Trügerische Ruhe - Tess Gerritsen - E-Book

Trügerische Ruhe E-Book

Tess Gerritsen

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Beschreibung

Kaum hat die junge Ärztin Dr. Claire Elliot ihre Praxis in dem Provinznest Tranquility eröffnet, muß sie erleben, wie eine ganze Gruppe Jugendlicher in einen blutigen Wahn verfällt.
Selbst ihr Sohn Noah wird in diese Gewalttaten verwickelt. Mit dem Polizeichef Lincoln Kelly als einzige Unterstützung forscht sie nach und entdeckt einen grausigen, unheimlichen Parasiten. Ein tödlicher Wettlauf mit der Zeit beginnt...

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TESS GERRITSEN

Trügerische Ruhe

Roman

 

 

Aus dem Amerikanischen von Andreas Jäger

 

 

 

 

 

 

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Die Originalausgabe erschien 1998 unter dem Titel »Bloodstream« bei POCKET BOOKS, a division of Simon & Schuster Inc., New York

Copyright der Originalausgabe © 1998 by Tess Gerritsen Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 1999 by Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,Neumarkter Str. 28, 81673 München Umschlaggestaltung: www.buerosued.de nach einer Originalvorlage von Design Team Umschlagmotiv: akg-images/Nimatallah; Detail aus Caravaggio: Hl. Katharina v. Alexandrien, 1598 Redaktion: Cornelia Köhler LW • Herstellung: Heidrun Nawrot Satz: deutsch-türkischer fotosatz, Berlin

ISBN 978-3-641-16411-9V005

www.blanvalet.de

Inhaltsverzeichnis

CopyrightWidmungPrologDie Gegenwart
12345678910111213141516171819202122232425
Danksagung

Für Tim und Elyse

Prolog

Tranquility, Maine, 1946

 

Wenn sie leise genug wäre, mucksmäuschenstill, dann würde er sie nicht finden. Er glaubte vielleicht, alle ihre Verstecke zu kennen, aber er hatte nie ihre geheime Nische entdeckt, diese kleine Ausbuchtung in der Kellerwand, die von den Regalen mit den Einmachgläsern ihrer Mutter verdeckt wurde. Als kleines Kind hatte sie mit Leichtigkeit in diesen Hohlraum hineinschlüpfen können, und jedesmal, wenn sie Verstecken spielten, hatte sie in ihrer Höhle gekauert und sich ins Fäustchen gelacht, während er auf der Suche nach ihr frustriert von Zimmer zu Zimmer gestapft war. Manchmal hatte das Spiel so lange gedauert, daß sie eingeschlafen und erst Stunden später vom Klang der Stimme ihrer Mutter, die besorgt ihren Namen rief, geweckt worden war.

Und jetzt war sie wieder hier, in ihrem Kellerversteck, aber sie war kein Kind mehr. Sie war vierzehn und konnte sich nur noch mit Mühe in die Nische hineinzwängen. Und das hier war kein fröhliches Versteckspiel.

Sie konnte ihn oben hören, wie er auf der Suche nach ihr durch das Haus streifte. Er polterte von Zimmer zu Zimmer, fluchte und warf krachend Möbel um.

Bitte, bitte, bitte. Hilft uns denn niemand? Bitte macht, daß er verschwindet.

Sie hörte, wie er ihren Namen brüllte: »IRIS!« Seine knarrenden Schritte erreichten die Küche, näherten sich der Kellertür. Ihre Hände ballten sich krampfhaft zu Fäusten, und ihr Herz trommelte wild.

Ich bin nicht hier. Ich bin weit weg, ich fliehe, fliege hoch in den Nachthimmel hinauf –

Die Kellertür wurde urplötzlich aufgestoßen und krachte gegen die Wand. Goldenes Licht strömte von oben herab und hüllte ihn ein, als er in der offenen Tür am oberen Ende der Treppe stand.

Er streckte die Hand aus und zog an der Lichtschnur; die nackte Glühbirne ging an und tauchte die tiefe Höhle des Kellers in ein schwaches Licht. Geduckt stand Iris hinter den Gläsern mit eingelegten Tomaten und Gurken und hörte, wie er die steile Treppe herunterkam; jedes Knarren brachte ihn näher zu ihr. Sie drückte sich tiefer in die Höhlung und schmiegte ihren Körper an die bröckelnde Wand aus Steinen und Mörtel. Sie schloß die Augen; bildete sich ein, unsichtbar zu sein. Über dem Hämmern ihres eigenen Herzschlags hörte sie, wie er am Fuß der Treppe anlangte.

Sieh mich nicht. Sieh mich nicht.

Die Schritte gingen geradewegs an den Regalen mit den Einmachgläsern vorbei und auf das hintere Ende des Kellers zu. Sie hörte, wie er eine Kiste umstieß. Leere Gläser zersprangen auf dem Steinboden. Jetzt machte er wieder kehrt, und sie konnte seinen keuchenden Atem hören, unterbrochen von grunzenden Tierlauten. Ihr eigener Atem war flach und schnell, und ihre Fäuste waren so fest geballt, daß sie glaubte, ihre Knochen würden zerspringen. Die Schritte kamen auf die Regale zu und blieben stehen.

Sie riß die Augen auf und sah durch einen Spalt zwischen zwei Gläsern, daß er genau vor ihr stand. Sie war in die Hocke geglitten, so daß ihre Augen auf gleicher Höhe mit seinem Gürtel waren. Er zog ein Glas aus dem Regal und schmetterte es zu Boden. Der stechende Essiggeruch von Eingelegtem stieg vom Steinboden empor. Er griff nach einem weiteren Glas, doch dann stellte er es plötzlich zurück, als sei ihm ein besserer Gedanke gekommen. Er wandte sich ab und ging die Kellertreppe hoch. Im Hinausgehen zog er kurz an der Lichtschnur.

Sie war erneut von Dunkelheit umgeben.

Sie merkte auf einmal, daß sie geweint hatte. Ihr Gesicht war naß, Schweiß gemischt mit Tränen, aber sie wagte es nicht, auch nur ein Wimmern von sich zu geben.

Oben bewegten sich die knarrenden Schritte zur Vorderseite des Hauses; dann war es still.

War er gegangen? War er endlich weg?

Sie verharrte reglos, wagte nicht, sich zu bewegen. Die Minuten vergingen. Sie zählte sie langsam im Kopf. Zehn. Zwanzig. Ihre Muskeln verkrampften sich; es tat so weh, daß sie sich auf die Lippe beißen mußte, um nicht zu schreien.

Eine Stunde.

Zwei Stunden.

Immer noch kein Laut von oben.

Ganz langsam kam sie aus ihrem Versteck hervor. Sie stand im Dunkeln und wartete, bis das Blut in ihren Adern wieder zu fließen begann und sie ihre Beine wieder spüren konnte. Sie lauschte und lauschte, die ganze Zeit.

Sie hörte nichts.

Der Keller war fensterlos, und sie wußte nicht, ob es draußen noch dunkel war. Sie schritt über die Glasscherben am Boden und ging zur Treppe hinüber. Sie stieg Stufe für Stufe nach oben; nach jedem Schritt hielt sie inne, um wieder zu horchen. Als sie schließlich oben war, waren ihre Handflächen so naßgeschwitzt, daß sie sie an ihrer Bluse abwischen mußte, bevor sie die Kellertür öffnen konnte.

In der Küche brannte Licht, und alles wirkte verblüffend normal. Sie hätte fast glauben können, das Grauen der letzten Nacht sei nur ein Alptraum gewesen. Eine Uhr an der Wand tickte laut. Es war fünf Uhr morgens, und draußen war es noch dunkel.

Sie ging auf Zehenspitzen zur Küchentür und spähte in den Flur. Ein flüchtiger Blick auf die zersplitterten Möbel und die Blutspritzer an der Tapete sagte ihr, daß sie nicht geträumt hatte. Ihre Handflächen waren wieder schweißnaß.

Der Flur war verlassen, und die Haustür stand offen.

Sie mußte raus aus dem Haus. Zu den Nachbarn laufen, zur Polizei.

Sie begann den Flur entlangzugehen. Jeder Schritt brachte sie der Flucht näher. Der Schrecken hatte ihre fünf Sinne so geschärft, daß sie jeden Holzsplitter auf dem geblümten Teppich, jedes Ticken der Uhr hinter sich wahrnahm. Sie hatte die Haustür fast erreicht.

Dann war sie am Treppenpfeiler vorbei und blickte auf die Treppe, wo ihre Mutter kopfüber hingefallen war. Sie konnte den Blick nicht von der Leiche wenden. Von ihrem langen Haar, das über die Stufen herabfloß wie schwarzes Wasser.

Übelkeit stieg in ihrer Kehle auf; sie riß sich los und stürzte zur Haustür.

Da stand er. In der Hand hielt er eine Axt.

Mit einem Schluchzen drehte sie sich abrupt herum und rannte die Treppe hoch, wobei sie fast auf dem Blut ihrer Mutter ausgerutscht wäre. Sie hörte, wie er hinter ihr polternd die Stufen erklomm. Sie war immer schneller gewesen als er, und in ihrer Panik flog sie die Treppe hoch wie eine aufgeschreckte Katze.

Im oberen Flur erblickte sie für einen Moment die Leiche ihres Vaters; sie ragte zur Hälfte aus der Türöffnung zum Schlafzimmer hervor. Sie hatte keine Zeit, darüber nachzudenken, das grauenhafte Geschehen auf sich wirken zu lassen; schon eilte sie die nächste Treppe hoch und erreichte das Turmzimmer.

Sie schlug die Tür zu und legte gerade noch rechtzeitig den Riegel vor.

Er brüllte wütend auf und begann an die verschlossene Tür zu hämmern.

Sie lief zum Fenster und riß es hastig auf. Als sie tief unten den Boden erblickte, war ihr klar, daß sie einen Sturz nicht überleben würde. Aber es gab keinen anderen Ausweg aus dem Zimmer.

Sie riß an einem Vorhang, zog ihn von der Schiene. Ein Seil. Ich muß ein Seil machen. Sie band ein Ende an ein Heizungsrohr, zog einen weiteren Vorhang herunter und verknotete die beiden Stoffbahnen.

Ein lautes Krachen, und ein Holzsplitter flog auf sie zu. Sie warf einen Blick über die Schulter und sah zu ihrem Entsetzen die Spitze der Axtklinge durch die Tür ragen – sah, wie die Axt herausgezogen wurde, bereit zum nächsten Schlag.

Er brach die Tür auf!

Sie riß einen dritten Vorhang herunter und knotete ihn mit zitternden Händen an die beiden anderen.

Die Axt sauste erneut nieder. Das Türblatt spaltete sich noch tiefer, und wieder sausten Splitter durch die Luft.

Die Gegenwart

1

»Irgendwer wird sich da draußen noch verletzen«, sagte Dr. Claire Elliot, während sie aus ihrem Küchenfenster blickte. Der Morgennebel lag dicht wie Rauch über dem See, und die Bäume vor ihrem Fenster waren bald deutlich, bald nur unscharf zu erkennen. Wieder krachte ein Gewehrschuß, diesmal aus größerer Nähe. Seit dem ersten Tageslicht hatte sie das Gewehrfeuer gehört, und sie würde es wahrscheinlich den ganzen Tag bis zur Dämmerung hören, denn es war der erste November – der Beginn der Jagdsaison. Irgendwo in diesen Wäldern stapfte ein Mann mit einem Gewehr halbblind durch den Schnee, während schemenhafte Trugbilder von weißschwänzigen Hirschen um ihn herumtanzten.

»Ich finde, du solltest nicht draußen auf den Bus warten«, sagte Claire. »Ich fahre dich zur Schule.«

Noah, der vornübergebeugt am Frühstückstisch saß, sagte nichts. Er nahm noch einen Löffel voll Cheerios und verschlang sie schlürfend. Vierzehn Jahre alt, und immer noch aß ihr Sohn wie ein Zweijähriger; verkleckerte die Milch über den ganzen Tisch und übersäte den Boden mit Toastkrümeln. Er aß, ohne sie anzusehen, als ob er der Medusa ins Auge schauen würde, wenn er ihren Blick erwiderte. Und was würde es für einen Unterschied machen, wenn er mich ansähe, dachte sie mit bitterer Ironie. Mein lieber Sohn ist ja schon zu Stein geworden.

Sie sagte erneut: »Ich fahre dich zur Schule, Noah.«

»Ist schon gut. Ich nehme den Bus.« Er stand auf und schnappte sich seinen Rucksack und sein Skateboard.

»Diese Jäger da draußen können unmöglich sehen, auf was sie schießen. Zieh wenigstens die orangene Mütze an. Damit sie dich nicht für einen Hirsch halten.«

»Aber die sieht so bescheuert aus!«

»Du kannst sie ja im Bus abnehmen. Aber zieh sie jetzt an.« Sie nahm die gestrickte Mütze von der Garderobe und hielt sie ihm hin.

Er sah zuerst die Mütze an, dann schließlich auch sie. Er war in nur einem Jahr etliche Zentimeter in die Höhe geschossen, und sie waren nun gleich groß; ihre Blicke trafen sich direkt, keine Seite hatte einen Vorteil. Sie fragte sich, ob sich Noah ihrer neuen physischen Gleichberechtigung so deutlich bewußt war wie sie selbst. Früher hatte sie ihn im Arm halten können, und ein Kind hatte die Umarmung erwidert. Jetzt war das Kind verschwunden; seine Zartheit in neue, muskulöse Formen gegossen; sein Gesicht verschmälert zu ungewohnter Scharfkantigkeit.

»Bitte«, sagte sie, während sie ihm die Mütze immer noch hinhielt.

Schließlich stülpte er sich die Kopfbedeckung mit einem Stöhnen über seine dunklen Haare. Sie mußte ein Lächeln unterdrücken – er sah wirklich bescheuert aus.

Er war schon auf dem Weg zur Haustür, als sie ihm zurief: »Abschiedskuß?«

Mit dem Ausdruck der Verzweiflung wandte er sich noch einmal um und gab ihr einen äußerst flüchtigen Kuß auf die Wange; dann war er auch schon draußen.

Keine Umarmungen mehr, dachte sie betrübt, als sie am Fenster stand und ihn beobachtete, wie er in Richtung Straße trottete. Nur noch Gebrummel und Achselzucken und betretenes Schweigen.

Unter dem Ahorn am Ende der Zufahrt blieb er stehen, zog die Mütze ab und stand mit den Händen in den Hosentaschen da, die Schultern gegen die Kälte hochgezogen. Keine Jacke, nur ein dünnes graues Sweatshirt als Schutz gegen eine Morgentemperatur von drei Grad. Es war cool, zu frieren. Sie mußte dem Drang widerstehen, nach draußen zu laufen und ihn in einen Mantel zu packen.

Claire wartete, bis der Schulbus kam. Sie sah zu, wie er einstieg, ohne sich noch einmal umzudrehen, sah seine Silhouette, als er den Mittelgang entlangging und sich auf einen der freien Plätze setzte, neben ein Mädchen. Wer ist dieses Mädchen? fragte sie sich. Ich kenne nicht einmal mehr die Namen der Freunde meines Sohnes. Ich bin zu einem kleinen Winkel seines Universums zusammengeschrumpft. Sie wußte, daß all dies ein notwendiger Prozeß war – das Sichzurückziehen, der Kampf des Kindes um seine Unabhängigkeit –, aber sie war nicht darauf vorbereitet. Die Verwandlung hatte sich so plötzlich vollzogen, als ob ein lieber kleiner Junge eines Tages das Haus verlassen hätte und statt seiner ein Fremder zurückgekommen wäre. Du bist alles, was mir von Peter geblieben ist. Ich bin nicht bereit, auch noch dich zu verlieren.

Der Bus rumpelte davon.

Claire ging in die Küche zurück und setzte sich hin, um ihren lauwarmen Kaffee zu trinken. Das Haus wirkte leer und still: immer noch ein Trauerhaus. Sie seufzte und breitete die wöchentliche Tranquility Gazette vor sich aus. GESUNDES ROTWILDRUDEL VERSPRICHT REICHLICHE ERNTE, verkündete die Titelseite. Die Jagd war eröffnet. Dreißig Tage Zeit, um sich sein Wildbret zu sichern.

Draußen hallte wieder ein Gewehrschuß durch die Wälder.

Sie schlug die Seite mit dem Polizeiregister auf. Über die Halloween-Krawalle der letzten Nacht stand noch nichts darin, auch nicht über die sieben Teenager, die verhaftet worden waren, weil sie bei ihrem traditionellen Beutezug durch die Gemeinde zu weit gegangen waren. Doch da, versteckt zwischen den Berichten über entlaufene Hunde und gestohlenes Brennholz, war ihr Name, unter der Rubrik ÜBERTRETUN-GEN: »Claire Elliot, 40; Führen eines Kraftfahrzeugs mit abgelaufener Sicherheitsplakette.« Sie hatte den Subaru immer noch nicht zur Inspektion gebracht; heute würde sie statt dessen den Transporter nehmen müssen, um eine neuerliche Erwähnung zu vermeiden. Gereizt blätterte sie um und studierte gerade die Wettervorhersage – kalt und windig, Höchstwerte knapp über Null, Tiefsttemperaturen um minus fünf Grad –, als das Telefon klingelte.

Sie stand auf und nahm den Hörer ab. »Hallo?«

»Dr. Elliot? Hier spricht Rachel Sorkin, draußen an der Toddy Point Road. Ich habe hier so was wie einen Notfall. Elwyn hat sich gerade angeschossen.«

»Was?«

»Sie wissen schon, dieser Idiot Elwyn Clyde. Er hat bei der Hirschjagd mein Grundstück unbefugt betreten. Hat sie auch erlegt – eine wunderschöne Hirschkuh, mitten in meinem Vorgarten. Diese dummen Männer mit ihren dummen Gewehren.«

»Was ist mit Elwyn?«

»Ach, er ist gestolpert und hat sich in den Fuß geschossen. Geschieht ihm recht.«

»Er muß sofort ins Krankenhaus.«

»Tja, sehen Sie, das ist das Problem. Er will nicht ins Krankenhaus, und er will nicht, daß ich einen Krankenwagen rufe. Er möchte, daß ich ihn und das Tier nach Hause fahre. Nun, das werde ich nicht tun. Also, was soll ich mit ihm machen?«

»Wie schlimm blutet er?«

Sie hörte Rachel rufen: »He, Elwyn? Elwyn! Blutest du?«

Dann war Rachel wieder in der Leitung. »Er sagt, er ist okay. Er will bloß nach Hause gefahren werden. Aber ich fahre ihn nicht, und ich fahre ganz bestimmt nicht die Hirschkuh.«

Claire seufzte. »Ich denke, ich kann kommen und mir die Sache ansehen. Sie wohnen an der Toddy Point Road?«

»Etwa eine Meile hinter den Boulders. Mein Name steht auf dem Briefkasten.«

 

Der Nebel begann sich aufzulösen, als Claire mit ihrem Transporter in die Toddy Point Road einbog. Durch die Seidenkiefern hindurch konnte sie hier und da ein Stückchen des Locust Lake erblicken, während der Nebel wie Wasserdampf aufstieg. Schon brachen die ersten Sonnenstrahlen durch und malten goldene Tupfen auf die sich kräuselnde Wasserfläche. Auf der anderen Seite, durch die Nebelschwaden gerade noch zu erkennen, war das Nordufer des Sees mit seinen Sommerhäuschen, von denen die meisten schon für den Winter verriegelt und verrammelt waren, nachdem ihre reichen Besitzer nach Boston oder New York zurückgekehrt waren. Am Südufer, dort, wo Claire jetzt entlangfuhr, waren die bescheideneren Ferienhäuschen, einige davon kaum mehr als Zwei-Zimmer-Schuppen, versteckt zwischen den Bäumen.

Sie fuhr an den Boulders vorbei, einem granitenen Felsvorsprung, wo sich die Teenager im Sommer zum Schwimmen trafen, und sie fand den Briefkasten mit dem Namen »Sorkin«.

Ein holpriger Feldweg führte zum Haus. Es war eine merkwürdige, wunderliche Konstruktion mit planlos angebauten Zimmern und mit Ecken und Vorsprüngen an Stellen, wo man sie am wenigsten erwartet hätte. Über allem erhob sich ein verglastes Türmchen, wie die Spitze eines Kristalls, der das Dach durchbrach. Eine exzentrische Frau mußte wohl ein exzentrisches Haus haben, und Rachel Sorkin war eines von Tranquilitys Originalen, eine auffallende schwarzhaarige Frau, die einmal die Woche in die Stadt rauschte, angetan mit einem roten Cape mit Kapuze. Dieses Haus sah tatsächlich so aus, als könne eine Frau mit Cape dort residieren.

Vor der Verandatreppe, direkt neben einem gepflegten Kräutergärtchen, lag die tote Hirschkuh.

Claire stieg aus ihrem Transporter aus. Sofort schossen zwei Hunde zwischen den Bäumen hervor und versperrten ihr bellend und knurrend den Weg. Claire wurde klar, daß sie die Beute bewachten.

Rachel kam aus dem Haus heraus und schrie die Hunde an: »Macht, daß ihr fortkommt, ihr verdammten Viecher! Ab nach Hause mit euch!« Sie schnappte sich einen Besen von der Veranda und stürmte mit fliegenden schwarzen Haaren die Stufen herunter, den Besen wie eine Lanze im Anschlag.

Die Hunde wichen zurück.

»Ha! Feiglinge!« sagte Rachel, während sie mit dem Besen nach ihnen stieß. Sie zogen sich in den Wald zurück.

»He, lassen Sie meine Hunde in Frieden!« rief Elwyn Clyde, der humpelnd auf der Veranda erschienen war. Elwyn war ein Musterbeispiel einer evolutionären Sackgasse: ein fünfzigjähriger Klumpen Fleisch, in Baumwollklamotten gehüllt und zu ewigem Junggesellendasein verurteilt. »Sie tun keinem was. Sie passen bloß auf meinen Hirsch auf.«

»Elwyn, ich habe Neuigkeiten für Sie. Sie haben diese arme Kreatur auf meinem Grund und Boden getötet, also gehört sie mir.«

»Was wollen Sie denn mit ’nem Hirsch anfangen? Verdammte Vegetarierin!«

Claire unterbrach die beiden. »Was macht der Fuß, Elwyn?«

Er sah Claire an und blinzelte, als sei er überrascht, sie zu sehen. »Bin gestolpert«, sagte er, »’ne Lappalie.«

»Eine Schußverletzung ist nie eine Lappalie. Kann ich sie mir mal ansehen?«

»Ich kann Sie nicht bezahlen …« Er hielt inne, und eine zerzauste Augenbraue hob sich, als ihm ein schlauer Gedanke kam. »Es sei denn, Sie hätten gern ’n Stück Wildbret.«

»Ich will nur sichergehen, daß Sie nicht verbluten. Wir können das Finanzielle später regeln. Kann ich Ihren Fuß sehen?«

»Wenn Sie unbedingt wollen«, murrte er und humpelte ins Haus zurück.

»Na, das wird sicher ein Genuß«, meinte Rachel.

In der Küche war es warm. Rachel warf ein Birkenscheit in den Holzofen, und süßlicher Rauch quoll hervor, als sie den schmiedeeisernen Deckel wieder auflegte.

»Sehen wir uns den Fuß mal an«, sagte Claire.

Elwyn schlurfte zu einem Stuhl, wobei er blutige Streifen auf dem Fußboden hinterließ. Er hatte die Socke noch an, und auf der Oberseite, nahe dem großen Zeh, war ein ausgefranstes Loch zu sehen, als ob eine Ratte die Wolle angenagt hätte. »Stört mich fast gar nich’«, sagte er. »Lohnt die ganze Aufregung nich’, wenn Sie mich fragen.«

Claire kniete nieder und rollte die Socke herunter. Sie löste sich nur langsam; die Wolle klebte am Fuß – nicht durch das Blut, sondern durch Schweiß und tote Haut.

»O Gott«, sagte Rachel und hielt sich die Hand vor die Nase. »Wechseln Sie nie Ihre Socken, Elwyn?«

Die Kugel hatte das fleischige Gewebe zwischen den beiden ersten Zehen durchdrungen. Claire fand die Ausschußöffnung an der Unterseite des Fußes. Im Moment sickerte nur wenig Blut heraus. Bemüht, die wegen des Geruchs aufsteigende Übelkeit zu unterdrücken, prüfte sie die Bewegung aller Zehen und kam zu dem Schluß, daß keine Nerven verletzt waren.

»Sie müssen ihn waschen und jeden Tag den Verband wechseln«, sagte sie. »Und Sie brauchen eine Tetanusspritze, Elwyn.«

»Oh, ich hab schon eine gekriegt.«

»Wann?«

»Letztes Jahr, vom alten Doc Pomeroy. Wie ich mich angeschossen hab’.«

»Ist das ein alljährliches Ereignis?«

»Damals hat’s den anderen Fuß erwischt. War nur’ne Lappalie.«

Dr. Pomeroy war im Januar gestorben, und Claire hatte alle seine medizinischen Unterlagen übernommen, als sie vor acht Monaten die Praxis aus dem Nachlaß erworben hatte. Sie konnte in Elwyns Akte nachsehen und das Datum seiner letzten Tetanusspritze feststellen.

»Ich nehme an, daß ich diesen Fuß waschen soll«, sagte Rachel.

Claire nahm eine kleine Flasche Jodlösung aus ihrer Arzttasche und reichte sie ihr. »Tun Sie das in einen Eimer mit warmem Wasser. Lassen Sie den Fuß eine Weile darin einweichen.«

»Ach, das kann ich schon selbst machen«, sagte Elwyn und stand auf.

»Dann können wir auch gleich amputieren!« erwiderte Claire gereizt. »Setzen Sie sich, Elwyn!«

»Du liebe Güte«, meinte Elwyn und setzte sich.

Claire legte ein paar Packungen Verbände und Mull auf den Tisch. »Elwyn, Sie kommen nächste Woche in meine Praxis, damit ich nach der Wunde sehen kann.«

»Aber ich hab’ zuviel zu tun –«

»Wenn Sie nicht kommen, werde ich Sie wie einen Hund jagen müssen.«

Er blinzelte sie überrascht an. »Ja, Ma’am«, sagte er brav.

Claire unterdrückte ein Lächeln, als sie ihre Arzttasche nahm und aus dem Haus ging.

Die beiden Hunde waren wieder im Hof, sie kämpften gerade um einen schmutzigen Knochen. Als Claire die Stufen hinunterging, wirbelten sie beide herum und starrten sie an.

Der schwarze Hund trottete auf sie zu und knurrte.

»Pfui«, rief Claire, aber der Hund machte keine Anstalten, zurückzuweichen. Er kam noch ein wenig näher und bleckte die Zähne. Der braune Hund erkannte seine Chance, schnappte sich den Knochen und schickte sich an, mit seiner Beute davonzuziehen. Er kam bis zur Mitte des Hofs, als der schwarze Hund plötzlich den Diebstahl bemerkte und sich wie ein geölter Blitz wieder in den Kampf stürzte. Jaulend und knurrend tobten die Tiere im Hof herum, ein einziges schwarzbraunes Knäuel. Der Knochen lag vergessen neben Claires Transporter.

Sie öffnete die Tür und war gerade dabei, sich hinter das Steuer zu setzen, als ihr Gehirn das Bild registrierte. Sie sah nach unten und betrachtete den Knochen.

Er war knapp dreißig Zentimeter lang und mit rostbraunen Schmutzflecken bedeckt. Ein Ende war abgebrochen, eine gezackte Bruchstelle war zurückgeblieben. Das andere Ende war unversehrt, und die typischen Kennzeichen waren deutlich zu erkennen.

Es war ein Oberschenkelknochen. Und er stammte von einem Menschen.

 

Zehn Meilen außerhalb der Stadt holte Lincoln Kelly, Polizeichef von Tranquility, seine Frau endlich ein.

Sie fuhr etwa achtzig Stundenkilometer mit einem gestohlenen Chevy. Sie machte Schlenker nach links und rechts, und das lose Auspuffrohr schlug jedesmal Funken auf dem Asphalt, wenn die Straße abfiel.

»Mein lieber Mann«, sagte Floyd Spear, der neben Lincoln im Streifenwagen saß. »Doreen hat heute aber kräftig getankt.«

»Ich war den ganzen Morgen unterwegs«, sagte Lincoln. »Hatte keine Gelegenheit, nach ihr zu sehen.« Er schaltete die Sirene ein, in der Hoffnung, daß Doreen abbremsen würde. Sie gab Gas.

»Und was nun?« fragte Floyd. »Soll ich Verstärkung rufen?«

Mit »Verstärkung« war Hank Dorr gemeint, der einzige andere Polizist, der an diesem Morgen noch Streifendienst hatte.

»Nein«, erwiderte Lincoln. »Wir wollen sehen, ob wir sie überreden können, rechts ranzufahren.«

»Bei hundert Sachen?«

»Häng dich an die Strippe.«

Floyd griff nach dem Mikrofon, und seine Stimme dröhnte über den Lautsprecher: »He, Doreen, halt an! Sei so gut, Schätzchen, du wirst sonst noch jemandem weh tun!«

Der Chevy fuhr weiter Schlangenlinien.

»Wir könnten warten, bis ihr das Benzin ausgeht«, schlug Floyd vor.

»Red weiter auf sie ein.«

Floyd versuchte es wieder über das Mikrofon. »Doreen, Lincoln ist hier! Sei so gut und halt an, Schätzchen! Er möchte sich entschuldigen.«

»Ich möchte was?«

»Halt an, Doreen, dann wird er’s dir selbst sagen.«

»Wovon redest du, verdammt?« rief Lincoln.

»Frauen erwarten immer, daß der Mann sich entschuldigt.«

»Aber ich hab doch nichts getan!«

Vor ihnen leuchteten plötzlich die Bremslichter des Chevy auf.

»Was hab ich gesagt?« meinte Floyd, als der Chevy langsam am Straßenrand zum Stehen kam.

Lincoln parkte den Streifenwagen dahinter und stieg aus.

Doreen saß über das Lenkrad gebeugt; ihr rotes Haar war wild zerzaust, und ihre Hände zitterten. Lincoln öffnete die Tür, griff nach dem Zündschlüssel und steckte ihn ein. »Doreen«, sagte er müde, »du mußt mit uns auf die Wache kommen.«

»Wann kommst du nach Hause, Lincoln?« fragte sie.

»Darüber können wir später reden. Komm jetzt mit zum Streifenwagen, Liebling.«

Er griff nach ihrem Ellbogen, aber sie schüttelte ihn ab und versetzte ihm obendrein noch einen Schlag auf die Hand.

»Ich will bloß wissen, wann du nach Hause kommst«, sagte sie.

»Wir haben wieder und wieder darüber gesprochen.«

»Du bist immer noch mit mir verheiratet. Du bist immer noch mein Mann.«

»Und es hat einfach keinen Sinn mehr, darüber zu reden.« Wieder griff er nach ihrem Ellbogen. Er hatte sie schon aus dem Chevy gezogen, als sie sich plötzlich losriß, ausholte und ihm einen Kinnhaken verpaßte. Er taumelte ein paar Schritte rückwärts. Sein Kopf dröhnte.

»He!« rief Floyd und packte Doreen an den Armen. »Jetzt ist aber Schluß, verstanden?«

»Laß mich los!« kreischte Doreen. Sie befreite sich aus Floyds Umklammerung und holte zu einem zweiten Schlag nach ihrem Mann aus.

Diesmal duckte Lincoln sich, was seine Frau nur noch rasender machte. Sie landete einen weiteren Treffer, bevor es Lincoln und Floyd gelang, ihre Arme festzuhalten.

»Ich tue das sehr ungern«, sagte Lincoln. »Aber du bist heute einfach zu unvernünftig.« Er legte ihr die Handschellen an. Sie spuckte ihn an. Er wischte sich mit dem Ärmel das Gesicht ab und führte sie dann ruhig zum Streifenwagen, wo er sie auf dem Rücksitz plazierte.

»O Mann«, sagte Floyd. »Dir ist ja klar, daß wir ihr ein Protokoll verpassen müssen.«

»Ich weiß.« Lincoln seufzte und setzte sich hinter das Steuer.

»Du kannst dich nicht von mir scheiden lassen, Lincoln Kelly!« rief Doreen. »Du hast versprochen, mich zu lieben und zu ehren!«

»Ich wußte ja auch nichts von der Trinkerei«, erwiderte Lincoln, während er den Wagen wendete.

Sie fuhren in gemächlichem Tempo in die Stadt zurück, während Doreen die ganze Zeit wie ein Rohrspatz schimpfte. Das Trinken brachte sie dazu; es schien, als ob der Alkohol bei ihr alle bösen Geister aus der Flasche befreite.

Vor zwei Jahren war Lincoln aus ihrem gemeinsamen Haus ausgezogen. Er sagte sich, daß er alles für diese Ehe getan hatte; zehn Jahre seines Lebens hatte er dafür gegeben. Er war keiner, der so leicht aufgab, aber schließlich hatte die Verzweiflung die Oberhand gewonnen – die Verzweiflung und das Gefühl, daß das Leben an ihm, dem Fünfundvierzigjährigen, freud- und fruchtlos vorüberrauschte. Er wollte Doreen mit Anstand begegnen, und er wünschte sich etwas von der alten Zuneigung zurück, die er in den ersten Jahren ihrer Ehe für sie empfunden hatte, als sie noch charmant und nüchtern gewesen war und nicht die wutschnaubende Alkoholikerin, die er jetzt vor sich hatte. Manchmal forschte er in seinem Herzen nach irgendwelchen Spuren der Liebe, die dort noch verborgen sein mochten, nach irgendeinem kleinen Funken in der Asche, doch da war nichts mehr. Die Asche war kalt. Und er war müde.

Er hatte versucht, zu ihr zu stehen, aber Doreen war sich einfach selbst im Weg. Alle paar Monate, wenn der Zorn in ihr wieder einmal überkochte, verbrachte sie den ganzen Tag mit Trinken. Dann »borgte« sie sich von irgendwem ein Auto und veranstaltete eines ihrer berüchtigten Hochgeschwindigkeitsrennen. Die Leute in der Stadt blieben schon vorsichtshalber den Straßen fern, wenn Doreen Kelly sich hinters Steuer setzte.

Als sie wieder auf der Wache waren, überließ Lincoln es Floyd, das Protokoll zu schreiben und Doreen einzusperren. Durch die zwei verschlossenen Türen, die zur Zelle führten, konnte er hören, wie sie nach einem Anwalt schrie. Er sollte ihr wohl einen besorgen, dachte er, obwohl sich sicherlich niemand in Tranquility ihrer annehmen wollte. Selbst in Bangor unten im Süden hatte sie schon allen Kredit verspielt. Er setzte sich an seinen Schreibtisch und begann, seinen Visitenkarten-Computer nach einem Anwalt zu durchforsten. Einen, den er schon eine Weile nicht mehr angerufen hatte. Einen, dem es nichts ausmachte, von einem Klienten mit Flüchen bombardiert zu werden.

Es war alles zuviel und zu früh am Morgen. Er schob den Computer von sich und fuhr mit der Hand durch sein Haar. Im Hinterzimmer schrie Doreen immer noch. All das würde in dieser vorwitzigen Gazette zu lesen sein, und dann würden es die Zeitungen in Bangor und Portland aufgreifen, weil der ganze verdammte Staat Maine es so komisch und so ausgesprochen kurios fand. Polizeichef von Tranquility verhaftet eigene Frau – nicht zum erstenmal.

Er griff nach dem Telefon und wählte gerade die Nummer von Tom Wiley, Rechtsanwalt, als es an seiner Tür klopfte. Er blickte auf und legte den Hörer nieder, als er Claire Elliot hereinkommen sah.

»Hallo, Claire«, sagte er. »Haben Sie inzwischen ihre Sicherheitsplakette?«

»Ich arbeite noch dran. Aber ich bin nicht wegen meines Wagens hier. Ich möchte Ihnen etwas zeigen.« Sie legte einen schmutzigen Knochen auf seinen Schreibtisch.

»Was ist das?«

»Es ist ein Femur, Lincoln.«

»Was?«

»Ein Oberschenkelknochen. Und zwar ein menschlicher, wie ich glaube.«

Er starrte den dreckverkrusteten Knochen an. Ein Ende war abgebrochen, und der Schaft wies Spuren von Tierzähnen auf. »Wo haben Sie den gefunden?«

»Draußen bei Rachel Sorkin.«

»Und wie ist Rachel da drangekommen?«

»Elwyn Clydes Hunde haben ihn in ihren Vorgarten geschleppt. Sie weiß nicht, wo sie ihn herhaben. Ich war heute morgen dort, nachdem Elwyn sich in den Fuß geschossen hatte.«

»Schon wieder?« Er verdrehte die Augen, und beide lachten. Wenn es in jedem Dorf einen Dorftrottel gab, dann war Elwyn der von Tranquility.

»Es geht ihm schon wieder besser«, sagte sie. »Aber ich nehme an, daß eine Schußverletzung gemeldet werden sollte.«

»Betrachten Sie es als erledigt. Ich habe schon eine ganze Akte über Elwyn und seine Schußverletzungen.« Er wies auf einen Stuhl. »Jetzt erzählen Sie mir von diesem Knochen. Sind Sie sicher, daß er von einem Menschen stammt?«

Sie setzte sich. Obwohl sie einander direkt in die Augen sahen, spürte er eine fast physische Barriere der Zurückhaltung zwischen ihnen. Er hatte sie schon bei ihrer ersten Begegnung wahrgenommen, als Claire, kurz nachdem sie in die Stadt gekommen war, in Tranquilitys aus drei Zellen bestehendem Gefängnis einen Insassen mit Magenschmerzen behandelt hatte. Lincoln hatte sich von Anfang an für sie interessiert. Wo war ihr Mann? Warum zog sie ihren Sohn alleine groß? Aber ihm war nicht wohl gewesen bei dem Gedanken, ihr persönliche Fragen zu stellen, und ihr Verhalten ließ eine solche Einmischung auch nicht eben geraten erscheinen. Freundlich, aber ausgesprochen in sich zurückgezogen, war sie offenbar nicht gewillt, irgend jemanden an sich heranzulassen, was wirklich schade war. Sie war eine attraktive Frau, nicht groß, aber von kräftiger Statur, mit leuchtenden dunklen Augen und fülligen braunen Locken, in denen sich bereits die ersten silbernen Strähnen zeigten.

Sie beugte sich vor und stützte die Hände auf seinen Schreibtisch. »Ich bin keine Expertin oder so was«, sagte sie, »aber ich wüßte kein Tier, von dem dieser Knochen stammen könnte. Nach der Größe zu urteilen, würde ich auf ein Kind tippen.«

»Haben Sie dort noch andere Knochen gesehen?«

»Rachel und ich haben den Garten abgesucht, aber wir haben keine gefunden. Die Hunde könnten diesen hier irgendwo im Wald aufgestöbert haben. Sie werden die ganze Gegend durchsuchen müssen.«

»Könnte von einem alten Indianerfriedhof stammen.«

»Möglich. Aber muß er nicht trotzdem zur Gerichtsmedizin?«

Sie drehte sich plötzlich um und legte den Kopf schief. »Was ist das für ein Tumult?«

Lincoln errötete. Doreen schrie wieder in ihrer Zelle herum und stieß einen neuen Strom von Beleidigungen aus. »Zur Hölle mit dir, Lincoln! Du Idiot! Du Lügner! Zum Teufel mit dir!«

»Klingt, als ob irgend jemand Sie nicht besonders mag«, meinte Claire.

Er seufzte und preßte die Hand an die Stirn.

»Meine Frau.«

Claires Blick drückte Mitgefühl aus. Offensichtlich wußte sie über seine Probleme Bescheid. Jeder in der Stadt wußte Bescheid.

»Es tut mir leid«, sagte sie.

»He, du Versager!« schrie Doreen. »Du hast kein Recht, mich so zu behandeln!«

Lincoln gab sich die größte Mühe, seine Aufmerksamkeit wieder dem Oberschenkelknochen zuzuwenden.

»Wie alt war das Opfer Ihrer Ansicht nach?«

Sie nahm den Knochen und drehte ihn hin und her. Für einen Augenblick hielt sie ihn mit stiller Ehrfurcht; es war ihr vollkommen bewußt, daß dieses abgebrochene Stück Knochen einst zu einem lachenden, herumtollenden Kind gehört hatte.

»Jung«, murmelte sie. »Ich würde sagen, unter zehn Jahren.« Sie legte ihn wieder auf den Schreibtisch und stand schweigend und mit gesenktem Blick da.

»Bei uns sind in letzter Zeit keine Kinder als vermißt gemeldet worden«, sagte er. »Diese Gegend ist seit Jahrhunderten bewohnt, und es tauchen immer wieder mal alte Knochen auf. Vor hundert Jahren war es gar nicht so ungewöhnlich, jung zu sterben.«

Sie runzelte die Stirn. »Ich glaube nicht, daß dieses Kind eines natürlichen Todes gestorben ist«, sagte sie leise.

»Wie kommen Sie darauf?«

Sie beugte sich vor, um seine Schreibtischlampe anzuknipsen, und hielt den Knochen nahe ans Licht. »Hier«, sagte sie. »Es ist alles so verkrustet, daß Sie es durch den Schmutz kaum sehen können.«

Er zog seine Brille aus der Tasche – noch etwas, das ihn daran erinnerte, wie die Jahre vergingen, wie seine Jugend ihm entglitt. Er beugte sich ebenfalls vor und versuchte zu erkennen, worauf sie zeigte. Erst als sie mit dem Fingernagel einen Klumpen Dreck weggekratzt hatte, sah er den keilförmigen Einschnitt.

Es war die Spur eines Beils.

2

Als Warren Emerson endlich wieder zu Bewußtsein kam, stellte er fest, daß er neben dem Holzstoß lag und daß ihm die Sonne in die Augen schien. Das letzte, woran er sich erinnerte, waren Schatten, silbriger Reif auf dem Gras und vom Frost herausgetriebene Erdaufwerfungen. Er hatte Brennholz gehackt; er hatte die Axt geschwungen und sich an dem Klang der hallenden Schläge in der frischen Morgenluft erfreut. Die Sonne war noch nicht über den Wipfel der Kiefer vor seinem Haus gestiegen.

Jetzt stand sie hoch über dem Baum, was bedeutete, daß er eine ganze Weile hier gelegen hatte; vielleicht eine Stunde, nach dem Stand der Sonne zu urteilen.

Warren setzte sich langsam auf; sein Kopf schmerzte, wie er es hinterher immer tat. Sein Gesicht und seine Hände waren taub vor Kälte, beide Handschuhe hatte er verloren. Er sah die Axt neben sich liegen, die Klinge steckte tief in einem Ahornklotz. Ein Tagewerk an Brennholz, alles schon gespalten, lag um ihn verstreut. Es dauerte quälend lange, bis er diese Eindrücke registriert und die Bedeutung jedes einzelnen bedacht hatte. Seine Gedanken formten sich nur mit großer Mühe, als seien sie von weit her angeschleppt worden und in einem Zustand der Auflösung und Unordnung bei ihm angekommen. Er hatte Geduld mit sich; irgendwann würde alles einen Sinn ergeben.

Er war bald nach Sonnenaufgang hinausgegangen, um sein Holz für den Tag zu hacken. Jetzt lag das Resultat seiner Arbeit um ihn herum. Er war fast mit dem Morgenpensum fertig gewesen, hatte eben die Axt in den letzten Holzklotz getrieben, als die Dunkelheit ihn überkam. Er war auf den Holzstoß gefallen; das erklärte wohl, weshalb einige der Stücke heruntergerutscht waren. Seine Unterhosen waren klatschnaß; er mußte sich in die Hose gemacht haben, wie so häufig während eines Anfalls. Er sah an sich hinab und sah, daß seine Jeans mit Urin durchtränkt waren.

An seinem Hemd war Blut.

Er stand schwankend auf und ging langsam zu dem alten Farmhaus zurück.

Die Luft in der Küche war heiß und stickig von dem Holzofen; sie machte ihn schwindlig, und als er das Bad erreichte, waren die Ränder seines Gesichtsfeldes schon getrübt. Er setzte sich auf den abgewetzten Toilettendeckel, nahm den Kopf in beide Hände und wartete darauf, daß die Wolken in seinem Hirn sich verzogen. Die Katze kam herein, rieb sich an seiner Wade und buhlte miauend um seine Aufmerksamkeit. Er streckte die Hand nach ihr aus, und ihr weiches Fell spendete ihm Trost. Sein Gesicht war nicht mehr taub vor Kälte, und nun spürte er bewußt den Schmerz, der beharrlich in seinen Schläfen hämmerte. Auf das Waschbecken gestützt, richtete er sich auf und sah in den Spiegel. Dicht über seinem linken Ohr war das graue Haar steif und blutverklebt. Ein Blutfleck war auf seiner Wange eingetrocknet. Er wirkte wie eine Kriegsbemalung. Er starrte sein Spiegelbild an, ein Gesicht, das tiefe Spuren von sechsundsechzig harten Wintern und ehrlicher Arbeit und Einsamkeit trug. Seine einzige Gefährtin war die Katze, die jetzt zu seinen Füßen miaute – nicht aus Zuneigung, sondern vor Hunger. Er liebte die Katze, und irgendwann einmal würde er ihr Hinscheiden betrauern, mit Tränen und einem feierlichen Begräbnis und Nächten voller Sehnsucht nach dem Klang ihres Schnurrens; doch er machte sich keineswegs vor, daß sie ihn liebte.

Er zog seine Kleider aus, das zerschlissene und blutige Hemd, die uringetränkte Jeanshose. Er zog sich mit der gleichen Sorgfalt aus, mit der er an jede Aufgabe in seinem Leben heranging; die Kleider legte er in einem ordentlichen Stapel auf den Toilettendeckel. Er drehte die Dusche auf und stellte sich darunter, ohne zu warten, bis das Wasser warm war; es war nur eine momentane Unannehmlichkeit, kaum ein Zittern wert im Vergleich mit seinem ganzen kalten und trostlosen Leben. Er wusch sich das Blut aus den Haaren; die Seife brannte in der Schürfwunde. Er mußte sich die Kopfhaut aufgerissen haben, als er auf den Holzstoß gefallen war. Sie würde heilen, so wie all seine anderen Verletzungen verheilt waren. Warren Emerson war ein lebendes Zeugnis für die Widerstandsfähigkeit von vernarbtem Fleisch.

Die Katze fing wieder an zu miauen, sobald er aus der Dusche trat. Es war ein jammervolles Geräusch, und er konnte es nicht anhören, ohne sich schuldig zu fühlen. Immer noch nackt, ging er in die Küche, wo er eine Dose Little Friskies mit Hühnchen öffnete und in Monas Katzenschüssel leerte.

Sie knurrte vor Vergnügen leise auf und begann zu fressen, nunmehr vollkommen gleichgültig gegenüber allem, was er tun oder lassen mochte. Abgesehen von seiner Geschicklichkeit mit dem Dosenöffner war er für ihre Existenz ohne Bedeutung.

Er ging ins Schlafzimmer, um sich anzuziehen.

Früher einmal war es das Zimmer seiner Eltern gewesen, und noch immer enthielt es ihre gesamten Besitztümer. Das gedrechselte Bett, die Kommode mit den Messinggriffen, die Fotografien an den Wänden in ihren Blechrahmen. Während er sein Hemd zuknöpfte, ruhte sein Blick auf einem bestimmten Foto, auf dem ein dunkelhaariges Mädchen mit strahlenden Augen zu sehen war. Was wohl Iris in diesem Augenblick machte? So fragte er sich jetzt, wie er es an jedem Tag seines Lebens tat. Ob sie je an ihn dachte? Sein Blick wanderte zu einem anderen Bild. Es war die letzte Aufnahme seiner Familie, die Mutter mollig und lächelnd, der Vater, der sich sichtlich unwohl fühlte in Anzug und Krawatte. Und zwischen ihnen eingekeilt, das Haar zur Seite geklatscht, stand der kleine Warren.

Er streckte die Hand aus, und seine Finger berührten die Fotografie seines zwölfjährigen Gesichts. Er konnte sich nicht an diesen Jungen erinnern. Oben auf dem Speicher waren die Spielzeugeisenbahnen und die Abenteuerbücher und die brüchigen Malkreiden, die einst dem Kind auf dem Foto gehört hatten, aber es war ein anderer Warren, der in diesem Haus gespielt hatte, der sich lächelnd zum Sonntagsfoto zwischen seinen Eltern aufgestellt hatte. Nicht der Warren, den er sah, wenn er in den Spiegel blickte.

Plötzlich fühlte er ein ungeheures Verlangen danach, die Spielsachen dieses Jungen noch einmal anzufassen.

Er stieg die Stufen zum Speicher hinauf und zerrte die alte Wäschetruhe unter das Licht. Die nackte Glühbirne schwang über ihm hin und her, als er den Deckel der Truhe öffnete. Sie war voll von Schätzen. Er nahm sie der Reihe nach heraus und legte sie auf den staubigen Boden. Die Keksdose mit all seinen Matchboxautos. Die Modellhäuser. Den Lederbeutel mit den Murmeln. Schließlich fand er, wonach er gesucht hatte: das Damespiel.

Er legte das Brett auf den Boden und setzte die Spielsteine darauf; die roten auf seiner Seite, die schwarzen gegenüber. Mona kam die Speichertreppe hochgetappt und setzte sich neben ihn. Ihr Atem roch nach Hühnerfleisch. Einen Augenblick lang musterte sie das Brett mit katzenhafter Geringschätzung. Dann schlich sie lautlos heran und schnüffelte an einem der schwarzen Steine.

»Also das ist dein erster Zug?« sagte Warren. Es war kein besonders cleverer Zug, aber was konnte man schon von einer Katze erwarten? Er zog für sie mit dem schwarzen Stein, und sie schien zufrieden.

Draußen blies der Wind um das Haus und rüttelte an den Läden. Er konnte hören, wie die Zweige des Flieders gegen die Schindeln kratzten.

Warren zog mit einem der roten Steine und lächelte seine Gefährtin an.

»Du bist dran, Mona.«

 

Wie an jedem Morgen in der Woche schlich Isabel Morrison um halb sieben in das Schlafzimmer ihrer älteren Schwester und kroch zu Mary Rose unter die Decke. Dort zappelte sie herum wie ein fröhliches Würmchen und summte vor sich hin, während sie darauf wartete, daß Mary Rose aufwachte. Es gab dann immer ein großes Geseufze und Gestöhne, und Mary Rose wälzte sich von einer Seite auf die andere, so daß ihr langes braunes Haar Isabel im Gesicht kitzelte. Für Isabel war Mary Rose das schönste Mädchen auf der ganzen Welt. Sie sah aus wie die schlafende Prinzessin Aurora, die auf den Kuß des Prinzen wartete. Manchmal tat Isabel so, als sei sie der Märchenprinz, und obwohl sie wußte, daß Mädchen einander eigentlich nicht küssen sollen, gab sie ihrer Schwester dann einen Schmatz auf den Mund und verkündete: »So, jetzt mußt du aufwachen!«

Einmal war Mary Rose die ganze Zeit wach gewesen und war plötzlich wie ein kicherndes Monster hochgefahren. Sie hatte Isabel so erbarmungslos gekitzelt, daß die beiden Mädchen in einem Duett von ausgelassenem Kreischen aus dem Bett gefallen waren.

Wenn Mary Rose sie jetzt doch bloß kitzeln würde. Wenn sie bloß wieder sie selbst wäre.

Isabel lehnte sich ganz dicht an Mary Rose und flüsterte ihr ins Ohr: »Willst du nicht aufwachen?«

Mary Rose zog sich die Decke über den Kopf. »Geh weg, du Nervensäge!«

»Mommy sagt, es ist Zeit für die Schule. Du mußt aufwachen.«

»Raus aus meinem Zimmer!«

»Aber es ist Zeit für –«

Mary Rose knurrte nur und versetzte Isabel einen wütenden Fußtritt.

Isabel rutschte zur anderen Seite des Bettes, wo sie verwirrt und schweigend liegenblieb, ihr schmerzendes Schienbein rieb und zu verstehen versuchte, was gerade geschehen war. Mary Rose hatte sie noch nie getreten. Mary Rose wachte immer mit einem Lächeln auf, nannte sie Dizzy Izzy und flocht ihr das Haar, bevor sie zur Schule ging.

Sie beschloß, es noch einmal zu versuchen. Sie krabbelte auf allen vieren zum Kopfkissen ihrer Schwester, zog die Decke zurück und flüsterte Mary Rose ins Ohr: »Ich weiß, was Mommy und Daddy dir zu Weihnachten schenken. Willst du’s hören?«

Mary Rose riß die Augen auf. Sie drehte sich um und sah Isabel an.

Mit einem ängstlichen Wimmern kletterte Isabel aus dem Bett und starrte in ein Gesicht, das sie kaum wiedererkannte. Ein Gesicht, das ihr angst machte. »Mary Rose?« flüsterte sie.

Dann lief sie aus dem Zimmer.

Ihre Mutter war unten in der Küche, rührte in einem Topf mit Haferbrei und versuchte, trotz des Gekreischs von Rocky, dem Papagei, der Stimme im Radio zuzuhören. Als Isabel in die Küche gerannt kam, drehte ihre Mutter sich um und sagte: »Es ist sieben Uhr. Steht deine Schwester denn nicht auf?«

»Mommy«, heulte Isabel verzweifelt, »das ist nicht Mary Rose!«

 

Noah Elliot vollführte einen Kick-Flip – er ließ sein Skateboard vom Bordstein in die Luft schnellen und legte eine saubere Landung auf dem Asphalt hin. Ja! Voll auf den Punkt! Seine weiten Klamotten flatterten im Wind, als er mit dem Board bis zum Lehrerparkplatz fuhr, den Randstein mit einem Ollie überwand und wieder zurückkam. Eine coole Vorführung, von Anfang bis Ende.

Nur in diesen Augenblicken hatte er das Gefühl, sein Leben im Griff zu haben; nur wenn er auf seinem Skateboard fuhr, bestimmte er sein eigenes Schicksal, seinen eigenen Kurs. In letzter Zeit schienen allzu viele Dinge von anderen Leuten entschieden zu werden; es kam ihm vor, als zerrte man ihn, der sich mit Händen und Füßen zu wehren suchte, in eine Zukunft, die er sich nie gewünscht hatte. Aber wenn er auf seinem Board dahinfuhr, wenn der Wind ihm ins Gesicht blies und die Straße an ihm vorbeisauste, gehörte der Augenblick ihm. Er konnte vergessen, daß er in dieser Niemandsstadt gefangen war. Er konnte sogar für die Dauer einer kurzen, berauschenden Fahrt vergessen, daß sein Dad tot war und nichts jemals wieder in Ordnung sein konnte.

Er spürte, daß die neuen Mädchen ihn beobachteten. Sie standen dicht beieinander hinter den Containern, die als Klassenzimmer dienten, hatten die gestylten Köpfe zusammengesteckt und machten gickelnde Mädchengeräusche. Ihre Gesichter bewegten sich alle gleichzeitig, während ihre Blicke Noah auf seinem Skateboard verfolgten. Er sprach kaum mit ihnen, und sie sprachen kaum mit ihm, aber jedesmal in der Mittagspause waren sie zur Stelle, um ihm zuzusehen, wie er sein Repertoire abspulte.

Noah war nicht der einzige Skateboarder an der Knox High School, aber er war eindeutig der beste, und die Girls konzentrierten sich nur auf ihn und ignorierten die anderen Jungs, die auf dem Asphalt umhersausten. Diese Jungs waren alle bloß Angeber, eingebildete Typen, die sich für Skater hielten, weil sie von Kopf bis Fuß in Klamotten aus dem CCS-Katalog steckten. Sie trugen alle die korrekte Uniform – Birdhouse-Hemden und Kevlar-Schuhe und Hosen, die so lang waren, daß der Saum über den Boden schleifte –, aber trotz allem waren sie bloß Angeber in einem Provinzkaff. Sie waren eben nicht mit den großen Jungs in Baltimore gefahren.

Als Noah die Drehung vollführte und zur Rückfahrt ansetzte, bemerkte er den Schimmer blonder Haare am Rand des Sportplatzes. Amelia Reid beobachtete ihn. Sie stand abseits von den anderen und hielt wie üblich ein Buch umklammert. Amelia war eines von diesen Mädchen, die aussahen, als wären sie in Honig getaucht – so golden und so vollkommen war sie. Kein bißchen wie ihre zwei blöden Brüder, die ihn ständig in der Cafeteria schikanierten. Noah war nie zuvor aufgefallen, daß sie ihn beobachtete, und als ihm klar wurde, daß ihre Aufmerksamkeit genau in diesem Moment auf ihn gerichtet war, begannen seine Knie ein wenig zu zittern.

Er legte einen Ollie hin, und bei der Landung wäre ihm um ein Haar das Board weggesaust. Konzentrier dich, du Heini! Jetzt bloß nicht ablegen! Er raste zum Parkplatz hinunter, wirbelte herum und kam die Betonrampe entlanggerattert. Auf einer Seite war eine leicht abschüssige Brüstung. Er machte eine Drehung und katapultierte sich auf die Brüstung. Es würde eine tolle Schußfahrt werden.

Wenn nur Taylor Darnell nicht gerade diesen Augenblick gewählt hätte, um vor ihm aufzukreuzen.

Noah brüllte: »Aus dem Weg!« – aber Taylor reagierte zu spät.

Im letzten Moment ließ sich Noah von seinem Skateboard fallen und stürzte auf den Asphaltbelag. Das Skateboard sauste mit unvermindertem Schwung die Brüstung hinunter und fuhr Taylor mit voller Wucht in den Rücken.

Taylor wirbelte herum und schrie: »He, Mann, was soll das? Wer hat das geworfen?«

»Ich hab’s nicht geworfen, Mensch«, sagte Noah, während er sich aufrappelte. Seine Handflächen waren aufgeschürft, und sein Knie pochte. »Es war ein Unfall. Du bist halt im Weg gewesen.« Noah bückte sich, um sein Skateboard aufzuheben, das mit den Rädern nach oben liegengeblieben war. Taylor war eigentlich ganz in Ordnung; einer der ersten, die zu ihm gekommen waren, um hallo zu sagen, als Noah vor acht Monaten in die Stadt gekommen war. Manchmal waren sie sogar nachmittags zusammen unterwegs und brachten einander neue Skateboard-Tricks bei. Um so schockierter war Noah, als Taylor ihm plötzlich einen heftigen Stoß versetzte. »He! He, Mann, was ist denn los?« rief Noah.

»Du hast es nach mir geworfen!«

»Nein, hab ich nicht.«

»Alle haben’s gesehen!« Taylors Blick schweifte über die umherstehenden Schüler. »Habt ihr es etwa nicht gesehen?«

Niemand sagte etwas.

»Ich habe dir doch gesagt, es war ein Unfall«, sagte Noah. »Es tut mir echt leid, Mann!«

Von den Containern war Gelächter zu hören. Taylor warf einen Blick auf die Mädchen und merkte, daß sie die Auseinandersetzung verfolgten. Sein Gesicht wurde rot vor Zorn. »Ruhe da hinten!« schrie er sie an. »Blöde Hühner!«

»Mensch, Taylor«, sagte Noah, »was hat dich denn gebissen?«

Die anderen Skater hatten inzwischen ihre Bretter geschnappt und standen neugierig um sie herum. Einer von ihnen witzelte:

»Ey, warum hat Taylor die Straße überquert?«

»Warum?«

»Weil sein Schwanz in dem Huhn gesteckt hat!«

Alle Skater lachten, und Noah lachte mit. Er konnte einfach nicht anders.

Der Schlag traf ihn unvorbereitet. Er schien aus dem Nichts zu kommen, ein ganz gemeiner Kinnhaken. Sein Kopf wurde nach hinten geschleudert, er taumelte zurück und fiel mit dem Hintern auf den Asphalt. Da saß er für einen Augenblick. Seine Ohren dröhnten, und er konnte nur verschwommen sehen. Dann wich der Schock verletztem Zorn. Er war mein Freund, und er hat mich geschlagen!

Noah stand schwankend auf und warf sich gleich mit voller Wucht auf Taylor. Beide fielen der Länge nach zu Boden, Noah obenauf. Sie wälzten sich hin und her und ruderten mit Armen und Beinen, aber keiner der Jungen konnte einen entscheidenden Treffer landen. Schließlich gelang es Noah, Taylor unter sich einzuklemmen, aber es war, als hielte man eine fauchende Katze fest.

»Noah Elliot!« Er erstarrte, während seine Hände immer noch Taylors Handgelenke umklammerten. Er wandte langsam den Kopf und sah die Rektorin, Miss Cornwallis, die auf sie herabblickte. Die anderen Schüler waren alle zurückgewichen und sahen aus sicherer Entfernung zu.

»Aufstehen!« sagte Miss Cornwallis. »Alle beide!«

Sofort ließ Noah Taylor los und stand auf. Taylor, dessen Gesicht jetzt vor Wut dunkelrot war, schrie: »Er hat mich gestoßen! Er hat mich gestoßen, und ich habe versucht, mich zu verteidigen!«

»Das ist nicht wahr! Er hat mich zuerst geschlagen!«

»Er hat mit seinem Skateboard geworfen!«

»Ich habe gar nichts geworfen! Es war ein Unfall!«

»Unfall? Du Lügner!«

»Ruhe jetzt, ihr beiden!« schrie Miss Cornwallis.

Ein betroffenes Schweigen senkte sich über den Schulhof, und alle Blicke ruhten auf der Rektorin. Sie hatten sie noch nie zuvor schreien gehört. Sie war eine etwas spröde, aber gutaussehende Frau, die in der Schule Kostüme und Schuhe mit flachen Absätzen trug; ihr blondes Haar war fein säuberlich hochgesteckt. Zu hören, wie sie die Stimme erhob, war für alle ein Erlebnis.

Miss C. holte tief Luft und fing sich rasch wieder. »Gib mir das Skateboard, Noah.«

»Es war ein Unfall. Ich habe ihn nicht geschlagen.«

»Du hast ihn zu Boden gedrückt. Ich habe es gesehen.«

»Aber ich habe ihn nicht geschlagen!«

Sie streckte die Hand aus. »Gib es her.«

»Aber –«

»Sofort.«

Noah ging zu seinem Skateboard, das in der Nähe lag. Es war schon recht abgenutzt; eine beschädigte Kante war kreuz und quer mit Klebeband überzogen. Das Board war ein Geschenk zu seinem dreizehnten Geburtstag gewesen. Er hatte den Aufkleber an der Unterseite angebracht – es war ein grüner Drache mit roten Flammen, die aus seinem Rachen hervorschossen –, und er hatte die Räder auf den Straßen von Baltimore eingefahren, wo er früher gewohnt hatte. Er liebte sein Skateboard, weil es ihn an all das erinnerte, was er zurückgelassen hatte. Alles, was er immer noch vermißte. Er hielt es noch einen Augenblick fest und reichte es dann schweigend Miss C.

Sie nahm es mit einem Ausdruck des Widerwillens. Dann wandte sie sich an die anderen Schüler und sagte: »Ab sofort ist Schluß mit dem Skateboardfahren auf dem Schulgelände. Ich will, daß alle ihre Skateboards heute mit nach Hause nehmen. Und wenn ich morgen noch irgendwelche sehe, werde ich sie konfiszieren. Ist das klar?«

Stummes Kopfnicken war die Antwort.

Miss C. wandte sich Noah zu. »Du wirst heute nachmittag bis halb vier nachsitzen.«

»Aber ich habe doch nichts getan!«

»Du kommst jetzt mit in mein Büro. Du wirst dich hinsetzen und darüber nachdenken, was du getan hast.«

Noah wollte widersprechen, aber dann schluckte er seine Worte herunter. Alle sahen ihn an. Er sah für einen Moment Amelia Reid, die immer noch am Rand des Sportplatzes stand, und sein Gesicht färbte sich schamrot. Schweigend und mit gesenktem Kopf folgte er Miss C. zum Schulgebäude.

Die anderen Skater machten ihnen mißmutig Platz. Erst als Noah schon an ihnen vorbei war, hörte er einen der Jungen murmeln:

»Vielen Dank, Elliot. Du hast uns allen die Tour vermasselt.«

 

Wenn man den Puls der Stadt Tranquility fühlen wollte, mußte man in Monaghan’s Diner gehen. Dort traf sich jeden Mittag der Dinosaurier-Club. Es war eigentlich kein Club, eher eine Art Frühschoppen; sechs oder sieben Rentner, die, weil sie nicht mehr zur Arbeit gehen konnten, an Nadines Theke herumsaßen und die Torten unter den Plastikhauben bewunderten. Claire hatte keine Ahnung, wie der Club zu seinem Namen gekommen war. Sie vermutete, daß eine der Ehefrauen einmal im Groll über die tägliche Abwesenheit ihres Mannes mit etwas herausgeplatzt war wie »Ach, du und dieser Haufen alter Dinosaurier!« Und der Name war, wie alle guten Namen, hängengeblieben. Es waren ausschließlich Männer, alle weit über sechzig. Nadine war erst in den Fünfzigern, aber sie war ein inoffizieller Dinosaurier, weil sie hinter der Theke arbeitete und so freundlich war, ihre schlechten Witze und ihren Zigarettenqualm zu ertragen.

Vier Stunden, nachdem der Oberschenkelknochen gefunden worden war, kehrte Claire zum Lunch in Monaghan’s ein. Die Dinosaurier – es waren heute sieben, und sie trugen alle orangefarbene Signalkleidung über ihren Baumwollhemden – saßen auf ihren Stammplätzen, den Barhockern auf der linken Seite nahe der Milchshake-Maschine.

Ned Tibbetts drehte sich um und nickte, als Claire zur Tür hereinkam. Keine herzliche Begrüßung, aber auf schroffe Weise respektvoll.

»Morgen, Doc.«

»Guten Morgen, Mr. Tibbetts.«

»Wir werden heute noch’nen ganz schön fiesen Wind kriegen.«

»Es ist jetzt schon eiskalt draußen.«

»Kommt aus Nordwest. Könnte heute nacht Schnee geben.«

»Kaffee für Sie, Doc?« fragte Nadine.

»Danke.«

Ned wandte sich wieder den anderen Dinosauriern zu, die alle auf verschiedene Weise Claires Ankunft zur Kenntnis genommen hatten und jetzt wieder in ihr Gespräch vertieft waren. Sie kannte nur zwei von ihnen mit Namen, die anderen waren nicht mehr als vertraute Gesichter. Claire saß allein an ihrem Ende der Theke, wie es ihrem Status als Außenseiterin entsprach. Nicht daß die Leute nicht nett zu ihr gewesen wären. Sie lächelten, sie waren höflich. Aber für diese Eingeborenen waren ihre acht Monate in Tranquility nur ein vorübergehender Aufenthalt; sie war in ihren Augen eine Großstadtpflanze, die es einmal für eine Weile mit dem einfachen Leben versuchen wollte. Der Winter, da waren sich alle einig, würde sie auf die Probe stellen. Vier Monate Schneestürme und Glatteis würden sie in die Stadt zurücktreiben, so wie sie die beiden letzten auswärtigen Ärzte verjagt hatten.

Nadine schob Claire eine Tasse dampfenden Kaffee herüber. »Sie wissen doch sicher alles darüber, oder?« fragte sie.

»Alles worüber?«

»Diesen Knochen.« Nadine stand da und sah sie an; sie wartete geduldig auf Claires Beitrag zum allgemeinen Wissensreservoir des Ortes. Wie die meisten Frauen aus Maine verbrachte Nadine viel Zeit mit Zuhören. Das Reden schien man hier zumeist den Männern zu überlassen. Claire hörte ihre Gespräche, wann immer sie im Haushaltswarengeschäft oder im Kaufhaus oder im Postamt war. Sie standen herum und schwatzten, während ihre Frauen warteten, schweigend und wachsam.

»Ich hab gehört, es ist ein Kinderknochen«, sagte Joe Bartlett, indem er sich auf seinem Hocker umdrehte und Claire ansah. »Ein Oberschenkelknochen.«

»Stimmt das, Doc?« fragte ein anderer.

Die anderen Dinosaurier wandten sich um und sahen Claire an.

Sie antwortete lächelnd: »Sie scheinen bereits alles darüber zu wissen.«

»Hab gehört, er war ganz schön lädiert. Vielleicht ein Messer. Vielleicht eine Axt. Und dann haben sich die Tiere drüber hergemacht.«

»Ihr Jungs seid ja heute ziemlich munter«, kommentierte Nadine höhnisch.

»Drei Tage in diesen Wäldern, und die Waschbären und Kojoten nagen so einen Knochen blitzeblank. Und dann sind Elwyns Hunde gekommen. Er füttert sie so gut wie nie, wißt ihr. So ein Knochen ist da ein echter Leckerbissen. Vielleicht haben seine Hunde schon wochenlang dran rumgenagt. Elwyn käme gar nicht auf die Idee, da mal genauer hinzugucken.«

Joe lachte. »Dieser Elwyn – er hat’s einfach nicht mit dem Denken.«

»Vielleicht hat er das Kind selbst erschossen. Hat es mit einem Hirsch verwechselt.«

Claire sagte: »Der Knochen sah sehr alt aus.«

Joe Bartlett machte Nadine ein Zeichen. »Ich habe mich entschieden. Ich nehme das Monte-Cristo-Sandwich.«

»Hal-loo! Joe ist aber gar nicht wählerisch heute!« sagte Ned Tibbetts.

»Und Sie, Doc?«

»Ein Thunfisch-Sandwich und einen Teller Pilzsuppe, bitte.«

Während Claire ihren Lunch aß, hörte sie, wie sich die Männer darüber unterhielten, wem der Knochen wohl gehört haben könnte. Es war unmöglich, ihnen nicht zuzuhören; drei von ihnen trugen Hörgeräte. Die meisten von ihnen konnten sich sechzig Jahre zurückerinnern, und sie spielten sich die verschiedenen Möglichkeiten wie Federbälle zu. Vielleicht war es das junge Mädchen, das von der Bald-Rock-Klippe gestürzt war. Nein, sie haben ihre Leiche gefunden, erinnert ihr euch? Vielleicht war es die Kleine von Jewetts – ist sie nicht mit sechzehn von zu Hause weggelaufen? Ned widersprach; er hatte von seiner Mutter gehört, daß sie in Hartford lebte; das Mädchen müßte inzwischen über sechzig sein, wahrscheinlich schon Großmutter. Fred Moody sagte, seine Frau Florida hätte gemeint, das tote Mädchen müßte von auswärts sein – eine von den Sommerleuten. In Tranquility behielt man die eigenen Leute im Auge, und wenn ein Kind aus dem Ort verschwunden wäre, würde sich doch irgendwer daran erinnern, oder?

Nadine schenkte Claire Kaffee nach. »Die finden auch kein Ende, was?« meinte sie. »Man könnte meinen, sie planen den Weltfrieden.«

»Wie kommt es eigentlich, daß sie soviel darüber wissen?«

»Joe ist der Cousin zweiten Grades von Floyd Spear, der bei der Polizei arbeitet.« Nadine begann, die Theke mit langen, forschen Bewegungen abzuwischen; ein leichter Chlorgeruch blieb zurück. »Angeblich soll irgend so ein Knochenexperte heute von Bangor rüberkommen. Wenn Sie mich fragen, das muß jemand von diesen Sommerleuten gewesen sein.«

Das war natürlich die naheliegende Erklärung – jemand von den Sommerleuten. Ob es ein ungelöstes Verbrechen oder eine nicht identifizierte Leiche war, immer mußte diese Allzweckantwort herhalten. Jedes Jahr im Juni vervierfachte sich die Bevölkerung von Tranquility, wenn die reichen Familien aus Boston und New York ankamen, um hier ihre Ferien am See zu verbringen. In dieser friedlichen Sommerkolonie aalten sie sich dann auf den Veranden ihrer Häuschen direkt am Seeufer, während ihre Kinder im Wasser herumtollten. In den Geschäften von Tranquility klingelten fröhlich die Kassen von den Dollars, die das Sommervolk in die regionale Wirtschaft pumpte. Irgend jemand mußte ja ihre Bungalows reinigen, ihre schicken Autos reparieren und ihre Lebensmittel in Tüten packen. Die Einnahmen dieser wenigen Monate reichten aus, um die örtliche Bevölkerung einen Winter lang zu ernähren.

Das Geld machte die Besucher erst erträglich. Das und die Tatsache, daß sie jedesmal im September, wenn die Blätter fielen, wieder verschwanden und die Stadt den Leuten überließen, die hierhergehörten.

Claire beendete ihr Mittagessen und ging zu Fuß zur Praxis zurück.

Die Hauptstraße von Tranquility folgte der Biegung des Seeufers. Am oberen Ende der Elm Street befand sich Joe Bartletts Tankstelle mit Autowerkstatt, die er zweiundvierzig Jahre lang geführt hatte, bevor er sich aufs Altenteil zurückzog. Jetzt waren es die beiden Mädchen seiner Tochter, die die Zapfsäulen bedienten und Öl wechselten. Ein Schild an der Werkstatt verkündete stolz: »Eigentümer und Betreiber: Joe Bartlett und Enkelinnen«. Claire hatte das Schild immer gemocht; sie fand, daß es sehr für Joe Bartlett sprach.