True Love -  - E-Book

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Beschreibung

Dieser Band befasst sich mit einem alltäglichen, zugleich aber gesellschaftlich hochrelevanten Phänomen: der Liebe. In den Beiträgen werden unterschiedliche Beziehungskonstellationen in den Blick genommen, sei es die Beziehung zu geliebten Menschen, die Beziehung zu Tieren, aber auch die Beziehung zwischen Nationen. Die empirische Basis reicht von politischen Dokumenten, Kinderbüchern, Hochzeitsvideos und Opern über romantische Filmdramen, Zoo-Doku-Soaps, Dating-Ratgeber und Trauer-Foren bis hin zu kleinen Texten am Grab. Zentral sind dabei u.a. folgende Fragen: Wie wird Liebe sprachlich und multimodal hergestellt, verhandelt und gefestigt? Wie wird sie kommunikativ gepflegt - auch über den Tod hinaus? Gemeinsam ist allen Beiträgen das Anliegen, Muster der aktuellen wie historischen Liebes- bzw. Beziehungskommunikation herauszuarbeiten.

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Nina-Maria Klug / Sina Lautenschläger

True Love

Sprache(n) der Liebe in Text und Gespräch

DOI: https://doi.org/10.24053/9783823395980

 

© 2024 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KGDischingerweg 5 • D-72070 Tübingen

 

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

 

Alle Informationen in diesem Buch wurden mit großer Sorgfalt erstellt. Fehler können dennoch nicht völlig ausgeschlossen werden. Weder Verlag noch Autor:innen oder Herausgeber:innen übernehmen deshalb eine Gewährleistung für die Korrektheit des Inhaltes und haften nicht für fehlerhafte Angaben und deren Folgen. Diese Publikation enthält gegebenenfalls Links zu externen Inhalten Dritter, auf die weder Verlag noch Autor:innen oder Herausgeber:innen Einfluss haben. Für die Inhalte der verlinkten Seiten sind stets die jeweiligen Anbieter oder Betreibenden der Seiten verantwortlich.

 

Internet: www.narr.deeMail: [email protected]

 

ISSN 1860-7373

ISBN 978-3-8233-8598-1 (Print)

ISBN 978-3-8233-0523-1 (ePub)

Inhalt

True Love. Sprache(n) der Liebe in Text und GesprächLiteraturZeitlichkeit und Online-Dating-Kommunikation: Metatemporale Diskurse über Rhythmen digitaler Interaktion1 Einleitung2 Linguistische Perspektiven auf Online-Dating3 Zeitlichkeit und Rhythmus in (digitalen) Interaktionen4 Metatemporale Diskurse5 Öffentliche Zeitlichkeitsdiskurse über Online-Dating-Kommunikation6 Online-Dating-Coaches auf YouTube6.1 Explorative Fallstudie: Korpus und Methode6.2 Ergebnisse7 FazitBibliografieQuellen (YouTube-Videos, Online-Foren, Lifestyle-Magazine)LiteraturErkämpfte Liebe und programmierte Frauen. Geschlechtsspezifische Ratschläge zur Flirt- und Courtship-Kommunikation1 Einleitung2 Beziehungsaspekte: der Zusammenhang von Sprache und Emotion2.1 Schweigen2.2 Flirt- und Courtship-Kommunikation3 doing gender und Geschlechterstereotype4 Erkämpfte Liebe und programmierte Frauen: geschlechtsspezifische Ratschläge4.1 Prototypische Charakteristika von Ratgebern4.2 Asymmetrische Rollenverteilung und Emotionalisierungsstrategien (Beziehungsaspekt1)4.3 Geschlechtsspezifische Stereotype: Beziehungsaspekt25 FazitBibliografieQuellen (Ratgeber)LiteraturLiebe über den Tod hinaus. Liebe im Kontext von Trauer um Sternenkinder auf Twitter1 Einleitung2 Der Neologismus Sternenkinder3 Korpus4 Twitter als Trauer-Kommunikationsplattform5 Hashtags6 Emojis7 FazitBibliografieVom Lieben im Leben nach dem Tod. Kommunikative Praktiken postmortaler Beziehungspflege am Baumgrab1 Das Leben nach dem Tod1.1 Trauer im Leben nach dem Tod1.2 Trauerarbeit im Leben nach dem Tod2 Continuing Bonds im linguistischen Forschungsinteresse: Praktiken am Baumgrab3 Analysekorpus4 Analyseergebnisse4.1 Postmortale Adressierung und Intimitätskonstitution4.2 Postmortales Lokalisieren des Beziehungsgegenübers4.3 Postmortales Bekennen und Versichern von Liebe5 Am Ende – über das Ende hinausBibliografieDie Liebe, der Tod und das Übernatürliche. Zur Versprachlichung intensiver Gefühle angesichts epistemischer Irritationen1 Einleitung: Die Liebe und das Übernatürliche2 Liebe ist …3 Sterben und Tod als Gegenstand wissenschaftlicher Anomalistik4 Daten und Datenanalyse5 Unsagbarkeit, Unaussprechlichkeit, Unbeschreibbarkeit: Schreiben als Krise5.1 Tabu und Tabubruch5.2 Die Unbeschreibbarkeit des Fühlens und Erlebens5.3 Zur Schwierigkeit der Wiedergabe und Darstellung von Erfahrungen und Träumen5.4 Erlebnisse sind kognitive Geschichten und Re-Konstruktionen5.5 Betroffene erleben eine epistemische Krise, die sie mit der Sprache ringen lässt6 Ein froher Schrecken durchfuhr mich … Das Spektrum der Gefühle zwischen Angst und Dankbarkeit1. Liebe als Motiv, aber nicht als Thema2. Sinn der Ereignisse3. Ambivalenz der Gefühle4. Mitteilungsbedürfnis vs. Tabu5. Angst vor Stigmatisierung6.1 Wahrträume und Hellsichtigkeit mit dem Fokus auf Tod(esfälle)6.2 „Zeichen aus dem Jenseits“: physikalische Anomalien6.3 Nachtod-Kontakte7 FazitBibliografieTrue Love oder erfolgreiche Marketingstrategien? Zum multimodalen Ausdruck der Liebe in Hochzeitsvideos von Influencer:innen auf YouTube1 Einleitung2 Neue Akteur:innen im digitalen Zeitalter: Life Style-Influencer:innen3 Das Kommunikationsangebot (YouTube-)Video4 Korpus und Methodik5 Analyse ausgewählter Hochzeitvideos von Influencerinnen5.1 Akteur:innen5.2 Aufbau der Videos5.3 Funktionen und Themen5.4 Mittel zum Ausdruck der Funktion Liebe zwischen den Partner:innen zeigen6 Hochzeitsvideos: True Love oder Influencer:innen-Marketing?BibliografieQuellen (YouTube-Videos)LiteraturVoi che sapete che cosa è amor … Mozarts musikdramatische Imaginationen von Liebe aus sprachwissenschaftlicher Sicht1 Allgemeine Merkmale von Mozarts musikalischer Sprachgestaltung2 Mozarts Musiktheater aus semiotischer Sicht2.1 Mozarts semiotische Musikkonzeption2.2 Verrätselung und Unbestimmtheit als opernsemiotische Kategorien2.3 Stimmphysiognomie und stimmliche Individuierung2.4 Stimmklangliche Substantialisierung sprachlicher und außersprachlicher Bedeutung3 Musikdramatische Paar- und Beziehungspsychologie. Beispiele und SchlussfolgerungenBibliografieQuellenLiteraturRedebruchstücke, Erinnerungsfetzen. Ein filmischer Diskurs der Liebe ohne Narrativ1 (K)Ein Anfang – ein Fragment2 Eine An-Ordnung von Figuren, ein Szenenmosaik3 Einzigartiges Begehren in einem Repertoire von Floskeln4 Ein sinnlich hervorgebrachter Sinn und ein multiples Subjekt5 Kein Abschluss – ein ZwischenraumBibliografieQuellen (Film)LiteraturTrue Love? Inszenierte Tierliebe in Zoo-Doku-Soaps1 Linguistik und ‚Zootiere‘: Zoo-Doku-Soaps2 Tierliebe zwischen Fakt, Fiktion und Anthropozentrik3 Exemplarische Analysen3.1 „Pfundskur“: Liebe, Konkurrenz und Casting3.2 „Machos“: Männer, die (im Erotikfilm) auf Zebrastuten starren3.3 „Liebesrausch“: Zwischen Natur­dokumentation und Liebesfilm4 SchlussbemerkungenBibliografieQuellenLiteraturLiebeserklärungen für Kinder. Die (Un-)Beschreibbarkeit der Liebe in Kinderbüchern1 Einleitung2 Was ist Liebe?3 Der linguistische Zugriff auf Liebe3.1 Liebe als interaktives Phänomen3.2 Die Erzählstruktur der Kinderbücher über Liebe4 Die Kinderbücher4.1 „Ich hab dich lieb, kleiner Fuchs“4.2 „Die kleine Hummel Bommel“4.3 „Woher kommt die Liebe?“5 Liebe in KinderbüchernBibliografieQuellen (Kinderbücher)LiteraturPraktiken der Vergemeinschaftung in der zwischenstaatlichen Beziehungsgestaltung als Freundschaftsbekundung. Aufgezeigt an den politischen Erklärungen um den deutsch-polnischen Nachbarschaftsvertrag1 Kontext und Verortung2 Politischer Kontext der Verträge3 Zwischenstaatliche freundschaftliche Beziehungsgestaltung aus linguistischer Sicht4 Politische Erklärung in zwischenstaatlichen Beziehungen5 Analyse5.1 Benennungspraktiken: Wie konzeptualisieren die Politiker den Vertrag?5.2 Die Funktionszuschreibung: Welche Funktionen weisen die Politiker dem Vertrag in den deutsch-polnischen Beziehungen zu?5.3 Praktiken zur Konstitution der Wir-Gruppe6 FazitBibliografieQuellen (Erklärungen)Literatur

True Love

Sprache(n) der Liebe in Text und Gespräch

Nina-Maria Klug & Sina Lautenschläger

Fragen nach der Gestaltung interpersonaler Beziehungen rückten spätestens mit der breit rezipierten und zugleich viel kritisierten psychologischen Arbeit von Watzlawick, Beavin und Jackson (1967) zunehmend in den Blick linguistischer Reflexion. Somit wurde – neben der sprachlichen Verfasstheit des zwischenmenschlichen Beziehungsmanagements (vgl. z. B. Holly 1979, 2001, Keller 1977, Sager 1981, Adamzik 1984, 1994, Buchmann/Eisner 1997 u. v. m.) – der Zusammenhang von Sprache bzw. Sprachgebrauch und (spezifischer) Emotion bereits vor Dekaden zum relevanten Gegenstand linguistischer Theoriebildung, Methodenentwicklung und Analyse (vgl. z. B. Fiehler 1986, 1987, Spiegel 1995, Hermanns 1995, Schwitalla 1996 u. a.). Trotz des fortbestehenden linguistischen Forschungsinteresses an der sprachlichen bzw. kommunikativen Genese und Gestaltung von Beziehungen unterschiedlicher Art (vgl. z. B. Schwarz-Friesel 2007, Fiehler 2014, Ortner 2014, Linke/Schröter 2017) wurde ein ganz alltägliches, zugleich aber gesellschaftlich hochrelevantes Phänomen bislang nur peripher berücksichtigt: die Liebe.

Die vergleichsweise geringe Zahl von linguistischen Arbeiten, die sich speziell Aspekten der Liebes(beziehungs)kommunikation zuwenden (vgl. u. a. Leisi 1983, Auer 1988, Döring 1999, Wyss 2000, 2005, 2014, Imo 2012, Mai/Wilhelm 2015), erscheint umso verwunderlicher, als Liebe eine zentrale und besonders starke Beziehungsemotion1 darstellt (vgl. Schwarz-Friesel 2013:67), die für ganz verschiedene Beziehungskonstellationen – und damit mutmaßlich auch für die beziehungsspezifische Kommunikation – grundlegend und bestimmend ist. Zu ihnen lassen sich zwischenmenschliche Beziehungen im erotischen oder platonischen Sinne (also Paarbeziehungen, familiäre oder freundschaftliche Beziehungen) ebenso zählen wie Beziehungen anderer Art, etwa die zu Gott, zu Tieren, zu Musikgruppen oder Sportvereinen, die Beziehung zur eigenen Nation, aber z. B. auch die Beziehung zwischen verschiedenen Staaten.

Gemeinsam ist der liebenden Bezugnahme auf ein personales oder nicht-personales Gegenüber, dass ihre Erwiderung zwar in aller Regel erwünscht oder sogar ersehnt ist, die Liebe jedoch nicht auf Reziprozität angewiesen ist. Vielmehr ist die ,Gegenliebe‘ in bestimmten Konstellationen von Liebesbeziehung gerade nicht zu erwarten bzw. nicht einmal (mehr) möglich. Unter anderem deshalb kann Liebe einerseits als erfüllend, andererseits aber auch als schmerzhaft und quälend empfunden werden. Sie kann von denen, die lieben, in höchstem Maße positiv, aber auch stark negativ beurteilt werden.

 

So vielfältig die Beziehungskonstellationen sind, in denen Liebe eine prägende Rolle spielt, so verschiedenartig können auch die sprachlichen bzw. kommunikativen Praktiken und Strategien des (versuchten) Aufbaus, der Intensivierung und der Pflege, aber auch des Abbruchs einer Liebesbeziehung sein. Mit diesen Strategien und Praktiken gehen je unterschiedliche Weisen des Ausdrucks bzw. der kommunikativen Darstellung von Liebe einher. Kurz gefasst heißt das: So different wie die Beziehungen selbst können damit potenziell auch die Sprachen der Liebe sein, die in Texten und Gesprächen kommunikativ realisiert werden.

Sie sind eng geknüpft an einen kulturell normierten Lernprozess: Wie Menschen im Laufe ihres Lebens Wissen darüber erwerben, bestimmte Körperzustände etwa als Angst oder Freude zu verstehen, so erfahren sie im Umgang mit sich selbst und mit anderen auch, was Zuneigung, Verliebtheit oder Liebe ausmacht. Sie lernen, woran man sie bei sich selbst und bei anderen erkennen kann, wovon sie sich typischerweise erschließen lassen. Somit wird Konventionelles und Musterhaftes angeeignet: Bestimmte Ausdrucks- und Verhaltensformen werden als Emotionsindikatoren (Fiehler 2014:68; s. auch Benthien/Feig/Kasten 2000) wahrgenommen, ganz gleich, ob Liebe tatsächlich empfunden wird oder nicht.

Menschen begegnen im Rahmen ihrer Sozialisation neben der Liebe selbst und ihren verschiedenartigen Formen und Ausprägungen (z. B. elterliche oder partnerschaftliche Liebe) daher auch verschiedenen Sprachen der Liebe und deren beziehungsbezogenem Potenzial. Dieses gibt einen Rahmen von Möglichkeiten vor, in dem sich zu bzw. mit einem Gegenüber in (wahrhaft gefühlter wie auch vorgetäuschter) Liebe, aber auch über Liebe kommunizieren lässt.

Kurzum: Die Mitglieder einer Kultur- und Sprachgemeinschaft erlernen im Hinblick auf die Sprache(n) der Liebe sowie ihren Gebrauch in Texten und Gesprächen die kulturellen Normen, Erwartungshaltungen und auch Regeln der Emotionalität (Hochschildt 1979, Fiehler 1986). Diese beziehen sich z. B. auf die Frage, welche Texte bzw. Textsorten, kommunikativen Gattungen und Kommunikationsformen in spezifischen Situationen und Konstellationen überhaupt genutzt werden können und welche besser nicht genutzt werden sollten (vgl. z. B. Fiehler 2001, 2014). Sie betreffen zudem Aspekte, die auf die Möglichkeiten ihrer konkreten sprachlichen Ausgestaltung abzielen und sich sowohl direkt als auch indirekt manifestieren können. Das Spektrum reicht, je nach konkreter Situation und Beziehungskonstellation, von expliziten gefühlsbezeichnenden Äußerungen wie „Ich liebe dich“ und/oder anderen direkten sprachlichen Gebrauchsformen bis hin zu indirekten Formen des kommunikativen Ausdrucks. Zu ihnen zählen z. B. metaphorisierende oder ironisierende Bezeichnungen, Umschreibungen oder Andeutungen. Sie können sich sogar musterhaft anhand von (Ver-)Schweigen zeigen (vgl. Lautenschläger 2021, 2022).

Damit werden also auch Phänomene tangiert, die sich an der Grenze von Sprache – Nicht-Sprache bewegen. Sie schließen auch Aspekte multimodaler Kommunikation mit ein (vgl. Klug/Stöckl 2016), so z. B. die spezifische Stimm- oder Schriftgestaltung, aber auch den zumeist sprachergänzenden, mitunter sprachsubstituierenden Einbezug von Ausdrucks- bzw. Darstellungsformen nicht-sprachlicher, etwa bildlicher oder musikalischer Art in die Liebeskommunikation (vgl. Klug 2021).

 

Die Beiträge dieses Sammelbandes gehen solchen und weiteren Ausdrucksformen der Sprache(n) der Liebe in Text und Gespräch auf den Grund.

Florian Busch widmet sich anhand von Online-Diskursen in Lifestyle-Magazinen, Online-Foren und YouTube-Videos von Dating-Coaches der Bedeutung von Zeitlichkeit in interpersonaler Kommunikation. Gerade bei sich anbahnenden romantischen Beziehungen spielt die Frage, innerhalb welcher Zeitspanne eine via Messenger versendete Nachricht nicht nur gelesen, sondern auch beantwortet wird, eine besondere Rolle. Zeitlichkeit wird dabei als ein äußerst relevantes Metazeichen mit beziehungsprägender Wirkkraft verstanden, das in den analysierten Kommunikationsformen unterschiedlich valorisiert wird.

Sina Lautenschläger befasst sich ebenfalls mit Online-Diskursen, bezieht sich aber auf Ratgeber-Websites, die sich mit der Beantwortung der Frage Wie erobere ich sein Herz? bzw. Wie erobere ich ihr Herz? beschäftigen. Neben der generellen Auseinandersetzung mit der Textsorte Ratgeber wird dabei unter text- und genderlinguistischer Perspektive betrachtet, welche Liebes- und Flirt-Normen in den Ratschlägen implizit wie explizit zum Vorschein kommen und welche Manifestationen als geschlechtsspezifisch angemessen gelten, um das begehrte Gegenüber erfolgreich umwerben zu können.

Wie sehr Liebe mit Tod und Trauer in Verbindung steht und dass interpersonale Liebeskommunikation mit dem Tod eines Beziehungsgegenübers nicht zwangsläufig ihr Ende findet, veranschaulichen gleich drei Beiträge im Band.

Christina Margrit Siever beschreibt, wie Eltern von sogenannten Sternenkindern, also von Kindern, die vor, während oder nach ihrer Geburt verstorben sind, ihrer auf Liebe basierenden Trauer in multimodalen Tweets Ausdruck verleihen. Dabei bezieht sie sich insbesondere auf die verwendeten Hashtags und deren Funktionen, die über eine bloße Verschlagwortung hinausgehen, sowie auf den musterhaften Gebrauch von Emojis im Rahmen einer Liebeskommunikation, die über den Tod des Kindes hinausreicht.

Nina-Maria Klug betrachtet Texte, die von Hinterbliebenen erlaubter- und unerlaubterweise an den Gräbern ihrer Verstorbenen in einem Bestattungswald platziert wurden. Sie arbeitet heraus, wie Hinterbliebene ihre (bleibende) Liebe zu und gegenüber den Toten textbasiert, d. h. sprachlich wie auch multimodal, bekennen sowie versichern und in welcher Art und Weise sie die Beziehung zur verstorbenen Person auch nach deren Tod kommunikativ pflegen und aufrechterhalten.

Lisa Rhein zeigt auf Basis von Briefen und E-Mails aus der Fallsammlung der Parapsychologischen Beratungsstelle in Freiburg (PPB), wie Menschen mit außergewöhnlichen Erfahrungen umgehen und wie sie ihre Gefühle als Reaktionen auf diese Erlebnisse zum Ausdruck bringen. Die Erfahrungen beziehen sich entweder auf den befürchteten, oder aber bereits erlittenen Verlust einer geliebten Person und lassen sich in die Bereiche Nachtod-Kontakte, Zeichen aus dem Jenseits sowie Wahrträume und Hellsichtigkeit mit dem Fokus auf Tod(esfälle) unterteilen.

Tanja Škerlavaj greift Fragen der authentischen Darstellung wie auch der Inszenierung von ‚wahrer Liebe‘ im Zusammenhang mit Eheschließungen auf, die deutsche Lifestyle-Influencerinnen in ihren YouTube-Hochzeitsvideos mit der Netz-Öffentlichkeit teilen. Sie beleuchtet aus textbezogener, multimodalitätsorientierter Perspektive sprachliche und nicht-sprachliche Mittel, durch die Liebe in den analysierten Videos ausgedrückt wird. Dabei findet die Frage nach der Rolle von Liebesinszenierungen im Rahmen des Selbstmarketings von Influencerinnen Berücksichtigung.

Matthias Attig wendet sich in seinem Beitrag gleichfalls multimodalen Aspekten der Darstellung und Deutung von Liebe zu, mit spezifischem Fokus auf Opern Mozarts. Ausgehend von einer semiotischen Musikkonzeption reflektiert er die Rolle und das symbiotische Zusammenspiel von Sprache, Stimme und Musik, aber auch von (gestischer) Interaktion der Charaktere und zeigt so, wie Liebesbewusstsein und Liebeserfahrung in der musikdramatischen Inszenierung erfahrbar, spürbar und so auch begreifbar werden.

Dorothea Horst beleuchtet unter Berücksichtigung von Multimodalität und Multimedialität die Vielfalt und Uneindeutigkeit von Liebe bzw. von Liebeskonzeptionen im Diskurs. Die Grundlage ihrer Reflexion bilden der Hollywood-Spielfilm „Eternal Sunshine of the Spotless Mind“ (Michel Gondry 2004) und Roland Barthes‘ philosophische Abhandlung „Fragments d’un discours amoureux“ (1977). In der Analyse stellt sie auch das Wechselspiel von rekurrenten Mustern und konkreten situativen Praktiken heraus, die den Liebesdiskurs sinnlich erfahrbar machen – und zwar medienspezifisch.

Pamela Steen geht medien- und gesprächslinguistisch der Frage nach, wie Tierliebe in Zoo-Doku-Soaps sprachlich und multimodal dargestellt wird. Mit Rekurs auf die Tierlinguistik erörtert sie, welches Mensch-Zootier-Verhältnis sich in den Soaps manifestiert und in welcher Art und Weise dies kommunikativ realisiert wird. Dabei kommt der sprachlichen Rahmung durch die Off-Kommentare eine besondere Bedeutung zu. In ihrer Analyse zeigt sie, wie Vorstellungen menschlicher, romantischer Liebe auf die Zootiere übertragen werden und dass dabei naturalisierte und anthropomorphisierende Gender-Aspekte eine übergeordnete Rolle spielen.

Kristin Kuck entfaltet Eigenschaften der Liebeskommunikation ebenfalls unter Bezugnahme auf Tiere. Konkret betrachtet sie Kinderbücher, in denen anthropomorphisierten Tieren die Rolle von Mittler*innen des Konzepts Liebe für Kinder zugewiesen wird. Sie arbeitet der narrativen Themenentfaltung folgend die Ausdrucksformen, Manifestationen und Thematisierungen sprachlicher und bildlicher Art heraus, mit denen Kindern Liebe in den Texten nähergebracht und erklärt wird. Dabei wird auch die zentrale Rolle des Unbeschreibbarkeits-Topos herausgestellt, vor dessen Hintergrund Liebe standardisiert mystifiziert und auch sakralisiert wird.

Waldemar Czachur und Steffen Pappert schließlich heben am Beispiel des deutsch-polnischen Verhältnisses die Rolle der Sprache für die zwischenstaatliche Beziehungsgestaltung hervor. Auf Grundlage der politischen Erklärungen um den deutsch-polnischen Nachbarschaftsvertrag 1991 arbeiten sie nicht nur Praktiken der Inszenierung bilateraler Vergemeinschaftung und der Konstitution zwischenstaatlicher Beziehungen heraus, sondern auch Vergemeinschaftungspraktiken, die der Konstitution von Wir-Gruppen dienen und denen in zwischenstaatlichen Relationen ein besonderes beziehungsgestalterisches Potenzial zukommt.

 

Wie die knappen Zusammenfassungen der Einzelbeiträge zeigen, weisen die Untersuchungsgegenstände, die in diesem Band behandelt werden, ein breites Spektrum auf. Ihre empirische Basis reicht von politischen Dokumenten, Kinderbüchern, Hochzeitsvideos und Opern über romantische Filmdramen, Zoo-Doku-Soaps, Dating-Ratgeber und Trauer-Foren bis hin zu kleinen Texten am Grab. Obwohl darüber hinaus auch die methodischen Zugriffe der Einzelbeiträge variieren, teilen sie sich eine Gemeinsamkeit: Alle Beiträge arbeiten Muster der Liebes- bzw. Beziehungskommunikation heraus. Die Frage, wie Liebe sprachlich und multimodal hergestellt, beschrieben, verhandelt, gefestigt und (sogar über den Tod hinaus) gepflegt wird, steht beitragsübergreifend im Zentrum des jeweiligen Interesses.

 

Wir danken Kersten Sven Roth (Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg) sehr herzlich für die Unterstützung bei der Finanzierung dieses Bandes.

Literatur

Adamzik, Kirsten (1984). Sprachliches Handeln und sozialer Kontakt. Zur Integration der Kategorie „Beziehungsaspekt“ in eine sprechakttheoretische Beschreibung des Deutschen. Tübingen.

Adamzik, Kirsten (1994). Beziehungsgestaltung in Dialogen. In: Fritz, Gerd/Hundsnurscher, Franz (Hrsg.) Handbuch der Dialoganalyse. Tübingen, 357–374.

Auer, Peter (1988). Liebeserklärungen. Oder: Über die Möglichkeiten, einen unmöglichen Handlungstyp zu realisieren. Sprache und Literatur 61, 11–31.

Benthien, Claudia/Fleid, Anne/Kasten, Ingrid (Hrsg.) (2000). Emotionalität. Zur Geschichte der Gefühle. Köln.

Buchmann, Marlis/Eisner, Manuel (1997). Selbstbilder und Beziehungsideale im 20. Jahrhundert. In: Hradil, Stefan (Hrsg.) Differenz und Integration. Die Zukunft moderner Gesellschaften. Verhandlungen des 28. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in Dresden 1996. Frankfurt a. M., 343–357.

Döring, Nicola (1999). Romantische Beziehungen im Netz. In: Thimm, Caja (Hrsg.) Soziales im Netz. Wiesbaden/Opladen, 39–70.

Fiehler, Reinhard (1986). Zur Konstitution und Prozessierung von Emotionen in der Interaktion. In: Kallmeyer, Werner (Hrsg.) Kommunikationstypologie. Handlungsmuster, Textsorten, Situationstypen. Jahrbuch 1985 des Instituts für Deutsche Sprache. Düsseldorf, 280–325.

Fiehler, Reinhard (1987). Zur Thematisierung von Erleben und Emotion in der Interaktion. Zeitschrift für Linguistik 8:5, 559–572.

Fiehler, Reinhard (2001). Emotionalität im Gespräch. In: Brinker, Klaus et al. (Hrsg.) Text- und Gesprächslinguistik. Ein internationales Handbuch zeitgenössischer Forschung, Bd. 2. Berlin/New York, 1425–1438.

Fiehler, Reinhard (2014). Wie man über Trauer sprechen kann. Manifestation, Deutung und Prozessierung von Trauer in der Interaktion. In: Plotke, Seraina/Ziem, Alexander (Hrsg.) Sprache der Trauer. Verbalisierungen einer Emotion in historischer Perspektive. Heidelberg, 49–76.

Hermanns, Fritz (1995). Kognition, Emotion, Intention. Dimensionen lexikalischer Semantik. In: Harras, Gisela (Hrsg.) Die Ordnung der Wörter. Kognitive und lexikalische Strukturen. Berlin/New York, 138–178.

Hochschild, Arlie Russell (1979). Emotion Work, Feeling Rules, and Social Structure. American Journal of Sociology 85:3, 551–575.

Holly, Werner (1979). Imagearbeit in Gesprächen. Zur linguistischen Beschreibung des Beziehungsaspekts. Tübingen.

Holly, Werner (2001). Beziehungsmanagement und Imagearbeit. In: Brinker, Klaus et al. (Hrsg.) Text- und Gesprächslinguistik. Ein internationales Handbuch zeitgenössischer Forschung, Bd. 2. Berlin/New York, 1382–1393.

Imo, Wolfang (2012). Fischzüge der Liebe: Liebeskommunikation in deutschen und chinesischen SMS-Sequenzen. Linguistik Online 56:6. Abrufbar unter: https://bop.unibe.ch/linguistik-online/article/view/6580/9165 (Stand: 30.09.2023)

Keller, Rudi (1977). Kollokutionäre Akte. Germanistische Linguistik 1–2, 4–50.

Keller, Rudi (1995). Zeichentheorie. Zu einer Theorie semiotischen Wissens. Tübingen/Basel.

Klug, Nina-Maria (2021). (Afro)Deutschsein. Eine linguistische Analyse der multimodalen Konstruktion von Identität. Berlin/Boston.

Klug, Nina-Maria/Stöckl, Hartmut (Hrsg.) (2016). Handbuch Sprache im multimodalen Kontext. Berlin/Boston.

Lautenschläger, Sina (2021). Willst du gelten, mach dich selten: Tabu und Schweigen in interpersonalen Beziehungen. In: Kuck, Kristin (Hrsg.) Tabu-Diskurse. Aptum. Zeitschrift für Sprachkritik und Sprachkultur 2, 212–229.

Lautenschläger, Sina (2022). Schweigen in einer digitalen Welt. Sprechen & Kommunikation – Zeitschrift für Sprechwissenschaft, 19–36. Abrufbar unter: https://www.sprechwissenschaft.org/wissenschaft/schweigen-digitale-welt (Stand: 30.09.2023)

Leisi, Ernst (1983). Paar und Sprache. Heidelberg.

Linke, Angelika/Schröter, Juliane (Hrsg.) (2017). Sprache und Beziehung. Berlin/Boston.

Mai, Lisa/Wilhelm, Judith (2015). Ich weiß, wann du online warst, Schatz. Die Bedeutung der WhatsApp-Statusanzeigen für die Paarkommunikation in Nah- und Fernbeziehungen. Marburg.

Ortner, Heike (2014). Text und Emotion. Theorie, Methode und Anwendungsbeispiele emotionslinguistischer Textanalyse. Tübingen.

Sager, Sven Frederik (1981). Sprache und Beziehung. Linguistische Untersuchungen zum Zusammenhang von sprachlicher Kommunikation und zwischenmenschlicher Beziehung. Tübingen.

Schwarz-Friesel, Monika (2007). Sprache und Emotion. Tübingen/Basel.

Spiegel, Carmen (1995). Streit. Eine linguistische Untersuchung verbaler Interaktionen in alltäglichen Zusammenhängen. Tübingen.

Watzlawick, Paul/Beavin, Janet H./Jackson, Don D. (1967). Pragmatics of Human Commnication. A Study of Interactional Patterns, Pathologies, and Paradoxes. New York.

Wyss, Eva L. (2000). Intimität und Geschlecht. Zur Syntax und Pragmatik der Anrede im Liebesbrief des 20. Jahrhunderts. In: Elmiger, Daniel/Wyss, Eva L. (Hrsg.) Sprachliche Gleichstellung von Frau und Mann in der Schweiz. La féminisation de la langue en Suisse. La fem­mini­li­zzazione della lingua in Svizzera. L’egualitad linguistica da dunna ed um en Svizra. (Bulletin VALS/ASLA 72), 187–210.

Wyss, Eva L. (2005). Leidenschaftlich eingeschrieben. Schweizer Liebesbriefe. Zürich.

Wyss, Eva L. (2014). Communication of Love. Mediatized Intimacy from Love Letters to SMS. Interdisciplinary and Historical Studies. Bielefeld.

Zeitlichkeit und Online-Dating-Kommunikation:

Metatemporale Diskurse über Rhythmen digitaler Interaktion

Florian Busch

Abstract: Der Beitrag widmet sich den metapragmatischen Diskursen rund um Zeitlichkeit und Rhythmus in der Online-Dating-Kommunikation. Wie viel Zeit vergeht, bis eine Nachricht nicht nur gelesen, sondern auch beantwortet wird, wird gerade in Kontexten sich anbahnender romantischer Beziehungen als Metazeichen interpretiert. Vor diesem Hintergrund liefert der Beitrag eine Analyse chrononormativer Ideologien, auf deren Basis Akteur:innen Rhythmus als kommunikativ bedeutsam konstruieren. Der Beitrag zeichnet anhand der Diskurse in Lifestyle-Magazinen, Online-Foren und YouTube-Videos nach, welche Diskurspositionen den Umgang mit Zeitlichkeit in der digitalen Liebeskommunikation sozial valorisieren, in welcher Weise temporale Normen verhandelt werden und wie Rhythmen soziale Indexikalität zugeschrieben wird. Der Beitrag argumentiert für die Beschäftigung mit der Zeichenhaftigkeit von Zeit und weitet das diskurslinguistische Interesse an Kommunikationsideologien auf metatemporale Diskurse aus.

 

Keywords: Zeitlichkeit, Rhythmus, digitale Interaktion, Online-Dating, Metapragmatik, Kommunikationsideologie, Korpuslinguistik, Diskurslinguistik

1Einleitung

Dass Aspekte der Zeitlichkeit von Online-Dating-Kommunikation für Nutzer:innen entsprechender Plattformen von zentralem Belang sind, zeigt ein Blick in die Online-Foren der zwei großen Dating-Portale Parship und Elitepartner.1 Dort finden sich Diskussionen, die wie folgt betitelt wurden und mit denen in den vergangenen zehn Jahren immer wieder zur expliziten Reflexion über die angemessene Wartezeit auf Antwortnachrichten eingeladen wurde:

(1)

Wie lange gebt ihr einen Mann Zeit um auf Whatsapp zu antworten? (Parship-Forum, 12.04.2021)

(2)

whatsapp-Kontakt – wie lange auf Antwort warten? (Parship-Forum, 28.10.2018)

(3)

Wie schnell sollte eine Antwort kommen? (Elitepartner-Forum, 07.05.2020)

(4)

Meine Bekanntschaft lässt sich viel Zeit mit Antworten (Elitepartner-Forum, 25.08.2014)

Solche öffentlichen Zeitlichkeitsdiskurse über Online-Dating-Kommunikation im Speziellen und Liebeskommunikation im Allgemeinen, in denen der temporalen Struktur von digitalen Nachrichtenwechseln kommunikative Bedeutungen zugewiesen bzw. temporale Normen verhandelt werden, stehen im Zentrum dieses Beitrags. Grundsätzlicher wird es mir im Folgenden darum gehen, einer Zeichenhaftigkeit von Zeit in digitalen Interaktionen auf die Spur zu kommen, die im Kontext von Online-Dating-Praktiken zwar besonders häufig explizite Reflexion erfährt, aber auch in digitaler Kommunikation abseits romantischer Partner:innensuche eine wichtige semiotische Ressource darstellt. Denn wie viel Zeit vergeht, bis eine Textnachricht nicht nur gelesen, sondern auch beantwortet wird, hat auch in anderen kommunikativen Beziehungskonstellationen das Potenzial, als sozial und kommunikativ bedeutsamer Kontextualisierungshinweis interpretiert zu werden.

Dass öffentliche Diskurse über Zeitlichkeit und digitale Interaktion dennoch häufig auf die soziale Praxis des Online-Dating abheben, mag verschiedene Gründe haben. Zuvorderst spielen hierbei sicher die für Online-Flirts konstitutive Vagheit, spielerische Ambivalenz und grundsätzliche semantische Offenheit eine entscheidende Rolle:

Neben der Unklarheit über die „wirkliche“ Identität des Kommunikationspartners soll auch vage bleiben, ob und wann der Brief [bzw. die Nachricht, FB] gelesen wird. Ebenso denkt man in diesem Szenario die Möglichkeit der ausbleibenden Antwort mit. So bleibt der Zustand unsicher und voller Spannung, offen, ob die Kommunikation um einen weiteren vieldeutigen Text ergänzt würde. (Wyss 2010:112)

Diese andauernde Vieldeutigkeit erregt so aber auch das gegenläufige Bedürfnis nach metakommunikativem Diskurs (sei dies im Freundeskreis oder eben in öffentlichen Online-Foren), in dem sich Akteur:innen metapragmatische Vereindeutigung erhoffen und ihre Flirt-Kommunikation auf den Prüfstand stellen. Im Zuge dessen stellt sich dann oft auch die Frage, wie viel Zeit sich das kommunikative Gegenüber zum Antworten nimmt und welche Schlüsse aus dieser Zeitspanne zu ziehen seien.

Der vorliegende Beitrag wird dieser Aushandlung von Indexikalität der Zeitlichkeit in Online-Dating-Interaktionen auf den Grund gehen und gliedert sich für diesen Zweck in sieben Abschnitte. Nachdem in Abschnitt 2 Online-Dating-Kommunikation zunächst als linguistischer Forschungsgegenstand vorgestellt wird, ist Abschnitt 3 jener Forschungsliteratur gewidmet, die sich einerseits grundsätzlich mit der Rolle von Zeitlichkeit und Rhythmus in Interaktionen auseinandersetzt, sowie andererseits bereits Rhythmus als semiotische Ressource in digital-vermittelten Interaktionen herausarbeiten konnte. In Abschnitt 4 verengt sich die Diskussion dann auf die Rolle metatemporaler Diskurse bei der Herstellung interaktional relevanten Vorwissens, Abschnitt 5 nimmt schließlich dezidiert metatemporale Diskurse über Online-Dating-Interaktionen in den Blick und stellt zwei zentrale Diskurspositionen dar, die sich in öffentlichen Online-Beiträgen beobachten lassen. Abschnitt 6 fokussiert vor dieser Hintergrundfolie dann eine spezifische Akteur:innengruppe, deren Positionen im Metadiskurs besonders sichtbar sind: Online-Dating-Coaches auf YouTube. Anhand eines Korpus aus Transkriptionen von YouTube-Videos eben dieser ‚Coaches‘ legt der Beitrag die kommunikationsideologischen Annahmen offen, auf deren Basis hier metatemporale Handlungsempfehlungen für eine ‚erfolgreiche‘ Online-Dating-Kommunikation gegeben werden. Abschnitt 7 rekapituliert schließlich die zentralen Ergebnisse.

2Linguistische Perspektiven auf Online-Dating

Ein Drittel aller Internetnutzer:innen in Deutschland macht Gebrauch von Online-Dating-Angeboten (vgl. Bitkom Research 2022:o.S.). Die Hoffnung, eine:n Partner:in im Netz zu finden, ist dabei in den verschiedenen Altersgruppen ähnlich ausgeprägt. Sowohl bei den 16- bis 29-Jährigen als auch bei den 50- bis 64-Jährigen nutzt jede:r Dritte entsprechende Anwendungen; bei 30- bis 49-Jährigen liegt der Wert sogar bei 39 % (vgl. Bitkom Research 2022:o.S.). Seit dem Aufkommen von ersten Online-Dating-Websites in der Mitte der 1990er-Jahre hat sich die Suche nach romantischen Beziehungen im Netz als eine alltägliche Praxis in der Gesamtbevölkerung etabliert (vgl. Bergström 2022) und kann als wesentlicher Ausdruck einer Mediatisierung intimer Kommunikation verstanden werden (vgl. Krotz 2014).

Gleichzeitig ging diese weitreichende Entwicklung mit einer enormen Ausdifferenzierung einher. Medientypologisch lässt sich mindestens unterscheiden zwischen Portalen mit Online-Kontaktanzeigen, die Nutzer:innen mittels einer Suchfunktion durchstöbern können, und Online-Partner:innenvermittlungen, bei denen durch sogenanntes ‚Matching‘ vom System potenzielle Partner:innen vorgeschlagen werden (vgl. Aretz et al. 2017:9). Zudem differenzieren sich Online-Dating-Angebote hinsichtlich der sozialen Gruppen aus, die sie als Nutzer:innen adressieren (etwa in Bezug auf Alter, sexuelle Orientierung oder subkultureller Zugehörigkeit), sowie in Bezug zu den primären Nutzungsmotiven, die von der Suche nach einem temporären Online-Flirt oder unverbindlichen Sexualkontakten bis hin zum Interesse an einer dauerhaften Beziehung reichen können.

Bei allen Unterschieden, die es also gemeinhin verbieten, von dem Online-Dating zu sprechen, gleichen sich die allermeisten Online-Dating-Angebote doch zumindest darin, dass die Kommunikation zwischen Nutzer:innen primär schrift-basiert vonstatten geht. Dies betrifft zum einen das Erstellen von Profilseiten, auf denen sich die Nutzer:innen potenziellen Partner:innen vorstellen und auf denen neben der Präsentation von Fotos auch schriftlich Auskunft über die eigene Person und Absichten auf der Plattform gegeben wird. Zum anderen läuft auch die Kontaktaufnahme sowie die erste anbahnende Kommunikation in der Regel mittels geschriebener Textnachrichten ab. Viele Plattformen stellen ihren Nutzer:innen hierfür Messenger-Systeme zur Verfügung, in denen sich die versendeten Mitteilungen beider Beteiligten in einem chronologisch geordneten Bildschirmprotokoll nachvollziehen lassen, ähnlich wie dies auch von mobilen Messenger-Apps wie zum Beispiel WhatsApp oder Telegram dargestellt wird. Eine solche dyadische Online-Dating-Kommunikation lässt sich in Anschluss an Beißwenger (2020) als textformen-basierte Interaktion fassen. Zwar unterscheidet sich diese Kommunikation aufgrund der zeitlich und räumlich entkoppelten Produktions- und Rezeptionssituationen sowie der schriftlichen Medialität strukturell von synchronisierten Face-to-Face-Interaktionen. Mit Blick auf das kollaborative Handeln der Beteiligten, die sequenzielle Verkettung ihrer Beiträge in der Zeit (die untereinander durch konditionelle Relevanzen in Bezug stehen) sowie die Konstruktion eines geteilten Verweisraumes lässt sich aber durchaus von Interaktionalität im engeren Sinne sprechen (vgl. Imo 2015:25).

Wie es Menschen nun sowohl bei dem Erstellen ihrer monologischen Profiltexte als auch im Zuge solcher textformen-basierten Interaktionen gelingt (oder häufig auch nicht gelingt), romantische und/oder sexuelle Beziehungen zu erschreiben, welche schrift-basierten Praktiken sie also zum Erreichen ihrer kommunikativen Ziele ausbilden, ist dabei eine gleichermaßen gesellschaftlich relevante wie auch sprachwissenschaftlich faszinierende Fragestellung. Dementsprechend hat sich in den vergangenen Jahren eine übersichtliche, aber vielfältige linguistische Forschungsliteratur akkumuliert, die sich mit Sprachgebrauch im Kontext des Online-Dating auseinandersetzt. So untersuchen Studien zum einen, welche sprachlichen Mittel als typisch für die von Nutzer:innen erstellten Profilseiten gelten können (vgl. Toma/Hancock 2012, Dürscheid 2017, van der Zanden 2021, Bogetić 2021, Thompson 2022). Zum anderen nehmen Arbeiten den interaktionalen Austausch zwischen den Nutzer:innen in den Blick und zeichnen nach, mit welchen sprachlichen Strategien Beteiligte auf Online-Dating-Plattformen soziale Beziehungen eingehen, aufrechterhalten und transformieren (vgl. u. a. Jones 2005, 2013, Del-Teso-Craviotto 2008, King 2011, Schoendienst/Dang-Xuan 2011, Marx 2012, Huang/Hancock 2021, Licoppe 2021).

Im vorliegenden Beitrag knüpfe ich nun eher an diesen interaktionsanalytischen Forschungsstrang an, indem auch mich die kommunikativen Praktiken in dyadischen Online-Dating-Interaktionen interessieren. Anders als in den angeführten Studien wird hierbei allerdings der öffentliche Metadiskurs, der diese Online-Praktiken betrifft, im Zentrum einer metapragmatischen Analyse stehen (vgl. Thurlow 2017, Droz-dit-Busset 2022). Es wird also aus einer kritisch-diskursanalytischen Perspektive rekonstruiert, in welcher Weise verschiedene Akteur:innen die kommunikationsideologische Frage verhandeln, wie Online-Dating-Interaktionen ablaufen sollten – und welche sozialen und kommunikativen Bedeutungen Abweichungen von diesen diskursiven Normsetzungen zuzuschreiben seien. Metapragmatische Analysen dieser Art, die kommunikatives Handeln untersuchen, das seinerseits auf kommunikatives Handeln verweist (vgl. Spitzmüller 2013:264), können dabei an interaktionsanalytische Ansätze rückgebunden werden, indem sie einen ethnographischen Zugang zu Wissensbeständen eröffnen, auf deren Basis Akteur:innen in Online-Dating-Kontexten kommunikativ handeln. So werden in Metadiskursen nämlich solche Handlungserwartungen explizit, die die Produktion und Rezeption von Textnachrichten maßgeblich bedingen (können). Von besonderem Interesse wird dabei im Folgenden vor allem sein, welche temporalen Normen die Diskursbeteiligten für Interaktionen konstruieren und wie diese normativen Erwartungen dann eine Indexikalität temporaler Gestalten ermöglichen – wie also Zeitlichkeit und Rhythmus zur interaktionalen Ressource in der Online-Dating-Kommunikation werden.

3Zeitlichkeit und Rhythmus in (digitalen) Interaktionen

Schon früh hat die Interaktionale Linguistik darauf aufmerksam gemacht, dass sich die strukturellen Merkmale sprachlicher Interaktionen vor allem auf deren Prozesshaftigkeit zurückführen lassen und Zeitlichkeit dementsprechend eine zentrale Dimension linguistischer Forschung sein sollte (vgl. Auer et al. 1999, Goodwin 2002, Hausendorf 2007, Hopper 2011; Deppermann/Günthner 2015, Mondada 2018, Mushin/Pekarek Doehler 2021). Sprachgebrauch – und in dieser Literatur vor allem: mündlicher Sprachgebrauch – wird dann als genuin zeitliches Phänomen ernst genommen und es wird gezeigt, wie sich sprachliche Formen und ihre Funktionen „in zeitgebundenen Praktiken im Prozess“ entfalten (Günthner/Hopper 2010:4, Herv. i. O.). Damit liegt der Fokus zum einen auf der inkrementellen Produktion von Äußerungen einzelner Sprecher:innen in der Zeit (vgl. Auer 2000, 2007), zum anderen aber auch auf der prozesshaften Entwicklung kollaborativer Handlungssequenzen durch mehrere Sprecher:innen in ihrer „sequence time“ (Goffman 1976:257, vgl. auch Enfield 2013:28–35).

Diese Perspektive legte so auch den Grundstein dafür, in der zeitgebundenen Realisierung von sprachlichen Formen ein fundamentales Variationspotenzial zu erkennen, das der Funktionalisierung durch Interaktionsbeteiligte offensteht: Sprecher:innen können sich schnell oder langsam artikulieren, in einer gegebenen Zeit vergleichsweise wenige oder viele Akzentuierungen realisieren oder auch das Rederecht hastig und überlappend oder erst nach einer Pause übernehmen. Resultat dieser Platzierung von sprachlichen Formen im zeitlichen Verlauf eines Gesprächs ist stets eine spezifische rhythmische Gestalt, verstanden als ein „in der Zeit rekurrente[s] Ereignismuster“ (Auer/Couper-Kuhlen 1994:79, vgl. auch Zollna 1995), die entweder von nur eine:r Sprecher:in oder von mehreren Gesprächsteilnehmer:innen gemeinsam realisiert wird (vgl. Couper-Kuhlen/Selting 2018:77f.). Eine solche rhythmische Gestalt kann für Beteiligte grundsätzlich kommunikativ und/oder sozial interpretierbar sein – ganz ähnlich wie auch andere Variationsdimensionen (etwa auf Ebene der Lautung, Morphologie oder Syntax) als bedeutsame Kontextualisierungshinweise einen Inter­pretationsrahmen für Äußerungen aufzeigen (vgl. Erickson 1992, Auer et al. 1999). So stellen etwa Auer et al. (1999:29) dar, wie durch eine im Vergleich hohe Zahl von Akzenten und eine niedrige Zahl produzierter Silben in einer bestimmten Zeiteinheit die thematische Relevanz einer Intonationsphrase im Gespräch rhythmisch angezeigt wird, Rhythmus also der Intensivierung dient. Dabei wird deutlich, dass Beteiligte nicht an absoluten Zeitintervallen orientiert sind, sondern die erlebte, relationale Zeit, die sich aus der Relation zur etablierten rhythmischen Struktur eines Gesprächs ergibt, relevant ist: Während eine Pause von einer Sekunde in Gesprächen mit schnellem Rhythmus schon als unangenehme Stille auffallen mag, bleibt eine Sekunde ohne Rede in gemächlicheren Gesprächen möglicherweise gänzlich unbemerkt (vgl. Imo/Lanwer 2019:97). Die zur Interpretation rhythmischer Kontextualisierungsverfahren nötige Hintergrundfolie ist also immer der etablierte interaktionale Rhythmus, mit dem sich Sprecher:innen entweder unmarkiert synchronisieren oder der durchbrochen wird, um eine neue Kontextqualität zu indizieren.

Eine solche Kontextualisierung kann im Fall einer gemeinsamen rhythmischen Modulation präferiert sein. Zum Beispiel vermittelt das synchronisierte Verschnellern des Rhythmus in der Schlussphase eines Gesprächs „ein gesteigertes Erlebnis des ‚Miteinander‘, das vor dem Auseinanderbrechen dieses ‚Miteinander‘ von ritueller wie auch emotionaler interaktiver Bedeutung ist“ (Auer 2020:96). Andersherum kann die einseitige Verletzung einer rhythmischen Gestalt von Beteiligten als kommunikativ bedeutsames Problem wahrgenommen werden: „The destruction or breaking down of a shared rhythm within a sequence is a marked, often dispreferred option, producing a tacit understand that ,‘we have a problem’ or ,‘this needs notice’, depending on the situation“ (Couper-Kuhlen/Selting 2018:80, vgl. auch Tannen 1984:192).

Während rhythmische Kontextualisierungsverfahren in dieser Weise für direkte Interaktionen auf Basis gesprochener Sprache sowie gestischer Zeichen (vgl. Goodwin 2002, Mondada 2018) vergleichsweise gut erforscht sind, finden sich zur kontextualisierenden Funktion von Zeitlichkeit und Rhythmus in digitalen schriftbasierten Interaktionen bislang nur vereinzelte linguistische Überlegungen. Das mag mit Blick auf die germanistische Medienlinguistik mitunter daran liegen, dass Zeitlichkeit von Medienkommunikation vornehmlich bezüglich der technisch inhärenten Zeitlichkeitsbedingungen von Kommunikationsmedien diskutiert wurde, um so etwa asynchrone von (quasi-)synchronen Kommunikationsformen zu unterscheiden (vgl. Dürscheid 2003:49). Im medienlinguistischen Fokus stand bislang also vor allem, welchen temporalen Strukturen sich Kommunikationsbeteiligte unterwerfen müssen (insbesondere, weil Produktions- und Rezeptionszeit in schriftbasierten Interaktionen unhintergehbar entkoppelt sind, vgl. Beißwenger 2020:302) und weniger, wie Mediennutzer:innen Zeitlichkeit als kommunikative Ressource heranziehen.

Dennoch merken einzelne Arbeiten an, dass auch Beteiligte in schriftbasierten digitalen Interaktionen daran orientiert sind, den Rhythmus ihrer Nachrichtenwechsel miteinander zu synchronisieren (vgl. Walther/Tidwell 1995, Siqueira/Herring 2009, Jones 2013). Einerseits stellt diese Forschung heraus, dass Rhythmus eine wesentliche Orientierungsdimension für Interagierende sein kann, um in quasi-synchronen Chats eine gemeinsame Sequenzzeit zu finden, in der ohne die Hilfe von Sprecher:innenwechselverfahren, wie sie aus der direkten Interaktion bekannt sind, ein abwechselndes Nacheinander von Postings entsteht. Andererseits stellen die genannten Arbeiten heraus, dass Rhythmus in digitalen Interaktionen häufig auch die Funktion zukommt, soziale Beziehungen auszugestalten. Jones (2013:491) argumentiert vor diesem Hintergrund sogar, dass Zeitlichkeit und Rhythmus in digital vermittelten Interaktionen gegenüber Face-to-Face-Interaktionen noch wichtiger seien, da dort das Spektrum semiotischer Mittel des Paraverbalen vergleichsweise eingeschränkt sei: Die soziale Kontextualisierung, die in direkten Interaktionen etwa durch Prosodie und Gestik geleistet wird, müsse von Beteiligten in schriftbasierten Interaktionen zum einen mit den Mitteln der Graphie (vgl. Androutsopoulos/Busch 2020), zum anderen eben durch Rhythmus kommuniziert werden.

Rhythmus ist in dieser Weise ein zentraler Bestandteil kommunikativer Stile in digitalen Interaktionen und leistet einen wesentlichen Anteil bei der kollaborativen Hervorbringung bestimmter sozialer Praktiken (wie etwa dem Online-Flirt auf Dating-Plattformen). So stellt Jones (2013) am Beispiel einer Hongkonger Dating-Chat-Plattform für schwule Männer dar, wie durch das Timing von Nachrichten Interaktionsbeteiligung und -fokussierung sowie die diskursive Konstruktion von Begehren oder Desinteresse hergestellt werden. In Jones’ Daten werden (zu) lange Wartezeiten auf eine responsive Nachricht von den Beteiligten dergestalt interpretiert, dass der Kommunikationspartner gegenwärtig wohl mit einem anderen Kontakt beschäftigt sei, man selbst also den Wettkampf um „interactional time“ verloren habe (Jones 2013:493). Während in direkten Interaktionen der geteilte Fokus der Beteiligten auf die gemeinsame kommunikative Aktivität auch durch nonverbale Mittel wie Körperhaltung und Blickrichtung kontinuierlich sichergestellt werden kann, drückt sich ein solcher Fokus in digitalen Interaktionen häufig nur in der rhythmisch präferierten Realisierung von Nachrichten aus:

Therefore, the only way users have to be present to their interlocutors and communicate attention or involvement is by replying to them within a particular period of time. Similarly, through interpreting their timing (in particular the time between turns), users make judgements about their interlocutors’ social presence, social activity, and attentional state. (Jones 2013:493)

Bleiben entsprechende Nachrichten im erwarteten Zeitrahmen aus, kann dies vom kommunikativen Gegenüber als „markiertes Schweigen“ (Lautenschläger 2021:214) interpretiert werden, also als intentionale Verweigerung, eine konditionelle Relevanz einzulösen. Dabei ist auch hier die relationale und nicht etwa die absolute Zeit entscheidend: Rhythmus wird jeweils in Relation zum etablierten bzw. zum erwarteten Rhythmus interpretiert. Eine entscheidende Frage ist dementsprechend, ob die Interaktionsbeteiligten Wissen über die unmarkierte temporale Struktur einer kommunikativen Praktik (wie dem Online-Flirt) als Common Ground (Deppermann 2015) teilen.

Dies ist nicht immer der Fall. In der Studie von Jones (2013) variieren die temporalen Erwartungen der Dating-Chat-Nutzer, bis wann eine Antwort einzutreffen habe, beispielsweise zwischen fünf Sekunden und drei Minuten (vgl. Jones 2013:494) und auch Lautenschläger (2022:21) präsentiert Beispiele aus dyadischen WhatsApp-Chats, in denen zwischen den Beteiligten jeweils ein Dissens vorliegt, in welcher Zeitspanne eine responsive Nachricht einzugehen habe bzw. ab welcher Dauer ein dispräferiertes Schweigen angenommen werde. Während die rhythmische Gestalt in Interaktionen also als indexikalisches Zeichen seine Bedeutung stets im Kontext entfaltet und dementsprechend eine kontextlose Semantik von interaktionalem Rhythmus zum Scheitern verurteilt ist, lässt sich doch feststellen, dass je nach kommunikativer Praktik bestimmte temporale Muster von Beteiligten normativ erwartet werden und dass auch die Abweichungen von solchen temporalen Normen auf Basis eines metapragmatischen Wissens als bedeutsame Kontextualisierungshinweise inferiert werden können.

4Metatemporale Diskurse

Um diesem geteilten Wissen auf die Spur zu kommen, lassen sich in einer sprachanthropologischen Tradition jene Kommunikationsideologien (Spitzmüller 2022) untersuchen, auf deren Basis aus wahrgenommenem Rhythmus sozialer Kontext abgeleitet wird. Diese Forschungsperspektive geht also der Frage nach, wie Akteur:innen zunächst aus der Abfolge von einzelnen Ereignissen in der Zeit einen Rhythmus als temporale Gestalt erkennen (also wie die Dauer zwischen zwei Nachrichten-Postings überhaupt erst als Zeichen wahrgenommen wird) und wie sie dann Typen von rhythmischen Mustern mit bestimmten sozialen und kommunikativen Bedeutungspotenzialen aufladen – wie also Rhythmus sozial registriert wird (vgl. Agha 2007, Spitzmüller 2013:267).

Ein methodischer Zugang zu sozialen Registrierungen von Zeitlichkeit in digitaler Interaktion kann die Analyse von metatemporalen Diskursen sein, in denen sich Akteur:innen mit den Fragen auseinandersetzen, welche temporalen Muster für eine spezifische Kommunikationspraktik als ‚normal‘ gelten und in welcher Weise temporale Abweichungen von diesem Muster indexikalisch zu interpretieren sind. Die eingangs angeführten Beiträge aus Online-Foren haben genau dies zum Ziel: Das individuelle kommunikative Erleben wird mit den Erfahrungen und Werthaltungen der anderen Nutzer:innen abgeglichen, um ein metapragmatisches Wissen darüber zu erlangen, ob sich die Online-Bekanntschaft möglicherweise nicht nur „viel Zeit mit Antworten“ lässt, sondern zu viel Zeit (vgl. Beispiel 4). Dass solche metatemporalen Interpretationshilfen auffällig häufig in den Kontexten von Online-Dating eingefordert werden, liegt neben der weiter oben angesprochenen konstitutiven Vagheit dieser kommunikativen Arena wohl auch daran, dass Kommunikationspartner:innen hier in der Regel unbekannt sind und es dementsprechend gänzlich an einer gemeinsamen Interaktionsgeschichte fehlt, die einen bestimmten normalisierten und routinisierten Rhythmus hätte etablieren können. So kommt es dann zu den entsprechenden Nachfragen und den anschließenden metatemporalen Diskursen.

Grundsätzlich sind solche Metadiskurse über Zeitlichkeit und digitale Interaktionen aber wohl auch vor dem Hintergrund einzuordnen, dass neue Medien (zumindest mehr oder weniger neue Medien) einen Prozess der diskursiven Aneignung durchlaufen. Nutzer:innen weisen ihnen einen Platz im Gefüge ihres kommunikativen Haushaltes zu, bilden Nutzungsroutinen aus, schließlich habitualisierte soziale Praktiken des Mediengebrauchs, die immer auch mit geteilten medienideologischen Normen einhergehen, wie man ein Medium zu benutzen habe bzw. eben nicht zu benutzen habe (vgl. Gershon 2010; Busch 2018). Teil hiervon ist wesentlich auch die diskursive Konstruktion einer temporalen Struktur: Wie häufig wird ein Medium genutzt? Zu welchen Tageszeiten wird ein Medium genutzt oder nicht genutzt? Wird ein Medium gleichzeitig mit anderen Medien oder parallel zu anderen Aktivitäten genutzt oder nicht genutzt? Wie sind diese Nutzungszeiten moralisch zu bewerten? Und eben auch: Welchen interaktionalen Rhythmus verlangt ein Medium seinen Nutzer:innen normativ ab?

Medienideologische Diskurse errichten in dieser Weise temporale Regime, wie sich in Anschluss an Freemans Konzept der „Chrononormativität“ formulieren ließe (vgl. Freeman 2010). Freeman entwickelt aus einer queer-feministischen Perspektive eine kritische Analyse der Verstrickung von temporalen Normen und gesellschaftlichen Machtverhältnissen in kapitalistischen Gesellschaften. Dabei steht besonders im Fokus, wie normative Erwartungen an den zeitlichen Ablauf von Biographien als ‚Normalbiographien‘ geknüpft werden. Es geht also um die diskursive Konstruktion von Normalität hinsichtlich der Fragen, wann Menschen berufliche Stationen wie Ausbildung, Berufsleben und Ruhestand durchlaufen, wann sie Partnerschaften eingehen, wann sie Eltern werden, ob dies parallel zu einer beruflichen Tätigkeit geschieht und in welcher Weise diese zeitlichen Strukturierungen in gesell­schaftlichen Institutionen verankert sind (insbesondere durch Gesetzgebungen). Im Zentrum der Überlegungen stehen die Rhythmen, in denen Individuen ihr Leben gestalten, und der moralische Wert, der diesen Rhythmen zugeschrieben wird. Chrononormativität konstruiert einen ‚normalen‘, einen ‚richtigen‘ Umgang mit Zeit und betrifft in dieser Weise nicht nur die großen zeitlichen Strukturen von Lebensläufen, sondern auch die Strukturierung von Jahren, Monaten, Wochen und Tagen, in denen Zeit einer protestantischen Ethik folgend produktiv zu nutzen sei. Eine Woche enthält dann mindestens 40 Arbeitsstunden, die wochentags ab spätestens 9 Uhr morgens abzuleisten seien.

In diese chrononormativen Wahrnehmungsmuster einer Gesellschaft passt sich schließlich auch der Gebrauch und die Bewertung von Medien ein: Gewissermaßen bildet sich ein „socio-technical chrononomative framework“ (Hartmann 2019:56) heraus, das die Zeitlichkeit von Mediengebrauch vor der Folie eines produktiven und sozial akzeptierten Zeitumgangs konturiert. Hartmann stellt in dieser Argumentationslinie heraus, dass die Vorstellungen über Mediengebrauch in einer digitalisierten Gesellschaft als „always on“ (Baron 2008) bzw. „permanently connected“ (Vorderer 2015) zu holzschnittartig bleiben, indem sie insbesondere chrononormativ relevante Praktiken der Nicht-Nutzung verschleiern (vgl. Hartmann 2019:53).

Wenn wir uns auf Grundlage dieser Überlegungen mit dem Online-Metadiskurs über Zeitlichkeit und Rhythmus von digitaler Dating-Kommunikation beschäftigen, dann lassen sich solche metakommunikativen Aushandlungen von temporalen Normen deutlich erkennen. So ist der Diskurs nicht nur chrononormativ geprägt, indem die einerichtige temporale Struktur etabliert wird, sondern kreist vor allem auch darum, wie Abweichung von diesem chrononormativen Default indexikalisch zu interpretieren seien.

5Öffentliche Zeitlichkeitsdiskurse über Online-Dating-Kommunikation

Im Internet lassen sich vielerlei und vielfältige Angebote finden, die genau dieses Bedürfnis von Nutzer:innen nach temporaler Metapragmatik adressieren. So veröffentlichen Online-Lifestyle-Magazine etwa Interpretationshilfen, wie sich aus dem Nachrichtenrhythmus auf das Gefühlsleben des kommunikativen Gegenübers zurückschließen lasse. Beispielsweise enthält die Online-Ausgabe der Frauenzeitschrift Grazia einen Artikel mit der Überschrift „Antwortet er schnell oder langsam? DAS sagt es über eure Beziehung aus!“ in der Rubrik ‚Lifestyle‘ (veröffentlicht am 04.02.2019) und grenzt dort drei typisierte Rhythmen voneinander ab:1

(5)

Er schreibt sofort […] Wenn er dir nämlich innerhalb von Minuten zurückschreibt, heißt das, du bist ihm wichtig und er findet euer Gespräch interessant. Im Klartext: Er steht auf dich! […]

(6)

Er schreibt nach wenigen Stunden. Schwierig. Denn wenn er dir erst nach ein paar Stunden antwortet, kann das einiges bedeuten: Dass er total busy auf der Arbeit oder in der Uni war, dass er sich genau überlegen will, was er dir schreibt, oder er weiß einfach selbst noch nicht, was er von dir will und spielt damit auf Zeit. […]

(7)

Er schreibt erst am nächsten Tag. Er lässt dich einen ganzen Tag warten? Die reinste Hölle! Und ehrlich gesagt auch nicht gerade ein gutes Zeichen. Wenn er dir so spät antwortet, bedeutet es meistens, dass er nicht an dir interessiert ist und eigentlich nur aus Höflichkeit schreibt. Doch es gibt natürlich auch die Ausnahme zur Regel und zwar in Form von Männern, die einfach Neandertaler im Hinblick auf Handy, Texten und Flirten sind und ihr Smartphone abends ausschalten oder morgens zu Hause vergessen.

Während solche metatemporalen Texte Wissen konstruieren bzw. reproduzieren, welche rhythmischen Gestalten überhaupt voneinander abzugrenzen sind (minütliches Antworten vs. stündliches Antworten vs. tägliches Antworten) und welche sozialen Bedeutungen sich aus diesen Zeitgestalten indexikalisch inferieren ließen, zielen andere Texte des Diskurses darauf ab, zu beraten, wie Nutzer:innen selbst den Rhythmus einer Interaktion zu ihren Gunsten manipulieren könnten. Ein besonders eindrückliches Beispiel für solche Anleitungen zu strategischen temporalen Praktiken findet sich in einem Artikel der Website wikiHow, auf der sich in Form von relativ knappen Tutorials Lösungswege für die unterschiedlichsten Alltagsprobleme finden lassen.2 Beispielsweise erfährt man auf der Website Tipps zur Bestimmung des Alters einer Schildkröte oder auch das korrekte Vorgehen, wenn man ein Garagentor ölen möchte. Zudem werden auf wikiHow kommunikative Probleme thematisiert – so etwa im Artikel „Wie schnell sollte man auf eine Textnachricht von einem Mädchen antworten“.3 Das zu lösende Problem wird dabei im Lead-Text folgendermaßen beschrieben:

Dein Handy klingelt und es ist eine SMS von dem Mädchen, das du magst. Sollst du sofort antworten oder noch warten, bis du antwortest? Einerseits solltest du nicht zu eifrig wirken. Aber du solltest das Gespräch auf jeden Fall am Laufen halten. Wenn du deine Antwort richtig anpasst, kannst du ihr zeigen, dass du interessiert bist und gleichzeitig dafür sorgen, dass du cool und selbstbewusst wirkst. Wir wissen, dass es leicht ist, nervös zu werden, wenn du deinem Schwarm eine SMS schreibst. Deshalb wollen wir dir das Rätselraten abnehmen, wie schnell du dem Mädchen, das du magst, antworten solltest.4

Der Text präsupponiert die soziale Indexikalität temporaler Gestalten also zunächst. Dass ein bestimmter Rhythmus einen bestimmten Eindruck über die eigene Persönlichkeit erzeugt, steht hier gar nicht erst zur Debatte. Stattdessen zielt die metatemporale Reflexion darauf ab, wie ein richtig gewählter Rhythmus den Schreiber als „cool und selbstbewusst“ und nicht etwa als „zu eifrig“5 erscheinen lassen könne. Verhandelt wird also die Frage, wie durch Rhythmus interaktionale Stance (vgl. Couper-Kuhlen/Selting 2018) konstruiert wird. Ähnlich der rhythmischen Typisierung im Grazia-Artikel liefert diesbezüglich nun auch wikiHow zuerst eine Kategorisierung verschiedener bedeutsamer Zeitspannen, für die dann jeweils spezifische Bedeutungen rationalisiert werden:

(8)

Innerhalb von fünf Minuten antworten, wenn du deinem Schwarm eine SMS schreibst. Du könntest zu übereifrig wirken, wenn du sofort antwortest. Eine Antwortzeit von fünf Minuten ist ideal, denn so hast du Zeit, dir eine tolle Antwort auszudenken, die deine Persönlichkeit zeigt und ihre Aufmerksamkeit erregt. […]

(9)

Nach zehn bis fünfzehn Minuten auf ein Mädchen reagieren, um cool zu bleiben. Warte zehn bis fünfzehn Minuten, um ihr zu zeigen, dass du ein aufregendes eigenes Leben hast. Wenn du sofort antwortest, könnte sie denken, dass du neben deinem Handy auf eine SMS von ihr wartest. Wenn die nächste Benachrichtigung auf deinem Bildschirm aufleuchtet, atme tief durch und geh vom Handy weg. […]

(10)

Innerhalb von ein bis drei Stunden antworten, um höflich zu sein. Mehr als drei Stunden auf eine Antwort zu warten, ist die Text-Version von peinlichem Schweigen. Kennst du das Gefühl, wenn du etwas sagst und die andere Person ein bisschen zu lange braucht, um zu antworten? Wir alle wissen, dass das nicht lustig ist. Gespräche haben eine natürliche Dynamik und einen natürlichen Rhythmus, wenn sich zwei Menschen mögen. Wenn du innerhalb von ein paar Stunden antwortest, verhinderst du, dass das Gespräch völlig schal wird. Wenn du ein Mädchen länger als ein paar Stunden warten lässt, signalisiert das, dass du nicht interessiert bist.

Es folgen noch acht weitere temporale Ratschläge, die den interessierten wikiHow-Nutzer:innen sehr konkrete Hinweise geben, wie man sich durch einen bestimmten Nachrichtenrhythmus im besten Lichte präsentieren könne.

Ein zentrales Motiv, das sich in dieser Weise nicht nur bei wikiHow, sondern auch in anderen Diskursbelegen findet, ist die Inszenierung von Unverfügbarkeit durch die bewusste Verlangsamung des interaktionalen Rhythmus. So stellt auch Lautenschläger (2021:216) fest, dass die „(künstliche) Verknappung kommunikativer Verfügbarkeit zu einem festen Bestandteil in Flirt- und Dating-Kontexten“ geworden zu sein scheint. Die semiotische Strategie hinter dieser Praxis zielt darauf ab, dass Interaktions­partner:innen aus einer kommunikativen Unverfügbarkeit bzw. einem langsamen Antwortrhythmus auf ein Beschäftigtsein abseits der Dating-Kommunikation schließen mögen. Ganz ähnlich findet sich dieser Gedanke beispielsweise auf der Website Strategien zum Leben des ‚Dating-Coaches‘ André – diesmal gerichtet an ein weibliches, heterosexuelles Publikum:

Lass ihn warten, bis du antwortest. Wie die meisten Frauen antwortest du wahrscheinlich sofort zurück, wenn jemand Besonderes versucht, dich zu kontaktieren. Besonders dann, wenn du bereits sehnsüchtig auf ein Lebenszeichen gewartet hast. Dabei denkst du dir sicherlich: “Besteht die Chance, dass er sein Interesse an mir verliert, wenn ich ihn zu lange warten lasse?” Das ist mit Sicherheit nicht der Fall. Antwortest du sofort, zeigst du ihm damit, dass du wahrscheinlich förmlich an deinem Smartphone klebst und auf ihn wartest. Wenn du ihn dazu bringen willst, dass er dich vermisst, solltest du ihn warten lassen, bevor du antwortest. Auch wenn dir diese Herangehensweise kindisch erscheint, funktioniert sie in den allermeisten Fällen und sorgt dafür, dass er an dich denkt und dich vermisst. Beweise also Geduld, auch wenn es dir schwerfällt!6

Den Leser:innen von wikiHow sowie der Strategien-zum-Leben-Website wird ein zu schnelles Antworten also in zweifacher Weise als indexikalisches Zeichen erklärt, das es zu vermeiden gelte. Einerseits hieße ein rasches Antworten, man ‚klebe am Smartphone‘, sei also ständig mit seinem Mobiltelefon beschäftigt und – so die gängige Implikation der verbreiteten Offline-Online-Ideologie – vernachlässige dabei sein analoges Leben. Ein schnelles Antworten verweise damit auf ein (in dieser Hinsicht) unattraktiven Menschen. Andererseits, und dies ist der im Diskurs dominierende Gedanke, signalisiere eine schnelle Antwort außerdem eine hierarchisch unterlegene interpersonale Stance. Eine schnelle Antwort sei ein Indiz für kommunikative Bedürftigkeit, die sich tendenziell aus dem Mangel an anderer Kommunikation (mit anderen potenziellen Partner:innen) ergebe. Daher sei es also ratsam, sich beim Antworten Zeit zu lassen, um dementsprechend den eigenen Marktwert zu erhöhen.

Nun antizipiert der zuletzt angeführte Beleg aber bemerkenswerter Weise auch, dass seiner imaginierten Leserin „diese Herangehensweise kindisch“7 erscheinen möge und zeigt damit ein Bewusstsein für gegenläufige Positionen im Diskurs. Diese lassen sich vor allem in Foren-Diskussionsbeiträgen finden. So fragt ein Nutzer auf gutefrage.net beispielsweise: „Soll ich meinem Crush direkt zurückschreiben?“8 Die ironische Antwort einer Nutzerin lautet: „Lass ihn warten. So lange bis Dein Crush entweder denkt, dass Du nicht an ihm interessiert bist oder von den Spielchen genervt ist. Beides führt dazu, dass er sich von Dir abwendet. Dann heulen gehen.“9 Gerade das metapragmatische Label Spielchen hat sich für diese diskursive Haltung als Schlagwort etabliert. In einem anderen gutefrage.net-Thread mit ähnlicher Thematik gibt ein Nutzer etwa folgenden Rat: „Verhalte Dich so natürlich wie bisher auch – und das bedeutet, dass es doch wirklich keinen Grund dafür gibt, um irgendwelche taktischen Spielchen zu veranstalten und mit künstlich eingelegten Pausen zu schreiben.“10 Und auch im Elitepartner-Forum wird in Betracht gezogen, es bei lang ausbleibenden Antworten mit einem Spielchen zu tun zu haben, das einem authentischen Auftreten entgegenstünde:

Spielchen oder Desinteresse? [Überschrift des Forenthreads] Oft hört man den Spruch „Die Liebe ist ein Spiel“. Aus weiblicher Sicht weiß ich, dass Frauen, vor allem in der Kennenlernphase, gerne den Mann warten lassen, sich rar machen usw. Frau will ja auch interessant erscheinen. Diese Strategie wird schließlich auch in vielen Ratgebern propagiert. Ich selbst halte von authentischem Auftreten mehr und erwarte das natürlich auch von meinem Gegenüber.11

Deutlich wird an Belegen wie diesen, dass Akteur:innen im Diskurs zwar unterschiedliche Haltungen gegenüber dem diskutierten Phänomen einnehmen, dass aber durchaus zunächst die geteilte Überzeugung vorherrscht, interaktionaler Rhythmus sei ein relevanter Kon­textualisierungshinweis in der Online-Dating-Kommunikation. Diese diskursive Lagerbildung zeigt sich dann vor allem anhand der Gegenüberstellung von einerseits redaktionellen Ratgebertexten, die rhythmische Gestalten typisieren, mit Bedeutung aufladen und damit einen chrononormativen Diskurs konstituieren, und andererseits diskursiven Gegenstimmen (gerade in nicht-professionellen Beiträgen in Online-Foren), die intentionale rhythmische Strategien als unauthentische Spielchen negativ evaluieren.12

6Online-Dating-Coaches auf YouTube

Eine mögliche Erklärung für diese diskursive Diskrepanz zwischen nicht-professionellen und professionellen Texten scheint die kommerzielle Orientierung der angeführten Ratgebertexte. Mit der normativen Adressierung metapragmatischer Unsicherheiten, die viele Menschen umtreiben, lässt sich Geld verdienen. So findet sich ganz grundsätzlich auch abseits der Frage nach interaktionalem Rhythmus eine Masse kommerzieller Angebote, die Menschen versprechen, ihr Online-Dating – und damit im Wesentlichen: ihre Online-Dating-Kommunikation – effizienter zu gestalten und sie so auf dem Weg zu einer Liebesbeziehung zu unterstützen. Medial ist hierbei insbesondere die Gruppe sogenannter ‚Dating-Coaches‘ präsent, die behauptet, Zugang zum wasserdichten Weg zum Erfolg zu ermöglichen. Dabei ist kaum zu übersehen, wie sehr diese Branche heterosexuelle Männer als Zielgruppe adressiert. Dating-Coaches (in der Regel selbst mittelalte Männer) dozieren dann über den richtigen Kommunikationsstil gegenüber Frauen bzw. ‚der Frau‘ als hochgradig stereotypiertes und damit eben auch sexualisiertes und misogynes Konzept. Insbesondere auf YouTube lassen sich solche Angebote finden – häufig verknüpft mit den Websites der Coaches, auf denen dann teure ‚Bootcamps‘, ‚Lehrgänge‘ und ‚individuelle Trainings‘ verkauft werden.

6.1Explorative Fallstudie: Korpus und Methode

Für eine explorative Untersuchung, welche Rolle Zeitlichkeit in den Diskursen solcher kommerziellen Anbieter spielt, wurden 72 Dating-Coach-Videos auf YouTube identifiziert (mit Suchanfragen wie Online-Dating Tipps, Tinder Tipps, Flirten Chatten, usw.). Insgesamt förderte die Suche Videos von 26 unterschiedlichen Kanälen zutage. Über die YouTube-API konnten für alle 72 Videos automatisch erzeugte Transkriptionen heruntergeladen und so ein Korpus von Dating-Coach-Texten mit insgesamt 146.514 Tokens kompiliert werden. Dieses Korpus wurde einerseits mittels Sketch Engine1 korpuslinguistisch unter die Lupe genommen (Schlüsselwortanalyse und Trigramm-Analyse) und anderseits mit der Hilfe von MAXQDA qualitativ annotiert.

6.2Ergebnisse

Eine Schlüsselwortanalyse in Sketch Engine zeigt im Kontrast zum German-Web-Referenzkorpus die zentralen thematischen Bahnen auf, die in den Videos enthalten sind (vgl. Tab. 1).

ghosting

frau

mann

tinder

nachricht

video

matchen

chat

dating

nummer

interesse

tipp

typ

smiley

date

thema

mädel

bock

match

foto

bild

flirten

mensch

chatten

ding

hobby

anschreiben

beziehung

beispiel

indikator

gemeinsamkeit

screenshot

emotion

text

textnachricht

antworten

hey

anziehung

okay

coaching

Tab. 1:

Ergebnisse der Schlüsselwortanalyse Dating-Coach-Videos gegenüber German-Web-Referenzkorpus, lemmatisiert

Viele Videos beschäftigen sich mit dem plötzlichen Kontaktabbruch, dem sogenannten Ghosting (Rang 1) (vgl. hierzu Lautenschläger 2021:219f. sowie Licoppe 2021). Die Perspektive der Videos ist durchgängig heteronormativ und stellt dem stereotypisierten Verhalten ‚der Frauen‘ (Rang 2) das ‚der Männer‘ (Rang 3) entgegen. Weiterhin erkennen wir in den Keywords verschiedene andere Versatzstücke des Dating-Coach-Diskurses – beispielsweise die Jagd nach Telefonnummern (Rang 10), die Frage nach geeigneten Gesprächsthemen (Rang 16) oder die wichtige Rolle graphischer Kontextualisierungsmittel in der Dating-Kommunikation (nämlich von Smileys, also Emojis und Emoticons – hier auf Rang 14).

Unterzieht man das Korpus einer Trigramm-Analyse (vgl. Bubenhofer 2009:118; Meier-Vieracker 2021:303), dann zeichnet sich weiterhin die sprachliche Spezifik der Coaching-Videos ab (vgl. Tab. 2).

Trigramm

n

Trigramm

n

Trigramm

n

so ein bisschen

und das ist

auf jeden fall

und wenn du

das ist auch

auch ein bisschen

ein bisschen mehr

und so weiter

was auch immer

wenn du jetzt

130

105

85

51

39

38

34

34

32

32

was machst du

ich freue mich

dann kannst du

und es ist

das ist das

gar nicht so

das ist so

die ganze zeit

aber er ist

und ich habe

31

31

28

28

27

27

26

26

26

26

dann schreibe ich

das ist einfach

in die kommentare

dann ist es

art und weise

ist es so

habe ich auch

nicht so viel

dass du dich

wir sehen uns

26

25

25

24

24

23

23

23

22

22

Trigramm

n

Trigramm

n

mal ein bisschen

wenn du das

das ist ja

wenn du dich

das heißt du

dann habe ich

also wenn du

das was ich

das ist ein

dass die frau

22

22

22

22

22

22

21

21

21

21

da habe ich

auch so ein

das ist eine

auch nicht so

dass sie sich

dann schreibt sie

mein name ist

so und dann

ja das ist

in diesem video

21

20

20

20

20

20

20

20

20

20

Tab. 2:

Ergebnisse der Trigrammanalyse des YouTube-Dating-Coach-Korpus

Hier fällt zunächst die Ansprache in der zweiten Person auf (und wenn du, wenn du jetzt, was machst du, dann kannst du usw.). Dieser direktive Modus baut dabei auf der begründenden Faktizität auf, die durch Kopula-Konstruktionen in assertiven Äußerungen konstruiert wird (und es ist, das ist das, das ist so, dann ist es, ist es so usw.). Schließlich werden in wenn-dann-Gefügen mögliche Online-Dating-Szenarien entworfen und Handlungsanweisungen gegeben (und wenn du, wenn du jetzt, wenn du das, wenn du dich – dann schreibe ich, dann ist es, dann habe ich, dann schreibt sie). So empfiehlt etwa Dating-Coach Andreas Lorenz in einem seiner Videos:1

Wenn ihr euch kennengelernt habt, dann versucht wirklich alle zwei Tage zu schreiben. Das ist meine Regel. (10:16 bis 10:18, Herv. FB)

Und auf dem Kanal Alpha Connection Code2 wird Folgendes ausgeführt:

Generell kann man sagen, dass es drei wesentliche große Fehler gibt, generell bei der Konversation. Das erste ist, dass das Texten oder das Chatten viel zu lange oder zu kurz ist. Wenn es zu kurz ist und keine emotionale Verbindung da ist, dann wird sie wahrscheinlich kein Interesse dran haben, dich zu daten. Sie muss dich spüren. Umgekehrt, wenn‘s zu lange ist, dann kann es sein, dass du Gefahr läufst, so als bester Freund gesehen zu werden. (01:02 bis 01:30, Herv. FB)

In diesen teils explizit als Regeln bezeichneten wenn-dann-Handlungsanweisungen spielen auch immer wieder solche chrononormative Vorstellungen eine Rolle, wie sie in Abschnitt 5 bereits skizziert wurden. Wie und wann man wem zu schreiben hat, darüber gibt es in den Videos selten zwei Meinungen. Stattdessen konstruieren die Coaches klare Fehler und Regeln, die ihre Kunden bloß beachten müssten, um ihr Ziel zu erreichen. DateDoktor Emanuel Albert führt dies beispielsweise im Video Online Dating Profiltipps für Männer. (Mehr Matches in 2021)3 folgendermaßen aus:

Viele Männer sagen, Online-Dating funktioniert nicht für sie. Dabei liegt es nur an einfachen Fehlern, die du vermeiden kannst, um heute noch mehr Matches zu kriegen. […]. Dann ist für mich ganz wichtig, dass du beim Schreiben Regeln beachtest. Da wissen viele die Regeln nicht, aber da habe ich auch extra einen Ratgeber zu, den findest du unten [verlinkt]. Wie texten Profis? Was sind so die zehn Regeln, die du wissen müsstest, damit du beim Schreiben durch die ersten Kurven kommst? Denn wenn du die Frau dann anschreibst und sie reagiert – idealerweise hast du ja mehrere, mit denen du schreibst –, dann ist für mich wichtig, dass du natürlich die Regeln kennst und dich nicht danebenbenimmst. Da haben wir die Regel zum Beispiel, wie lang sie schreibt, ist wichtig, auch so lange zu schreiben. Wie lange sie wartet, auch so lange zu warten. Es gibt lauter solche Regeln und auch noch solche Inspirationen. Was ist für mich immer der Kern beim Online-Dating? Zwei Sachen: Einerseits muss ich diese Regeln im Griff haben, mit der Länge und wie lange ich warten muss vom Text etc., damit ich nicht auffalle als der, der gierig ist oder der ganz verzweifelt zuhause schon seit Jahren keine mehr kennengelernt hat, – und zum anderen muss ich auch ein bisschen inspirieren. Und ich inspiriere eben, indem ich gerne gute Fragen stelle. (00:01 bis 0:08 und 06:20 bis 07:18)

Die Regeln, auf die DateDoktor Emanuel Albert hier immer wieder verweist, werden von ihm als absolut essenziell für eine erfolgreiche Dating-Kommunikation beschrieben – und lassen sich in Form eines E-Books in seinem Online-Shop für 19,99 Euro erwerben.4 Die diskursive Konstruktion kommunikativer Normen dient in dieser Weise einem kommerziellen Interesse. Chronormative Vorstellungen über den ‚richtigen‘ bzw. strategischen Rhythmus digitaler Interaktionen fügen sich in umfassendere kommunikationsideologische Vorstellung einer ‚erfolgreichen Dating-Kommunikation‘, die sich verkaufen lässt.

7Fazit

Die Analyse der öffentlichen metatemporalen Diskurse über Online-Dating-Kommunikation offenbart also, wie Mediennutzer:innen bezüglich neuer Medienpraktiken vor der Aufgabe stehen, metapragmatische Handlungsmodelle über die temporale Struktur digitaler Inter­aktionen zu konstruieren. Die Normen, wie schnell oder langsam auf digitale Nachrichten geantwortet werden sollte, sind bislang eher in lokalen Praxisgemeinschaften ausgebildet und gesellschaftlich noch nicht so weit diffundiert, dass entsprechende metapragmatische Reflexionen obsolet wären. Angesichts unterschiedlicher digitaler Lebensstile ist das Risiko von Missverständnissen aufgrund eines fehlenden metatemporalen Common Grounds von vielen Nutzer:innen antizipiert und es kommt zu chrononormativen Metadiskursen.

Dies trifft im Besonderen auf Kontexte der Online-Dating-Kommunikation zu, in denen man sein kommunikatives Gegenüber nicht kennt und es dementsprechend an einer gemeinsamen Interaktionsgeschichte fehlt, aus der sich ein Default-Rhythmus rekonstruieren ließe. Die Zeichenhaftigkeit von Zeit rückt hier besonders in den metapragmatischen Fokus. Wie jegliche Form kommunikativer Variation lässt sich auch die Dauer zwischen Nachrichten als sozial und kommunikativ bedeutsames indexikalisches Zeichen lesen. Anknüpfend an interaktional-linguistische Arbeiten zeichnet sich ab, dass Tempo und Rhythmus auch in digital-vermittelten Interaktionen zentrale semiotische Ressourcen sind. Hier bedarf es weiterer Forschung, um temporalen Praktiken im Gebrauch auf die Spur zu kommen.1

Im vorliegenden Beitrag wurde hingegen aufgezeigt, welche indexikalischen Schlussfolgerungen verschiedene Akteur:innen im Metadiskurs artikulieren und so rhythmische Gestalten sozial registrieren. So konnten für den Kontext Online-Dating zwei diskursive Positionen herausgearbeitet werden: Während in Kommentarspalten und Online-Foren ein authentisches Kommunikations­verhalten verlangt wird, das frei von temporalen Spielchen sei, finden sich in den Medientexten von Lifestyle-Magazinen und Dating-Coaches vielfach Anleitungen zur strategischen rhythmischen Kontextualisierung. Hier werden chrononormative Regeln formuliert, die sich in ein kommunikationsideologisches Bündel einreihen. Zeitlichkeitsideologien stehen so an der Seite von Sprachideologien (achte auf deine Rechtschreibung) sowie Bildlichkeits­ideologien (bloß keine Schwarz-Weiß-Bilder verwenden