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Der erfahrene Kriminalist und Leiter der Mordkommission Stuttgart a.D. Michael Kühner gewährt einmalige Einblicke in polizeidienstliche Akten der Stuttgarter Nachkriegszeit 1945 – 1958. Anhand sieben authentischer Mordfälle skizziert Kühner die Verbrechen und Schicksale von Tätern, Opfern und Angehörigen. Kühner zeichnet ein unverkennbares Bild der Arbeit junger Kriminalbeamter, die sich ohne Fachausbildung und Erfahrung, nicht selten unter Einsatz ihres Lebens der Verbrechensaufklärung verschrieben haben. Ein spannender Teil deutscher Polizeigeschichte.
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Seitenzahl: 221
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Michael Kühner
TRÜMMER-MORDE
Spektakuläre Verbrechen im Stuttgart der Nachkriegszeit
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© 2017 – Gmeiner-Verlag GmbH
Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch
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Alle Rechte vorbehalten
1. Auflage 2017
Redaktion: Anja Sandmann
Lektorat: Isabell Michelberger
Layout / Herstellung: Susanne Lutz
E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: Lutz Eberle
unter Verwendung eines Fotos © Polizeihistorischer Verein Stuttgart e.V.
ISBN 978-3-8392-5432-5
Gewidmet den Kriminal- und Schutzpolizeibeamten der Nachkriegszeit in Stuttgart, die unter heute unvorstellbaren Bedingungen versucht haben, nach bestem Wissen und Gewissen Stuttgart wieder lebenswert und sicher zu machen. Einige davon waren für mich Vorbilder, insbesondere der langjährige Chef der Stuttgarter Kriminalpolizei Kurt Frey und Landeskriminaldirektor Heinz Hertlein. Ohne deren Förderung wäre meine Polizeilaufbahn sicher nicht so erfolgreich verlaufen.
Erinnerungen … Geboren 1948, wuchs ich im Stuttgarter Westen in einer Zweizimmerwohnung auf. Der Kohleofen sorgte dürftig für Wärme, die Waschschüssel stand in der Küche, das Klappbett im Wohnzimmer musste ich mit meiner Zwillingsschwester teilen. Tagsüber spielte sich in diesem Wohnzimmer das gesamte Zusammenleben der Familie ab: Mittagessen, Abendessen, Hausaufgaben … Ganz still musste es sein, wenn der Vater sich von seiner anstrengenden Arbeit ausruhte. Meist verzogen wir Kinder uns dann nach draußen und spielten im Hinterhof, bis der Hausverwalter, ein verbitterter alter Mann, uns davonjagte. Samstag für Samstag schleppte ich als Zehnjähriger die Kohlen für unsere gehbehinderte Nachbarin in den 5. Stock. Die 30 Pfennig, mit denen die alte Dame mich entlohnte, waren mein erstes Taschengeld.
Es war eine »normale«, entbehrungsreiche Kindheit zwischen den Trümmern einer vom Krieg gezeichneten Großstadt. Meine Spielplätze waren der nahe gelegene Hoppenlau-Friedhof und die vielen Ruinen und Bunker, von denen stets eine eigenartige, schaurig-gruselige Faszination ausging. Obwohl das Betreten verboten war, begab ich mich immer wieder dorthin und suchte, neugierig erregt, nach irgendetwas. Granatsplitter, Blindgänger, verborgen zwischen Backsteinen und Mauerresten – alles Mögliche förderte ich bei meinen Streifzügen zutage. Bis weit in die 1950er-Jahre hinein bildete diese bizarr-gefährliche Szenerie mein Abenteuerland. Erst Anfang der 1960er-Jahre verschwand langsam die gewohnte Kulisse der Nachkriegszeit, Ruine um Ruine. Neubauten, meist eher einförmig, zweckorientiert und funktional als schön, entstanden und prägten nunmehr das neue Bild der Stadt.
Der jahrelange Krieg hatte die Bevölkerung in einen apathischen und desillusionierten Zustand versetzt und das Leben danach, in einem kollabierten Gemeinwesen, stellte sich zunächst als ein Kampf ums nackte Überleben dar. Allein in den ersten vier Wochen nach der Besetzung durch die Alliierten wurden 73 Männer, 13 Frauen und neun Kinder erstochen, erwürgt oder durch Explosionen getötet. 2 000 Vergewaltigungen wurden angezeigt. Seitenlange Vernehmungen und Ermittlungsschritte, in die Schreibmaschine diktiert und gebunden zu Kriminalakten, ergänzt durch Tatortfotografien, dokumentieren in emotionsloser Sachlichkeit das erfasste Kriminalitätsgeschehen der Nachkriegszeit in Stuttgart bis Ende der 1950er-Jahre. Zum Beispiel:
Eine Leiche, mitten auf dem Gehweg, in irgendeiner Bar, Werkstatt oder auch in einem der damals meist spärlich möblierten Zimmer. Und dann der Text, vorne in die Akte eingeklebt, in DIN A5: Mord an Walter R. geb. 1901 und an Ursula R., geb. 1936, sowie Mordversuch an seiner Ehefrau Elisabeth R. geb. 1905, in der Nacht vom 7. / 8.7.45. R. wurde mit seiner Tochter Ursula in der Wohnung von durchziehenden franz. Truppen erschossen. Die Tochter Ursula starb an den Folgen der schweren Stichverletzungen an Händen und Unterleib im Krankenhaus Leonberg. Frau Elisabeth R. wurde im Zimmer von den Soldaten vergewaltigt und dann in die rechte Schulter geschossen.
Der barbarische Fall kam nie zur Aufklärung. Damals gehörte aber nicht nur Mord durch marodierende Soldaten zur Tagesordnung, sondern auch Gewalttaten durch sogenannte »Displaced Persons«, darunter zum Beispiel Zwangsarbeiter und Kriegsgefangene, Vertriebene, die nicht zurück in ihre osteuropäische Heimat wollten, entwurzelt, voller Hass, Menschen mit zerrissenen Biografien, dahinvegetierend in Kasernen und Lagern oder vagabundierend durch die besetzten Zonen.
Eine nicht unbeträchtliche Zahl an Menschen kam nach Ende des Krieges nicht mehr mit ihrem Leben zurecht. Das Kollabieren der staatlichen Ordnung nach dem totalen Zusammenbruch des Deutschen Reichs ließ bis in die 1950er-Jahre die Hemmschwelle zum Morden ins Bodenlose sinken.
Vor dem Hintergrund meiner Kindheitserlebnisse im Nachkriegs-Stuttgart und meiner langjährigen Arbeit bei der Stuttgarter Polizei sind die »Trümmermorde« und ihr spezifisches Zeitfenster in der Stuttgarter Stadt- und Kriminalgeschichte für mich in einer ganz besonderen Weise interessant. Einerseits zeigen sie das Kriminalitätsbild einer chaotischen, traumatisierten und den verheerenden Folgen des Krieges geschuldeten Ausnahmezeit, in welcher der menschliche Abgrund offenbar die Normalität war. Sie zeigen aber auch epochenübergreifend, dass die »klassischen« Mordmotive trotzdem meist dieselben bleiben und dass das individuelle Schicksal eines Menschen es oft von erschreckend banalen oder erstaunlichen Zufällen abhängig macht, ob man den nächsten Tag noch erlebt. Den Mörder per se gibt es nicht und ein Mensch wird auch nicht als Mörder geboren. Motive, Persönlichkeit und Umwelteinflüsse – das Zusammenspiel all dieser Faktoren ist von Fall zu Fall verschieden. Zweifellos bildete bei den hier im Buch beschriebenen Mordfällen die gesellschaftliche Situation der Nachkriegszeit, in Verbindung mit den meist schrecklichen Kriegserfahrungen, einen wichtigen Kontext oder Auslöser für die begangene Tat. In der Gesamtschau mit den Morddelikten, die mir in den Jahrzehnten meiner eigenen, 1967 begonnenen Polizeiarbeit begegnet sind, konnte ich jedoch erkennen, dass sich offenbar ein Bündel an immer gleichen Motiven zum Töten wie ein roter Faden durch die Kriminalgeschichte zieht: die Gier nach Geld, Besitz oder Ansehen, manische Liebe und natürlich auch Rache, Triebbefriedigung und Erniedrigung. Je nach Ausgangssituation und in unterschiedlichster Kombination werden diese Motive zum Auslöser für das Töten, einen Akt, der irreversibel und nicht mehr reparierbar ist: Der Mord ist ein Schlusspunkt, es ist vorbei, endgültig aus für das Opfer.
Und was für mich als erfahrener Kriminalist überdies noch faszinierend ist: Man darf es als eine polizeihistorische Besonderheit betrachten, wie speziell in diesem Zeitfenster von 1945 bis in die späten 1950er-Jahre eine personell darniederliegende Kriminalpolizei – nach der Besetzung durch die Alliierten waren gerade noch fünf Kriminalbeamte im Dienst, die nicht in der NSDAP gewesen waren – hier mit einer vorbildlichen Dienstauffassung akribisch versuchte, die Stuttgarter Mordfälle aufzuklären. Ohne Fachausbildung, von der Straße weg eingestellt, von den paar übrig gebliebenen »Alten« argwöhnisch beobachtet und nicht ernst genommen, blätterten die jungen Polizeikräfte in alten Akten, um zum Beispiel wenigstens zu erfahren, wie man einen Fall korrekt und sachgerecht zu Papier bringt. Dass diese neuen Kriminalbeamten, desillusionierte Flakhelfer und Kriegsheimkehrer, zusammen mit ihren Kollegen der Schutzpolizei den Übergang vom nationalsozialistischen Polizeistaat hin zu einem sicheren, geordneten und demokratischen Nachkriegs-Stuttgart mitgestalteten, nicht selten unter Einsatz ihres Lebens, ist ein ebenso bewegender wie einmaliger Teil Stuttgarter Polizeigeschichte.
Anhand von sieben Mordfällen, alle geschehen in der Zeit von 1945 bis 1958, möchte ich im vorliegenden Buch ein Bild von der Welt des Verbrechens und der Polizeiarbeit in dieser Ausnahmezeit zeichnen: Taten, begangen aus Hass, aus Geldgier, in Panik oder auch im jugendlichen Fantasierausch, kaltblütig geplante Morde – und junge, besessene, ehrgeizige Kriminalbeamte auf der Suche nach der Wahrheit.
Aus rechtlichen Gründen wurden teilweise Namen von den in den Texten vorkommenden Personen und Handlungsorte verfremdet. Dies ändert jedoch nichts an der Authentizität der beschriebenen Fälle, die ausschließlich auf den Fakten der polizeilichen Ermittlungsakten beruhen.
Oben: Michael Kühner (links im Kinderwagen) während einer sonntäglichen Ausfahrt mit Mutter und Zwillingsschwester im zerstörten Stuttgart, um 1949
Unten: Selten ging es mit dem Vater raus: der Autor (rechts) mit der Schwester, 1951
Als Karin S. am 26. Juli 1948 brutal auf den Kopf ihres Mannes einschlägt und diesem anschließend noch ein Messer in den Hals rammt, ist sie 35 Jahre alt. Zu diesem Zeitpunkt sind die Eheleute bereits vier Jahre verheiratet und haben miteinander ein florierendes Polsterergeschäft im Stuttgart der Nachkriegszeit aufgebaut. Was führte zu der schrecklichen Tat von Karin S.? Waren es ihre jahrelang durchlittenen Kriegserlebnisse, geprägt von Hunger, Angst und Entbehrungen, ständig die Todesgefahr vor Augen, die Karin S. so gefühllos und abgestumpft machten, dass sie zur Mörderin wurde? War es die Gier nach einem besseren Leben nach all den Jahren des Alleinseins, begleitet von der Angst ums Überleben? Nicht immer sind es »nur« die Verhältnisse, die einen Menschen zum schlimmsten aller Verbrechen treiben. Mörder töten aus den vielfältigsten Gründen und Motiven. Wie schwer es ist, die Wahrheit zu finden, die Schuld zweifelsfrei festzustellen, zeigt der Fall des kaltblütigen Gattenmordes der Karin S.
Eine grausame EntdeckungEs ist ein Dienstag, den der 26-jährige Valentin Fröhlich so schnell nicht vergessen wird. Wie jeden Werktag verlässt er am 27. Juli 1948 gegen 6.30 Uhr seine Wohnung in Stuttgart-Wangen, um zur Arbeit zu gehen. Fröhlich ist gelernter Polsterer und Tapezierer. Fast ein Jahr arbeitet er jetzt schon bei Fritz Sturm, der noch vier Gesellen und zwei Lehrlinge angestellt hat. Er denkt noch an den anstrengenden gestrigen Arbeitstag, an dem er erst nach halb sechs Uhr mit der Arbeit fertig war und die Werkstatt verlassen konnte. Aber er ist zufrieden. Er hat zumindest Arbeit und der Chef, Polsterermeister Sturm, behandelt seine Mitarbeiter anständig und freundlich. Lediglich mit dem Arbeiter Fritzlen gibt es immer wieder Ärger. Bis vor drei Wochen war dieser noch Vorarbeiter und steht jetzt kurz vor dem Rausschmiss. Fröhlichs Arbeitsstelle befindet sich in Stuttgart-Untertürkheim, auf dem Werksgelände der Puritas-Werke, nur einen Steinwurf von den Daimler-Motorenwerken entfernt. Die Werkstatt ist im ersten Stock eines zweistöckigen Hinterhauses untergebracht. Im Erdgeschoss logiert eine Schmiedewerkstatt, die Räume im zweiten Stock sind als Wohnung vermietet.
Am Bahnhof im Stuttgarter Vorort Wangen trifft Fröhlich seinen Arbeitskollegen Kurt Schneider, der erst seit zwei Wochen bei Sturm beschäftigt ist. Kurz vor 7 Uhr kommen die beiden an ihrer Arbeitsstelle an. Da Fröhlich sich als äußerst zuverlässig erwiesen hat, bekam er vom Chef den Schlüssel für die Haustüre ausgehändigt mit der Maßgabe, immer pünktlich und als Erster im Geschäft zu sein. Er wundert sich an diesem Morgen, weil die Haustüre nur zugezogen und nicht verschlossen ist. Weder innen noch außen steckt überdies ein Schlüssel. Mit Schneider geht er nun die Treppe hoch zur Polsterei und öffnet die eingeklinkte Tür zur Werkstatt. »Komisch«, denkt Fröhlich, »der Volksempfänger dudelt ja noch.« Nach drei Schritten bleibt der junge Polsterer wie angewurzelt stehen und starrt mit weit aufgerissenen Augen auf den Werkstattboden, wo er seinen Chef inmitten einer Blutlache liegen sieht. »Du betrittst den Raum nicht mehr«, ruft Fröhlich seinem Kollegen erregt zu. »Ich hole die Polizei. Und rühr nichts an!«
Die Mordkommission nimmt die Ermittlungen aufKurz nach 7 Uhr klingelt der Alarmapparat der Dienststelle 1, zuständig für Tötungsdelikte. Am Telefon ist der Wachhabende des 11. Polizeireviers, der mitteilt, dass vermutlich ein Mord geschehen ist. Bei dem Toten handle es sich um den Sattlermeister Fritz Sturm, der Tatort sei dessen Geschäft in Stuttgart-Untertürkheim in der Mercedesstraße 172.
Tatort Mercedesstraße 172, Werkstatt im ersten OG
Kriminal-Inspektor Farnbacher ist erst seit ein paar Wochen bei der Mordkommission. Er murmelt noch etwas von einem ausgefallenen Frühstück, leert hastig im Stehen seine Kaffeetasse und eilt zum Dienstwagen. Zusammen mit Kriminal-Sekretär Heinz Hertlein trifft er um 8 Uhr am Tatort ein. Die Kriminaltechniker kommen nur kurze Zeit später am Tatort an, ebenso der Kripochef Polizei-Direktor Kneer.
Den Beamten bietet sich folgendes Bild der Werkstatt:
Unmittelbar rechts neben der Tür steht eine halb fertige Couch, gegenüber ein Arbeitstisch, auf dem sich ein Überzugsstoff, zwei Rollen Bindfaden, eine Kartonschere, ein Weinglas, eine braune lederne Aktentasche und zwei Ahlen befinden. Unter dem Tisch liegt ein blutbeschmierter Wildlederhandschuh. Etwa einen Meter vom Tisch entfernt liegt der Tote in Bauchlage. Das Gesicht liegt direkt auf dem Boden auf. Am Hinterkopf stellen die Beamten eine hühnereigroße Wunde fest, aus der Gehirnmasse nach außen getreten ist. Der Kopf muss massiv mit stumpfer Gewalt traktiert worden sein. An der linken Halsseite, dicht unterhalb des Kinns, steckt ein Messer. Neben dem Kopf liegt ein blutverschmiertes Küchenmesser. Etwa 20 Zentimeter vom Kopf entfernt befindet sich ein eiserner Anschlaghammer. Der ausgebrochene Stiel liegt am rechten Oberarm des Opfers. Das Gesicht des Toten liegt in einer ausgedehnten Blutlache, die sich in länglicher Form rechts und links vom Kopf auf eine Länge von 2,20 Meter und eine Breite von 30 bis 40 Zentimeter hinzieht. Um den Kopf befinden sich auf dem Boden strahlenförmig ausgeprägte massive Blutspritzer bis zu einer Entfernung von 1,5 Meter. Beim Wenden der Leiche wird ein stark mit Blut behaftetes Gesicht sichtbar, das linke Auge ist geschlossen. Der Kragen des Hemdes ist mit Blut durchtränkt, ebenso die Krawatte. Das Hemd ist in der Nähe der linken Halsseite gerissen. Bei näherer Betrachtung stellen die Beamten mehrere Einstiche im Hals fest. Am linken Arm trägt der Tote eine Armbanduhr, deren Uhrwerk steht. Die Zeiger stehen auf 7.42 Uhr. Unter dem Toten in Höhe des Oberschenkels liegt eine Schere. Neben dem Toten stehen zwei Böcke, auf denen ein in Arbeit befindlicher Sessel aufgestellt ist. Der Volksempfänger ist immer noch eingeschaltet; ebenso ein elektrischer Kocher, auf dem ein Topf mit einem stark angesengten Lappen steht. Die Leichenstarre ist inzwischen voll ausgeprägt. Die Fertigung von Tatortskizzen, die fotografische Sicherung der Werkstatt sowie die Spurensicherung erstrecken sich über den ganzen Tag.
Dokumentiertes Spurenbild mit Auffindesituation des Opfers
Polizeilich dokumentierte Tatwerkzeuge der Karin S. mit Originalmaßen
Um 10.45 Uhr erscheint der Arzt Dr. Friedrichs aus Untertürkheim. Anhand der Leichenstarre und der Leichenflecke schätzt er, dass der Tod des Opfers vor ungefähr zwölf Stunden eingetreten ist. Die beschlagnahmte Leiche wird zur Obduktion in die Leichenhalle des Stuttgarter Pragfriedhofes gebracht. Noch am selben Tag wird die stehen gebliebene Armbanduhr des Toten dem Uhrmachermeister Hägele zur Prüfung vorgelegt. Da das Laufwerk eine Laufzeit von 32 Stunden hat und erst sechs bis sieben Stunden abgelaufen sind, ist für den Uhrmachermeister mit größter Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass das Laufwerk infolge des Sturzes abends um 7.42 Uhr stehen geblieben ist und dies der Todeszeitpunkt sein muss.
Bereits um die Mittagsstunde ruft die Polizei durch eine Radiodurchsage die Bevölkerung zur Mithilfe bei der Aufklärung des Falles auf. Circa 60 Personen, deren Namen aus den Geschäftspapieren in der Firma hervorgehen, werden auf ihr Alibi überprüft.
Erste Vernehmungen im TatortbereichDie inzwischen an den Tatort herbeigeholte Ehefrau des Ermordeten, die 35-jährige Karin S., wirkt sehr gefasst. Ja, geradezu aggressiv verhält sie sich gegenüber den Vernehmungsbeamten, die ihr zunächst ihr Beileid aussprechen, bevor sie mit einer ersten Befragung beginnen. Keine Spur von Entsetzen, Trauer oder Fassungslosigkeit über ihren im Blute auf dem Werkstattboden liegenden Mann ist zu erkennen. Obwohl ihr keine Vorhaltungen gemacht werden, fühlt sie sich beschuldigt und von den Beamten in die Enge getrieben.
Karin S. gibt an, dass sie am gestrigen Abend gegen 8 Uhr in der Firma Fenster geputzt habe. Um diese Zeit sei ein männlicher Besucher gekommen, den sie selbst nicht gesehen hätte. Ihr Mann hätte sich sofort mit dem Kunden in sein Büro zurückgezogen. Im Büro, so die Witwe, müsse es zu einer Auseinandersetzung gekommen sein, da sie gehört habe, wie ihr Mann sagte: »So können Sie mit mir nicht umgehen!« Anschließend sei ihr Mann in die Werkstatt gekommen, kreidebleich. Auf ihre Frage, was denn los sei, habe er ihr zur Antwort gegeben, dass sie das nichts angehen würde. Sie solle nach Hause gehen und das Abendessen zubereiten, er komme dann nach. Sie sei dann sofort gegangen, ohne zu wissen, wer der unbekannte männliche Besucher gewesen sei.
Als sich im Laufe des Vormittags in Untertürkheim gerüchteweise herumspricht, dass der Sattlermeister Sturm umgekommen sei, ruft ein Angestellter der Firma Daimler-Benz in der Firma an und erkundigt sich bei Karin S., ob dies stimmen würde. Karin S. bestätigt den Tod ihres Mannes und teilt gleichzeitig mit, dass sie das Geschäft weiterführen werde und Aufträge jederzeit entgegengenommen würden.
Suche nach einem Motiv Die im Pförtnerhäuschen der Puritas-Werke wohnende 21-jährige Arbeiterin Jana Schütz, die in einer amerikanischen Snack-Bar arbeitet, gibt an, dass sie gesehen habe, wie die Ehefrau des Sattlermeisters Sturm das Werksgelände durch das große Tor verlassen habe, so zwischen 19 und 20 Uhr. Karin S. habe im Vorbeigehen gegrüßt und Jana Schütz den Eindruck gehabt, dass sie sehr aufgeräumt gewesen sei, denn sie sei pfeifend um die Ecke gebogen.
Das im zweiten Stock direkt über der Werkstatt mit seinem 18-jährigen Sohn wohnende Flüchtlingsehepaar Stürmer bekundet, ein gutes Verhältnis zu Sattlermeister Sturm gehabt zu haben. Sturm wird als freundlicher und hilfsbereiter Nachbar beschrieben, der anderen immer auch kleine Gefälligkeiten erwiesen hat. Über das Wochenende habe er der Familie öfters seinen Volksempfänger geliehen, damit, wie er sich ausgedrückt habe, Michael Stürmer es etwas gemütlicher habe. Stürmer berichtet, dass er am Tatabend gegen 19 Uhr mit seinem Sohn in sein Gärtchen gegangen sei, das sich in unmittelbarer Nähe des Pförtnerhäuschens befinde. So zwischen 20 und 20.15 Uhr sei Karin S. in Richtung Tor vorbeigekommen, ohne mit ihnen zu sprechen, was ungewöhnlich gewesen sei. Stürmer erinnert sich, dass Karin S. eine Rolle unter dem Arm trug, die sie mit Papier eingewickelt hatte, und dass sie mit einem grauen Kostüm bekleidet war. Bei Stürmer sei der Nachtwächter Herr Baum gestanden und habe die Geschäftsfrau noch gefragt, ob sie einen Schlüssel für das Eingangstor hätte, was sie mit einem Kopfnicken bejaht habe. Dann sei sie, ohne sich umzusehen, schnellen Schrittes weitergelaufen.
Arbeiter Fritzlen gerät ins Visier der ErmittlerDie Vernehmungen der Arbeiter von Sattlermeister Sturm ergeben, dass der Lehrling Siebenbart, nachdem er die Werkstatt ausgekehrt hatte, als Letzter nach halb sechs Uhr die Werkstatt verlassen hat. Anschließend, erfährt die Polizei, ging er zum Kino-Bauer in Untertürkheim, um seine Hoover-Speisung in Empfang zu nehmen. Um 18 Uhr fuhr er mit dem Zug nach Esslingen zu seinen Eltern, bei denen er den Abend verbrachte. Als er das Geschäft verließ, war nur noch das Ehepaar Sturm in der Werkstatt anwesend.
Bei der Befragung der Arbeiter wird schnell ersichtlich, dass der ehemalige Vorarbeiter Fritzlen zu seinem Chef Sturm ein denkbar schlechtes Verhältnis hatte. Auch die anderen Arbeiter halten mit ihrer Meinung über Fritzlen nicht hinter dem Berg. Im Gespräch mit den Beamten gibt der 58-jährige Fritzlen unumwunden zu, dass er mit Sturm schon länger nicht mehr klargekommen sei. Fritzlen begann 1946 bei Sturm und war bis zur Währungsreform Vorarbeiter und zweiter Mann im Betrieb. Nach der Währungsreform gab Sturm ihm zu verstehen, dass er ihn nur noch als Arbeiter beschäftigen werde und er den Hausschlüssel an Fröhlich abgeben müsse. Als Grund für das schlechte Verhältnis gibt der degradierte Vorarbeiter an, dass er mit den Schwarzmarktgeschäften des Fritz Sturm – Möbellieferungen gegen entsprechende Sachwerte – nicht einverstanden gewesen sei, weil dadurch regulär bezahlende Kunden benachteiligt worden seien. Als er, so Fritzlen, am Tag der Tat um 17 Uhr die Werkstatt verlassen habe, seien außer dem Chef und seiner Frau lediglich noch Fröhlich und der Lehrling im Betrieb gewesen. Eine sofort durchgeführte Alibiprüfung ergibt, dass Fritzlen als Täter ausscheidet: In der fraglichen Zeit saß er in verschiedenen Gaststätten und Cafés in Stuttgart. Die Bedienungen vom »Lamm« und der Wirt von der »Linde« bestätigen sein Alibi.
Die Witwe Karin S. Ungefähr sieben Stunden sind nun seit der Entdeckung des getöteten Sturm vergangen. Die Ergebnisse aus den Vernehmungen von Karin S. und den anderen Zeugen werden zusammengeführt und abgeglichen. Sehr schnell stellt sich heraus, dass die Ehefrau sich immer wieder in Widersprüche verwickelt. Insbesondere die Tatsache, dass sie erst nach 20 Uhr beim Verlassen des Areals gesehen wurde und die Überprüfung der stehen gebliebenen Armbanduhr des Getöteten aber den Todeszeitpunkt 19.42 Uhr immer wahrscheinlicher macht, lässt zumindest den Schluss zu, dass die aggressiv auftretende Witwe mehr weiß, als sie bereit ist auszusagen. Ihre psychische Verfassung kurz nach dem gewaltsamen Tod ihres Mannes, so sinnieren die Beamten überdies, war sehr merkwürdig. Sie brach nicht in Tränen aus. Teilweise empörte sie sich über Fragen der Vernehmenden. Besonders fiel den Beamten ihr kaltes, ja geradezu distanziertes Agieren am Tatort auf, wenige Stunden nach dem Auffinden ihres Mannes. In den Nachmittagsstunden entschließt sich Kriminal-Inspektor Farnbacher zu einer ausführlichen Vernehmung der Karin S. Die Witwe macht folgende Aussage:
»Ich bin hier in Stuttgart 1913 geboren und aufgewachsen. In Untertürkheim ging ich in die Wilhelmschule und anschließend auf die Handelsschule in Stuttgart. Beim Mercedes-Schuhhaus habe ich Verkäuferin gelernt. Aufgrund der wirtschaftlichen Situation ging ich 1932 zur Firma Woolworth nach Esslingen. Mehrmals musste ich wegen Arbeitsplatzmangels die Stelle wechseln. Bis zu meiner Dienstverpflichtung im Jahre 1944 bei der Firma Daimler-Benz war ich bei der Einkaufsgenossenschaft der Friseure im Büro beschäftigt. Bis kurz vor Kriegsende war ich beim Daimler angestellt.
Meinen jetzigen Mann lernte ich am 23.12.1936 kennen. Geheiratet haben wir am 6.5.1944. Er war zu dieser Zeit Soldat, denn bereits 1940 wurde er eingezogen. Bis 1939 hatte er ein Polsterer- und Tapeziergeschäft im Stuttgarter Westen, das aber durch einen Fliegerangriff ausgebombt wurde. Am 22.6.1945 kehrte mein Mann aus der amerikanischen Kriegsgefangenschaft zurück und bereits am 10.8.1945 richtete er auf dem Werksgelände der Puritas-Werke in Stuttgart-Untertürkheim seinen jetzigen Betrieb ein. Das Geschäft läuft sehr gut und mein Mann hat viele Aufträge. Ich erledige die schriftlichen Arbeiten, bediente zum Teil die Kundschaft und tätigte auch Einkäufe bei den Lieferanten. Allerdings war ich nicht ständig im Geschäft, da ich ja auch noch den Haushalt zu versorgen hatte. Im Umgang mit den Kunden gab es immer wieder Schwierigkeiten. Dies rührte daher, dass mein Mann immer wieder Kunden bevorzugte, die ihm Lebensmittel oder Zigaretten mitbrachten. Das war üblich, da er auch seinen Arbeitern und Lieferanten immer wieder irgendwelche Sachwerte geben musste, um sie bei Laune zu halten. So kam es, dass es immer wieder ungehaltene Kunden gab, deren Lieferzeiten nicht eingehalten wurden, weil mein Mann Schwarzmarktkunden zwischendurch bevorzugte. Dies hielt ich meinem Mann auch des Öfteren vor, wodurch es dann zu Streitereien zwischen uns kam. Sehr gereizt sagte er mir dann, dass er der Chef ist und bestimme, wie die Arbeit eingeteilt wird.
Unser eheliches Verhältnis war an sich gut. Es gab natürlich zwischen uns, allein schon wegen des Geschäfts, Unstimmigkeiten und Meinungsverschiedenheiten. Möchte aber nicht behaupten, dass dadurch unsere Ehe unmittelbar gefährdet war. Zwar war mein Mann aufbrausend und jähzornig und es kam auch einmal in unserer Ehe vor, dass mein Mann mich derartig schlug, dass ich ein Krankenhaus aufsuchen musste. Er entschuldigte sich und sagte mir, dass es nur so weit gekommen sei, weil ich ihn besonders gereizt hätte. Dies war aber das einzige Mal, dass es zu Tätlichkeiten gekommen ist.
In geschlechtlicher Hinsicht verstanden wir uns gut und glichen uns vollkommen aus. Kinder haben wir bis jetzt noch nicht, obwohl wir beide gern ein Kind gehabt hätten. Ich war deswegen auch schon in ärztlicher Behandlung. Ob mein Mann während unserer Ehe ein Verhältnis mit anderen Frauen gehabt hat, kann ich nicht mit Sicherheit beurteilen. Nach den Schilderungen meiner Mutter soll er früher sehr viele Beziehungen zum weiblichen Geschlecht gehabt haben. Ob er in der Werkstatt in den Abendstunden Treffen mit Frauen hatte, kann ich nicht sagen. Allerdings hat er teilweise bis tief in die Nacht in seiner Werkstatt gearbeitet. Mein Mann hat sich mir gegenüber nie dahingehend geäußert, dass er sich von mir trennen wollte, geschweige denn, dass er an Scheidung dachte. Soweit ich weiß, hatte mein Mann vor unserer Beziehung mit einer Jüdin aus Stuttgart-Sillenbuch näheren Kontakt. Bis zum Umsturz 1945 war sie im Ausland. Nach ihrer Rückkehr nahm sie wieder Kontakt zu meinem Mann auf und er fertigte auch für ihre Wohnung mehrere Polstermöbel. Angeblich wollte sie ihn mit größeren Geldbeträgen unterstützen, allerdings bezahlte sie bislang noch nicht einmal ihre bestellten Polstermöbel. Ich glaube, er hat ziemlich sicher mit dem Geld der Jüdin gerechnet, da er sich mit Bauplänen beschäftigte und eine neue Wohnung errichten wollte. Ein anderes Mal meinte er, dass er das Geld von ihr sicherlich bekommen würde, wenn er sich zu ihr ins Bett legen würde.
Zu meinem gestrigen Aufenthalt in der Werkstatt habe ich ja schon heute Morgen alles gesagt. Ich war gegen 20.30 Uhr zu Hause und habe noch einen Hasen geschlachtet, weil mein Mann geäußert hatte, dass er einmal wieder richtig Fleisch essen möchte. Ich habe noch meine Wäsche gewaschen, richtete meinem Mann sein Essen und ging gegen 21.30 Uhr ins Bett. Das Ausbleiben meines Mannes war für mich nicht weiter verwunderlich, da er des Öfteren die Nacht durchgearbeitet hat und erst am nächsten Morgen mit dem ersten Omnibus zum Frühstück nach Hause kam. Kurz vor 8 Uhr wurde ich von einem Polizisten herausgeklingelt, und er bat mich, mit zum Geschäft zu kommen, wo ich dann erfuhr, dass mein Mann in der Werkstatt tot aufgefunden worden war.«
Karin S. wird überwacht.
Nach der Vernehmung lässt Kriminal-Inspektor Farnbacher die Witwe nach Hause gehen – obwohl er der festen Überzeugung ist, dass sie mit dem Tod ihres Mannes in Verbindung steht. Noch traut er ihr die Ausführung dieser brutalen Tat nicht alleine zu. Hatte sie einen Mittäter, einen Liebhaber, der den Ehemann aus dem Weg geräumt hat, oder einen Auftragsmörder, damit sie das Geschäft weiterführen kann? Um diese Möglichkeit zu überprüfen, ordnet Farnbacher die Überwachung der Karin S. an. Ab diesem Zeitpunkt wird die Verdächtige rund um die Uhr observiert.
Noch am selben Abend setzt sich Karin S. in ihrer Wohnung an die Schreibmaschine und verfasst folgenden Text an die Allianz und Stuttgarter Lebensversicherungsbank AG:
»Muss Ihnen heute die traurige Mitteilung machen, dass mein Mann Fritz Sturm, geb. am 12.6.1910, einem Mordanschlag zum Opfer fiel. Es geschah am 26. ds. Mts. abends. Vertragsgemäss möchte ich Ihnen sofort melden obwohl die Leiche noch nicht freigegeben wurde. In der Anlage sende ich Ihnen die Versicherungspolice und sehe Ihrer gefälligen, baldigen Stellungnahme in dieser Sache entgegen.
Hochachtungsvoll
gez. Frau Karin S. geb. Gerhard«
Die Lebensversicherungssumme beträgt für den Todesfall 4 000 DM und die Leistung aus der Unfallzusatzversicherung 5 000 DM. Karin S. beauftragt noch am selben Abend ihre Mutter, das Schreiben ihrem in der Nachbarschaft wohnenden Versicherungsvertreter der Stuttgarter Allianz Versicherung zu bringen, der dieses am nächsten Tag der Rechts- und Auszahlungsabteilung übergibt.
Mittwoch, 28. Juli Als der Schwager von Fritz Sturm, der Weingärtner Klipfel, und der Onkel des Getöteten, der Landwirt Zorneg, die Witwe aufsuchen, um zu erfahren, was passiert ist, treffen sie auf eine gefasste Frau. Karin S. wiederholt die Aussage, die sie am Tag zuvor bei der kriminalpolizeilichen Vernehmung gemacht hat. Die Verwandten wundern sich noch darüber, dass sie ihren Mann bei dem Streit in der Werkstatt allein gelassen hat. Sie kannten Karin nicht als die Frau, die sich von ihrem Mann bevormunden oder einfach wegschicken ließ. Ob sie sich vorstellen könne, wer ihren Mann auf dem Gewissen habe? Nein, antwortet sie, es gebe so viele Kunden und teilweise seien auch Ausländer ins Geschäft gekommen. Im Übrigen sei sie nicht über alle Geschäftsbeziehungen ihres Mannes informiert gewesen. Nach dem Gespräch mit der Witwe gehen Schwager und Onkel zur Mordkommission. Sie halten es für ihre Pflicht, Angaben über das Privatleben von Fritz Sturm zu machen.
Eine ungetrübte Ehe?