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Die Angst vor Terror und Kriminalität treibt uns zu immer neuen und radikaleren Maßnahmen. Zu mehr Sicherheit haben sie nichtgeführt. Nahezu unbemerkt von der Öffentlichkeit unterhöhlt die Bundesregierung damit unsere Bürgerrechte, warnt der renommierte Datensicherheitsexperte Peter Schaar. Während wir noch die rasante Verwandlung der Türkei in ein autokratisches Regime oder die weitreichenden Befugnisse der Homeland Security in den USA kritisieren, vergessen wir, dass auch in Deutschland Datenschutzstandards in Gefahr sind. Längst haben wir uns an biometrische Passbilder, die Vorratsdatenspeicherung oder an die Ausdehnung der Videoüberwachung gewöhnt - ohne jeweils den Nutzen und die Risiken solcher Maßnahmen neu auszuloten. Schaars Beispiele belegen: Das staatliche Gewaltmonopol muss demokratisch kontrolliert werden. Ein Plädoyer, der durch Terrorangst und Terrorgefahr bewirkten Erosion der offenen Gesellschaft selbstbewusst entgegenzutreten.
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Die Anschläge am 11. September 2001 in New York und Washington haben sich in unser kollektives Gedächtnis eingebrannt. Angesichts der schrecklichen Bilder der einstürzenden Türme des World Trade Center trieb viele Menschen die Frage um, wie man die Anstifter dieses Massenmords zur Verantwortung ziehen könnte. Zugleich wuchs die Besorgnis, die westlichen Demokratien könnten im Zuge des islamistischen Terrorismus ihre Grundwerte verraten.1 Leider hat sich inzwischen bestätigt, wie berechtigt diese Befürchtung war.
Demokratien leben von der Freiheit ihrer Bürgerinnen und Bürger. Doch Terror erzeugt Angst, und Angst fordert Sicherheit. Rückt die Gewährleistung der Sicherheit ins Zentrum staatlichen Handelns, werden zugleich Freiheitsrechte beeinträchtigt. Ganz im Sinne der Ideologen des Terrors, denn auf diese Weise übersteigt die mittelbare Wirkung der Attacken noch deren direkte Zerstörungen. Die Botschaft lautet: Niemand ist sicher – es kann jeden treffen. Dieser Effekt wird erreicht, gerade weil sich keiner der islamistischen Anschläge gegen einen Staats- oder Regierungschef richtete. Kein Spitzenpolitiker, keine Firmenchefin, kein General, keine hohe Repräsentantin der Justiz oder der Polizei kamen dabei je zu Schaden. Die Opfer traf es ganz überwiegend nach dem Zufallsprinzip. Getötet und verletzt wurden unterschiedslos Atheisten wie Gläubige: Christen, Juden, Hindus, Buddhisten und Moslems. Die weltweit meisten Terroropfer gehörten aber selbst dem Islam an.
Regierungen und Parlamente reagierten auf die Anschläge vielfach genau so, wie es die Drahtzieher des Terrors kalkuliert hatten. Polizeibehörden, Geheimdienste und das Militär erhielten den Auftrag, mit nahezu allen Mitteln gegen den Terrorismus vorzugehen. Ihre Befugnisse wurden massiv ausgeweitet, selbst Überschreitungen sollten offiziell straffrei bleiben. Rechtsstaatliche Sicherungen wurden beiseitegeschoben, unterlaufen und gelockert, Menschenrechte spielten im Kampf gegen den Terror eine untergeordnete Rolle. Maßnahmen, die in »normalen« Zeiten zu Proteststürmen geführt hätten, wurden von Parlamenten ohne gründliche Prüfung und kritische Debatte durchgewinkt und auch von der Öffentlichkeit weitgehend akzeptiert. Je unsicherer die Zeiten, desto eher sind wir also bereit, unser Leben nach Regeln zu gestalten, die unseren individuellen Wünschen, Bedürfnissen und Interessen entgegenstehen.
Der Angriff auf die französische Satirezeitschrift Charlie Hebdo im Januar 2015 markiert den Beginn einer neuen Welle islamistisch motivierter Gewalttaten in Europa: Die weiteren Attentate in Paris auf Restaurants und einen Musikclub, die Anschläge auf den Flughafen und auf einen vollbesetzten U-Bahn-Zug in Brüssel, die in Menschenmengen gesteuerten Lastwagen in Nizza, Berlin und Stockholm, die Attentate auf den Flughafen, das Fußballstadion und einen Nachtclub in Istanbul, die Anschläge vor dem britischen Parlamentsgebäude, der Bombenanschlag auf die St. Petersburger Metro, die tödlichen Schüsse auf einen Polizisten auf den Pariser Champs-Elysées, das Selbstmordattentat auf eine von Kindern und Jugendlichen besuchte Konzertveranstaltung in Manchester … Ein Ende ist nicht in Sicht.
Staatliche und nichtstaatliche Trittbrettfahrer ziehen ihren Nutzen aus der Angst vor dem Terror: Praktisch jeder Krieg wird heute mit dem Argument der Terrorbekämpfung gerechtfertigt. Kritiker der jeweiligen Staatsführungen und Journalisten werden unter Terrorismusverdacht gefangen gehalten. Kriminelle nutzen die Verunsicherung für eigene korrupte Geschäfte, wie es sich etwa beim Anschlag auf den Mannschaftsbus des Fußballvereins Borussia Dortmund herausstellte. Auch Rechtsradikale versuchen diesen Wirkungszusammenhang weiter zu befeuern – indem sie beispielsweise Attentate vorbereiteten, die sie Asylbewerbern zuschreiben wollten, wie eine inzwischen enttarnte rechtsextremistische Zelle in der Bundeswehr. Terroristen beabsichtigen, durch entsprechend terminierte Anschläge Wahlergebnisse zu beeinflussen, zum Glück nicht durchgängig mit dem erwünschten Ergebnis. Es ist aber zu befürchten, dass letztlich diejenigen politischen Strömungen vom Terrorismus profitieren, die einseitig auf »Law and Order« setzen, nationalistische und fremdenfeindliche Parolen propagieren.
Die Terrorangst verschiebt das politische Koordinatensystem in Richtung autoritärer Lösungen und entzieht der Demokratie die Luft zum Atmen. Weil spektakuläre, medial verstärkte terroristische Aktionen ein Gefühl allgemeiner Unsicherheit erzeugen, sehen sich selbst moderate Regierungen einem erheblichen Handlungsdruck ausgesetzt. Parlamente und Regierungen beschließen Programme und Gesetze, die nicht wirklich mehr Sicherheit bringen, um dem Eindruck des Kontrollverlustes entgegenzuwirken. Der nur in wenigen Ländern offiziell erklärte Ausnahmezustand wird auf diese Weise schleichend zur bedrohlichen Normalität.
Dieses Buch ist ein Plädoyer, der durch Terrorgefahr und Terrorangst bewirkten Erosion der offenen Gesellschaft selbstbewusst entgegenzutreten.
Berlin, im August 2017
Anders als zunächst befürchtet blieb Deutschland nach dem 11. September 2001 lange Zeit von islamistisch motivierten Gewalttaten verschont. Zwar hatte es einige Attentatsversuche und entsprechende Planungen gegeben. Sie scheiterten aber überwiegend am Unvermögen der Täter oder wurden von Sicherheitsbehörden rechtzeitig unterbunden. Im Jahr 2006 deponierten islamistische Täter Kofferbomben in zwei Zügen der Bundesbahn, die allerdings wegen eines Konstruktionsfehlers nicht explodierten. Die Attentäter – libanesische Staatsangehörige – wurden nach einer intensiven Öffentlichkeitsfahndung in Libanon gefasst und dort zu lebenslangen Freiheitsstrafen verurteilt. 2007 folgte die Verhaftung der »Sauerland-Gruppe«, deren Mitglieder in einem Ferienhaus Utensilien zum Bombenbau gesammelt hatten. Drei Jahre später wurden die drei Hauptangeklagten wegen Mitgliedschaft in einer ausländischen terroristischen Vereinigung zu hohen mehrjährigen Haftstrafen verurteilt. 2011 erschoss ein in Deutschland aufgewachsener 21-jähriger Kosovo-Albaner auf dem Frankfurter Flughafen zwei US-Soldaten. Dies war der erste islamistische Anschlag in Deutschland, bei dem Menschen zu Tode kamen. Der Täter wurde zu lebenslanger Haft verurteilt. 2012 scheiterte ein Attentat auf dem Bonner Hauptbahnhof daran, dass ein auf dem Bahnsteig deponierter Sprengkörper nicht explodierte. Der Hauptverantwortliche wurde im April 2017 zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt und kann wegen besonderer Schwere der Tat nicht mit einer vorzeitigen Entlassung rechnen. Zwei Mittäter, die ebenfalls einer islamistischen Vereinigung angehörten, mussten für neun bzw. elf Jahre ins Gefängnis.
Erst im Jahr 2016 erreichte der islamistisch motivierte Terrorismus doch mit Macht Deutschland. Am 26. Februar attackierte eine 16-Jährige deutsch-marokkanischer Herkunft am Hannoveraner Hauptbahnhof einen Polizisten mit einem Messer und verletzte ihn schwer. Das Mädchen war auf einer Türkeireise vom Islamischen Staat angeworben worden. Am 18. Juli griff ein IS-Sympathisant in einem Zug bei Würzburg vier Personen mit einer Axt an und wurde bei dem anschließenden Polizeieinsatz erschossen. Am 24. Juli zündete ein 27-jähriger Syrer in Ansbach eine Rucksackbombe, verletzte 15 Personen und kam selbst ums Leben. Der Amoklauf eines 18-jährigen Deutschen mit iranischem Migrationshintergrund am 22. Juli in München, bei dem zunächst auch ein islamistisches Motiv vermutet worden war, erwies sich als Tat eines geistig verwirrten Einzeltäters, der eher rechtsradikalem Gedankengut nahestand. Trotzdem befeuerte auch dieses Ereignis die Terrorängste in Deutschland.
So schlimm all jene Vorfälle waren, der Anschlag am 19. Dezember 2016 stellte sie alle in den Schatten. Am Abend dieses Tages raste der Tunesier Anis Amri mit einem gestohlenen Sattelschlepper auf den Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz an der Berliner Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche. Zwölf Menschen fanden den Tod, viele weitere wurden verletzt. Kurze Zeit nach dem Anschlag bekannte sich der IS zu der Tat. Es war der schlimmste Anschlag in Deutschland seit dem bis heute unaufgeklärten Attentat auf das Münchner Oktoberfest im Jahr 1980, das mit großer Wahrscheinlichkeit einen rechtsradikalen Hintergrund hatte.
Die seit mehreren Jahrzehnten laufende Aufrüstung des Sicherheitsapparats, die Vervielfachung des Personals der mit der Terrorismusbekämpfung befassten Behörden und ihre Ausstattung mit immer neuen zusätzlichen Befugnissen hat diesen ersten großen Anschlag mit islamistischem Hintergrund in Deutschland nicht verhindert. Und trotzdem waren von den Sicherheitsbehörden und aus den Regierungsparteien zunächst keinerlei selbstkritische Töne zu hören. Noch bevor die Zusammenhänge auch nur ansatzweise aufgeklärt waren, forderten Innenpolitiker der Großen Koalition, die AfD und Polizeigewerkschafter, die Sicherheitsbehörden noch weiter auszubauen und mit zusätzlichen Befugnissen auszustatten. Einen Tag nach dem Anschlag erklärte CSU-Chef Horst Seehofer: »Wir sind es den Opfern, den Betroffenen und der gesamten Bevölkerung schuldig, dass wir unsere gesamte Zuwanderungs- und Sicherheitspolitik überdenken und neu justieren.«2 Bemerkenswert an dieser Verbindung von Terrorismus und Flüchtlingspolitik war, dass der CSU-Chef seine Forderung bereits erhob, als ein vorläufig festgenommener Asylbewerber der Tat verdächtigt wurde. Wenig später stellte sich heraus, dass die Polizei mit dem Flüchtling aus Pakistan ganz offensichtlich den Falschen verhaftet hatte. Kurz darauf verdichtete sich die Vermutung, dass Anis Amri, ein 28-jähriger Tunesier, die Tat verübt hatte. Seine Identitätspapiere fanden sich unter dem Sitz des Tatfahrzeugs. Er hatte sich nach der Tat mit der Bahn über Frankreich nach Mailand abgesetzt, wo er wenige Tage später in einem Feuergefecht von der italienischen Polizei erschossen wurde. Bemerkenswert ist, dass er bei seiner Flucht von mehreren Videoüberwachungssystemen aufgenommen wurde, ohne irgendwo Verdacht zu wecken. Bereits unmittelbar nach der Tat war Amri auf dem nahe am Ort des Anschlags gelegenen Bahnhof Zoologischer Garten von einer Überwachungskamera gefilmt worden. Amri habe gewusst, dass er aufgenommen wurde, vermutete eine Sprecherin der Bundesanwaltschaft zwei Wochen danach, denn er habe sich sogar der Kamera zugewandt und den erhobenen Zeigefinger gezeigt, den sogenannten Tauhid-Gruß, der vor allem unter IS-Anhängern bekannt sei (vgl. Kap. 6).3
Im weiteren Verlauf mehrten sich auch in der CDU die Stimmen derer, die einen direkten Bezug zwischen der Flüchtlingspolitik und dem Terrorismus herstellten.4 Vergleichbare Rufe nach schärferen Gesetzen und einem härteren Vorgehen gegen Asylbewerber und andere Flüchtlinge hörte man in den Tagen nach dem Anschlag von vielen Innenpolitikern aus den Reihen der Großen Koalition. Dass sich die sicherheitspolitischen Hardliner dabei nicht sehr um Fakten scherten, war kaum zu übersehen. Allein die Tatsache, dass es sich bei dem bzw. den Terrorverdächtigen um Asylbewerber handelte, reichte aus, in der Migrations- und Flüchtlingspolitik eine härtere Gangart einzufordern.
In einem Zeitungsbeitrag5 formulierte Bundesminister Thomas de Maizière Anfang 2017 Leitlinien für »einen starken Staat in schwierigen Zeiten«. Die Sicherheitsbehörden müssten mit zusätzlichen Befugnissen ausgestattet werden. Die Vorbehalte gegen weitere staatliche Befugnisse, etwa im Bereich der Überwachung und Vorratsdatenspeicherung seien nicht begründet. »Der starke Staat muss mit den technischen Entwicklungen und Nutzungen Privater Schritt halten, sie aber auch für seine Arbeit nutzen können.« Die biometrische Auswertung durch Gesichtserkennung und die Verwendung der DNA-Analyse durch die Sicherheitsbehörden müssten »entschieden« vorangebracht werden. Überhaupt seien die rechtlichen Begrenzungen für den Einsatz von Überwachungstechnologien nicht mehr zeitgemäß, denn sie entsprächen nicht der aktuellen Bedrohungslage, die durch Terrorismus und grenzüberschreitende Kriminalität gekennzeichnet sei. Für die Sicherheitsbehörden des Bundes forderte de Maizière zusätzliche Kompetenzen zulasten der Länder. Schließlich fehlte auch nicht die Forderung nach dem Einsatz der Bundeswehr im Innern (vgl. Kap. 4). Der seinerzeitige SPD-Vorsitzende und Vizekanzler Sigmar Gabriel erklärte die Sicherheit zum »ursozialdemokratischen Thema«.6 Auch er sprach sich für den »starken Staat und für weitere Gesetzesverschärfungen aus: Man brauche mehr Videoüberwachung öffentlicher Plätze und Abschiebehaft für Gefährder. Die Sicherheitsgesetze sowie das Ausländer- und Asylrecht müssten weiter verschärft werden. Im Grunde zeichnete sich schon bei diesen Äußerungen ab, wie das Thema Sicherheit im Bundestagswahlkampf 2017 diskutiert wird. Die Freiheitsrechte haben dabei leider keine starke Stimme.
Der Ruf nach dem »starken Staat« überlagerte zunächst Berichte darüber, dass der Attentäter schon lange Zeit auf dem Schirm der Sicherheitsbehörden aufgetaucht war, wie eine vom Bundesjustizministerium zusammengestellte Chronologie belegt.7 Vielen Behörden war seine Gefährlichkeit bekannt. Er war 2011 über Lampedusa nach Italien eingereist und dort erkennungsdienstlich erfasst, aber nicht im EU-weiten Fingerabdrucksystem Eurodac registriert worden. Im Juli 2015 wurde er von der deutschen Polizei wegen illegaler Einreise aufgegriffen und erneut erkennungsdienstlich behandelt. Gleich mehreren Polizeibehörden und Verfassungsschutzämtern fiel er in der Folgezeit auf: als terroristischer Gefährder, krimineller Gewalttäter, Sozialleistungsbetrüger und Drogendealer, sogar Mordverdächtiger. Die verschiedensten Behörden hatten sich mit ihm befasst, die Landeskriminalämter, die Verfassungsschutzämter des Bundes und der Länder sowie die Staatsanwaltschaften Nordrhein-Westfalens und Berlins. Ebenso das Bundeskriminalamt, die Bundesanwaltschaft, die Bundespolizei und der Bundesnachrichtendienst. Elfmal stand der spätere Attentäter auf der Tagesordnung des Gemeinsamen Terrorismusabwehrzentrums (GTAZ), in dem die Nachrichtendienste und die Behörden darüber konferierten, ob und wie sie gegen Amri vorgehen können – offenbar ohne Ergebnis. Dabei war spätestens seit Anfang 2016 bekannt, dass Amri »Tötungen von Ungläubigen« ausdrücklich guthieß und sich auf verschiedenen Wegen darüber informierte, wie man einen möglichst schweren Anschlag ausführen könne. Er sei »dem islamistischen Spektrum zuzuordnen, mutmaßlich Bezug zum IS«, wussten die am GTAZ beteiligten Behörden. Er wurde observiert, seine Telekommunikation überwacht und die Mobilfunkdaten ausgewertet. Die Behörden dokumentierten minutiös, dass Amri gegenüber Kontaktpersonen Planungen für ein Attentat mit Schnellfeuergewehren ansprach. Sie wussten auch, dass er im Zusammenhang mit den Anschlägen in Brüssel einen später geplanten Selbstmordanschlag mittels Sprengstoffgürtel andeutete. Die Bundespolizei, die Amri bei einer Busfahrt im Juli 2016 kontrollierte, stellte fest, dass er zwei gefälschte Identitätsdokumente mit sich führte, und ließ ihn trotzdem wieder frei. Er erhielt eine neue Identitätsbestätigung unter einem Alias-Namen (!). Das neue Identitätspapier mit den falschen Personalien fand die Berliner Polizei später im Tatfahrzeug. Warum die Behörden duldeten bzw. Amri sogar dabei halfen, seine wahre Identität zu verbergen, harrt bis heute der Aufklärung. Offenbar erleichtert kamen die Berliner Behörden im Herbst 2016 zu dem fatalen Schluss, Amri sei ein »ganz normaler Krimineller« und kein Terrorist, und stellten am 21. September 2016 die Überwachungsmaßnahmen ein. »Es entstand der Eindruck eines junges Mannes, der unstet, sprunghaft und äußerst wenig gefestigt erscheint«, heißt es in der Chronologie. Spätestens seit Anfang Oktober 2016 wussten die Behörden auch von Hinweisen aus Marokko, Amri sei Anhänger des IS und »führe ein Projekt aus«. Er habe sein deutsches Gastland als »Land des Unglaubens, das Erpressungen gegen die Brüder führe«, bezeichnet. Das Landeskriminalamt Berlin war der Auffassung, diese Mitteilung habe »keine über den bisherigen Erkenntnisstand hinausgehenden Informationen« enthalten. Obwohl er ausreisepflichtig war, seinen Wohnsitz dauernd wechselte, unter verschiedenen Identitäten auftrat und mehrerer, teils schwerwiegender Straftaten verdächtig war, blieb er auf freiem Fuß. Bemerkenswert ist, dass die Polizei die Telekommunikationsüberwachung beendete, obwohl entsprechende richterliche Entscheidungen noch nicht ausgelaufen waren. Der Staatsanwalt, der die Ermittlungen leitete, wurde über die Beendigung der Überwachung nicht informiert, wie ein halbes Jahr nach den Anschlägen bekannt wurde.8 Dem neutralen Beobachter drängt sich der Verdacht auf, irgendjemand habe seine schützende Hand über Amri gehalten. Als schließlich im Mai 2017 herauskam, dass im Berliner LKA die den Fall betreffenden Akten manipuliert worden waren9, war das Versagen der Sicherheitsbehörden nicht mehr zu leugnen. Ob Amri wirklich als V-Mann für eine Sicherheitsbehörde tätig war, ob er auf andere Weise »abgeschöpft« wurde oder ob es sich »bloß« um unglaubliche Schlampereien und Fehleinschätzungen der Sicherheitsbehörden handelte, werden hoffentlich die Untersuchungsausschüsse und Sonderermittler ans Licht bringen, die inzwischen ihre Arbeit aufgenommen haben.
Anders als zunächst vom damaligen nordrhein-westfälischen Justizminister Jäger behauptet, hätten die Behörden Anis Amri, der unter 14 verschiedenen Decknamen unterwegs war, durchaus festnehmen können – ein klares Behördenversagen. Die Gefährlichkeit des Mannes war vom Gemeinsamen Terrorismusabwehrzentrum (GTAZ) mit 40 Behörden von Bund und Ländern unterschätzt worden, wie auch Nordrhein-Westfalens seinerzeitige Ministerpräsidentin Hannelore Kraft einräumte.10 Aus den im GTAZ ausgetauschten und den in der »Antiterrordatei« zusammengeführten Informationen wurden nicht die richtigen Schlussfolgerungen gezogen. Es gab nicht zu wenig Überwachung, es mangelte auch nicht an gesetzlichen Möglichkeiten zum Einschreiten. Der Fehler bestand im unzureichenden Urteilsvermögen und der mangelnden Handlungsbereitschaft der Verantwortlichen, wie auch das parlamentarische Kontrollgremium des Bundestags für die Nachrichtendienste später feststellte.11
So untätig die Behörden bei der Verhinderung des Anschlags blieben, so lautstark tönten danach die Forderungen nach schärferen Gesetzen und mehr Überwachung. Die Bundesregierung entfaltete eine ungewöhnliche gesetzgeberische Aktivität, die wenig mit den Ursachen des Anschlags zu tun hatte. In enger Taktung wurden neue Sicherheitsgesetze auf den Weg gebracht. Fragen nach der Eignung der Maßnahmen für die Terrorabwehr blieben weitgehend unbeantwortet, Kritik wurde vom Tisch gewischt. Obwohl das Behördenversagen offensichtlich war, wurde in Berlin die Gesetzgebungsmaschine angeworfen. Zwei Tage nach dem Anschlag auf dem Breitscheidplatz beschloss das Bundeskabinett die Ausweitung der Videoüberwachung, Bodycams für Polizisten (Kameras, die an die Uniformen angeheftet werden) und automatisierte Lesesysteme für Kfz-Kennzeichen. Die Gesetzesverschärfungen waren Teil eines Sicherheitspaketes, das Bundesinnenminister de Maizière nach den Taten von München, Ansbach und Würzburg vorgeschlagen hatte.
Am Vormittag des französischen Nationalfeiertags, am 14. Juli 2016, kündigte der damalige französische Präsident François Hollande die Aufhebung des Ausnahmezustands an, den er 18 Monate zuvor verhängt hatte: »Wir können den Ausnahmezustand nicht für immer verlängern. Das würde keinen Sinn machen, es würde bedeuten, dass wir nicht mehr eine Republik mit Gesetzen sind, die unter allen Umständen gelten.«12 Die Regierung hielt die Sondervollmachten nicht mehr für erforderlich, weil die Behörden mittlerweile auch ohne Ausnahmezustand über alle notwendigen Mittel zur Terrorismusbekämpfung verfügten.13 Wenige Stunden später war davon keine Rede mehr. Ein Selbstmordattentäter richtete am Abend desselben Tages mit einem Lastwagen auf der Promenade von Nizza ein Blutbad an, das 86 Todesopfer forderte, darunter 30 Moslems. Kurz nach der Tat bekannte sich der IS zu dem Anschlag. Die Verlängerung des Ausnahmezustands war vor allem ein symbolischer Akt, der eher dem Wahlkampf als dem Antiterrorkampf geschuldet war. Sie sollte der rechten Opposition den Wind aus den Segeln nehmen, die den sozialistischen Präsidenten im Hinblick auf die angekündigte Aufhebung des Ausnahmezustands der Feigheit vor dem Feind bezichtigt hatte.14 Wenige Tage nach dem Anschlag verlängerte die Nationalversammlung mit überwältigender Mehrheit den Ausnahmezustand um weitere sechs Monate.
Warum wurde in den zurückliegenden Jahren ausgerechnet Frankreich stärker als jedes andere europäische Land von islamistischen Terroranschlägen getroffen? Die Gründe dafür liegen nicht allein in den aktuellen Auseinandersetzungen im Nahen und Mittleren Osten. Eine Europol-Analyse15 nennt mehrere mögliche Motive:
• Frankreich als Symbol der westlichen Kultur, der Demokratie und der Trennung zwischen Religion und Staat,
• das starke wirtschaftliche und militärische Engagement Frankreichs in der muslimischen Welt, darunter Algerien, Irak, Libanon und Syrien,
• die Rolle Frankreichs bei der Zerschlagung des Osmanischen Reiches und bei der Abschaffung des Kalifats nach dem Ersten Weltkrieg,
• Frankreichs starke säkulare Tradition und die Gesetze gegen religiöse Symbole, die speziell auf Muslime ausgerichtet waren,
• die soziale und wirtschaftliche Isolation, speziell in städtischen Gebieten mit hohem Anteil an der muslimischen Bevölkerung, mit der daraus resultierenden Anfälligkeit junger Menschen für die Rekrutierung durch gewalttätige Dschihadisten,
• die hohe Anzahl französischer Dschihadisten, die nach Syrien/Irak als ausländische Kämpfer gereist sind.
Die Auseinandersetzung zwischen einem Teil der muslimischen Minderheit und der französischen Mehrheitsgesellschaft hatte sich in den letzten Jahren immer weiter zugespitzt. Die meisten Migranten in Frankreich stammen aus Nordafrika, eine direkte Folge der Auflösung des französischen Kolonialsystems. Die damals – insbesondere im Algerien-Krieg – geschlagenen Wunden schmerzen offenbar noch immer, insbesondere weil das Thema in Frankreich nie wirklich aufgearbeitet wurde. So wäre Emmanuel Macron durch die empörte Reaktion auf sein Bekenntnis zu Frankreichs Schuld in den ehemaligen Kolonien beinahe aus dem Rennen um die Präsidentschaftskandidatur geflogen.
Zahlreiche der inzwischen identifizierten Terroristen und ihrer Unterstützer gehören zur zweiten, dritten und vierten Generation nordafrikanischer Einwanderer. Viele leben unter prekären sozialen Verhältnissen, ohne Arbeit und ohne angemessenen Wohnraum. Zunehmende Ressentiments nicht nur gegen den Islamismus, sondern auch gegenüber dem Islam insgesamt und seine Anhänger, die in Frankreich aufgrund des Kolonialerbes einen höheren Anteil der Bevölkerung ausmachen als in Deutschland, führten den Terroristen zusätzliche Kräfte zu – ein »Teufelskreis«.16 Kleinkriminelle mit Migrationshintergrund radikalisierten sich innerhalb weniger Wochen – dies gilt auch für den Attentäter von Nizza.
Nicht nur in den Pariser Vorstädten kommt es immer wieder zu gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen überwiegend muslimischen Jugendlichen und der Polizei. Besonders dramatisch war die Situation bereits im Jahr 2005, dem »Schlüsseljahr«17 für die weitere Entwicklung des politischen Konflikts zwischen der französischen Mehrheitsgesellschaft und der weitgehend abgehängten muslimischen Minderheit. Als bei einer Polizeiaktion in der Pariser Banlieue zwei des Einbruchs verdächtige Jugendliche auf der Flucht vor der Polizei zu Tode kamen, explodierte das Pulverfass. Die gewaltsamen Auseinandersetzungen, in denen protestierende junge Muslime die faktische Kontrolle über mehrere Stadtviertel ausübten, dauerten mehrere Wochen. Deren Proteste richteten sich nicht in erster Linie gegen den durch ein äußerst hartes Vorgehen der Polizei verursachten gewaltsamen Tod der beiden Jugendlichen, vielmehr war dies der Auslöser. In den Mittelpunkt rückte immer vehementer die Ausgrenzung der jungen französischen Muslime in vielen Lebensbereichen, vor allem ihre Chancenlosigkeit auf dem Arbeitsmarkt. Die Regierung reagierte einmal mehr mit großer Härte. Der seinerzeitige Innenminister Nicolas Sarkozy, zugleich Vorsitzender der konservativen Regierungspartei UMP, wollte sich vom Front National nicht nachsagen lassen, zu schlapp zu reagieren. Im Zusammenhang mit diesen Auseinandersetzungen versprach er: »Ich werde das Viertel ab sofort mit dem Kärcher säubern.«18 Von einer Suche nach den Ursachen der Radikalisierung war nichts zu spüren. Dabei lag es auf der Hand, dass vor allem die soziale Spaltung und die Perspektivlosigkeit viele Jugendliche in die Arme radikaler Islam-Prediger trieben. »In den Banlieues steigt die Arbeitslosigkeit immer weiter. Und wenn du rings um dich herum siehst, dass Schulbildung nichts bringt, weist du alles, was damit verbunden ist, zurück, auch Konzepte wie Laizität oder Demokratie«, bemerkt etwa Gilles Kepel.19 Er weist darauf hin, dass die zunehmende Ausgrenzung – auch und gerade als Folge terroristischer Anschläge – ganz im Sinne der von den islamistischen Terrororganisationen verfolgten Strategie liege, die westlichen, insbesondere die europäischen Gesellschaften (den »weichen Bauch des Westens«) zu spalten. Die durch Terroranschläge provozierte xenophobe Verhärtung sei Bestandteil dieser Strategie, weil sie Ausgrenzungsgefühle und Aggressionen bei den Muslimen stärke.
Auch die französische Antiterrorgesetzgebung hat eine lange Tradition. Eine 1955 während des Algerien-Kriegs beschlossene Verfassungsbestimmung erlaubte dem Ministerrat unter Vorsitz des Präsidenten, den Ausnahmezustand per Dekret zu erklären, wenn eine »unmittelbare Gefahr durch schwere Bedrohungen der öffentlichen Ordnung« besteht oder »im Fall von Ereignissen, die aufgrund ihrer Art und ihrer Schwere eine öffentliche Katastrophe darstellen«.20 Der damalige Präsident und ehemalige General de Gaulle nutzte die ihm so gegebenen Befugnisse, um eine Revolte vormals in Algerien stationierter Offiziere niederzuschlagen. Einem 1986 verabschiedeten ersten Antiterrorgesetz folgten in den 1990er Jahren und nach dem 11. September 2001 weitere Gesetzesverschärfungen. Bei der Umsetzung der EU-Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung orientierte sich Frankreich 2007 an der Obergrenze der europarechtlich zulässigen Speicherungsfrist. Die bei derTelekommunikation und bei der Internetnutzung anfallenden Daten werden für zwölf Monate gespeichert, doppelt so lange wie nach dem ursprünglichen deutschen Gesetz zur Vorratsdatenspeicherung. Nach den Anschlägen auf die Satirezeitschrift Charlie Hebdo und einen jüdischen Supermarkt Anfang 2015 erhielten die Nachrichtendienste zusätzliche Befugnisse. So müssen die Anbieter von Telekommunikationsdiensten seither eine sogenannte Blackbox betreiben, auf die staatliche Stellen zugreifen können, um verdächtige Internetaktivitäten herauszufiltern.21 Schließlich wurde Anfang 2016 in Reaktion auf die im November des Vorjahres begangenen Anschläge auf Pariser Restaurants und einen Musikclub ein weiteres Antiterrorgesetz beschlossen, das die Befugnisse der Sicherheitsbehörden erneut ausweitete und die gerichtliche Kontrolle weiter schwächte. Spätestens jetzt waren die zusätzlichen Befugnisse in das normale Recht überführt, die den Sicherheitsbehörden während des Ausnahmezustands eingeräumt worden waren.
Der französische Sicherheitsapparat selbst war in den letzten Jahrzehnten massiv aufgerüstet worden. Schon seit Langem gehören schwer bewaffnete Polizeikräfte und Militärs zum französischen Alltag. Die innenpolitische Aufrüstung setzte sich während der Präsidentschaft Sarkozys und seines sozialistischen Nachfolgers Hollande fort. Zusätzlich zu der stark aufgestockten Zahl der Beamten der Polizei und Gendarmerie wurden nach dem Anschlag in Nizza im Juli 2016 sogar Tausende kurzzeitig geschulte freiwillige Helfer als Polizeireserve auf Streife geschickt. Seit September 2016 müssen in Schulen unter Aufsicht der Präfekten Antiterrorübungen veranstaltet werden.22
Mit dem Ausnahmezustand hatte die französische Regierung ursprünglich auf die Anschläge auf die Satirezeitschrift Charlie Hebdo und einen jüdischen Supermarkt am 7. Januar 2015, zu denen sich Al-Qaida bekannte, und die dem IS zugeschriebenen blutigen Attacken vom 13. November 2015 reagiert. Das erste Mal seit dem 60 Jahre zurückliegenden Algerien-Krieg war ganz Frankreich im Ausnahmezustand. »Die Anschläge […] in Paris und am Stade de France sind Kriegsakte. Sie werden von einer dschihadistischen Armee verübt, die uns bekämpft, weil Frankreich ein freies Land ist und weil Frankreich die Heimat der Menschenrechte ist«, erklärte Staatspräsident Hollande.23 Er kündigte zugleich eine Verfassungsänderung an, die es ermöglichen sollte, den Ausnahmezustand unbefristet zu verlängern.24 Der Ausnahmezustand müsse so lange bleiben, bis Frankreich mit dem Islamischen Staat »fertig« ist, erklärte Premierminister Manuel Valls.25 Mit der Ausrufung des Ausnahmezustands erhielten die Polizei und die anderen Sicherheitsbehörden ohnehin Befugnisse, die weit über das hinausgehen, was ihnen in »normalen Zeiten« erlaubt ist. Diese Machtmittel reichten der Regierung offenbar noch nicht aus. Im November 2015 billigte die Nationalversammlung mit großer Mehrheit die vorgeschlagenen Änderungen des Gesetzes über den Ausnahmezustand aus dem Jahr 1955. Neu eingeführt wurden Befugnisse zur Sperrung von Webseiten, zur Durchsuchung von Computern und sonstiger informationstechnischer Geräte ohne richterliche Anordnung sowie die Verhängung des Hausarrests und Kontaktsperren für Personen, bei denen »ernsthafte Gründe die Annahme rechtfertigen«, dass ihr Verhalten die öffentliche Sicherheit und Ordnung gefährde. Die Polizei darf Wohnungen durchsuchen – auch während der Nacht –, sie kann mutmaßliche Dschihadisten unter Hausarrest stellen, ohne konkreten Anlass Fahrzeuge kontrollieren und durchsuchen, Identitätskontrollen durchführen, Demonstrationsverbote und Ausgangssperren erlassen. Für alle diese Maßnahmen benötigen die Behörden keine richterliche Anordnung.
Unmittelbar nach dem Inkrafttreten des Ausnahmezustands teilte die französische Regierung dem Europarat mit, die Europäische Menschenrechtskonvention vorübergehend nicht mehr anzuwenden. Nach einer in der Konvention enthaltenen Ausnahmeklausel dürfen Staaten ausnahmsweise von den Vorgaben abweichen, wenn »das Leben der Nation durch Krieg oder einen anderen öffentlichen Notstand bedroht« ist. Immer wieder verlängerte die Nationalversammlung seither die Sondervollmachten. Auch die Präsidentschaftswahlen im Frühjahr 2017 fanden unter den Bedingungen des Ausnahmezustands statt. Ob und wann das Land wieder in einen rechtlichen Normalzustand zurückkehrt, steht also in den Sternen, obwohl die Zweifel an der Wirksamkeit der Notstandsregeln immer lauter werden. Zwischen November 2015 und Juni 2016 gab es zwar mehr als 3500 Hausdurchsuchungen, von denen allerdings die allermeisten bereits in den ersten Wochen des Ausnahmezustands stattfanden. »Schon Ende 2015 war der Überraschungseffekt für potenzielle Terroristen verpufft und Sicherheitskräfte erzielten nur noch selten Erfolge: Nur zwei Hausdurchsuchungen führten seit Ende Februar 2016 zu Strafverfahren; die Zahl der verhängten Hausarreste ist in den letzten sechs Monaten um 80% gesunken.«26
Im Frühjahr 2016 setzte die französische Regierung die nach den Anschlägen angekündigte Verfassungsänderung auf die Tagesordnung. Besonders umstritten war die vorgesehene Möglichkeit, mutmaßlichen Terroristen die französische Staatsbürgerschaft abzuerkennen. Aus Protest gegen diese Regelung trat Justizministerin Christiane Taubira, deren Vorfahren aus Nordafrika nach Frankreich eingewandert waren, zurück. Nachdem die vorgeschlagenen Änderungen nicht die erforderlichen Mehrheiten in beiden Parlamentskammern erhielten, gab Präsident Hollande schließlich das Vorhaben auf. Beschlossen wurde hingegen ein Gesetz mit weiteren Befugnissen für die Sicherheitsbehörden.27
Nach den Pariser Attentaten von 2015 forderte François Hollande von den Verbündeten aus der NATO und aus der Europäischen Union militärische Unterstützung im Kampf gegen den Terrorismus. Frankreich war ohnehin stärker als die meisten anderen EU-Staaten im militärischen Antiterrorkampf außerhalb der Landesgrenzen aktiv, vor allem in den ehemaligen französischen Kolonien: im Sahel- und Sahararaum sowie in Irak und in Syrien, in Mauretanien, Mali, Niger, Tschad und Burkina-Faso. Insgesamt waren Mitte 2016 über 7000 Soldaten in Auslandseinsätzen eingesetzt.28 Wer Solidarität mit Frankreich zeigen wolle, so die Forderung des Präsidenten nach den Anschlägen, der solle mit Frankreich kämpfen.29 Die Bundesregierung beeilte sich, dieser Aufforderung nachzukommen, und sagte wenige Tage später zu, Deutschlands militärisches Engagement in Afrika zu verstärken und die dortigen Bundeswehrkontingente aufzustocken.
Diese Maßnahmen, mit denen die sozialistische Regierung ihre Entschlossenheit demonstrieren wollte, konnten allerdings nicht verhindern, dass der rechtsextreme Front National seither bei Wahlen Rekordergebnisse einfuhr und seine Präsidentschaftskandidatin Marine Le Pen mit einem hohen Ergebnis sogar die Stichwahl um das Präsidentenamt im Mai 2017 erreichte, während der sozialistische Kandidat mit 6,4% der Stimmen abgeschlagen auf dem fünften Platz landete. Der Front National punktete vor allem mit seinen gegen die »Überfremdung Frankreichs« gerichteten Parolen, und er verknüpfte die islamistischen Anschläge recht erfolgreich mit der zunehmenden Anzahl von Flüchtlingen. Le Pen schaffte es auch besser als die konservative politische Konkurrenz, einen Vorfall zu instrumentalisieren, der sich kurz vor dem ersten Wahlgang ereignete. Am Tag des großen Fernsehduells der Präsidentschaftskandidaten hatte ein islamistischer Attentäter an den Champs-Elysées einen Polizisten erschossen. Auch wenn sich der linksliberale Kandidat Emmanuel Macron im zweiten Wahlgang deutlich gegen Marine Le Pen durchsetzen konnte, darf nicht ausgeblendet werden, dass die Kandidatin der äußersten Rechten von einem Drittel der Wähler bevorzugt wurde – ein historischer Höchststand, der auch auf das bewusste Anfeuern der Terrorangst durch den Front National und durch einen Teil der konservativen Presse zurückzuführen ist. Offenbar auch deshalb kündigte Macron wenige Tage nach seinem Amtsantritt als Präsident und kurz vor den anstehenden Neuwahlen zur französischen Nationalversammlung eine weitere Verlängerung des Ausnahmezustands an.30
Langfristig vielleicht noch gravierender als diese Wahlerfolge der populistischen Rechten ist es, dass der »Diskurs über die Werte der französischen Republik und die Bewahrung des gesellschaftlichen Zusammenhalts«, der im Januar 2015 nach den Anschlägen auf die Satirezeitschrift Charlie Hebdo begonnen worden war, mit den Anschlägen im November 2015 und der anschließenden Ausrufung des Ausnahmezustands zum Erliegen kam. Dies brachte die Nation nicht etwa zur Ruhe, vielmehr verschärften sich die innergesellschaftlichen Spannungen weiter. Bürger verdächtigten sich gegenseitig, Terrorsympathisanten zu sein. Falsche Anzeigen durch Nachbarn führten zu willkürlichen Verhaftungen. Die so entstandene Atmosphäre des Misstrauens gefährde den ohnehin brüchigen gesellschaftlichen Zusammenhalt, warnen Kritiker.31
Die Verhängung des Ausnahmezustands war einzig und allein mit der Bedrohung durch den islamistischen Terrorismus begründet worden. Trotzdem wurden unter Rückgriff auf die Ausnahmebefugnisse auch solche Demonstrationen verboten, die in keinerlei Zusammenhang mit ihm standen. Verboten wurden etwa die geplanten Großproteste anlässlich des Weltklimagipfels vom 30. November bis 11. Dezember 2015 in Paris, zu denen ursprünglich Tausende Aktivistinnen und Aktivisten aus aller Welt erwartet worden waren. Geplant waren unter anderem Massenproteste zu Beginn und zum Ende des Gipfels mit bis zu 300.000 Teilnehmern. Diese Veranstaltungen konnten aufgrund des Verbots nicht stattfinden.32 Einige Umweltaktivisten wurden sogar bis zum Ende des Klimagipfels unter Hausarrest gestellt. Sogar Demonstrationen gegen den Bau eines Flughafens oder gegen ein umstrittenes Arbeitsgesetz wurden verboten.33
Nach besonders schweren Anschlägen ist bei Regierungen und in den Parlamenten die Bereitschaft groß, in der Terrorbekämpfung bis zum Äußersten zu gehen und auf die rechtsstaatlichen Sicherungen zu verzichten. Die extremste Reaktion stellt die Ausrufung des Ausnahmezustands dar: Alle Macht wird in der Hand der Exekutive konzentriert, zentrale Grund- und Menschenrechte werden ausgesetzt, parlamentarische Kontrollmechanismen werden abgeschwächt, die unabhängige gerichtliche Überprüfung des staatlichen Handelns unterbleibt weitgehend.