15,99 €
Ein Erfolgsautor erzählt von seiner eigenen, bewegenden Lebensgeschichte Als Sohn eines SS-Offiziers wurde Lothar von Seltmann in den letzten Kriegstagen in Krakau geboren. Beide Eltern überlebten das Ende der Nazi-Diktatur nicht. Als kleiner Junge musste er aus seiner Heimat fliehen und kam als Vierjähriger als Pflegekind in ein Dorf im Siegerland. Später gründete er eine Familie und begann als Lehrer zu arbeiten, bis ihn ein schwerer Unfall mit 47 Jahren zwang, seinen Beruf aufzugeben. Doch mit Anfang 50 entdeckte er das Schreiben als neue Leidenschaft und wurde zu einem erfolgreichen Autor. In diesem Buch erzählt der heute 82-Jährige seine eigene Geschichte. Ein Rückblick auf ein herausforderndes Leben mit vielen Höhen und Tiefen. Getragen von einem unerschütterlichen Glauben und einer Hoffnung, die ihm auch in den schwersten Zeiten den Mut zum Leben erhielt. Seine bewegende Lebensgeschichte ist eine wahre Inspiration für alle Leserinnen und Leser.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 407
Veröffentlichungsjahr: 2025
Lothar von Seltmann
Mein Leben vom „arme Jung“ zum Erfolgsautor
Über den Autor:
Lothar von Seltmann, Jahrgang 1943, ist als Vollwaise bei Pflegeeltern aufgewachsen. Nach dem Abitur studierte er Pädagogik mit dem Wahlfach Theologie. Danach arbeitete er als Volksschullehrer, in der Lehrerausbildung an Seminar und Hochschule und zuletzt als Rektor einer Hauptschule. Als Folge eines Unfalls musste er mit 47 Jahren vorzeitig pensioniert werden. Nach seiner Genesung wurde er u. a. zum Autor erfolgreicher Romanbiografien.
Die verwendeten Bibelstellen sind folgender Übersetzung entnommen: Lutherbibel, revidierter Text 1984, durchgesehene Ausgabe, © 1999 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart
Hanns Dieter Hüsch, „Was machen wir hinterher“ Zitat mit freundlicher Genehmigung von tvd-Verlag, Düsseldorf.
© 2025 Brunnen Verlag GmbH, Gießen
Gottlieb-Daimler-Str. 22, 35398 Gießen
www.brunnen-verlag.de
Die Nutzung von Bild-, Sprach- und Textdaten für sog. KI-Training und ähnliche Zwecke ist nur nach vorheriger schriftlicher Genehmigung erlaubt.
Lektorat: Stefan Loß
Umschlaggestaltung: Jonathan Maul
Umschlagfoto: Petair/stock.abobe.com, Privat
Satz: Brunnen Verlag GmbH
ISBN Buch 978-3-7655-3346-4
ISBN E-Book 978-3-7655-7738-3
www.brunnen-verlag.de
Dieses Buch widme ich meiner lieben Ulla, die beinahe 60 Jahre ihr Leben mit mir geteilt hat.
Prolog
Teil 1: „Dä arme Jung“ (1945 bis 1949)
Von Krakau …
… ins Siegerland: Müsener Anfänge
„Dä arme Jung“ im Unterdorf
Teil 2: Zwischen Vergangenheit und Zukunft – mein „erstes Leben“ (1949 bis 1991)
1949 – Ein besonderes Jahr
Sehnsuchtsort Wennigser Mark
Pennäler-Jahre
Geschwister- und Verwandtschafts-Begegnungen
Himmel trifft Erde – mein geistlicher Aufbruch
Studentenjahre (1962–1965)
Ulla: Freundin – Verlobte – Ehefrau – Mutter
Mein vielfältiges Lehrerdasein – pädagogische „Pflicht“
Orte geistlicher Aktivitäten – unterwegs für den HERRN – die geistliche „Kür“
Teil 3: Alles auf Anfang – mein „zweites Leben“ (1991 bis heute)
Kleiner Unfall mit großen Folgen
Vom „Warum?“ zum „Wozu?“
Auf der Suche nach der richtigen Diagnose
Entwicklung neuer Perspektiven
Unterwegs in Gottes Auftrag
Ein weiteres Arbeitsfeld
Und dann: „Miluscha“…
Apropos „Erfolgsautor“
Teil 4: Epilog – Zurück zum „arme Jung“?
Corona
Letzte Reise und dann der Himmel
Es war Montag, der 5. Mai 2008 – mein Geburtstag. Ich stand mit meiner Ulla in der wunderschönen polnischen Stadt Krakau an der Weichsel in der Ulica Kościelna gegenüber dem Haus Nr. 5. Das graue quaderförmige zweistöckige Gebäude mit einem Erker zur Straße und einer Mansarde nach oben stand wie tot in einer dicht gewachsenen, ungepflegt erscheinenden Wildnis, die von einem hohen rostigen Metallzaun umgeben war. In der Einfahrt parkte hinter dem verschlossenen großen Tor ein Pkw, also musste wohl jemand im Haus sein. Das kleine Tor für Fußgänger war ebenso verschlossen und ließ sich auch nicht mit rüttelnder und geräuschvoller Gewalt öffnen. Dabei hätten wir doch so gerne das Grundstück betreten, das ich vor 65 Jahren bereits bewohnt hatte. Die an der Haustüre sichtbare Klingel blieb für uns unerreichbar.
Während Ulla und ich noch überlegten, wie wir uns bemerkbar machen könnten, wurde oben in der Mansarde ein Fenster geöffnet und die Stimme einer Frau rief etwas zu uns herunter, was nicht gerade freundlich klang. Was wollte die Dame dort oben uns hier unten wohl sagen? War sie ärgerlich wegen der fremden Menschen, die sich lautstark an der Einfriedung ihres Hauses zu schaffen machten, dass sie es oben gehört haben musste? Sollten wir uns trollen? Wir verstanden ihr Polnisch leider nicht.
Aber es bewahrheitete sich umgehend das Sprichwort: „Wo die Not nicht fern, kommt die Hilfe gern.“ Eine Passantin mittleren Alters erbarmte sich. Ihr Hilfsangebot in polnischer Sprache verstanden wir natürlich nicht, worauf ich es mit Englisch probierte. Wunderbar, die Dame verstand mich, stellte ihre Einkaufstaschen auf das Steinpflaster und antwortete in Englisch. Sie nahm sich sofort und gerne der Sache um das Haus meiner Geburt an. Die deutsch-englische Kommunikation auf der Straße funktionierte und auch die polnische von unten nach oben und zurück. Und sie zeigte bald Wirkung.
Oben schloss sich das Fenster, und wenige Minuten später kam eine alte Dame aus dem Haus. Sie schloss das kleine Tor von innen auf und trat zu uns auf den Bürgersteig: Jagoda mit Kopftuch, karierter Kittelschürze und Filzlatschen an den Füßen begrüßte die frühlingshaft bunt gekleidete Tanja – die Frauen kannten sich offenbar. Die beiden wechselten ein paar Sätze miteinander, die wir natürlich nicht verstanden. Dann hatte die ältere Polin wohl begriffen, was denn Ullas und mein Anliegen war, und ihr Gesicht hellte sich deutlich auf. Sie begrüßte auch uns jetzt sehr freundlich und schien dabei nachzudenken, ob und wie sie uns wohl weiterhelfen könnte. Dabei kamen ihr offenbar Erinnerungen, denn ein paar Momente später sprudelte es aus ihr heraus, sodass die Übersetzerin Mühe hatte, dem Wortschwall zu folgen. Wir vier an der Straße mussten ja dreisprachig „um die Ecke“ kommunizieren: Deutsch – Englisch – Polnisch – Englisch – Deutsch.
Jagoda berichtete und Tanja übersetzte, was ich dann an Ulla weitergab: Sie habe mit ihren Eltern schon immer in diesem Haus gewohnt. 1942 – sie sei damals acht Jahre alt gewesen – sei hier eine deutsche Familie mit vier kleinen und sehr kleinen Kindern eingezogen, von denen das älteste ein Junge und die drei anderen Mädchen gewesen seien. Noch sehr junge Leute und schon so viele Kinder! Alle seien immer gut angezogen gewesen. Der junge Vater habe meistens Uniform getragen. Die Straße habe damals einen deutschen Namen gehabt, den sie aber nicht behalten habe. Dann sei dem Ehepaar ein fünftes Kind geboren worden, das wieder ein Junge gewesen sei. Ein Jahr später sei diese Familie wohl wegen des Krieges und wegen der Russen plötzlich weggezogen irgendwohin nach Deutschland. Der Vater sei zuletzt schon gar nicht mehr ins Haus gekommen. Die Mutter sei dann mit den Kindern und einer anderen jungen Frau, die oft zum Helfen im Haus gewesen sei, im Sommer 1944 ausgezogen. Dabei sei die Frau schon wieder schwanger gewesen. Wie das alles genau abgelaufen sei, wisse sie nicht mehr. Sie erinnere sich nur noch an mehrere große schwarze Autos, mit denen die Leute mit sehr viel Gepäck weggefahren und auch nie wiedergekommen seien.
Die alte Jagoda – nach eigener Angabe jetzt wohl 74 Jahre alt – hatte sich richtig in Eifer geredet. Sie brach ihre Rede ab und holte tief Luft, als müsse sie sich von einer letzten Spannung befreien. Das gab mir endlich die Gelegenheit, mich einzuklinken und auch bei mir eine gewisse Spannung zu lösen und den Kloß runterzuschlucken, der sich in meinem Hals gebildet hatte. Ich reichte der Erzählerin die Hand und schaute ihr in die Augen: „Danke für Ihre Erzählung, liebe Frau Jagoda! Das fünfte Kind von damals bin ich. Ihr Haus ist mein Geburtshaus. Hier habe ich mein erstes Lebensjahr verbracht. … Dürfen wir …?“ …
Bewegende Momente vor dem Haus Nr. 5 der Ulica Kościelna, die damals Wilhelm-Raabe-Straße hieß und nach dem Abzug der Deutschen aus der Weichselstadt ihren ursprünglichen Namen zurückbekam. Leider konnten Ulla und ich das Haus nicht betreten, in dem sich einem Hinweis an der Hauswand nach ein Firmenbüro befand. Frau Jagoda ermöglichte uns allerdings einen Rundgang durch den Garten, in dem unter dem Gestrüpp die Bank noch stand, auf der seinerzeit Bilder von meiner Familie gemacht worden waren, auf denen ich unter der Schürze des Dirndls meiner Mutter deutlich erkennbar bin.
*
Fünf Jahre später hatten meine Frau und ich bei einem weiteren Besuch in meiner Geburtsstadt die Möglichkeit, Haus und Wohnung von damals zu betreten. Die neue Besitzerin ermöglichte uns diese emotionalen Momente. Der Herd, auf dem meine Mutter ihrem Mann und uns Kindern und wer weiß, wem noch, die täglichen Mahlzeiten gekocht hatte, stand noch an derselben Stelle wie damals. Die Treppe, deren Stufen ich als erste in meinem Leben hinauf und hinunter bewältigt habe – mit zunehmender Sicherheit –, war ebenso unverändert wie andere bauliche Details im Treppenhaus und in der Wohnung. Leicht vergilbte Fotobeweise dazu hielt ich in den Händen. … Augenblicke, die die Seele nachhaltig beschäftigten.
*
Den ersten Ort meiner „Einwohnung“ kannte ich nun. Den zweiten lernte ich im März 2011 auf einer Fahrt zur Leipziger Buchmesse kennen. Ich war mit meiner Frau unterwegs auf der A38, als uns der Hinweis auf die Ausfahrt Allstedt auf den Gedanken brachte, einen Abstecher in diese Stadt zu machen, um wenigstens einen Schlenker durch den Ort zu fahren und einen Rundgang zu machen, das lutherische Pfarrhaus als unsere damalige Wohnstätte zu sehen und die St.-Johannes-Kirche. Ich wollte zumindest einen Eindruck bekommen von dem Ort, an dem ich von Krakau aus als Einjähriger mit meiner Familie für die Dauer etwa eines Jahres „eingewohnt“ worden war.
Die Kirche und das Pfarrhaus zu finden, war kein Problem. Menschen trafen wir freilich keine, die uns Antworten hätten geben können auf Fragen, die uns beschäftigten zu der kurzen Zeit, die ich als Kleinstkind in dieser Stadt gelebt habe. Kirche und Pfarrhaus waren verschlossen, und ältere Menschen, die sich vielleicht an den Herrn Oberpfarrer Karl-August Fritsch – den Vater meiner Mutter, also meinen Großvater – erinnern konnten, sind uns in keiner der Straßen des Städtchens begegnet. Folglich auch niemand, dem die große damalige Pfarrersfamilie noch im Gedächtnis gewesen wäre. Allstedt war tatsächlich bis auf ein paar Kinder und jüngere Leute menschenleer. Das war schon irgendwie merkwürdig! Und durchaus auch enttäuschend. Den Abstecher von unserer Route nach Leipzig hätten wir uns sparen können.
*
Dann aber passierte im selben Jahr völlig unerwartet eine andere Merkwürdigkeit, die uns später doch einen Einblick gewährte in meine kurze Lebenszeit im Pfarrhaus von Allstedt. Meine Frau und ich verabschiedeten uns nach einer Dienstwoche an der Rezeption des Christlichen Gästehauses AllgäuWeite oberhalb des Rottachsees bei Sulzberg-Moosbach von den Mitarbeiterinnen hinter dem Tresen, als eine der Damen mir einen Umschlag reichte. „Gut, dass wir uns noch sehen, Herr von Seltmann, hier gibt es einen Brief für Sie. Ist gerade mit der Post gekommen.“
„Danke“, gab ich zurück mit der Zusatzbemerkung: „Dann sparen Sie sich die Nachsendung. Und ich hab im Auto was zu lesen von jemandem, den ich gar nicht kenne.“ Der Absender, richtiger die Absenderin, war uns von Seltmanns tatsächlich unbekannt. In Radolfzell am Bodensee kannten wir niemanden. Wer war wohl diese Marlies B.?
Als es auf der Autobahn wenig später ohne Kurven geradeaus ging, öffnete ich den Brief und las ihn meiner Frau vor, die seit vielen Jahren bei allen unseren gemeinsamen Reisen als ausgezeichnete Fahrerin am Steuer unseres Autos saß. Wir beide kamen eine Weile aus dem Staunen nicht heraus: Diese Marlies B. beschrieb sich als eine Frau, die 1944 als siebenjähriges Mädchen mit ihrer Mutter aus einer Stadt im Ruhrgebiet nach Allstedt ausgebombt worden war, wie das damals hieß. An diesem ihrem Zwangswohnort habe sie viele Kontakte gehabt zu der Pfarrersfamilie Fritsch und den vielen Menschen im Haus, besonders zu den Kindern einer der Töchter des Pfarrers, Minni habe sie wohl geheißen. Sie erinnere sich daran, dass sie sich sehr häufig um „Wurstel“, einen kleinen quirligen Jungen, gekümmert habe. Sie habe mit ihm gespielt und ihn in einem schlichten Gefährt durchs Städtchen gefahren oder sei auch mit ihm an der Hand spazieren gegangen. Der kleine Bub habe den Namen getragen, den sie im Prospekt des Gästehauses gelesen habe. Ob es wohl sein könne, dass ich ihr damaliges Kümmerkind sei. Ich möge mich doch bitte bei ihr melden.
Bereits am folgenden Tag rief ich Marlies B. an, um ihr die geäußerte Vermutung zu bestätigen. Ich war tatsächlich das Kümmerkind gewesen, das dem kleinen Mädchen von damals die eigenen tristen Kriegs- und Nachkriegstage erleichtert und erhellt hatte. Wir vereinbarten, dass sie sich für die Teilnahme an unserer nächsten Bibelwoche im Allgäu anmelden würde. Dann hätten wir eine Woche lang Gelegenheit, uns kennenzulernen und immer wieder zu begegnen.
Nach der gemeinsamen Woche mit Marlies B. im Folgejahr hatte ich dann eine Menge erfahren über die vielen Menschen im Pfarrhaus des Städtchens an dem Flüsschen Helme, über das Miteinander von Alten und Jungen, über Freuden und Leiden in den Wirren der Monate nach dem verlorenen Krieg und dem Untergang des Dritten Reiches, über Gegenwarts- und Zukunftsängste wegen der amerikanischen Besatzung in der Stadt und der drohenden Übernahme durch die Russen, über die dann notwendige Flucht nach Westen, über dennoch gepflegte häufige Geselligkeit im Pfarrhaus und rund um die Kirche, über vielfältige Krankheitsnöte im Haus, über Arbeit, Arbeit und noch mal Arbeit in der räumlichen Enge des Hauses, auf dem Grundstück, im Pfarrgarten, in den Straßen und in der Flur des Städtchens …
Es war erstaunlich, was ein damals siebenjähriges Mädchen, das selbst nicht im Haus gewohnt hat, alles aufgenommen und behalten hatte und nach so vielen Jahren wiedergeben konnte. Marlies B. wusste auch noch, dass der Herr Oberpfarrer Anfang September 1945 mit allem Hab und Gut und allen seinen Leuten seinen Dienstort gewechselt hatte, und das zu ihrem eigenen großen Bedauern. Mit dem Auszug der Pfarrhausleute war ihr der kleine „Wurstel“ genommen worden und die mit dem Jungen verbundene Aufgabe. Sie habe danach auch keinerlei Kontakte mit der Pfarrersfamilie mehr gehabt.
Wir von Seltmanns waren uns mit Marlies B. darin einig, dass ihr Blick in den AllgäuWeite-Prospekt kein Zufall gewesen sein konnte, sondern vom Himmel her gelenkt worden war: Unsere Begegnung musste passieren! Denn wer sonst hätte die Lücken meines Wissens über meine kurze Lebenszeit in Allstedt auch nur andeutungsweise füllen können?
Was Marlies B. in den Allgäu-Tagen aus jener Zeit erzählt hatte, fand erstaunlicherweise 2021 seine Bestätigung in den ausführlichen Tagebuchaufzeichnungen meiner Mutter Minni von Seltmann über das Jahr 1945 – ihr letztes Lebensjahr –, die jemand aufgefunden hatte und die meine Schwester Ute in mühevoller Kleinarbeit lesbar und nachvollziehbar gemacht hat. Für all das bin ich meinem Vater im Himmel herzlich dankbar! Auch dafür, dass in dem Tagebuch bereits der Ortsname Müsen und die Person Ruth Werner genannt sind als Zielangabe für die vielleicht notwendige Flucht vor den russischen Besatzern.
Die Verbindung mit meinem „Kümmermädchen“ hat übrigens eine ganze Weile gehalten, bis der Faden vor ein paar Jahren aus unerfindlichen Gründen gerissen ist. Meine erneute Kontaktsuche blieb leider ohne Erfolg.
*
Anstelle der befürchteten Flucht vor der russischen Besatzung gab es Anfang September 1945 den erwähnten Umzug der Großfamilie Fritsch nach Vogelsberg bei Sömmerda an den Ort meiner dritten „Einwohnung“. Eine Erinnerung daran habe ich natürlich nicht, und außer den Informationen im erwähnten Tagebuch meiner Mutter habe ich auch keine. Es muss ein schwieriger und dramatischer Umzug des personen- und güterreichen Haushalts gewesen sein, auch wenn er nur etwa 50 Kilometer weit über Land zu leisten war.
Ich habe auch nur sehr wenige und sehr blasse Erinnerungen an die beiden Jahre, die ich an meinem Lebensort Nummer drei verbracht habe. Bis auf eine Geschichte, mit der ich mich dem „arme Jung“ schon einmal nähere. Warum ist mir wohl gerade dieses Ereignis im Bewusstsein geblieben, während alles andere aus jener Zeit verschütt gegangen ist?
*
Wer in Vogelsberg das Pfarrgrundstück betreten oder verlassen wollte, musste dabei über eine kleine Brücke gehen, die einen Abwassergraben überspannte. In dem floss eine schwarze, übel riechende Brühe still vor sich hin, bis sie irgendwo einen größeren Bach erreichte. Die Brücke hatte auf beiden Seiten ein schlichtes Geländer, an dem sich vorzüglich turnen ließ. Meine drei ältesten Geschwister beherrschten den Aufschwung, den Umschwung und den Überschlag an den eisernen Handläufen, wobei ich „Wurstel“ immer nur zuschauen durfte: „Bleib da weg! Lass das! Du kannst das nicht!“
Wenige Tage vor meiner Abreise an meinen Einwohnungsort Nummer vier habe ich dann aber doch einmal mit meinen kleinen Füßen auf der Brücke ärgerlich aufgestampft: „Ich kann das auch! Ich will jetzt auch mal umschlagen!“
„Dann komm und zeig, was du kannst“, gestand mir Schwester Ingrid zu und hob mich zum Stütz an die Geländerstange.
„Und jetzt Kopf runter und nach vorne rum!“, forderte sie mich auf, während die anderen rhythmisch-musikalisch lauthals lästerten: „Der kann das nicht! Der kann das nicht! Nein, nein, der kann das nicht!“
„Ich kann das wohl!“, schimpfte ich zurück und ließ mich an der Stange auch schon nach vorne fallen. Dabei muss ich das Eisen aber wohl losgelassen haben, denn ich fand mich in voller Länge unten in der schwarzen stinkenden Brühe wieder.
„Ich hab’s doch gesagt, dass der das nicht kann!“, motzte Helmut, der auch „Muck“ hieß, zog mich an den Armen aus dem Morast und schleifte mich zappelnden und zeternden kleinen Kerl einige Meter aufs Pfarrgelände bis zur großen Schwengelpumpe, die vor dem Hauseingang ihren Platz hatte und den Garten mit Brunnenwasser versorgte.
„Pumpen!“, befahl „Muck“ den beiden Mädchen. Ingrid und Gisela kamen dem Auftrag auch sofort nach und bewegten den Schwengel, was das Zeug hielt. Helmut zwang mich derweil mit harter Bruderhand unter den klaren, aber sehr kalten Wasserstrahl. Wenig später war ich pudelnass, aber auch wieder einigermaßen sauber, dafür aber kräftig wütend auf meine drei Geschwister. Die mussten sich ein paar Fußtritte und Boxhiebe von ihrem kleinen Bruder gefallen lassen, ehe der heulend im Haus verschwand, um sich bei der Großmutter oder einer der Tanten Trost zu holen und wohl auch trockene Kleidung.
*
So gegenwärtig, wie mir dieses Ereignis in Vogelsberg geblieben ist, so gegenwärtig ist mir auch meine Ankunft in dem Dorf Müsen über Kreuztal, Kreis Siegen, wo ich als „dä arme Jung“ an dem vierten Ort meines Lebens „eingewohnt“ wurde und wo ich heute immer noch lebe. Hierzu gibt meine Erinnerung wieder Informationen, die im Folgenden nachlesbar sind.
Ich bin also weiterhin im Jahr 1947, in dem Jahr, in dessen Sommer es für mich und vier meiner fünf Geschwister wegen der schwierigen Versorgungslage in jenem Nachkriegs-Hungerjahr keine Heimat mehr gab im Haus meiner Großeltern Fritsch. In ihrer großen Familie mit mehreren jüngeren Geschwistern meiner Mutter, mit Schwiegerkindern, mit mehreren anderen Enkeln und dazu auch noch mit Pflegekindern und weiteren Angehörigen konnte die seit zwei Jahren elternlose Enkelschar trotz aller kleinlandwirtschaftlichen Bemühungen im großen Pfarrgarten nicht mehr hinreichend versorgt werden.
Für die kleinen von Seltmanns gab es keinen Vater mehr, der für den Unterhalt seiner sechs Kinder hätte sorgen können. Der Zweite Weltkrieg hatte – vermutlich im Februar 1945 – auch ihn als sein Opfer gefordert. Wie und wo genau, ist unbekannt geblieben. Offiziell galt unser Vater als vermisst und wurde später für tot erklärt. Es gibt allerdings die Information, mein Vater habe gegenüber seinem österreichischen Schwager geäußert – wie er selbst ein Mann der SS –, dass er sich einer möglichen Verhaftung durch russisches Militär unbedingt entziehen würde. Dafür behielte er auf jeden Fall eine Kugel in seiner Dienstpistole. Die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass sich der Hauptsturmführer Lothar von Seltmann, mein Vater, tatsächlich auf diese Weise am 13. Februar 1945 der Gefangennahme durch die Russen entzogen hat.
Es gab auch keine Mutter mehr, die die Kinderschar mit ihrer Fürsorge hätte umgeben können. Die wilden, wirren und zeitenverändernden Ereignisse desselben Jahres mit dem Ende all dessen, wofür sie mit ihrem Mann gelebt und wofür sie ihre sechs Kinder geboren hatte und gerne noch mehr bekommen hätte, hatten ihr Herz gebrochen. Nichts war ihr über den Führer gegangen, aber alles für ihn. Das große Idol lebte nun nicht mehr, und über den Verbleib ihres „lieben Lottl“ hatte sie seit Monaten keinerlei Informationen. Der damals seuchenhaft auftretenden Krankheit Typhus hatte die noch nicht dreißigjährige Frau im November 1945 nichts entgegenzusetzen. Sie folgte ihrer jüngeren Schwester zwei Wochen nach ihr in die Ewigkeit. Ihre sechs Kinder im Alter zwischen neun Monaten und sieben Jahren – drei Mädchen und drei Jungen – wurden zu Vollwaisen. Sie blieben zunächst in der Obhut der Großeltern und derer, die damals im oben erwähnten thüringischen Vogelsberg mit im Pfarrhaus lebten.
*
Hier sei eine Zwischenbemerkung eingefügt: Es hat mich einmal sehr bewegt, als ich in einem Zeitungsausschnitt der Wochenzeitung „Wiener Samstag“ vom 03.10.1970 – woher ich den habe, vermag ich nicht zu erinnern – folgenden Text fand: „… Auf dem Grabstein daneben las der Besucher: „Ruhestätte des Franz Edlen von Seltmann, Doctors Medicinae und k. k. Kreisphysikers, geboren zu Wels den 11. März 1794, gestorben als Opfer seiner erhabenen Berufspflicht am Typhus den 18. Jänner 1850.““ Dieser Franz Edler von Seltmann war ein Vorfahre aus der direkten Linie meines Vaters, gestorben an derselben Krankheit wie meine Mutter 95 Jahre später. Die Bemerkung auf der Grabinschrift ist für mich ein Beleg dafür, dass die von Seltmanns wohl schon immer besondere soziale Gene in ihrem „blauen“ Blut gehabt haben, Gene der Empathie, der Zuwendung und Fürsorge für andere.
*
Die Pfarrersleute Fritsch ließen auf den Grabstein mit den Namen der beiden Töchter und den Namen zweier 1944 bzw. 1945 gefallener Söhne in bemerkenswertem Glaubensmut eine uralte göttliche Verheißung schreiben. Sie nahmen sie aus einem Brief des biblischen Propheten Jeremia an das Gottesvolk im Elend der babylonischen Verbannung, nachzulesen im gleichnamigen Buch, Kapitel 29, Vers 11. Im Luthertext 1984 steht an dieser Stelle: „Ich weiß wohl, was ich für Gedanken über euch habe, spricht der HERR: Gedanken des Friedens und nicht des Leides.“ Dabei wussten die geplagten Eltern sicher, dass der Vers eine Fortsetzung hatte, auf die sie wohl für die Inschrift auf dem Stein aus Platzgründen verzichten mussten: „… dass ich euch gebe das Ende, des ihr wartet.“ Dazu wird als Anmerkung in meiner Bibel ergänzt: „… des ihr wartet“, heißt wörtlich: „… dass ich euch gebe Zukunft und Hoffnung.“
Die Zukunft für die Enkelschar hieß für die Großeltern, jedem Einzelnen des kleinen Völkchens einen neuen Lebensort zu suchen und zu finden. Ihre Hoffnung dabei war sicher, dass das „Einwohnen“ am neuen Ort erfolgreich sei und das Einleben in neue und bisher unbekannte menschliche Beziehungen und räumliche Verhältnisse gelingen möge und – nach Hermann Hesse – einer „Stufe“ nach oben vergleichbar sei. Die sicher sehr schmerzhafte Trennung von fünf der sechs Enkel war geboten, damit der Unterversorgung im vollen Vogelsberger Haus eine bessere und glücklichere Zukunft entgegengesetzt werden konnte. Wie diese Dinge damals alle organisiert worden sind, entzieht sich meiner Kenntnis. Hätte ich doch nur danach gefragt, solange es jemanden gab, der die Fragen hätte beantworten können. Leider habe ich das versäumt. Freilich hätten die Antworten die neuen Realitäten wohl kaum geändert oder auch nur beeinflusst.
Ingrid, die zweite der Sechserreihe, – 1939 in Wien geboren wie zuvor 1938 Helmut, der Erstgeborene – blieb zunächst in Vogelsberg und behielt ihr Zuhause noch für einige Jahre im Pfarrhaus, bis auch für sie im rheinischen Köln ein neues Zuhause gefunden wurde. Die anderen fünf Geschwister wurden – sicher mit erforderlichen Begleitpersonen – auf ihre notwendigen Reisen geschickt. An deren Zielorten fanden sie sich dann wieder in neuen und zunächst fremden Lebensbedingungen verschiedener Familien und unterschiedlicher Kinderheime: Helmut am Starnberger See; Gisela, 1940 in Lublin geboren als die dritte der Reihe, in einem Kinderheim in Norddeutschland; Ute – 1942 ebenfalls in Lublin geboren – in einer Familie mit vier eigenen Kindern in Oldenburg; Klaus, der Jüngste, geboren 1945 in Wernigerode im Harz, in dem kleinen schwäbischen Dorf Kayh bei Herrenberg in einer Familie, die bereits ein gleichaltriges und ebenso elternloses Mädchen aufgenommen hatte. Welch ein dramatisches Geschehen in der damaligen traurigen Gegenwart.
Ich – „Wurstel“ – fand mich also wieder – es soll Sonntag, der 17. August 1947 gewesen sein – in dem Siegerländer Bergmannsdorf „Müsen über Kreuztal Kreis Siegen“ bei einer jungen Witwe, die ihren Mann auch dem Krieg hatte opfern müssen und die mit den neuen Zeiten und politischen Umbrüchen nach Kriegsende immer noch ihre Mühe hatte. Warum sie mich und gerade mich als Pflegekind aufgenommen hat, habe ich von ihr nie erfahren. Ich kann mich an keine Antwort erinnern auf meine Jahre später gestellten Fragen, die mir eine plausible Erklärung gewesen wäre und die mich zufriedengestellt hätte. Erst weitere Jahre später habe ich die Zusammenhänge meiner Umsiedlung kennengelernt, wenn auch nur oberflächlich und in groben Zügen. Dass es eine Verbindung zu meinen Eltern gegeben hatte, weiß ich – wie oben erwähnt – aus dem Tagebuch meiner Mutter. Auf die Frage, welcher Art diese Verbindung genau gewesen ist, gibt es lediglich Hinweise darauf, dass die gemeinsame Begeisterung für das politische System des Dritten Reiches und für seine(n) Führer die Leute zusammengebracht und beieinander gehalten hat.
*
An meine Reise von Vogelsberg nach Müsen habe ich keine Erinnerung, auch nicht an meine Begleitperson, ohne die ich in meinem frühen Kindesalter die weite Fahrt wohl nicht hätte machen können. Es muss meine Tante Dorothea Fritsch – Tante Dorthi – gewesen sein, eine jüngere Schwester meiner Mutter. Die junge Frau hat einige Tage nach meiner Ankunft in Müsen meine Pflegemutter besucht, um die Angelegenheiten meines Pflegekind-Daseins mit ihr zu regeln. Die beiden Frauen müssen sich auch aus dem genannten Umfeld gekannt haben. Auf ihrer Weiterreise ist meine Tante dann am 4. September 1947 im Alter von erst 23 Jahren sehr tragisch bei einem Verkehrsunfall mit einem belgischen Militärfahrzeug in der Nähe von Hamm in Westfalen zu Tode gekommen. Ihren Namen haben die erneut in die Trauer gestürzten Großeltern Fritsch später auf dem beschriebenen Grabstein ergänzt, auch wenn die „stud. mus. Dorothea Fritsch“ nicht nach Vogelsberg überführt, sondern auf dem Friedhof in Berge bei Hamm in Westfalen beigesetzt worden war.
Diese traurige Geschichte hat mich viele Jahre später sehr bewegt, als ich mit meiner Ulla bei einer Durchfahrt das Grab auf dem Friedhof in Berge besucht habe, um diesem uns kaum bekannten, weil früh zerstörten Leben mit einem Strauß Blumen und mit stillem und auch gesprochenem Gedenken ein wenig späte Ehre zu erweisen. Meine Tante Dorthi, ein vielversprechendes musisches Talent – ein spätes Opfer der vermaledeiten NS-Zeit und des schrecklichen Krieges.
*
Zurück zum 17. August 1947. Meine Ankunft in der Dorfmitte meines Zielortes steht mir zuweilen vor Augen, weil sie sehr merkwürdig verlief und sich mir deshalb besonders eingeprägt hat. Irgendjemand hatte mich irgendwo in den Bus gesetzt, der nach Müsen fuhr. Ich habe keine Erinnerung daran, ob das die genannte Tante Dorthi gewesen ist oder jemand anderes. Ich habe dazu leider nie etwas erfahren.
Nachdem der Bus in der Dorfmitte zwischen der Kirche und dem gegenüberliegenden Gasthof angehalten hatte und ein paar Leute ausgestiegen waren, bedeutete mir der Fahrer gestenreich und in einer merkwürdigen Sprache – das muss Siegerländer Mundart gewesen sein –, ich sei an meinem Ziel angekommen und möge auch aussteigen. Da sei sicher jemand, der auf mich wartete oder der käme, um mich abzuholen.
Ich kleiner Kerl kletterte also aus dem Bus – ohne irgendein Gepäckstück bei mir zu haben. Der kleine Rucksack, den ich bei mir gehabt haben musste, war mir unterwegs abhandengekommen. Wo, wann und wie, wurde nie aufgeklärt. So stand ich also allein an der Haltestelle in der Müsener Dorfmitte, nachdem der komische Bus – der hatte vorne gar keine „Schnauze“, keinen Motorkasten, sondern war ganz flach – weitergefahren war: ein kleiner rundlicher Junge mit Hungerbauch, vier Jahre und drei Monate alt, angezogen mit einer grauen Strickjacke über einem bunten Hemd, eingesteckt in eine kurze Sommerhose, die von schmalen Hosenträgern gehalten wurde. An den Füßen trug ich hohe braune Schuhe, deren Schnürriemen ich selbst noch gar nicht binden konnte und aus denen Stricksöckchen herausschauten. Das weiß ich, weil es Fotos von meinem Ankunftstag gibt.
Aber es war zunächst kein Mensch da, der mich in Empfang genommen hätte. Die anderen Fahrgäste hatten sich alle entfernt, und der Omnibus war weitergefahren. Ich erklomm die Mauer, die das Gelände um die Müsener Kirche heute noch umgibt, und wartete. Auf wen ich wartete, wusste ich damals nicht. Dass mich irgendjemand abholen würde, war mir gesagt worden, von wem auch immer, zumindest zuletzt vom Busfahrer. Wie lange ich auf der Kirchmauer gesessen und gewartet habe, weiß ich auch nicht mehr. Ich erinnere mich aber daran, dass der Bus in der Gegenrichtung wieder vorbeifuhr, ohne dass er noch einmal angehalten hätte, und dass danach irgendwann eine mir unbekannte Frau an der Kirchmauer entlang die Straße heraufgeeilt kam, mich umarmte und auch mit irgendwelchen freundlichen Worten begrüßte und mit „Wurstel“ anredete. Dann ergriff sie meine Hand, um mich mit in ihre Wohnung zu nehmen. Der Weg war nicht weit und führte in dem Haus, das an einem schmalen Gässchen lag, über zwei Treppen nach oben.
Von meinen ersten Tagen bei der Pflegemutter weiß ich noch so viel, dass ich in einem Bett schlafen musste, das von einem so engen Drahtgeflecht begrenzt war, dass meine kleinen Finger kaum in die Maschen hineingreifen konnten. Das bedeutete für mich, dass ich aus diesem Käfig-Bett nicht herausfallen, aber auch nicht alleine aussteigen konnte und darin also regelrecht gefangen war. Auch war ich in den ersten Nächten allein in der Wohnung, weil die Frau, meine neue Mutti – sie war damals in den vorderen Dreißigern –, nachts in einer nahe gelegenen Knopf- und Schnallen-Fabrik arbeitete – „beim Sieper“ hieß das im Dorf. Das tat sie wohl, um sich tagsüber um ihren neuen, kleinen Mitbewohner kümmern zu können. Die Zeit, die sie nach ihrer Schicht vormittags zum Schlafen benötigte, verbrachte ich zumeist bei „Weidkämpersch Minna“, einer älteren Frau mit ihrer Tochter, die der Krieg aus einer Stadt im Ruhrgebiet hierher aufs Land verschlagen hatte, ausgebombt, ähnlich wie Marlies B. Diese beiden Menschen habe ich in guter Erinnerung, weil sie sehr lieb zu mir waren, während ich zu meiner Pflegemutter zunächst keinen rechten Zugang fand. Und sie wohl auch nicht zu mir.
Sie zwang mich immer in selbstgestrickte Unterwäsche aus Schafwolle, die sie „Leibchen“ nannte, die auf der Haut fürchterlich kratzte und mir wehtat. Es stand aber wohl keine andere zur Verfügung. Ich musste immer essen, was auf den Tisch kam, auch wenn es mir nicht schmeckte, weil ich es nicht kannte. Und der Teller musste immer leer gegessen werden, auch wenn ich längst satt war oder auch nur nichts mehr wollte. Da wurde mir manches Mal die Nase zugehalten, damit ich den Mund aufmachte, in den dann das ungeliebte Essen hineingeschoben wurde. Und wehe mir, ich spuckte es wieder aus! Die Milch, die ich täglich bekam, schmeckte mir allerdings sehr gut. Nie zuvor hatte ich solche Milch getrunken, und nie zuvor konnte ich so viel Milch am Tag trinken, wie bei meiner neuen Mutti. Ob ich dieses Wort als Anrede damals schon benutzt habe? Ich glaube eher nicht. Meine richtige Mutter Minni soll ich in Vogelsberg aber so angesprochen haben.
Auf Wegen ins Dorf zu irgendwelchen Besorgungen musste ich immer die Hand meiner Pflegemutter halten und durfte mich nicht frei bewegen. Wenn Leute sie ansprachen oder auch mich, wer ich denn sei und ob ich auch einen Namen hätte und ob es mir in Müsen denn gefiele und, und, und, handelte ich mir regelmäßig böse Blicke, strenge Worte und feste Handgriffe ein, weil ich mich anfangs immer weigerte, Antworten zu geben. Ich verstand die merkwürdige Sprache – „Sejerlänger Platt“ – ja auch kaum. Ich bockte vor allem Fremden und Unbekannten. Mit fortschreitender Zeit wurde ich darin allerdings freier. Ich spürte wohl, dass die meisten Fragesteller es gut meinten mit dem „arme Jung“, der keine richtigen Eltern mehr hatte und der von seinen fünf Geschwistern und von seinen sonstigen Verwandten getrennt aufwachsen musste.
Irgendwann begann ich dann aber doch, Antworten zu geben, und mit der Zeit wurde ich darin so gut und frei, dass ich in meinem Rede-Eifer immer wieder ausgebremst werden musste. Ich entwickelte sogar einen ausgesprochenen Erzähldrang, den ich bald selbst in Mundart gestalten konnte und der ein paar Jahre später in meinen Schulzeugnissen zu der beinahe regelmäßig wiederkehrenden Bemerkung führte: „Lothar ist schwatzhaft.“
*
Meine ersten Freunde gewann ich, als ich ab dem Herbst 1947 in den Müsener Kindergarten gehen konnte. Einer unter vielen zu sein, das gefiel mir wie auch das Programm, das für die große Schar des kleinen Volkes täglich drinnen und draußen angeboten wurde. Singen, Spielen, Geschichten hören, das machte Spaß. Dazu war „Tante Erika“ eine Person, die das Pflegekind, den „arme Jung“, wohl besonders in ihr Herz geschlossen hatte und ihm vielleicht ein bisschen mehr Liebe und Aufmerksamkeit schenkte als Kindern, die ein „normales“ Zuhause hatten. Ich meine, mich daran erinnern zu können. Und dann waren da Hansi und Werner und Günter, die in meiner Nachbarschaft wohnten und mit denen ich mich künftig auch in der kindergartenfreien Zeit treffen konnte, um bei ihrem Zuhause drinnen oder draußen zu spielen – strenge Verhaltensregeln und Maßgaben meiner Pflegemutter jeweils inbegriffen. Die waren freilich zumeist vergessen, wenn die eigene Haustüre von außen geschlossen war, das offene Nachbarschafts- und Dorfgelände vor mir lag und wir Jungen unsere Zeit selbst gestalten konnten. Langweilig wurde uns dabei nie. Hier draußen, außerhalb der eigenen Wohnung und bei den Spielkameraden war Freiheit.
An solche Stunden erinnere ich mich gerne. An die in der Zweizimmerwohnung in „Grüngersch Gässchen“ – so hieß der Platz des Hauses im Dorf – denke ich weniger gerne zurück. Da ging es eng und streng zu, da war ich häufig alleine und fühlte mich eingesperrt. Da musste ich in allem gehorchen, durfte nicht aufmucken und keine Widerworte geben. Da musste ich mich mit dem zufriedengeben, was meine kleine Spielkiste hergab an Bauklötzen, Bilderbüchern, Fahrzeugen.
*
An dieser Stelle greife ich einer späteren Geschichte schon einmal vor, die aus dem damaligen „arme Jung“ einen reich beschenkten machte: Im Kindergarten ist mir nämlich bereits der Jemand begegnet, der in meinem späteren Leben eine oder auch die Hauptrolle spielen sollte. Zu diesem Menschen gibt es ein Narrativ, wie man das heute modern nennt, das ich immer gern erzählt habe, wenn ich das Ehepaar Ulla und Lothar von Seltmann irgendwo vorstellen musste. Das Narrativ ging in seinen Hauptlinien dann jeweils so, wobei sich Variationen aus der jeweiligen Situation ergaben: Bereits an einem der ersten Tage im Müsener Kindergarten fiel mir ein bezopftes Mädchen auf, das wegen einer Unbotmäßigkeit in die Ecke gestellt worden war mit dem Gesicht zur Wand. Damals eine gern geübte Disziplinierungsmethode: Strafstehen! Öffentlich Reue bekunden! Sich vor allen Kindern sichtbar schämen! Das arme Kind! Mein mir angeborenes halbösterreichisches Fürsorgeempfinden konnte es nicht ertragen, dass dieses nette Mädchen auf diese Weise gemaßregelt und bloßgestellt wurde. Ich beschloss damals spontan, mich um die hübsche Kleine zu kümmern und mich ihrer anzunehmen. Was ich dann auch getan habe, zunächst nur in der verbleibenden Kindergartenzeit, danach freilich nicht mehr so intensiv in der gemeinsamen sechsjährigen Volksschulzeit. Dann in Ullas Lehrzeit zur Damenschneiderin bei einer Schwester meiner Pflegemutter, in deren Haus und Nähstube ich ein und aus ging und, und, und … Das hat wieder ein paar Jahre später dazu geführt, dass „Marburgersch Ursula“ – so wurde das Mädchen bis ins Alter entsprechend ihrer Herkunftsfamilie als Tochter von „Marburgersch Emmi“ und Enkelin von Heinrich und Laura Marburger im Dorf eingeordnet – mit mir ein „Geläuf“ angefangen hat – oder ich mit ihr – und dass sie nicht viel später meine Frau geworden ist. Wir beide waren danach einen sehr langen Weg durch dick und dünn, auf grob geschotterten Wegen und vorzüglich befestigten Straßen, in manchen stürmischen Wettern und an vielen sonnigen Tagen miteinander unterwegs. Und das aus unserem Blickwinkel alles von Gott, vor Gott und für Gott: „Vergnügt, erlöst, befreit. Gott hielt in seinen Händen unsre Zeit!“ Welch ein Geschenk! Welch eine Gnade! SDG! Dazu später mehr.
*
Meine Pflegemutter Ruth Werner, geborene Rapp, stammte gebürtig von einem bescheidenen Bauernhof, der seit dem späten achtzehnten Jahrhundert seinen Platz zwischen der „Höh“ und dem kleinen Fließgewässer Rothenbach im Müsener Unterdorf hatte. Seine Länderreihen, bestehend aus Feldern, Wiesen und Waldanteilen – sogenanntem Hauberg –, befanden sich verstreut in den Regionen der weiten hügeligen dörflichen Flur. Die Bearbeitung der zumeist wegen der in der Region praktizierten Realteilung relativ kleinen Grundstücke, von denen die meisten in der Mittelgebirgslandschaft des Siegerlandes auch noch mehr oder weniger starke Hanglage hatten, war recht anstrengend und überwiegend nur in mühsamer Handarbeit zu leisten. Der Landmaschinenpark des kleinen Hofes war folglich gering und begrenzt. Zugarbeit wurde mit Pferden und Kühen betrieben. Motorgetriebene Geräte und Fahrzeuge gab es auf dem Hof im Unterdorf noch kaum. Erst etwa zehn Jahre später wurde ein mit Benzin betriebener Einachsschlepper, ein so genannter „Einachser“, angeschafft, der zum Mähen von Gras und Getreide eingerichtet werden konnte und auch zum Pflügen. Er zog einen Anhänger, auf dem der Fahrer seinen Platz hatte und im Kasten hinter sich irgendeine Ladung transportieren konnte – mit zugedrückten Augen auch einen Menschen.
Das alles und die Menschen, die damit umgingen, lernte ich bald kennen, nachdem ich in „Grüngersch Gässchen“ eingezogen war. Mehrmals in der Woche gab es mit der Pflegemutter einen Gang ins Unterdorf. Sie musste dort zusätzlich zu ihrer Tätigkeit „beim Sieper“ immer wieder bei der Arbeit aushelfen, und ich musste ja schließlich auch ihre Eltern und andere Verwandte kennenlernen und dazu Josef, den Knecht des Hofes. Der Mann war ein „armer Jung“ wie ich; eher ein „armer Mah“, der als erwachsener Mann mit Anfang dreißig nach seiner Entlassung aus französischer Kriegsgefangenschaft im Januar 1947 nach Müsen gekommen war. Der gelernte Landwirt konnte nicht in seine sudetendeutsche Heimat zurückkehren, weil es die nicht mehr gab. Die Tschechen hatten seine Heimatregion platt gemacht und bei seinem elterlichen Hof keinen Stein auf dem anderen gelassen. Ein Kriegskamerad aus dem Nachbardorf Dahlbruch hatte ihn ins Siegerland mitgebracht und auf den Bauernhof in Müsen vermittelt. Dort hatte der fremde ehemalige Landser der deutschen Wehrmacht Unterkunft und Auskommen gefunden.
*
Die Stunden im Unterdorf habe ich immer genossen. Da gab es zwei Pferde in einem kleinen Verschlag am „Bähnchen“ hinterm Haus. Es gab mehrere Kühe und Schweine, die ihre Stallplätze in einem „modernen“ steingemauerten Anbau des alten bäuerlichen Fachwerkhauses hatten. Da gab es unter einer riesigen Eiche Hühner in einem besonderen Häuschen in einem großen Pferch, in dem das gackernde Völkchen gefüttert wurde und wo es scharren und kratzen konnte. Am ansteigenden Weg zu den Hühnern gab es ein Backhaus, das immer wieder auch als solches gebraucht wurde. In seinem Vorraum standen eine kleine Feldschmiede und ein großer Amboss mit den zugehörigen großen und kleinen Werkzeugen, die immer dann benutzt wurden, wenn es auf dem Hof etwas zu reparieren gab und die erforderlichen Eisenteile selbst hergestellt wurden.
Hinterm Haus gab es eine elektrisch betriebene Kreissäge, auf der das Brennholz für die Öfen des Hauses maßgerecht geschnitten und dann im besonderen Holzschuppen gelagert wurde. Auch eine Häckselmaschine war vom „Bähnchen“ aus erreichbar. Sie tat ihr Werk bei der Herstellung von Futter für die Tiere und Streugut für die Ställe. Vor dem Haus gab es die Feierabendbank, ein kleines Gemüsegärtchen und den „Wassergraben“, den Rothenbach, in dem klares Wasser floss und nicht so eine Stinkebrühe wie in dem Bach unter der Brücke vor dem Pfarrhaus in Vogelsberg.
Für mich als kleinem Jungen war das eine paradiesische Welt, die ich immer wieder genoss, wenn ich Zeit im Unterdorf verbringen konnte. In meiner ersten Müsener Zeit ging das nur, wenn meine Pflegemutter mich in ihr Elternhaus mitnahm. Später durfte ich den Weg dann auch allein unter die Füße nehmen. Der Weg durch das Gässchen und über die Stollenhalde wurde mir bald sehr vertraut.
Freude machte es mir auch, wenn ich mit auf die Felder und Wiesen fahren konnte, wobei ich lieber mit dem Knecht Josef unterwegs war als mit Opa Richard, dem Oberhaupt des Hauses und „Kommandant“ aller Dinge. Josef war ein freundlicher Mensch, ruhig in dem, was er machte, sanft und nicht laut. Dagegen war Opa Richard eher rau und polternd, bestimmend und ungeduldig. Das lag wohl daran, dass er seinen rechten Arm nicht benutzen konnte, wie er es gerne getan hätte. Dieser Arm war ihm als Soldat im Ersten Weltkrieg zerschossen worden, was für manche Tätigkeiten sehr hinderlich war. Wenn ich ihm bei einer Arbeit helfen musste, für die er die rechte Hand brauchte, konnte das sehr schwierig werden. Ich stellte mich immer ungeschickt an. Ich konnte doch seine Hand nicht ersetzen und musste doch jeden Handgriff auch erst lernen. Dann fielen häufig harte Worte, und bei mir liefen Tränen. Wenn ich mit Opa Richard irgendwohin fahren sollte, blieb ich lieber auf dem Hof in der Nähe von Oma Lina. Mit der Stiefmutter meiner Pflegemutter verstand ich mich wesentlich besser. Die Frau begegnete mir zumeist mit Wärme und Zuwendung und nahm den „arme Jung“ auch schon mal liebevoll und wohlmeinend in den Arm.
*
Zur Klarheit wieder eine Zwischenbemerkung: In der Familie Rapp gab es meine, deine und unsere Kinder. Das lag daran, dass dem einen seine erste Frau und der anderen der erste Mann gestorben waren und die beiden sich dann zusammengetan hatten. Der Opa Rapp hatte Sohn Bruno und Tochter Ruth mit in die Ehe gebracht, die Oma, verwitwete Bald, den Sohn Richard, und gemeinsam hatten die beiden die Zwillinge Gertrud und Grete. Von denen wohnte allerdings niemand mehr mit im Haus. Deren Wohnplätze nahe der Müsener Dorfmitte bzw. im Nachbarort Ferndorf lernte ich aber auch bald kennen wie auch sie selbst und ihre Familien in ihren unterschiedlichen Denk- und Lebensweisen.
*
Im Unterdorf begegnete ich auch anderen Kindern meines Alters, die ich nicht vom Kindergarten her kannte, mit denen ich mich aber nach und nach anfreundete: Günter, Brigitte, Jürgen, Peter, Gerd, Hartmut … Wenn es möglich war, vertrieben wir uns die Zeit gemeinsam am Wassergraben oder im kleinen „Höh-Wäldchen“, wie der Baumbestand am Hang unweit des Hofes genannt wurde. Wir kletterten auf Bäume, bauten Buden, spielten Versteckenes und Fangenes, wie die Dorfkinder das nannten. Dabei lernte ich sehr bald und schnell die bereits erwähnte Müsener Sprache, eine besondere Form des „Sejerlänger Platt“. Als ich nach Ostern 1949, also in den letzten Apriltagen des Jahres, als „I-Männchen“ in die Schule kam, hatte ich das „Plattschwätze“ bereits so weit intus, als hätte ich ewig hier gelebt.
*
Vor dem nächsten Kapitel noch eine Zwischenbemerkung: Die Tatsache, dass ich die Müsener Mundart beherrschte – und immer noch beherrsche –, hat wesentlich dazu beigetragen, dass ich von der eingesessenen Dorfbevölkerung bald nicht mehr unter die „Flüchtlinge“ oder unter die „Vertriebenen“ gezählt wurde, die in ihren ersten Jahren im Dorf als in ihrer zugewiesenen neuen Heimat keinen leichten Stand hatten und sich um ihre Anerkennung als vollwertige Müsener Mitbürger mühen mussten. Sie waren ja doch manchem Dorfbewohner ungefragt ins vertraute Leben gesetzt worden. Sie beanspruchten Wohnraum, sprachen schwierige Dialekte wie Schlesisch oder Ostpreußisch, lebten zumeist als Katholiken im evangelischen Müsen, mussten anfangs in manchem versorgt werden, stellten Ansprüche, kosteten Geld und was so alles gegen sie angeführt wurde.
Es hat im Dorf eine relativ lange Zeit gedauert, bis sich die Vorbehalte gegen die „Flüchtlinge“ – im Dorf waren die Fremden alle „Flüchtlinge“ – verflacht oder gar aufgehoben hatten. Da musste erst Binners Schmiede an der Hauptstraße funktionieren und Mehls Hühnerfarm am Bocherich. Da musste erst der Geschmack von schlesischen Würstchen und Mohnkuchen wirken, und es mussten sich die Nachbarschaften und die Ortsvereine öffnen und erfahren, dass die Belastung des Dorflebens durch die „Flüchtlinge“ gar nicht so bedeutsam war, sondern dass diese Leute bereit waren, sich selbst zu versorgen, sich einzubringen und zu beteiligen und so das dörfliche Leben zu bereichern. Zugegeben: Die Alten beider Seiten hatten es mit dem Annehmen und Verstehen schwerer als die Jungen. Oder andersherum: Die Jungen hatten es leichter, mit den Vorbehalten umzugehen. Letztlich hat es in den Generationen dann aber doch funktioniert. Und ich für mich bin Müsener geworden, bin es noch und werde es bis zu meinem Ende bleiben.
*
Übrigens: Dass ich nicht von hier war und auch einen Ausweis als Vertriebener besaß, erfuhr jeweils der, der nach meinem Namen fragte und die Antwort auch richtig aufnahm. Das waren freilich meistens erwachsene Leute. Von denen erfuhren es dann auch ihre Kinder, dass dieser „arme Jung“ ein Flüchtlingskind war – mit fortschreitender Zeit zu „Jödes Jung“ geworden, weil er in dem Haus wohnte, das im Dorf „Jödes“ hieß. Wer damals im Dorf mit seinem Hausnamen beschrieben wurde, war anerkannter Müsener, auch wenn sein Name fremd war.
Und der Name von Seltmann war ja nun im Dorf einmal fremd. Dazu hatte der auch noch ein von dabei. – Dass dieses von ein Adelsprädikat war, war manchen Leuten bekannt, weil im Dorf eine Gymnasiallehrerin wohnte mit einem von im Namen. Über dieses vornehme „Fräulein von K.“ wurde immer mit einer besonderen Achtung gesprochen. – Das von in meinem Namen machte mich als Namensträger und meine besondere Geschichte für manche Leute natürlich interessant, was mich damals als Kind allerdings wenig beschäftigt hat. Auch nicht, wie meine Pflegemutter die Dinge jeweils erklärt hat, wenn sie es denn überhaupt erklärt hat. Später, als herangewachsener Mensch habe ich freilich auf diesem von bestanden, gelegentlich auch auf seinem historischen Hintergrund in der Geschichte meiner geadelten österreichischen Verwandtschaft. Aber dazu später mehr.
Seit dem Sommer 1949 wohnte ich an meinem fünften Lebensort. Zur Erinnerung: Mein erster war das polnische Krakau gewesen, die wunderschöne Stadt an der Weichsel, der damals zentrale Ort des sogenannten Generalgouvernements im NS-Staat. Dort wurde ich am 5. Mai 1943 geboren als das fünfte Kind in der Geschwisterreihe. Mein Vater, dessen Vornamen ich trage, hatte auf dem Krakauer Burgberg, dem berühmten Wawel, seine Dienststelle als leitender Mitarbeiter der „VoMi“, der „Volksdeutschen Mittelstelle“, einer Behörde im NS-Staat, die sich um deutsche Menschen jenseits der damaligen östlichen Reichsgrenzen kümmerte. Eine seiner Aufgaben für Volk und Staat war die Organisation und Durchführung der Umsiedlung der Wolhynien-Deutschen von jenseits des Flusses Bug in Ostpolen „heim ins Reich“. Was haben die Siedler damals im strengen Winter 1938/39 nicht alles ertragen und mitmachen müssen, um dem Willen des „Führers“ nach Heimkehr aller Deutschen ins „Reich“ gerecht zu werden. Die Geschichte ist heute noch zum „Frieren“ und zum Erbarmen und Kopfschütteln.
Ich weiß das, weil mein Vater 1941 ein Buch über diese Aktion geschrieben hat, das im Ludwig Voggenreiter Verlag Potsdam als „Tagebuch vom Treck der Wolhyniendeutschen“ veröffentlicht wurde. Das Buch hat mir vor vielen Jahren eine alte Müsenerin geschenkt, die Mitglied der NSDAP und BDM-Mädel gewesen sein soll. Ob sie dieses Buch aus ihrer eigenen NS-Zeit loswerden wollte? Vielleicht war es so. Manche alten Müsener reden heute noch von den „braunen“ Zeiten in unserem Dorf einschließlich von denen in meiner Pflegefamilie.
*