Turbulenzen - Leslie Larson - E-Book

Turbulenzen E-Book

Leslie Larson

4,8

Beschreibung

L.A. International Airport - hier kreuzen sich die Wege von fünf Menschen auf schicksalhafte Weise: Logan ist gerade auf Bewährung draußen - ein kleiner gewiefter Gauner ohne große Perspektive. Jewell, seine Tochter, geht ihm lieber aus dem Weg. Sie ist Architekturstudentin mit Spüljob in der Mensa und einer Geliebten auf dem Absprung. Wylie, Logans Bruder, ist Vietnam-Veteran und Barkeeper im Flughafen. Er beobachtet das Leben und hält auch seine Geliebte lieber auf Abstand. Inez, Immigrantin von den Philippinen, jobbt heimlich als Avon-Beraterin und spart, um ihren Ehemann Rudy verlassen und mit ihrer Tochter ein neues Leben beginnen zu können. Rudy wiederum ist Vormann einer Putzkolonne im Flughafen. Bis er eines Tages seinen Job verliert. Das will er denen da oben heimzahlen. Rudy schmiedet einen bösen Plan. In der Abflughalle des LAX kommt es schließlich zum Showdown … "Larson versteht es, die geradezu atemlose Spannung ihrer vielstimmigen Erzählung bis zur letzten Seite der Lektüre aufrechtzuerhalten." Gudrun Hauer, Lambda Nachrichten

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FRAUEN IM SINN

 

Verlag Krug & Schadenberg

 

 

Literatur deutschsprachiger und internationaler

Autorinnen (zeitgenössische Romane, Kriminalromane,

historische Romane, Erzählungen)

 

Sachbücher und Ratgeber zu allen Themen

rund um das lesbische Leben

 

Bitte besuchen Sie uns: www.krugschadenberg.de.

Leslie Larson

Turbulenzen

Roman

Aus dem Englischenvon Andrea Krug

Für Carla

»Wo gehn wir denn hin? Immer nach Hause.«

Novalis

Dienstag, 19.November

1

Wylie machte sein Auge wieder zu schaffen. Sein Auge und das Handgelenk, das er sich vierzig Jahre zuvor gebrochen hatte, als er während der Fahrt hinten vom Pick-up seines Vaters gefallen war. Er war elf gewesen. Jetzt schmerzte es, wann immer sich Regen ankündigte. Wie ein gottverdammtes Barometer. Er presste eine Limette über einem Bombay Tonic aus und ließ den Blick über die Abfertigungshalle schweifen, wo der Strom der morgendlichen Geschäftsreisenden allmählich nachließ. Die Schlange an der Sicherheitskontrolle hatte sich nahezu aufgelöst. Er sah zu, wie sich ein massiger Mann, dessen grauer Geschäftsanzug ihn wie einen Elefanten aussehen ließ, unbeholfen bückte, seine Schuhe auszog und den Metalldetektor passierte. Die Sicherheitsbeamten in ihren khakifarbenen Uniformen und Latexhandschuhen standen plaudernd hinter den Röntgengeräten und stapelten Plastikkörbe ineinander, während sie auf den nächsten Ansturm von Passagieren warteten. Wylie servierte dem Gast seinen Drink, nahm das Geld entgegen und tippte die Summe in die Kasse. Von seinem Platz hinter der Theke hatte er einen guten Blick auf die Reisenden, die von den Ticketschaltern herbeiströmten und den Pavillon durchquerten, in dem sich seine Bar befand, zusammen mit einem See’s Süßwarenstand, dem Espresso-Ausschank unter dem großen Schirm, einem Zeitungs- und Souvenirladen, der La Paz Cantina und einem Geschäft, in dem man Mitbringsel für Hunde kaufen konnte. Am anderen Ende zwängten sich die Passagiere durch das Nadelöhr der Sicherheitskontrolle, wurden durch Metalldetektoren geschleust und an der anderen Seite wieder ausgespien, wo sie ihre Habseligkeiten zusammenklaubten und zu den Gates verschwanden.

Wylies Augenlid flatterte und zuckte, als sei ein Käfer unter der Haut gefangen. Stress, dachte er, obwohl ihm kein Grund einfiel, warum er nervös sein sollte. Eine magere Frau mit viel zu dunklem Teint bestellte einen Screwdriver. Wylie zählte die Eiswürfel, während er sie in das Glas fallen ließ, kein gutes Zeichen. Nicht fünf, nicht neun. Sieben. Sonst konnte wer weiß was geschehen. Er fügte einen weiteren hinzu, acht, sich selbst zum Trotz. Um das Syndrom kurzzuschließen. Doch kurz bevor er den Drink servierte, fischte er ihn wieder heraus. Wenn das Unheil hereinbrach, sollte sein letzter Gedanke nicht sein: Ich hätte es bei sieben belassen sollen. Bitteschön, sagte er sich.

Auf der gegenüberliegenden Seite des Pavillons saßen Menschen auf Reihen von schwarzen Plastiksitzen und warteten auf das Auftauchen der eintreffenden Passagiere aus den Ankunftsgates. Um diese Zeit, kurz vor zehn Uhr morgens, waren die Sitzreihen nahezu leer. Die Geschäftsreisenden mit ihren akkuraten Anzügen und dem üppig aufgetragenen Eau de Cologne, gelegentlich ein Fleckchen getrocknetes Blut auf den frischrasierten Gesichtern, waren bereits auf dem Weg nach San Francisco oder New York. In Kürze würden Familien mit quengelnden Kindern hereinkommen, zusammen mit Menschen, die auf dem Weg zu einer Hochzeit oder einer Beerdigung oder in die Flitterwochen waren, und mit ausländischen Touristen, die heimflogen, nachdem sie Disneyland, Hollywood und den Pazifik gesehen hatten. Die Sitzreihen würden sich mit Menschen füllen, die Zeitung lasen und ihre Kinder ruhig zu halten suchten, während sie warteten und jedes Mal nervös aufblickten, wenn ein neuer Strom von Ankömmlingen mit Koffern und Kinderwagen eintraf.

»Kann ich einen Drink kriegen?«, rief ein dürres weißes Kerlchen, dessen Kopfform an eine Glühbirne erinnerte. Er pochte mit seinem Geld auf die Theke – eines von Wylies Lieblingsärgernissen.

»Sie wünschen?«, fragte Wylie mit gleichmütiger Stimme und legte eine Cocktailserviette vor ihn hin.

»Einen Dewar’s on the Rocks.«

Im Fernseher über der Bar hieß es in der Wettervorhersage, dass sich von Süden her ein Sturm näherte. Er würde am späten Abend eintreffen. Das erklärte Wylies Handgelenk, nicht aber sein Auge. Nicht dass man dieser Tage einen Grund brauchte, um nervös zu sein. Nirgends war man sicher – weder bei McDonald’s noch bei Safeway noch in seinem eigenen Zuhause. Weder auf der Arbeit noch im Auto noch in der Schule, und ganz gewiss nicht am Flughafen. Die Erde konnte sich aufbäumen und spalten. Ein Flugzeug konnte in diesem Augenblick auf sie zusteuern und genau hier in der Bar in einem Feuerball explodieren. Ein Durchgeknallter konnte Amok laufen und die Menschen mit einer Automatikwaffe niedermähen. Die einzige Zeit, in der du dich entspannen konntest, die einzige Zeit, in der du nicht befürchten musstest, verstümmelt oder getötet zu werden, dachte Wylie, während er den Scotch über das Eis goss, war, wenn du bereits tot warst.

»Sechs fünfzig«, sagte er, als er den Drink servierte.

»Ich habe keinen Doppelten bestellt«, entgegnete Glühbirne.

Wylie biss die Zähne zusammen. »Das ist ein einfacher.«

Der Typ machte ein großes Gewese darum, seine Brieftasche aus der hinteren Hosentasche hervorzuholen und die Scheine nach der passenden Summe durchzublättern. Als er das Geld endlich auf die Theke legte, klingelte das Telefon.

Wylie nahm das Geld. Der Tag ließ nichts Gutes hoffen.

Er ging ans Telefon. Er rechnete mit der Servicefirma des Flughafenbetreibers, die anrief, um ihm zu sagen, dass ein Elektriker käme, um die flackernde Birne der Lampe über der Kasse auszutauschen, oder mit der Managerin des Barbetreibers, für den er arbeitete, die wissen wollte, ob er eine zusätzliche Schicht übernehmen könnte. Er war überrascht, Carolyns Stimme zu hören.

»Ist alles in Ordnung?«, fragte er besorgt. Sie hatte ihn noch nie zuvor bei der Arbeit angerufen. Er sah sein Haus in Flammen, die Hunde überfahren.

»Jaja. Es ist alles in Ordnung, Wylie. Tut mir leid, dass ich dich bei der Arbeit störe, aber hör mal …«

»Was gibt’s denn?«, unterbrach er sie. Kaum war die Sorge verflogen, war er genervt. Sie hatten ihre Gepflogenheiten.

»Also, hör zu. Ich möchte gern mit dir sprechen.« Carolyn klang unsicher.

Eine Flug-Crew eilte vorüber wie ein Schwarm Amseln. Die Bar füllte sich. Vor einigen Minuten war das Amber Ale prustend zur Neige gegangen. Das Spülbecken war voller benutzter Gläser, und an den Tischen drüben bei dem großen Fernsehbildschirm warteten sie auf Bedienung.

»Hör zu, Carolyn, kann ich dich in ein paar Minuten zurückrufen?«, fragte Wylie. »Hier ist gerade der Bär los.«

»Klar«, erwiderte sie. »Kein Problem.«

»Ich muss ein bisschen was aufholen. Ich ruf dich gleich zurück.«

Er räumte die leeren Gläser von der Theke und tauchte sie in das dampfende Wasser in der Spüle aus rostfreiem Stahl. Er füllte den Stapel Cocktailservietten auf und die Schalen mit Oliven, Limettenschnitzen und Maraschinokirschen. Er mochte das fluoreszierende Licht des Flughafens, das leise Surren der Konservenluft, den schreiend lila und goldfarben gemusterten Teppich. Draußen kämpfte sich die Sonne durch die Wolken. Fahles, milchiges Licht strömte durch die großen Fenster herein, verwandelte die vorübereilenden Menschen in Silhouetten und ließ die grellen Röhren an der Decke und die Anzeigetafeln, die Ankunfts- und Abflugszeiten verkündeten, verblassen. Zeitungen und Pappbecher sammelten sich auf den schwarzen Plastiksitzen im Wartebereich. Große Flugzeuge drückten ihre Nasen an die Fluggastbrücken; Tankschläuche hingen wie Nabelschnüre von ihren Bäuchen.

»Einen Ketel One!«, rief ein Mann, der wie ein Profi-Basketballspieler aussah. Er trug protzige Diamantohrstecker und jede Menge Goldkettchen. Sein Kumpel stand ihm in nichts nach. Er bestellte einen Cosmopolitan.

Wylie machte ein halbes Dutzend möglicher Todesfallen aus, während er die Drinks zubereitete. Die unbeaufsichtigte Sporttasche an der Wand, das Paket auf dem Stuhl neben der Glasvitrine, in der sich die Brezeln unter der Wärmelampe drehten, den Typ mit dem übergroßen Mantel, der sich verstohlen umsah, die Hände in den Taschen vergraben. Unterdessen nahmen sie den Fluggästen Nagelknipser, Taschenmesser und Pinzetten ab. Welch ein Witz. Die Leute hatten ja keine Ahnung, wie es war, sich immer zweimal zu überlegen, bevor man etwas anfasste, bevor man den Fuß hob und wieder absetzte. Es war dreißig Jahre her, seit Wylie in Vietnam gewesen war, aber er sah sich immer noch nach versteckten Bomben um, hielt immer noch nach Tretminen Ausschau. Die Leute wussten nicht, wie es war, sich ständig zu fragen, ob man seine Beine verlieren würde, seine Eier, sein Leben. Wylie hatte miterlebt, wie ein Neunzehnjähriger aus Tulsa, Oklahoma, auf eine Springmine trat, einen zweifachen Salto drehte wie ein Akrobat und anschließend in der Astgabel eines Baumes landete.

Eine kleine Frau mit Strähnchen im Haar nahm an der Ecke der Bar Platz, wo sich Hot Dogs auf metallenen Rollen drehten. Anfang dreißig, schätzte Wylie. Lackierte Fingernägel, ebenmäßige Züge. Eine kleine Narbe auf der Oberlippe. Sie ließ den Blick über die Flaschen hinter ihm schweifen, musterte die Zapfhähne.

Wylie nickte grüßend, wischte über die Theke und legte eine Cocktailserviette vor sie hin. »Was darf’s sein?«, fragte er.

»Ist das Bier alles vom Fass?«

»Ja. Aber das Amber Ale ist gerade alle.«

Sie betupfte beide Mundwinkel mit der Fingerspitze, als wolle sie etwas fortwischen. Wylie wartete geduldig, die Hände hinter dem Rücken. Er überlegte, ob er sich ihren Ausweis zeigen lassen sollte. Früher – ach, was. Aber dies war der Flughafen. Alles nach Vorschrift. Wer hätte gedacht, dass er hier enden würde?

»Ich glaube, ich nehme eine Margarita. On the rocks, ohne Salz. Und einen Tequila extra.«

»Können Sie sich bitte ausweisen?«

Sie verdrehte die Augen und wühlte in einer übergroßen Handtasche. Sie war zwölf Jahre über dem Mindestalter. Hieß Emily mit Vornamen. Wylie dankte ihr und gab ihr den Führerschein zurück.

Sie sah zu, wie er den Tequila einschenkte, dann den Cocktail. Er stellte sich vor, was sie sah: einen glattrasierten Typ von durchschnittlicher Größe mit pockennarbigem Gesicht und leichtem Bauchansatz, dessen braunes Haar – er trug es heutzutage ein bisschen länger, als Reverenz an seine Vergangenheit – an den Schläfen grau wurde.

»Normalerweise trinke ich nicht«, sagte sie, als er die Gläser vor sie hinstellte. »Aber ich hab Angst vorm Fliegen.«

Er nickte. Das erlebte er andauernd. Machos, deren Puls im Nacken raste wie ein wildgewordenes Kaninchen. Damen der gehobenen Gesellschaft, die den Chardonnay runterschütteten wie Wasser. Kurze, die einer nach dem anderen gekippt wurden. Menschen, die von der Bar fortstolperten, als hätte ihr letztes Stündlein geschlagen.

»Ihre Chancen stehen gut«, sagte er.

»Ich weiß. Es ist albern.« Sie trank den Kurzen zuerst, eine knappe Kippbewegung des Handgelenks, als nähme sie einen Schluck Hustensaft. »Wylie?« Sie wies auf sein Namensschild. »Wie der Kojote?«

»Wie bitte?« Er hatte nicht die Angewohnheit, mit den Gästen zu plaudern.

»Der Kojote. Aus dem Road-Runner-Cartoon, wissen Sie. Wile E. Coyote.«

Sie war gesprächig. So war das, wenn die Leute Angst hatten, das war ihm nicht neu.

»Ach so. Wylie ist mein Nachname. Hat sich so eingebürgert.«

»Wie ist Ihr Vorname?«

»Tom. Thomas. Aber so nennt mich niemand. Nur meine Familie. Sie nennen mich Tommy.«

Sein Augenlid zuckte. Er fragte sich, ob er mal einen Arzt aufsuchen sollte. Die Frau lächelte ihn an und griff nach ihrer Margarita. Manchmal fiel es ihm schwer, nicht zu vergessen, dass er in den mittleren Jahren war, einundfünfzig, um genau zu sein, und dass Frauen wie diese vermutlich allenfalls einen Vater in ihm sahen, wenn überhaupt. Er nahm den Lappen und ging zur Kasse hinüber.

»Ich bin auf dem Weg nach Denver, um meine Nichte zu besuchen!«, rief die Frau. Der Alkohol zeigte offensichtlich Wirkung. »Die Tochter meines Bruders. Sie ist das erste Enkelkind in unserer Familie.«

»Wie schön.«

»Ich hoffe bloß, dass es dort nicht schneit. Oder einen Sturm gibt. Turbulenzen, Sie wissen schon. Das überlebe ich nicht.«

»Ach wo, kein Grund zur Sorge.«

Ein weiterer Gast nahm am anderen Ende der Bar Platz. Glattrasiert, mit sehr kurzem Haar. Seine Haut sah gespannt aus, als würde sie platzen, wenn man mit einer Gabel hineinstach. Wahrscheinlich beim Militär oder vielleicht bei der Polizei.

Wylie legte eine Serviette vor ihn. »Was darf’s sein?«

Der Typ war viel zu sehr damit beschäftigt, die Frau zu taxieren, um Wylie anzusehen. Sie abzuchecken. Immer dasselbe. »Was möchten Sie trinken?«, fragte Wylie mit Nachdruck.

Der Typ musterte Wylie rasch. Schätzte ihn ein und hakte ihn ab. Wahrscheinlich hatte die Arbeitsuniform großen Anteil daran, dachte Wylie – die schwarzen Hosen und das lehmfarbene Poloshirt mit dem Schriftzug Top Hat Enterprises über der Brusttasche. Der Typ konnte nicht wissen, dass Wylie zwei Jahre als Infanterist in Vietnam hinter sich hatte, dass er das College besucht und sogar einen Abschluss in Politikwissenschaft gemacht hatte. Er wusste nicht, dass Wylie nach einem kurzen Intermezzo bei einer kleinen Zeitung in Bakersfield nach San Francisco getrampt war, Flower Power und so, und dass er im obersten Stockwerk eines abbruchreifen viktorianischen Hauses am Alamo Square gewohnt hatte. Er wusste nicht, dass Wylie in einigen der besten Rock'n'Roll-Bars an der Westküste gearbeitet, dass er die heißesten Nummern gesehen hatte, dass er zweimal verheiratet gewesen und geschieden worden war. Er ahnte nicht, dass Wylie Slide-Gitarre spielen, ein Holzrahmenhaus bauen und perfekt Lachs räuchern konnte. Er hatte keine Ahnung, dass es sieben Jahre her war, seit ein Tropfen Alkohol oder eine stärkere Droge als Aspirin über Wylies Lippen gekommen war. Er wusste es nicht, und es interessierte ihn auch nicht. Er sah nichts als einen Mann mit schlechter Haut und einem aussichtslosen Job, der seine besten Jahre hinter sich hatte.

»JB mit Eis«, bestellte der Typ, den Blick unverwandt auf die Frau gerichtet. »Wie geht’s, wie steht’s?«, rief er zu ihr hinüber, während Wylie Eis in sein Glas füllte.

»Gut«, antwortete sie gelangweilt.

Ausnahmsweise war Wylie froh über die Dosierkappe auf der Flasche. Der Kerl würde nicht einen Tropfen mehr kriegen als nötig. Als er ihm den Drink servierte, erschien ein älteres Paar – ein schwarzer Mann mit einem weißen Haarkranz und eine weiße Frau mit Überbiss und dicken Brillengläsern. Einen Wodka Tonic für ihn, eine Bloody Mary für sie. Als Wylie ihnen ihre Drinks servierte, warteten bereits drei weitere Gäste.

So war es am Flughafen. Die Leute kamen und gingen. Die Menschen mit Flugangst, die Möchtegern-Schauspielerinnen, die ewigen Verlierer. Kokser, die sich gerade den letzten Cent ihres Gehalts durch die Nase gezogen hatten. Geschäftsleute, die nach Abschluss eines großen Deals heimwankten. Pärchen, die sich auf Konferenzen begegneten, die Nacht zusammen verbrachten und – benommen und mit geröteten Augen – ein letztes Glas miteinander tranken, bevor sie zu ihren Familien heimkehrten.

Früher, in den anderen Bars, hatte es Stammgäste gegeben, Menschen, deren Lebensgeschichten er kannte, die lachten und weinten und ihm den Schädel einzuschlagen drohten, wenn er ihnen nicht noch einen letzten Drink einschenkte. Hier waren die Gäste – mit wenigen Ausnahmen – immer neu. Aus Florida, Mexiko oder China. Die Anonymität war wohltuend. Wylie arbeitete von sieben Uhr morgens bis nachmittags um drei; er war noch vor dem Feierabendverkehr auf dem Heimweg, hinauf in die Hügel, wo sein schiefes Haus mit dem Pfefferbaum davor und den beiden Hunden auf der Veranda auf ihn wartete. So war es leichter, jetzt, da er nicht mehr trank.

Er wischte über die Theke und rückte die Barhocker zurecht. Er musste Carolyn zurückrufen, aber aus irgendeinem Grund scheute er davor zurück. Er vergewisserte sich, dass genug Wechselgeld in der Kasse war. Sie war nicht der Typ Frau, der ohne guten Grund anrief. Er machte sich daran, die Saftflaschen aufzufüllen und gelobte sich, sie zurückzurufen, sobald er damit fertig war. Doch dann kamen zwei Managertypen, nahmen Platz und bestellten Chivas on the Rocks. Wylie wünschte, er könnte das Gefühl drohenden Unheils abschütteln.

Er gab gerade Eis in ein Glas, als auf der anderen Seite der Theke etwas mit lautem Krachen explodierte. Er machte einen Satz. Das Glas fiel ihm aus der Hand und zersprang auf dem Boden. Da war es – das, worauf er gewartet hatte. Gäste schnellten herum. Jemand keuchte auf. Ein heißer Adrenalinstoß durchpulste Wylies Körper. Schwarze und weiße Blitze blendeten ihn. Er zwang sich zu atmen, dem Drang zu widerstehen, sich hinter dem Tresen zu Boden zu werfen und den Kopf mit den Händen zu schützen. Er rannte, knirschende Glassplitter unter den Füßen. Kam hinter dem Tresen hervor und rannte an der Brezelvitrine vorbei in die Lounge, in der sich die Fluggäste, die eine Fernsehsendung auf dem großen Bildschirm verfolgten, nach ihm umdrehten, als er in die Ecke hinüberschoss, aus der der Lärm gekommen war.

Sieben, acht junge Leute in roten T-Shirts standen über etwas gebeugt da. Wylie schob sie auseinander. »Was zum Teufel geht hier vor?«, schrie er.

Ein großer junger Bursche mit Akne lachte. »Das war bloß ein Barhocker, Mann«, sagte er. »Da war zu viel Gepäck drauf, und dann ist er umgekippt.«

Wylie sah nach unten. Da war er, der Übeltäter. Chromgestell, roter Vinylsitz. Ein Barhocker, nichts weiter. Die verdammten Dinger machten einen Höllenlärm, wenn sie umkippten. Wie ein Maschinengewehr. Oder eine explodierende Bombe.

Wylie riss ihn hoch und stellte ihn wieder hin. Er kickte das Gepäck aus dem Weg und baute sich vor dem Pickelgesicht auf. Eines, was er von seinem Vater geerbt hatte, war sein Jähzorn. Früher hätte er erst zugeschlagen und dann Fragen gestellt, aber das hier war der Flughafen, und er wandelte auf dem Pfad der Tugend.

»Tut mir leid, Mann«, sagte der Junge, dem alle Farbe aus dem Gesicht gewichen war. Er hob die Hände und trat ein paar Schritte zurück. »Es war ein Missgeschick.«

»Liebe Güte, nun mach mal halblang«, meinte eine der smarten jungen Frauen der Gruppe. »Ein Barhocker ist umgekippt, Mann. Wo ist das Problem?«

Wylie holte tief Luft. Die Leute an den umstehenden Tischen starrten ihn an. Seine Hände zitterten. Die junge Frau hatte recht, er musste sich zusammennehmen. »Also schön«, sagte er, hob eine Fototasche auf und hielt sie dem Jungen hin. »Gib in Zukunft besser Acht.« Er bemühte sich, seine Atmung unter Kontrolle zu bekommen, die Muskeln in Nacken und Schultern zu entspannen. Er ließ den Kopf kreisen. »Na dann …«, murmelte er.

Er spürte die Augen aller auf sich, als er zu seiner Bar zurückkehrte.

»Kann ich zahlen?«, sagte die Frau, die Angst vorm Fliegen hatte, als Wylie die Splitter des zerbrochenen Glases zusammenkehrte. Sie hielt ihm einen Zwanziger hin.

Ihrem Bewunderer war es gelungen, sich auf den Barhocker neben sie zu mogeln. »Darf ich Ihnen noch einen ausgeben?«, bat er.

Sie blickte Wylie mit hochgezogenen Augenbrauen an. »Wie wär’s mit einem für unterwegs – falls der Flug unruhig wird.«

»Was hätten Sie gern?«, fragte Wylie mit einem Lächeln.

»Einen Tequila.«

Er schenkte ihr den teuersten ein. Der Blödmann zahlte ja. Sie kippte ihn runter, schulterte ihre Tasche und ging.

»Noch einen«, sagte der Typ und klopfte an sein Glas.

Auf dem Sportkanal wurde ein Golfturnier der Damen angekündigt. Amber Ale, rief Wylie sich in Erinnerung. Er musste nach unten gehen und ein neues Fass anschließen, bevor der Mittagsandrang begann. Er brachte die leeren Flaschen fort und machte eine Liste dessen, was nachbestellt werden musste. Als ihm keine weitere Ausflucht mehr einfiel, wählte er Carolyns Nummer.

»Kannst du heute Abend zu mir kommen?«, fragte sie.

Jetzt ist es soweit, dachte er. Das »Wohin soll das mit uns führen?«-Gespräch. Er hatte gehofft, dass es mit ihr anders sein würde. Was ihm an ihr gefiel, war ihre Unabhängigkeit, die Tatsache, dass sie mit dem bestehenden Arrangement genauso glücklich zu sein schien wie er. Sie führte ihr eigenes Leben. Ihr Geschäft florierte – sie restaurierte Möbel, die sie bei Garagenverkäufen und auf Flohmärkten fand. Sie beizte sie ab, lackierte sie neu, polsterte sie auf und verkaufte sie dann für gutes Geld an Leute aus West-Hollywood und Santa Monica.

»Tja, heute ist Dienstag«, erwiderte er. »Wir sind doch eigentlich für morgen verabredet. Kann es nicht so lange warten?«

Sie räusperte sich.

»Ist auch wirklich alles in Ordnung?«, platzte er heraus, in den Fängen der alten Angst. Voller Panik, etwas getan zu haben, an das er sich nicht erinnern konnte, einen Filmriss zu haben und gleich von Dingen zu erfahren, die er getan und gesagt hatte, Dinge, die er nicht glauben konnte. Er musste sich in Erinnerung rufen, dass er das nicht mehr tat, dass die Zeiten vorbei waren. Heutzutage gab es keine Überraschungen mehr.

»Es ist alles in Ordnung. Ich möchte bloß mit dir sprechen. Ich muss dir etwas erzählen.«

»Lieber Himmel. Das klingt übel.« Wylie stöhnte und fuhr sich mit der Hand durch das Haar. »Erzähl schon.«

»Nein, jetzt nicht. Mach dir keine Sorgen. Komm einfach vorbei, ja? Es ist keine große Sache. Aber komm, ja?«

»Heute Abend?«

Er warf einen raschen Blick über die Bar. Gäste funkelten ihn an und pochten mit dem Geld auf den Tresen.

»Ja, wenn’s geht.«

»Okay, ich komme. So gegen sieben?«

»Ja, prima.«

»Okay. Hör mal, ich hab zu tun. Eine Menge durstiger Reisender warten hier und gucken mich finster an. Wir sehen uns heute Abend.«

»Okay, bis dann.«

Irgendetwas in ihrer Stimme ließ sein Herz schneller schlagen, wie in dem Sekundenbruchteil, bevor dir jemand mit dem Auto hinten drauf fährt.

»Bist du sicher, dass alles in Ordnung ist?«

»Kommt drauf an«, erwiderte sie und lachte. »Kommt drauf an.«

2

Während Wylie ein neues Fass Amber Ale anschloss, stieg Rudy Cullen in eine 737, die soeben von Orlando gekommen war, und machte sich in der Business Class an die Arbeit, sammelte Zeitschriften ein, Decken und was nicht alles. Er ächzte, als er sich bückte und einen warnenden Stich im Rücken verspürte. Lieber Gott, lass ihn nicht wieder rausspringen, dachte er, als er seinen birnenförmigen Leib in die dritte Reihe quetschte und nach den zusammengeknüllten Servietten und leeren Erdnusspackungen griff, die zwischen die Sitze geklemmt waren. Seine kleinen, weichen Hände schwitzten in den Latexhandschuhen. In der nächsten Reihe hatte jemand drei zerdrückte Plastikgläser in die Tasche der Rückenlehne gestopft. Wer immer auf dem Fensterplatz gesessen hatte, hatte gekaute Kaugummikügelchen in ein Papiertaschentuch gewickelt und zwischen Armlehne und Kabinenwand gequetscht. Rudy grub sie aus. Er zwinkerte mit seinen farblosen Wimpern und bürstete Krümel von den Sitzen; dann stöhnte er, als er sich bückte, um einen Haufen Zeitungen vom Boden aufzuheben. Irgendjemand hatte eine fusselige graue Socke liegenlassen. Mannomann, die Dinge, die er in seinem Job in all den Jahren gefunden hatte – benutzte Kondome, abgeschnittene Zehennägel, vollgeschissene Windeln. Die Menschen waren Schweine, zweifellos.

Dennoch war die Arbeit in den Fliegern prima. Rudy hatte Flugzeuge schon immer geliebt. Als Kind war er vom Modellbau besessen gewesen: Bomber, Kampfjäger, Transportflugzeuge, Passagiermaschinen. Unzählige Stunden hatte er damit verbracht, mit größtmöglicher Sorgfalt maßstabsgetreue Segelflieger aus Balsaholz und Papier zusammenzubauen. Er hatte sie an die Decke des Zimmers gehängt, das er sich mit seinem älteren Bruder teilte. Gleich nach der Highschool war er zur Navy gegangen in der Hoffnung, Pilot zu werden, aber statt ihn zum Flieger auszubilden, hatten sie ihn auf einen Stützpunkt in Virginia geschickt, wo er die Regale in der Verpflegungsausgabe auffüllen musste. So lief das immer bei ihm. Er hatte eben kein Glück im Leben.

Durch eines der Fenster beobachtete er, wie ein vollbeladener Gepäckkarren über das Rollfeld davonschnurrte. Nach der Navy war seine Chance auf eine Pilotenlaufbahn noch weiter gesunken, und jetzt, mit siebenunddreißig, war sie in so weite Ferne gerückt, dass sie nur noch ein Pünktchen am Horizont schien. Draußen rollte eine L-1011 zum Terminal wie ein prächtiger Vogel. Es versetzte Rudy einen Stich, als er die winzigen Gestalten der Piloten im Cockpit ausmachte. Selbst auf die Entfernung konnte er ihre weißen Hemden erkennen, die schwarzen Epauletten ihrer Uniform. Egal wie – er würde seine Fluglizenz bekommen, das schwor er sich. Und wenn es nur ein kleines Privatflugzeug war – er würde fliegen lernen. Irgendwann, irgendwie. Das schwor er sich.

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