und mein Vertrauen auf den Herrn. An meine Not und Unrast denken ist Wermut und Gift. Immer denkt meine Seele daran und ist betrübt in mir. Das will ich mir zu Herzen nehmen, darauf darf ich harren: Die Huld des Herrn ist nicht erschöpft, sein Erbarmen ist nicht zu Ende. Neu ist es an jedem Morgen; groß ist deine Treue“ (Klagelieder 3, 18-23).