Türwächter:innen der Freiheit - Maike Plath - E-Book

Türwächter:innen der Freiheit E-Book

Maike Plath

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Beschreibung

Dieses Buch beruht auf einer wahren Geschichte. Sie beginnt in einer Schulaula in Berlin-Neukölln und endet im Berghain. Oder auf dem Zauberberg. Je nachdem. Vor allem aber ist das Buch eine Antwort auf die Frage: Wie sind wir als Gesellschaft eigentlich dahin gekommen, wo wir jetzt sind und was können wir tun? Maike Plath berichtet vom Scheitern, Aufstehen und Weitermachen. Von großem Schmerz und Lieblingsmomenten. Mitreißend, authentisch und mitten aus dem Leben.

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MAIKE PLATH ist Autorin, Dozentin, ehemalige Lehrerin und Teil des Leitungsteams von ACT e.V. — Führe Regie über dein Leben! Sie ist Begründerin des Veto-Prinzips (»Mischpult«). Ihr umfangreiches Konzept zu gleichwürdiger (Selbst-) Führung, das in bisher zehn Publikationen vorliegt, entwickelte sie aus der jahrelangen Praxis an einer Berliner Brennpunktschule. Rosa von Praunheim porträtierte ihre Arbeit 2017 im Kinofilm Act! Wer bin ich?.

FÜR MEINE SCHWESTERN

Stefanie López

Anna Maria Weber

Tara Hawk

Inhalt

Eins

1

Lehrjahre sind keine Herrenjahre

2

Die Ruhe vor dem Sturm

3

Realitätsschock

4

Knietief durch die Scheiße — Teil 1: Warten, bis es leise ist

5

Knietief durch die Scheiße — Teil 2: Das Lehrerzimmer

6

Der Sheriff — Recht und Ordnung

7

Rückblende — Der internalisierte Gehorsam

8

Extrarunde in der Geisterbahn

9

Kontaktaufnahme

10

Neustart

11

Untergang und Wiederauferstehung

12

Irrungen und Wirrungen — oder: Opfer sein oder

13

Veto!

14

Talfahrt

15

You never walk alone

16

Die Bretter, die die Welt bedeuten

17

Rütli

18

Knallhart

19

Vor dem Gesetz

20

»Richtiges« Theater

21

Störsender

22

Türwächter:innen der Angst

23

Vom Gehorsam zur Selbstverantwortung

24

Wut — Teil 1

25

Wut — Teil 2

26

Aus der Welt gefallen

Zwei

1

Cleopatra

2

Hänsel und Gretel

3

Wasser findet seinen Weg

4

Skischulgefühl

5

Ey, bist du schwul? — Oder noch Jungfrau?!

6

Wir sind nicht alle lila

7

Fegefeuer der Eitelkeiten

8

Nicht der Taher ist verkehrt, sondern

9

Freiheit und Sicherheit

10

Im Nebel

11

Ich bin dein Vater. Wusch! Wusch! ... (

Star Wars

-Geräusche)

Drei

1

Die Tür zur Freiheit

2

The Shining

3

Tod und Wiederaufstehung

4

Ulysses

5

Eine neue Schule für ein neues Leben

6

Die Welt von morgen

7

Die rote oder die blaue Pille?

8

Die Schildkröte

Was hindert mich daran, ein freier Mensch zu werden? Und: Was hilft mir, Räume der Freiheit gegen Bedrohungen zu verteidigen? Das Buch macht eine große Erzählung über Bildung und Ohnmachtserfahrungen auf und beschreibt den mühsamen, aber erfüllenden Weg in die Selbstbestimmung — erstarrten Systemen und Institutionen zum Trotz. Dies ist eine von wahren Begebenheiten inspirier te Geschichte, die aufzeigt, dass wir trotz all der gut gemeinten Partizipation in unseren Schulen und Institutionen noch immer den Gehorsam des letzten Jahrhunderts internalisiert haben und warum es junge Menschen wie Taher El-Noumeri braucht, um festgefahrene und hierarchische Denk-und Sichtweisen zu sprengen und andere zu ermutigen, der eigenen Stimme zu vertrauen. Entgegen aller Wahrscheinlichkeit. Es ist eine Geschichte, die — auch — die Themen Rassismus, Sexismus und vor allem Klassismus in unserem Bildungssystem in den Blick nimmt und dabei den Fokus auf diejenigen richtet, deren Perspektive uns Hoffnung machen könnte — auf ein innovativeres und menschlicheres Bildungsverständnis.

»Es war nicht die Weltwirtschaftskrise, die einen Hitler an die Macht gebracht hat. Es waren Menschen mit einer klar definierten inneren Haltung. Mit klar artikulierten, autoritären Überzeugungen. Nur, woher kommen diese Haltungen? Diese Geschichte beginnt dort, wo wir Menschen klein und abhängig sind. In der Kindheit bildet sich der seelische Maßstab, der entscheidet, mit welcher Gesinnung wir später durch das Leben gehen. In der Kindheit erfahren wir, ob es unter Menschen um Macht und Überlegenheit geht — oder aber um Vertrauen und Zusammenarbeit. Erziehung ist keine Privatsache.«

(Renz-Polster, Herbert: Erziehung prägt Gesinnung, Kösel-Verlag 2019, S.10)

EMANZIPATION stammt vom lateinischen emancipatio, was »Entlassung des Sohnes aus der väterlichen Gewalt« oder auch die »Freilassung eines Sklaven« bedeutet. Im 17./18. Jahrhundert erfolgte eine Bedeutungsverschiebung: Aus dem Akt des Gewährens von Selbstständigkeit wurde eine Aktion gesellschaftlicher und insbesondere politischer Selbstbefreiung (siehe auch Mündigkeit [Philosophie]). Neben die äußere tritt die innere Emanzipation: als Befreiung aus eigener Unmündigkeit und den Fesseln von Tradition, gesellschaftlichen Normen und vorgegebener Weltanschauung. Ziel emanzipatorischen Bestrebens ist ein Zugewinn an Freiheit oder Gleichheit (im Sinne von Gleichberechtigung oder Gleichstellung), meist durch Kritik an Diskriminierung oder hegemonialen, z. B. paternalistischen Strukturen, oder auch die Verringerung von z. B. seelischer, ökonomischer Abhängigkeit, etwa von den Eltern. (Aus: Wikipedia)

Eins

KAPITEL 1

Lehrjahre sind keine Herrenjahre

KIEL, 1997.

Am Anfang dachte ich, es wäre so eine Art Pubertät. Dieses ständige Gefühl eines inneren Widerstandes und der Drang zu widersprechen. Ich war 27 Jahre alt und steckte in der Höllenmaschinerie Referendariat auf Lehramt. Das Thema Motivation hatte sich bereits nach wenigen Wochen erledigt. Ich kam mir vor wie eine 15-Jährige, die ununterbrochen mit vorwurfsvoll dreinschauenden Erwachsenen konfrontiert ist. Doofen Erwachsenen, die mit humorloser Stimme die Befolgung von völlig schwachsinnigen Regeln einfordern. So albern hatte ich mich lange nicht mehr gefühlt und es war irgendwie erschütternd, mich selbst dabei zu beobachten, wie ich die ganze Zeit dachte: ›Im Ernst? IM ERNST?‹ und Mühe damit hatte, diese zwei Wörter nicht ständig laut auszusprechen. »Sie müssen sich eine formalere Sprache angewöhnen, Frau Plath …« Im Ernst?

»Sie dürfen im Unterricht nicht so viel lachen.« Im Ernst? »Sie dürfen die Schüler während des Unterrichts nicht zur Toilette lassen.« Im Ernst? »Sie müssen in jeder Stunde, die Sie geben, Ihr vorformuliertes Unterrichtsziel erreichen — und zwar in genau der Minute, die Sie vorher in Ihrer schriftlichen Unterrichtsplanung dafür angegeben haben.« Im Ernst?

Nach den Lehrproben sollte ich dem Gremium aus Studienleitern, Mitreferendar:innen, Schulleiter und Mentorin immer minutiös meine »Fehler« aufzählen, die mir während der Stunde unterlaufen waren. Mit dieser Selbstgeißelung sollte ich unter Beweis stellen, dass ich all meine Fehler selbst erkennen konnte und somit in der Lage war, zu reflektieren. Während alle anderen im Raum mit gerunzelter Stirn und beflissen Notizen dazu machten, um im Anschluss dann all die vielen Fehler zu ergänzen, die ich übersehen hatte. Wenn andere nach solchen Tribunalen weinend aufs Klo rannten, seufzte der Seminarleiter mit einer gewissen Zufriedenheit und wiederholte das Mantra, das offenbar die geistige Grundlage für das Referendariat darstellte: »Lehrjahre sind keine Herrenjahre«. IM ERNST??

Geradezu komische Züge nahmen die Auswertungsrunden in der Seminargruppe mit den anderen Lehramtsanwärter:innen an: Die gesamte Gruppe der Referendar:innen reiste zu einem Unterrichtsbesuch an, währenddessen sie hinten, in einer Reihe nebeneinander saßen und emsig jedes Wort mitschrieben. Hinterher saßen wir alle mit ernsten Gesichtern im Kreis und die Mitreferendar:innen wurden vom Seminarleiter aufgefordert, alle Fehler zu benennen, die ihnen aufgefallen waren. Man konnte seinen eigenen Ruf nur dadurch retten, dass man vorher bereits selbst alle Fehler aufzählte, die man in seiner Vorführstunde gemacht hatte. Je mehr Fehler ich selbst benennen konnte, desto besser — denn dadurch konnte ich unter Beweis stellen, dass ich zwar noch nicht unterrichten, aber zumindest selbstkritisch reflektieren konnte.

Dieses Prozedere führte zu immer hysterischeren Verhaltensweisen der Lehramtsanwärter:innen — und Schüler:innen — vor jedem Unterrichtsbesuch. Die »Vorführstunden« wurden zu genau abgezirkelten Theaterkunststückchen, bei denen in Minute 3 der visuelle Impuls erfolgen musste, in Minute 7 die hinführende Frage ins Thema, in Minute 10 die Ausgabe der Arbeitsbögen und so weiter. Die Schülerreaktionen wurden zu einem Schreckensszenario, denn was machte mensch, wenn ein Schüler zu früh eine Frage stellte, die erst für Minute 36 vorgesehen war? Da die Jugendlichen den ungeheuren Druck spürten, der auf den Referendar:innen lastete, begannen sie, die seltsamsten Verhaltensweisen an den Tag zu legen: In der Absicht, der armen Lehramtsanwärterin zu »helfen«, saßen sie wie abgerichtete Zirkusäffchen auf ihren Plätzen und versuchten, zu erraten, was von ihnen verlangt wurde. Kein:e Schüler:in verhielt sich so, wie die Referendarin sie in der schriftlichen Vorbereitung beschrieben hatte, alle meldeten sich ununterbrochen und spielten Streber. Wenn ich zuvor einen halbwegs realistischen »Erwartungshorizont« beschrieben hatte, wurde ich hinterher erstaunt darauf hingewiesen, dass die Klasse ja keineswegs so problematisch sei, wie ich es beschrieben hatte. Da hatte ich mich wohl grob verschätzt ...

Als ich meine Mentorin halb im Scherz fragte, ob es nicht vielleicht sinnvoller wäre, die »idealen« Gesprächsbeiträge der gesamten Stunde vorher auswendig lernen zu lassen und mehrmals mit den Schüler:innen zu proben, zuckte sie seufzend mit den Schultern und antwortete: »Ja, vielleicht sollte man das machen …« So ging das weiter. Und meine Fassungslosigkeit steigerte sich ins Unermessliche, zumal ich mit meinem Staunen über diese perfekt organisierte Lernbehinderungsmaschinerie offenbar völlig allein war. Um mich herum nur diese betretenen, ängstlichen, selbstgerechten oder empörten Gesichter. Graue Flure, graue Seminarräume, unendliche Langeweile und gleichzeitig unerträglicher, ganz und gar künstlich erzeugter Stress und eine vollkommen aufgebauschte Wichtigkeit von völlig unwichtigen Dingen. Alle schienen sich in geduckter Haltung und nur auf Zehenspitzen zu bewegen — nur darauf bedacht, nicht aufzufallen, keinen FEHLER zu machen, sich zu verstecken und möglichst ungeschoren davon zu kommen. Ich fand mich in einem Reich wieder, in dem die Opportunisten und Schleimer:innen die Königinnen und Könige waren. Mir wurde klar: Hier bin ich falsch.

Meine Mentorin Frau Thiele, die sich offenbar in den Kopf gesetzt hatte, mich heil durch diese zwei Jahre zu bringen, hatte mir vor meiner letzten Lehrprobe geraten, in der anschließenden Auswertungsrunde vor dem Gremium untertänig und sehr höflich aufzutreten. »Wissen Sie, Sie dürfen nicht immer alles infrage stellen, Frau Plath …« IM ERNST?? Frau Thiele hatte mir vorsorglich auf einem Zettel Formulierungen notiert, an denen ich mich in meinem Selbstgeißelungsgespräch orientieren konnte, »falls mit mir wieder die Pferde durchgehen sollten«. »Ich kann Sie ja verstehen«, erklärte Frau Thiele, »aber Sie müssen sich an die Vorgaben halten und dem Seminarleiter das Gefühl geben, dass Sie hier wirklich was lernen wollen.« ›Aber genau das ist ja der Witz! Ich WILL ja was lernen, aber ich DARF ja nicht!‹, dachte ich genervt.

Das mit den vorgegebenen Formulierungen war natürlich gut gemeint. Es klappte aber nicht. Nach der Stunde dauerte es im Nachgespräch genau zwei Minuten, bis ich mich wieder — mit vor Aufregung rasendem Herzklopfen — in einem hitzigen Streitgespräch mit dem Seminarleiter befand, der kurz darauf türenknallend den Raum verließ, nicht ohne der betretenen Frau Thiele ein, wie ich fand, affig empörtes »Das lasse ich mir nicht bieten!« vor die Füße zu werfen, als wäre sie an allem Schuld, weil sie mich »krassen Punk« nicht unter Kontrolle bekam. Dabei war von »krassem Punk« wirklich nicht mal ansatzweise eine Spur. Ich war damals angepasst bis zur Schmerzgrenze. Das, was man »wohlerzogen« nennt und was in Wahrheit nur bedeutete, dass ich mich exzellent an die Erwartungen anderer anpassen konnte, ohne auch nur einen Schimmer davon zu haben, was ich selbst wollen oder brauchen könnte. Meine Erziehung in einem konservativ-protestantischen Elternhaus hatte ganze Arbeit geleistet. Überall konnte ich in Windeseile die Erwartungen meines Umfeldes erspüren und mich dann entsprechend benehmen. Meine Mutter sah in diesem Verhalten die Schlüsselkompetenz für ein erfolgreiches Leben. Und meine eigene Schulzeit gab ihr recht: Als Schülerin kam ich mit dieser Haltung bestens durch. Was meine eigenen Bedürfnisse anging, hatte ich nicht die geringste Ahnung. Wie auch? Sobald ich irgendeinen eigenen Wunsch durchzusetzen versuchte oder mich gegen eine Erwartung stellte, wurde dieses Verhalten mit dem Satz »Sei nicht hysterisch!« abgestraft. Die mildere Form des Tadels lautete: »Sei doch nicht so ichbezogen, es gibt auch noch andere Menschen auf der Welt!« Warum ich also im Referendariat ganz plötzlich diesen riesigen inneren Widerstand entwickelte, war, glaube ich, der Ungeheuerlichkeit dieser ständigen Grenzüberschreitungen geschuldet.

Das Erste, was mir gesagt wurde, war, dass ich zu viel lachte. Ich müsse mich von den Schüler:innen deutlicher abgrenzen, was Sprache und Habitus betreffe. Das zweite Unglück des Referendariats lag in der Fokussierung auf die »Fehler«. Ich hatte Lust, Stunden vorzubereiten und erst recht, anschließend akribisch zu reflektieren, was in der Stunde passiert war. Aber das, was unter »Reflektieren« verstanden und von mir erwartet wurde, war eine demütige Aufzählung aller Kleinigkeiten, die mir »misslungen« waren. Es ging um Unterwerfung, nicht um Dialog. Und es schien die perfekte Unterrichtsstunde zu geben — nur leider sah ich eine solche nie und zweifelte auch stark daran, dass es sie überhaupt gab. Stattdessen wurde ich ängstlich und fühlte mich vor jedem Unterrichtsbesuch wie damals als Kind vor der Klavierstunde. Die hatte ich als Kind jeden Donnerstag um 17 Uhr. Bei Herrn Engler. Herr Engler roch nach Seife und machte alles korrekt. Er saß mit traurigem Gesicht und übereinander geschlagenen Beinen neben seinem Steinway-Flügel und schrieb mit einem Füller in sehr akkurater, winziger Schrift in ein kleines, liniertes Oktavheft hinein, was ich üben sollte. Fingerkraft Seite 7, Nummer 15a und b, Czerny Seite 24, Nummer 3, Emonts Seite 15, Nummer 4. Meistens schrieb er genau das hin, was er auch schon in der letzten Woche geschrieben hatte, denn er war selten zufrieden. »Hast du geübt?«, fragte er jedes Mal anstelle einer Begrüßung. Und ich nickte und setzte mich auf die Klavierbank vor dem Flügel. Herr Engler nahm das lange, schmale Samtdeckchen von der Tastatur und sah dabei immer ein wenig gequält aus. Denn jetzt würde ich mit meinen schwitzigen Patschhändchen die schönen weißen Tasten beschmutzen. Es war ganz klar, dass Herr Engler darunter litt. Noch trauriger schaute er, wenn ich anfing zu spielen. »Nein, nein, nein«, unterbrach er immer irgendwann und seufzte. »Von vorne.« Dann fing ich die Übung wieder von vorne an. Wenn ich das sechste oder siebte Mal von vorne angefangen und wieder gepatzt hatte, schüttelte Herr Engler den Kopf und sagte: »Du hast nicht geübt.« Was meistens auch stimmte. Wobei. Meistens spielte ich am Donnerstag, um Punkt 16 Uhr alle Übungen einmal holterdiepolter durch, gerade noch rechtzeitig, bevor Papa rief: »Wir müssen los!« Dann schmiss ich meine Fingerkraft-, Czerny-, Emonts-Hefte in eine Tasche, seufzte und fügte mich in mein unvermeidliches Schicksal. Das war nicht das, was Herr Engler unter Üben verstand, schon klar. Jeden Donnerstag auf dem Weg zur Klavierstunde, wenn ich mit beklommenem Gefühl im Bauch im Auto saß, die Klaviertasche mit den Noten und dem kleinen Oktavheft auf dem Schoß, nahm ich mir vor, das nächste Mal WIRKLICH vorher anzufangen, am besten schon am Wochenende. Ich stellte es mir vor, es wäre ja ganz einfach, ich könnte ja jeden Tag eine Viertelstunde üben, das würde ja gar nicht wehtun und dann müsste Herr Engler nicht immer dasselbe ins Oktavheft schreiben. Aber aus irgendwelchen mysteriösen Gründen klappte es nie. Es war immer plötzlich schon Donnerstag, 16 Uhr, und ich hatte wieder nicht geübt. Und immer hoffte ich heimlich und leidenschaftlich, dass Herr Engler kurz vorher anrufen und wegen Krankheit absagen würde, aber diese Hoffnung erfüllte sich nie. Herr Engler war zwar chronisch erkältet und wirkte, als würde er gleich das Zeitliche segnen, aber er sagte niemals eine Klavierstunde ab. Leider. Insofern beschloss ich, irgendwann selbst die Initiative zu ergreifen und meinem Vater zu sagen, dass ich keine Lust mehr auf die Klavierstunde hatte. Ungefähr ein Jahr lang saß ich jeden Donnerstag schweigend neben Papa auf dem Beifahrersitz und dachte: ›Jetzt sagst du es einfach.‹ Aber ich sagte es nicht. Und saß dann wieder auf der Klavierbank neben dem traurigen Herrn Engler. Als ich es dann irgendwann endlich schaffte und viel zu laut in die Stille des Autos platzte: »Ich hab keine Lust mehr auf den Klavierunterricht, kann ich aufhören?«, warf mein Vater mir einen Blick zu, als sei ich eine unfassbare Plage, die aus heiterem Himmel über ihn hereingebrochen war und die er nicht verdient hatte. Mit tonloser Stimme sagte er leise: »Das kommt gar nicht infrage.«

Ach so.

Viele Jahre später fand ich bei einem anderen Klavierlehrer erstaunt heraus, dass Klavierspielen Spaß machte und dass es dazu nicht eine einzige Fingerkraftübung brauchte, geschweige denn ein Oktavheft mit aufgelisteten Übungsaufträgen.

Im Referendariat hatte ich ähnliche Fluchtgedanken. Das lag nicht an den Schüler:innen. Sofern ich alleine mit ihnen im Klassenraum sein durfte und erste Unterrichtserfahrungen sammelte, war alles gut. Ich bereitete hochmotiviert meine wenigen eigenverantwortlichen Stunden vor und freute mich auf die zahlreichen Reaktionen der Jugendlichen. Ich war gespannt auf alles, was sie mir erzählten, zeigten, fragten. Ich fühlte mich wie in einem Labor, in dem ich austesten konnte, was erfolgreich war und was nicht. Mein Ehrgeiz bestand darin, möglichst alle Schüler:innen zu begeistern und sie »in Fahrt zu bringen«. Dafür wollte ich möglichst viel über sie wissen. Aber scheinbar ging es darum gar nicht. Das Erste, was mein Seminarleiter anmerkte, war: »Sie stellen zu den Schüler:innen zu viel Nähe her. Sie müssen sich viel klarer abgrenzen. Ihre Sprache ist zu umgangssprachlich. Sie müssen sich um einen fachlicheren Ton bemühen.« Auch stellte sich heraus, dass das Referendariat alles andere als ein Labor war: Austesten, probieren, reflektieren und neu probieren war überhaupt nicht das, was erwartet wurde, sondern — mal wieder — funktionieren nach bereits genau ausformulierten Kriterien. Eigene Ideen und insbesondere zu große Begeisterung für neue Ideen waren alles andere als erwünscht. Bereits nach meiner ersten Lehrprobe und dem erwähnten Rüffel wegen meiner »zu großen Nähe zu den Schülern«, wurde ich zwei Stunden lang über all meine vermeintlichen Fehler aufgeklärt. Minute für Minute wurde die gegebene Stunde seziert — und zwar ausschließlich unter dem Aspekt, was angeblich alles falsch gelaufen war. Ein konstruktives, interessantes Gespräch kam auf diese Weise nicht zustande. Meine irgendwann nur noch zögerlich vorgebrachten Fragen, wurden mit leicht sauertöpfischer Miene ignoriert. Meine Mentorin, die mir immer wieder beschwichtigende Blicke zuwarf, erklärte mir hinterher: »Sie sollten bei so einer Nachbesprechung keine Fragen stellen. Das wirkt zu selbstbewusst und verärgert den Seminarleiter. Besser ist es, einfach zuzuhören und den Eindruck zu vermitteln, dass Sie lernen wollen«.

»Aber ich WILL doch lernen! MEIN GOTT!!« Meine Mentorin schüttelte den Kopf: »Ja, das weiß ich, aber so wird es nicht verstanden. Wenn Sie Fragen stellen, wirkt es so, als wollten Sie diskutieren und wüssten schon, worauf es Ihnen ankommt. Es ist besser, wenn Sie sich unterordnen, sonst bekommen Sie nur Probleme … Sie müssen dem Seminarleiter das Gefühl geben, dass er immer recht hat, sonst nimmt er Sie als renitent und widerständig wahr. Das führt zu schlechten Benotungen.«

»Lehrjahre sind keine Herrenjahre.« Mit diesem denkwürdigen Satz, den der Seminarleiter wie eine Drohung formulierte, versuchte mich meine Mentorin zu trösten. Leider half dieses innere Mantra aber auf Dauer nicht weiter. Innerhalb weniger Monate verlor ich jegliche Motivation. Konfrontiert mit immer neuen, ewigen — und aus meiner Sicht — abstrusen Aufzählungen aller Fehler, die mir in einer Stunde unterlaufen waren, engsten Zeitvorgaben und theoretischen Ausführungen, wie eine »perfekte Stunde« auszusehen hatte, verlor ich die Lust am Unterrichten. Das war überhaupt nicht das, was ich gehofft hatte, im Referendariat zu lernen. Ich hatte das Gefühl, immer schlechter zu werden. Je mehr wir davon erfuhren, wie eine perfekte Stunde auszusehen hatte, desto unbeweglicher wurde ich in meinen Gedanken und Handlungen. Ich wurde zu einer Art Roboter und fürchtete letztendlich die Anwesenheit der Schüler:innen, weil sie niemals bis ins Letzte planbar waren. So fühlte ich mich bereits nach einem halben Jahr »verkrüppelt im Gebrauch meiner Selbst«. (Johnstone, Keith: Improvisation und Theater, Alexander Verlag 1998, S. 19) Und selbst ein konservativ und protestantisch erzogener Mensch wie ich kam da ins Zweifeln, ob diese Dressurleistung noch im Verhältnis zur seelischen Gesundheit stand. Ich beschloss also, meinem Irrtum ein schnelles Ende zu bereiten und teilte meiner gebeutelten Mentorin zum Ende des ersten Halbjahres mit, dass ich mein Referendariat abbrechen würde. Es war ein heißer Sommertag, die Zeugnisse waren geschrieben und ich dachte an all die Dinge, die ich jetzt endlich wieder würde machen können. Lieber ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende, sagt man ja so schön.

Doch ich hatte nicht mit Frau Thiele gerechnet. Sie sagte einfach: »Nö.« Ich war verblüfft und für einen Augenblick war es still im Lehrerzimmer, ich hörte die Uhr an der Wand ticken. »Was heißt denn ›Nö‹?«, fragte ich etwas belustigt und versuchte das Ganze als Scherz abzutun. Aber Frau Thiele machte ein todernstes Gesicht. »Wenn Sie nicht Lehrerin werden, dann falle ich vom Glauben ab«, sagte sie und ich wappnete mich für eine kleine Diskussion, in der ich sie davon würde überzeugen müssen, dass sie mit ihrer Ansicht ganz offensichtlich alleine dastand und ich in diesem System nichts zu suchen hatte. Aber zu dieser Diskussion kam es nicht. Denn Frau Thiele überraschte mich mit einer Frage. Einer ziemlich guten Frage übrigens. Sie lehnte sich entspannt zurück, lächelte und präsentierte das folgende argumentative Schachmatt:

»Was würden Sie machen wollen, jetzt in diesem Referendariat, wenn Sie es sich aussuchen könnten? Tun wir einfach mal so, als wäre alles möglich. Wozu hätten Sie Lust? Was müsste passieren, damit Sie bleiben? Ganz ehrlich jetzt.« Ich ließ die Frage einsinken, nahm mir Zeit und dachte WIRKLICH darüber nach. Ja, was würde ich machen WOLLEN? Und erstaunlicherweise war es mir ganz klar und ich sagte es einfach, ohne mich zu schützen, ohne mich abzusichern, denn offenbar wollte sie es ja wirklich wissen. Ich sagte: »Eigentlich würde ich am liebsten ALLES anders machen. Warum wird alles in der Schule — sogar die Menschen — getrennt voneinander behandelt, wo doch alles nur einen Sinn ergibt, wenn wir es — alles — in einen gemeinsamen Sinnzusammenhang stellen. Warum puzzeln alle in voneinander abgetrennten Klassenräumen, Altersstufen und Fächern so kleinkleinmäßig jeder für sich allein ihren Dienst nach Vorschrift ab? Schule ist doch nicht das Bundesamt für Langeweile … « Da war sie also wieder, diese mir unreif erscheinende Wut. Ich biss mir auf die Lippen, aber es war zu spät, die Sätze waren raus. Doch Frau Thiele ließ sich null aus der Ruhe bringen. Im Gegenteil lächelte sie aufmunternd und hakte nach: «Ja, aber was würden Sie konkret tun, wenn Sie jetzt machen könnten, was Sie wollten?«

»Ich würde mit allen Schülern, mit allen Lehrern und mit allen Eltern der Schule ein riesiges Theaterstück machen und die Schule dafür ein paar Monate lahmlegen. Alle machen Theater, alle arbeiten an dieser gemeinsamen Sache, jeder an der Stelle, auf die er Bock hat und dann entsteht eine große Sache …« Ich war überrascht, dass ich das jetzt wirklich gesagt hatte, aber tatsächlich sah ich alles bereits vor mir, hielt es für einen Moment tatsächlich für möglich — bemerkte, wie meine Gedanken in diese Richtung losgaloppieren wollten; dann holte mich das Lehrerzimmer mit der tickenden Uhr wieder ein, ich verstummte und dachte: ›Totaler Schwachsinn … wie peinlich, dass ich diese pathetische Scheiße jetzt einfach so rausgehauen habe. OMG.‹

Aber dann passierte eins von diesen kleinen Wundern, ohne die sich im Leben wahrscheinlich nie irgendetwas Wesentliches verändern würde. Frau Thiele dachte über das nach, was ich gesagt hatte. Sie sagte nicht: »Na ja, aber das ist ja unrealistisch.« Sie sagte auch nicht: »Aber von Theater haben Sie doch gar keine Ahnung.« Oder: »Sind Sie für so was denn irgendwie qualifiziert?« Und sie sagte auch nicht: »Na ja, überschätzen Sie sich da mal nicht ein bisschen? Sie sind hier im ersten Jahr Ihrer Ausbildung und wissen gleich, wie eine ganze Schule besser werden soll?«

All das sagte sie NICHT — all das, was mein gesamtes Umfeld und auf jeden Fall JEDER im Schulbetrieb gesagt hätte. Meine Mentorin Frau Thiele blieb seltsam heiter und gleichzeitig ernst und sagte: »Ja. Dann machen wir das.« Bäääm. Und mir war sofort klar: Wir machen es tatsächlich. Es wird passieren. Sie meint es vollkommen ernst. Ebenso der Schulleiter, der zu meiner Überraschung ebenfalls positiv reagierte und sofort einen pragmatischen Vorschlag machte: »Was Sie da vorschlagen, klingt ehrlich gesagt etwas unrealistisch, Frau Plath. Aber Sie bekommen von mir eine Chance: Nächsten Freitag lasse ich die ersten zwei Unterrichtsstunden ausfallen und bitte alle Schüler:innen und alle Kolleg:innen, sich in der Aula zu versammeln. Da haben Sie dann zwei Stunden Zeit, alle von Ihrer Projektidee zu überzeugen. Wenn im Anschluss an diese zwei Stunden ALLE Schüler:innen und ALLE Lehrer:innen der Schule sich in entsprechende Teilnehmerlisten eingetragen haben, bekommen Sie von mir das Go.« Offenbar gehörte er zu den Ermöglichern und nicht zu den Verhinderern; und er übergab mir — der unerfahrenen Referendarin — Verantwortung. Genau das verursachte bei mir natürlich im ersten Augenblick einen Anflug von Panik. Wie jetzt? Ich darf das WIRKLICH machen? Mir ging (na klar!) der Arsch auf Grundeis. Aber dann setzte ich mich, wie mensch so schön altmodisch sagt, auf den Hosenboden und fing an, zu planen, zu denken, zu arbeiten.

Mit Musik, Fotos und einer flammenden Rede gelang es mir an jenem Freitag, die Schule zu überzeugen: Alle (!) Kolleg:innen und alle (!) Schüler:innen trugen sich in die von mir vorbereiteten Listen ein. Jede Liste stand für einen Arbeitsbereich innerhalb des Projektes: Theater, Texte schreiben, Tanz, Musik, Kostüme, Bühnenbild, Akquise von Geldern und so weiter. Der Schulleiter blätterte anschließend die Listen durch, lächelte amüsiert und sagte: »Gut, Frau Plath. Wir machen das.«

Was ich damals noch nicht auf dem Schirm hatte: Frau Thiele erlöste mich mit dieser außergewöhnlichen Aktion von der allumfassenden Erziehung zur Opferhaltung, die in der Lehrerausbildung bis heute gang und gäbe ist und erstaunlicherweise völlig unhinterfragt bleibt. Und sie verfrachtete mich quasi von einer Sekunde zur nächsten aus der Rolle der (nur mit Mühe) brav folgenden Referendarin in die einer Person, die plötzlich die Aufregung verspürte, eine eigene Idee verantworten zu müssen. Erfolg oder Scheitern — das lag jetzt in MEINER Hand. Und es gab ein greifbares Ziel. Wenn es auch ziemlich verrückt wirkte.

Ich fühlte mich plötzlich hellwach und staunte über den Unterschied in der Empfindung von Selbstwert und plötzlich aufkommender Energie. In den folgenden Monaten erhielt ich einen Eindruck davon, was passiert, wenn die festgefahrenen Abläufe und Strukturen des schweren Tankers Schule auf den Kopf gestellt werden. Dramen spielten sich ab. Ich wurde beschimpft und der Eitelkeit bezichtigt, mir wurde Größenwahnsinn und Verantwortungslosigkeit vorgeworfen. Einige Kolleg:innen forderten die Schüler:innen offen auf, meine Arbeit zu boykottieren, im Lehrerzimmer erntete ich eisige Blicke. Neben den völlig begeisterten Jugendlichen — ALLE Schüler:innen der Schule hatten sich freiwillig in zahlreiche Projektlisten eingetragen und legten los, wie von der Leine gelassen — war es unter den Kolleg:innen zunächst nur eine kleine Gruppe begeisterter »Junggebliebener« plus Frau Thiele und dem unbeirrt heiter dreinschauenden Schulleiter, die sich voller Elan ans Werk machte. Es wurde geplant, geschrieben, geprobt, gebaut, gemalt, gedichtet, gebastelt, genetzwerkt. Denn — auch das gehörte zum Vorhaben — das Projekt musste finanziert werden, und da galt es Sponsoren zu finden, Gelder aufzutreiben, Technik anzuschaffen, Räumlichkeiten zu mieten, Öffentlichkeitsarbeit zu betreiben, und so weiter und so fort. Bald waren auch die meisten Eltern für die Sache gewonnen, und da sich meine Ausbildungsschule in einem kleinen Ort befand, summte schon kurz darauf die gesamte kleine Stadt wie ein geschäftiger Bienenkorb. All das ging den ewigen Skeptiker:innen extrem auf den Sack. Was bildet die sich eigentlich ein? Die ist doch völlig bekloppt. Ist noch nicht mal mit der Ausbildung fertig und denkt, dass sie hier alle nach ihrer Nase tanzen lassen kann. So konnte mensch das sehen. Ich war halt mal wieder »hysterisch« und »ichbezogen«. Das kannte ich ja schon. Wenn die Häme mich manchmal doch in die Knie zwang, baute mich Frau Thiele wieder auf: »Guck dir einfach an, ob die Leute glücklich aussehen, die so über dich reden …« Na, also! Ich sollte später noch häufiger an diesen Satz zurückdenken. Der unbeirrbar gelassene Schulleiter übte in den letzten Wochen dann mehr oder weniger sanften Druck aus, um die verbleibenden schlecht gelaunten Kolleg:innen zu ihrem Glück zu zwingen. In den letzten vier Wochen vor der Premiere gab es niemanden mehr an der Schule, der nicht in das gemeinsame Theaterprojekt involviert war. Zweifel und Murren hin oder her.

Nach symbolischen neun Monaten wurde das Baby dann geboren und in zwei Vorstellungen vor jeweils 500 Leuten zur Aufführung gebracht. Das Bemerkenswerte war für mich weniger das Ergebnis selbst als vielmehr die Wirkung, die der Prozess auf die beteiligten Menschen hatte. Ich habe selten so viele strahlende Gesichter auf einem Haufen gesehen. Besonders weird war die Wirkung auf das Kollegium: Am Ende lagen sich alle in den Armen, jahrelang verfestigte Animositäten lösten sich in tränenreichen Sektbesäufnissen auf und sogar meine härtesten Gegner:innen ließen sich dazu hinreißen, mir Glückwünsche auszusprechen und mir unbeholfen auf die Schulter zu klopfen.

Den Wahnsinn der Lehrproben mit allen beschriebenen Absurditäten musste ich zwar dennoch ertragen, stellte aber mit Erstaunen fest, dass ich durch die Arbeit an einer ERFÜLLENDEN und SINNVOLLEN Sache plötzlich die innere Gelassenheit und Stärke hatte, den Lehrprobenterror ohne größere Probleme durchzustehen. Das hieß im Klartext: Dadurch, dass ich mir zwar viel mehr Arbeit aufbürdete, als ich im Referendariat sowieso schon zu bewältigen hatte, diese Arbeit für mich aber Sinn entfaltete, entwickelte ich überhaupt erst die innere Haltung, die nötig war, um die Ausbildungsmaschinerie erfolgreich zu überstehen. Ich hatte das Gefühl, mir selbst und meinen Entscheidungen und Fähigkeiten wieder trauen zu können, etwas wirklich Sinnvolles leisten zu können und erlebte Selbstwirksamkeit und soziale Anerkennung. Genau das rettete mich: Es gab mir die Kraft, den Irrsinn des Referendariats zu überstehen.

Ich schrieb meine Examensarbeit über die Erfahrungen und gruppendynamischen Prozesse in diesem Projekt und beendete mein Referendariat wider Erwarten mit Erfolg — und wurde:

Lehrerin.

KAPITEL 2

Die Ruhe vor dem Sturm

HAMBURG, 1998.

Nach dem Referendariat folgten dann die tatsächlichen Lehrjahre an einer musisch orientierten Gesamtschule in einer kleinen, beschaulichen Stadt in Schleswig-Holstein nahe Hamburg.

An einem heißen Sommertag, kurz vor den Sommerferien, betrat ich zum ersten Mal meine neue Schule, an der ich eine volle Stelle bekommen hatte. Integrierte Gesamtschule mit gymnasialer Oberstufe und musischem Schwerpunkt. ›Na denn‹, dachte ich. Integrierte Gesamtschule. Das war ein Begriff, der bei mir gemischte Gefühle auslöste. Meine Eltern vertraten die Haltung: Da lernt man nix, die klugen Kinder gehen aufs Gymnasium. Und die Kolleg:innen an meiner Ausbildungsschule hatten beim Thema Gesamtschule immer entsetzt abgewunken: Da arbeitet man sich tot. Da hast du nach zwei Jahren spätestens einen Burn-out! Allerdings hatten mir die Leute dasselbe prophezeit, als ich im Referendariat, zusätzlich zu meinem alltäglichen Pensum, das überdimensionierte Theaterprojekt durchgezogen hatte. Und ich wusste: Es ist nicht die Quantität der Arbeit, die gefährlich ist ...

Das Gebäude sah genauso aus, wie ich mir eine Gesamtschule vorstellte: Neubau, riesengroß, bunte Fensterrahmen und Geländer, der Schulhof so ein bisschen abenteuerspielplatzmäßig, alles in allem das Gegenteil von dem herrschaftlichen Gymnasium, das ich selbst als Schülerin besucht hatte. Im Sekretariat begrüßte mich eine junge, irgendwie zackig wirkende, blonde Dame mit einer schicken roten Brille in burschikosem Ton: »Ach, hallo! Du bist bestimmt Maike, na, dann komm mal rein, willste ’nen Kaffee?« Ich nickte etwas diffus und fragte mich, wie ich das finden sollte, dass die Sekretärin mich gleich duzte. In etwas lächerlich reserviertem Ton erkundigte ich mich nach dem Schulleiter, mit dem ich ja eigentlich verabredet war. »Ach, der Dieter, der sitzt gerade in einem Käfig«, erklärte mir die gut gelaunte Frau, während sie sich an einer zischenden und metallisch blitzenden Kaffeemaschine zu schaffen machte. Ich verstand nur Bahnhof und sah wahrscheinlich auch so aus. Sie lachte. »Ja, die Schüler haben den eingesperrt, heute ist ja Abistreich ...« Ich wusste darauf nichts zu antworten, vor allem, weil ich mich gerade selbst nicht mochte: Ich war irgendwie latent beleidigt, aber warum eigentlich? Weil ich einen Termin mit dem Schulleiter hatte und er sich offenbar gegen seine eigenen Schüler nicht durchsetzen konnte und sich in einen Käfig einsperren ließ? Oder weil mir dieses Duzen und dieses »der Dieter« auf den Zeiger ging? Wo war ich hier gelandet? Konnte man das alles hier ernst nehmen oder war ich in einer Pippi-Langstrumpf-Schule gelandet? Und wenn ja, warum war ich darüber jetzt eigentlich so bescheuert verstimmt? Während ich darüber nachgrübelte, stellte mir die Sekretärin einen dampfenden Kaffee vor die Nase. »Milch?« Ich nickte. Zu meinem Erstaunen goss sie mir aus einer glänzenden kleinen Kanne frischen, warmen Milchschaum in die Tasse. Der Kaffee schmeckte erstaunlich gut. So gut, dass ich für einen Moment meine alberne schlechte Laune vergaß. »Ich bin übrigens Mareike«, sagte die Frau, die ich immer weniger als Sekretärin wahrnahm, sondern eher als ältere Schwester. Auch davon war ich verwirrt. Kam das jetzt, weil sie Mareike hieß und kaum älter wirkte als ich? Oder weil sie auf mich hier in diesem, wie ich zugeben musste, ziemlich gemütlichen Raum wirkte wie in ihrem eigenen Wohnzimmer oder einer heimeligen WG-Küche? Ich nahm das alles wahr und wunderte mich, warum ich das nicht einfach genießen konnte. Irgendetwas in mir sträubte sich und produzierte dieses leichte Pikiertsein und eine Unsicherheit, die ich allerdings selbst doof fand. ›Warum bin ich so scheiße unlocker‹, dachte ich und trank meinen leckeren Kaffee. Wo hat es in einer Schule jemals so einen leckeren Kaffee gegeben? Ich wusste immer noch nicht, was ich sagen sollte, während Mareike mir gut gelaunt irgendwelche Sachen erklärte, die ich unkonzentriert aufnahm und sofort wieder vergaß. Und dann kam Dieter.

Er stand im Türrahmen, strahlte mich an, als hätte er den ganzen Tag nur auf mich gewartet und rief: »Na, da ist sie ja! Das ist ja eine Freude! Hast du gut hergefunden? Wie schön, dass wir uns jetzt endlich persönlich kennenlernen, ich habe ja schon viel von dir gehört ... « Er wandte sich an Mareike: »Und? Hast du ihr schon unsere Theaterräume gezeigt? Und unsere neue Mediathek?« Er strahlte, als sei das seine ganz persönliche Weihnachtsbescherung. Mareike schüttelte den Kopf, »Nee, ich dachte, wir lassen es erst mal ganz gemütlich angehen und trinken einen Kaffee und außerdem machst du das doch so gerne, Dieter!« Sie lachte und Dieter schien sich zu freuen. »Ja, das ist großartig, dann machen wir das jetzt! Dann komm mal mit, Maike. Und ja, ach so: Ich bin der Dieter. Wir duzen uns hier alle, ist einfacher …« Und so trank ich den letzten Rest Milchschaum aus meiner Tasse, folgte dann Dieter durch seine Schule und stellte fest: In der Tat, eine Pippi-Langstrumpf-Schule. Aber ich fand es plötzlich nicht mehr ganz so doof.

Dieters Schule war in jeder Hinsicht der Gegenentwurf zu meinem bisherigen Bild von Schule und überhaupt der Gegenentwurf zu meiner gesamten bisherigen Sozialisation. Es gab zehn Theaterlehrer:innen und acht Musiklehrer:innen an seiner Schule. Die Musikräume waren die schönsten Räume der Schule und mit allem ausgestattet, was ich mir beim Thema Musik hätte vorstellen können. Keyboards, Gitarren, Schlagzeug, Tonmischpulte, Ukulelen, Trommeln, Klaviere, Mikros, Kabeltrommeln, Blas- und Streichinstrumente — es war unfassbar. Die Klassenräume sahen aus wie Wohnzimmer. Voller Pflanzen, Sitzecken, Bücherregalen, Bildern, Blumen … Die Schülersprecherin war eine Hippieschönheit, wie sie eigentlich nur in Filmen vorkommt, und organisierte ununterbrochen Aktionen zu den Themen Umwelt, Tierschutz und demokratischer Schülerbeteiligung. Es gab ständig kleine Aufführungen, gemeinsame Sitzungen zur Ideenfindung, Konzerte, Chor- und Band proben etc. Die Jugendlichen wirkten erwachsener und reflektierter, als ich es je gewesen war und gleichzeitig unglaublich offen und »gechillt«. Wenn ich anfangs in die Oberstufenkurse ging, in denen ich Deutsch unterrichtete, fühlte ich mich seltsam unterlegen und unsicher und zu jung für meinen Job. Ich spürte den eindeutigen Wunsch, diesen strahlenden, jungen Menschen zu gefallen. Das bemerkten diese aufgeklärten Wesen offenbar sofort und statt sich über mich lustig zu machen oder die Rolle der Lehrerin, die sich gefälligst mal durchsetzen sollte, einzufordern, brachten sie mir eine Ernsthaftigkeit und Sympathie entgegen, die mich sprachlos machte. Es war, wie in ein großes samtweiches Tuch aus Watte zu fallen. Innerhalb weniger Wochen fand ich mich mit ihnen in Diskussionen zur Weltlage wieder; ständig planten, dachten, organisierten wir Dinge, der Unterricht wirkte wie ein Sit-in zu den wichtigen Themen der Welt. Lehrkräfte, die von den Jugendlichen als etwas verklemmt und/oder schüchtern empfunden wurden, lernten ihre Schüler:innen als geduldige und freundliche Unterstützer:innen kennen, die ihnen liebevoll dabei halfen, aufzutauen und mehr zu sich zu stehen, mutiger und ehrlicher zu werden. Es war beinahe zum Lachen. Ich hatte das Gefühl, mehr von den Schüler:innen zu lernen als umgekehrt. Was mich zutiefst erstaunte, war diese allumfassende fürsorgliche Haltung. Ich war es gewohnt, dass immer irgendwer über irgendjemand anderen schimpfte beziehungsweise die Mängel einer anderen Person in den Vordergrund stellte. Hier aber schien es nicht um Mängel zu gehen. Wie jemand war, das war grundsätzlich erst mal anerkannt. Es gab nicht diesen doppelten Boden: Nach außen bin ich ganz freundlich zu dir, aber in Wahrheit halte ich dich natürlich für einen Freak. Nein. Hier war die Freundlichkeit einfach das Ergebnis von echter Neugier und Gelassenheit. Es gab so eine zufriedene Grundstimmung und den Willen, andere Leute gut zu finden, egal, wie ANDERS sie waren. Lästern war einfach nicht en vogue. Ich fragte mich ununterbrochen, was bei mir anders gelaufen wäre, wenn ich als Schülerin damals so eine Schule besucht hätte.

Und bei den Kleinen erlebte ich eine Begeisterung, über die ich ebenfalls fast lachen musste. Ich empfand Lust, Stunden vorzubereiten, die sie spannend fanden und dachte mir ständig neue Sachen aus. Es schien allseits erwünscht zu sein, möglichst wenig klassischen Unterricht abzuliefern. Lieber in den Wald gehen oder ein Theaterstück proben oder auf dem Schulhof eine Aktion starten. Im Klassenraum zu sitzen und Arbeitsbögen auszufüllen, schien eher suspekt; da war jemand offenbar zu faul, um sich kreativ Gedanken zu machen. Nicht alle Lehrpersonen im Kollegium fanden das gut. Aber diejenigen, die es gut fanden, waren im Schulleitungsteam. Sie hatten gemeinsam mit Dieter diese Schule gegründet. Insofern fühlte ich mich sicher in meiner Freude, zum Horizont zu galoppieren, alles Mögliche ausprobieren zu dürfen. Nach ungefähr einem Jahr stellte ich überrascht fest, dass ich glücklich war. Dieter vertrat die These, dass »Umwege die Ortskenntnis erhöhen« und dass daher vermeintliche Fehler eine wichtige Quelle für neue Erkenntnisse darstellten. Es gab quasi kein Scheitern. Nur immer wieder Neues probieren, in endlosen Teamsitzungen neue Pläne schmieden, durchgeführte Wochenpläne und Projekte auswerten und Neues planen und durch all das immer neue Erfahrungen sammeln. Ich arbeitete rund um die Uhr. Morgens um 7:30 Uhr war ich in der Schule, abends um 20 Uhr wieder zu Hause — sofern nicht irgendwelche Abendveranstaltungen stattfanden, was häufig der Fall war. Dann kam ich erst spät nachts nach Hause. Es gab viele Kolleg:innen, denen ich mich so nahe fühlte, dass es sich wie Freundschaft anfühlte, sodass ich gar nicht das Bedürfnis hatte, meine Arbeitszeit von meiner privaten Freizeit zu trennen. Nix mit Work-Life-Balance. Arbeit und Leben war irgendwie dasselbe. Und schön!

Dieter stellte mich in regelmäßigen Abständen vor neue Herausforderungen und schickte mich zu zahlreichen Fortbildungen. In den Jahren in »Bullerbü«, wie ich diese Phase rückblickend bezeichne, ermutigte mich Dieter auch zu einer zeitintensiven Weiterbildung für das Fach Darstellendes Spiel. Und so erwarb ich nach zwei Jahren berufsbegleitender Weiterbildung und zahlreichen Wochenend-Lehrveranstaltungen auf Schloss Salzau meine Fachqualifikation für Darstellendes Spiel in der Oberstufe, sodass ich nun auch offiziell Theaterlehrerin war.

Es ist schwer für mich, diese sechs Jahre meines Lebens zu beschreiben, denn sie erscheinen mir rückblickend wie ein Traum. Vor dem Hintergrund, was danach passierte, erscheint mir alles wie eine heile und daher unwirkliche Welt. Dabei weiß ich, dass es natürlich auch an der Bullerbü-Schule hin und wieder Konflikte gab und Phasen, in denen ich dachte: ›Wie blöd ist diese Kollegin XY, dass sie hinter meinem Rücken über mich lästert oder sich über mein neues Projekt aufregt und meine Arbeit boykottiert. Oder diese Eltern, die mir am Elternsprechtag die Hölle heißmachen und alles besser wissen.‹ Ich weiß, dass es solche Verstimmungen gab und ich sie teilweise als Drama empfand, aber alles löste sich nach kurzer Zeit auf und war dann meist gar nicht mehr so bedeutsam wie zunächst gedacht und im Großen und Ganzen war ich an einer Schule gelandet, an der Einigkeit darüber bestand, wie guter Unterricht und wertschätzende Pädagogik funktionieren. Das Kollegium verstand sich als eine Gemeinschaft. Es wurde oft zusammengesessen, beim Bierchen geplaudert und gegrillt und sogar richtig krass gemeinsam gefeiert, getanzt und gesoffen bis in die frühen Morgenstunden. Ich hatte ein Zuhause gefunden.

Vor allem aber weiß ich, dass sich in dieser Zeit eine Art Umbau meines Gehirns vollzogen hat: Aus der konservativen »Perlenschlampe«, die anfangs noch pikiert und skeptisch gegenüber dem lockeren Du innerhalb des Arbeitsumfelds und den projektorientierten Unterrichtsmethoden eingestellt gewesen war, wurde die Persönlichkeit freigelegt, die offenbar darunter geschlummert hatte. Ebenjene Person, die im Referendariat mal kurz aufgewacht war und sich mit einem verrückten Theaterprojekt aus den Zwängen des Gehorsams befreit hatte, diese Erfahrung aber noch nicht als Erfolg zu werten wagte. Tatsächlich verschwieg ich diese Episode meines Lebens über zehn Jahre, weil es mir peinlich war, dass ich ohne jegliche Kenntnis der Theaterpädagogik eine ganze Schule mit diesem Projekt aufgescheucht hatte. Erst viel später konnte ich mir diesen Abschnitt meines Lebens wieder als eine Erfolgsgeschichte zurückholen und für mich würdigen. Denn: Damals war ich noch zu sehr darauf aus, alles »richtig« zu machen. Und es war —LOGISCH! — »nicht richtig«, autodidaktisch ein Theaterstück mit allen Schüler:innen der Schule zu machen! Wie peinlich war DAS denn??

Ich wollte möglichst schnell Neues lernen, Neues kennenlernen, einen möglichst großen Abstand herstellen zu der naiven Maike, die ich im Referendariat gewesen war beziehungsweise davor. Ich konnte nicht mehr nachvollziehen, wie ich das auf angebliche Leistung abzielende Gymnasium für den besten Schultyp hatte halten können. Diese Fixierung auf Wissensvermittlung, Abfragen von Wissen in Tests und Prüfungen und die wie in Stein gemeißelte Rollenverteilung Lehrer-Schüler erschien mir jetzt wie ein alter Schwarz-Weiß-Film à la Die Feuerzangenbowle. In Bullerbü dagegen lernte ich, was in Wahrheit alles möglich war, und dass der Lehrerberuf eventuell doch der spannendste Job der Welt war. Gelegenheiten, jeden Tag auf neue Erkenntnisse zu stoßen, gab es plötzlich im absoluten Überfluss. Dieter wurde für mich Vorbild in der Art und Weise, wie er seine Überzeugungen lebte. Er hatte in einer konservativ geprägten Kleinstadt eine eigene Schule gegründet, die Jahr um Jahr immer wieder aufs Neue bewies, dass nicht äußere Benotung und Leistungsdruck der Schlüssel zu erfolgreichen Bildungsbiografien sind, sondern eine gleichwürdige Pädagogik, die den individuellen Menschen in den Mittelpunkt stellt. Das klang für mich bis dahin immer nur wie eine wichtigtuerische Worthülse. In Bullerbü konnte ich Tag für Tag den Sinn dahinter erfahren und hautnah erleben, warum das tatsächlich so sein kann und vor allem, wie es funktioniert.

So hätte diese Geschichte in Bullerbü eigentlich mit einem Happy End und dem Satz: »Und wenn sie nicht gestorben ist, dann unterrichtet sie noch heute« zu Ende sein können. Aber offenbar war es noch nicht Zeit für ein Happy End. Denn, wie ist es vor diesem Hintergrund zu erklären, dass ich trotz der idealen Bedingungen nach einigen Jahren eine bleierne Schwere empfand, eine leicht depressive Grundstimmung. So ein Gefühl: Ist mein Leben jetzt »fertig«? Die Tage waren ausgefüllt, alles lief wie geschmiert, alles war schön geordnet, wie »es sein sollte«. Es schien nur eine Frage der Zeit zu sein, bis ich heiratete, eine Familie gründete, irgendwo eine Reihenhaushälfte mit kleinem Gartengrundstück kaufte und dann endlich »richtig erwachsen wurde«. Wenn ich durch die Fußgängerzone der beschaulichen Kleinstadt schlenderte, kam in mir die Angst hoch, dass jetzt alles immer so bleiben würde. Und andererseits fand ich mich kindisch mit dieser Sorge. ›Du musst jetzt endlich mal erwachsen werden, Maike‹, dachte ich, ›du kannst nicht immer weiter so einen auf Studentin und WG und Party machen und dir alles offenhalten, du bist ja nicht mehr 20!‹

Ich versuchte also krampfhaft, »erwachsen zu sein«, stellte mir vor, wie schön es ja sein könnte, in diesem Ort ein Leben lang zu bleiben, mit Freunden abends ein Bier im Garten zu trinken, zu grillen, über die Einrichtung der Reihenhaushälfte und die Angebote bei Aldi nachzudenken und einfach ein »ganz normales, gemütliches Leben zu führen«. Ja. Irgendetwas in mir drin machte nicht mit. Das bemerkte ich spätestens an einem Sommerabend, an dem ich alleine mit meinen zwei Einkaufsbeuteln nach Hause ging und plötzlich diesen Gedanken hatte, wie unglaublich gerne ich jetzt ein rohes Ei gegen diesen blitzsauberen Klinkerbau mit Kleingartenanlage werfen würde. Und das Schlimme war: Es blieb nicht bei diesem Gedanken … Ich warf das Ei. Und es machte bei der Landung ein sehr zufriedenstellendes Geräusch.

Irgendwie war damit der Damm gebrochen — so wie man irgendwann den ersten Kaffee trinkt, der noch nicht schmeckt, aber mit jeder weiteren Tasse immer besser. Ich begann, die Innenstadt von Bullerbü unter dem Aspekt zu betrachten, wo es am meisten Spaß machen würde, ein rohes Ei abzuwerfen. Ich fand tatsächlich, dass das Gesamtbild durch so einen schönen, abwärts gleitenden, glibberigen Eidotter erheblich aufgewertet wurde. Es gab tausend Orte, wo so ein Ei eine wunderbare Wirkung entfaltete. Bald warf ich — ohne Scheiß — täglich mehrere rohe Eier ab. Überall adelte ich diese hübschen, beschaulichen Kleinstadtidyllen mit einem sorgfältig durchdachten Eierwurf. Es war wunderbar.

Wobei, meine Kompetenz, mich selbst von außen zu betrachten, war noch existent. Und so war ich in der Lage, zu bemerken, dass diese Eierwurftätigkeit eventuell auf ein verdrängtes Problem schließen ließ. Vielleicht war ich einfach noch nicht bereit für die Reihenhaushälfte und ein gemütliches Leben? Und als ich diesen Gedanken endlich zuließ, brach der Zweifel mit aller Kraft an die Oberfläche: Das kann doch noch nicht alles gewesen sein? Ich bin 32 Jahre alt und scheinbar angekommen. In meinem Element. Alles gut. Alles toll. Alles zu gut? Und werde ich jetzt einfach mein Leben lang so weitermachen? Kleinstadt, nette Kinder, nette Eltern, Klassenlehrerin, ein, zwei Theaterstücke im Jahr, im Sommer Abschlussprüfungen und eine Klassenfahrt und dann Urlaub an der Ostsee? Bei dieser Vorstellung wollte ich sofort zehn Eier irgendwohin werfen.

Wenn man, wie ich, aus Schleswig-Holstein kommt und, wie ich, bereits in der nächsten großen Stadt — Hamburg — gelebt hat, dann scheint Berlin eine naheliegende Option zu sein. Einige Freunde und meine Brüder waren auch schon da. Und, na klar: Berlin war der größtmögliche Gegenentwurf zur Kleinstadtsiedlung, die mich so beklommen machte.

So logisch mir mein Entschluss vorkam, so sehr verstörte er mein Umfeld. »Bist du völlig bekloppt? Was soll das denn jetzt?« Die meisten Menschen in meinem Umfeld reagierten verstimmt. »Das wirst du bereuen!«, lautete die allgemeine Prophezeiung. »Das ist ein Riesenfehler, Berlin ist so ein hipper Sehnsuchtsort, wo alle was rein projizieren, aber in Wahrheit ist diese Stadt ein Riesendrecksloch und ein hartes Pflaster, da gehst du doch unter.« Solche Sätze kamen. Und auch ein beleidigtes »Wie kannst du jetzt einfach weggehen, wo Dieter so viel in dich investiert hat?« In der Tat. Er war der einzige Mensch, vor dessen Reaktion ich mich wirklich fürchtete. Denn es stimmte: Dieter hatte jahrelang in mich investiert, wenn man es denn so definieren will. Ständig hatte er mich beurlaubt, damit ich mich fortbilden konnte. Und jetzt, wo diese Investition hätte Früchte tragen können, an seiner Schule, verließ ich den Laden. Undankbares Pack. Doch der einzige Mensch, der nicht verstimmt reagierte, war Dieter. »Tja, Reisende soll man nicht aufhalten«, lautete sein unbeirrt gut gelaunter Kommentar. Und: »Ich habe mir sowieso gedacht, dass du früher oder später das Weite suchst. Du brauchst noch mehr Herausforderungen. Das ist mir ganz klar. Deswegen hab ich mir die ganze Zeit schon gedacht: Lass sie noch mal ordentlich was mitnehmen, bevor sie dann irgendwann geht. Der Rucksack, mit dem du uns verlässt, der soll möglichst voll sein. Ja. Das hab ich immer gedacht bei dir. Und Berlin — das ist genau die richtige Stadt für dich, glaube ich. Ich freu mich über deinen Schritt. Da wirst du noch ganz viel lernen. Ich sag dir nur eins noch, wenn du willst, was ich dir jetzt so auf den Weg mitgeben würde …«

Fragender Blick. Ich nicke. Dieter grinst und sagt: »Du musst dein Konfliktpotenzial stärken, Maike. Du bist noch zu lieb. Aber ich habe keine Zweifel, dass dir das in Berlin gelingen wird. Mein Rat vom alten Dieter.« Ein prophetischer Ratschlag, wie sich noch herausstellen würde …

Und also entschied ich mich ein zweites Mal »bekloppt« zu sein, nahm tränenreichen Abschied und ging nach Berlin. Nicht ohne zuvor meine Verbeamtung aufzugeben, da ich ansonsten eventuell jahrelang hätte warten müssen, bis jemand anders mit mir getauscht hätte. Ich wusste damals nicht, was ich »in ein paar Jahren wollen würde«. Aber JETZT wollte ich nach Berlin. Und »JETZT« war im Rahmen einer Lebenszeitverbeamtung nicht möglich. Also versuchte ich, mich von diesem goldenen Käfig, der sowieso so viel Beängstigendes mit mir machte, zu befreien. Was auch gelang. Aber nachdem ich mich in Berlin bereit erklärt hatte, freiwillig an einer Neuköllner Hauptschule zu unterrichten, schenkte mir der Berliner Senat — vielleicht als so eine Art Belohnung für meinen Mut — die aufgegebene Verbeamtung wieder zurück. Und so hatte ich sie bei meinem Start an einer sogenannten Neuköllner Brennpunktschule dann doch wieder »an der Backe« und erlebte in Berlin einen Neuanfang — und meinen Untergang.

KAPITEL 3

Realitätsschock

BERLIN, NEUKÖLLN 2004.

An meinem ersten Schultag in Neukölln sind noch keine Schüler:innen da. Nur das Kollegium. Es ist der Freitag vor Schulbeginn nach den Sommerferien 2004. Ich stehe in einem Lehrerzimmer, das mich sprachlos macht. Alles ist wahnsinnig eng und voll Gerümpel. Auf den Schränken stapelt sich verstaubtes, offensichtlich längst vergessenes Zeugs: Schulbücher, zusammengerollte Plakate, Kisten, Aktenordner … Alles bedeckt von einer feinen, grauen Staubschicht — diese Sachen hat seit Jahren niemand mehr angefasst. Auf den Fensterbänken vertrocknete Pflanzen, die schon bessere Tage gesehen haben, kleine Töpfchen mit grauem Gestrüpp. In der Ecke röchelt eine alte Kaffeemaschine, daneben eine Spüle voll dreckiger Kaffeetassen, mindestens 20 verschiedene Becher und Tassen mit braunen Flecken und Rändern, zu kippelnden Türmen gestapelt. An der Lehrerzimmertür — innen — eine gelbliche Liste mit Schülernamen und Terminen für Klassenkonferenzen — aus dem letzten Schuljahr. Der kleine Raum ist vollgestellt mit grauen Tischen und grauen Stühlen, die Tische sind ebenfalls voll Gerümpel und jeder Stuhl besetzt. Ich stehe neben der Tür und überlege, wo ich mich hinsetzen soll. Als ich endlich einen freien Platz ausmache und zögernd darauf zusteuere, um meine Tasche dort abzulegen, vertritt mir ein älterer Kollege den Weg.

»Da sitzt Frau Schmidt.« »Oh, ach so.« Ich ziehe mich zur Tür zurück. Stehe da so rum. Schaue in die Runde. Alle scheinen sehr beschäftigt zu sein — und angespannt. Allgemeines hektisches Gemurmel. Ich frage mich, wo man eine rauchen kann und verlasse langsam und möglichst unsichtbar diesen Ort des Grauens. Draußen vor der Lehrerzimmertür studiere ich den Schaukasten. Da hängen Listen von den Bundesjugendspielen 2003 und ein paar Urkunden für die Fußballmannschaft. Ich mache mich auf die Suche nach dem Raucherzimmer. Unterwegs ein Toilettensymbol an der Tür. Vielleicht gehe ich erst mal kurz aufs Klo. Geht nicht. Die Tür ist abgeschlossen. Ich stehe ratlos auf dem Schulflur.

»Bist du neu hier?« Eine jüngere Kollegin steht vor mir. »Ja, ich …« »Hallo. Ich bin die Sozialpädagogin«, sie grinst, als wäre das ein Witz. »Und du fängst hier jetzt zum Sommer an?«, fragt sie. »Ja. Ich bin Maike.« »Aus Berlin?« »Nee, aus Schleswig-Holstein.« »Oh. Und ist das deine erste Stelle hier?« »Nein, ich bin schon acht Jahre im Schuldienst.« »Echt? Na, dann wird dich hier ja so schnell nichts erschüttern.« Sie lacht und ich spüre eine kleine Anwandlung von Wärme. Ich bin froh, dass ich offenbar einen normalen Menschen in diesem Gebäude entdeckt habe. Einen Menschen, der mich anguckt und normal mit mir spricht. »Wollen wir eine rauchen?« Ich frage mich, ob sie Gedanken lesen kann und sage erleichtert: »Ja, super.«

Wir gehen schweigend nebeneinander den dunklen Schulflur entlang. Die Tuschebilder an den Wänden sehen so aus wie in meiner damaligen Grundschule in den 70er-Jahren in Glücksburg am Kegelberg. Die Toiletten sind noch abgeschlossen, höre ich mich zu meiner eigenen Überraschung sagen. »Die sind IMMER abgeschlossen. Ich heiße übrigens Lena«, sagt meine Begleiterin und schließt mit einem unverhältnismäßig großen, klirrenden Schlüsselbund eine Tür auf. ›Wie im Knast‹, denke ich. Wir betreten einen Raum, der so aussieht, als wäre er in einem hundertjährigen Dornröschenschlaf. Schrankwände voller alter Aktenordner und Schulbücher, Sprachbücher, Mathebücher, Englischbücher, abgewetzte Stapel von Rokal, der Steinzeitjäger, einer Lektüre, die ich noch aus meiner eigenen Schulzeit kenne. Ein paar — im Kontrast dazu — seltsam modern wirkende, schneeweiße Whiteboards, gestapelt an der Wand und irgendwie unberührt, eingeschweißt in Plastikfolie. Hinten eine Sofaecke, die mich an unseren damaligen SV-Raum erinnert, in dem immer die Oberstufenökos saßen, heiße Milch mit Honig tranken und über Afghanistan diskutierten — in den 80ern.

Lena lässt sich auf das grüne, abgeranzte Sofa fallen. »So«, sagt sie mit einem zufriedenem Lächeln und beginnt, sich eine Zigarette zu drehen. Sie schaut auf. »Auch eine?« »Nee, ich hab selbst, danke.« Ich setze mich auf einen alten Sessel, der bei jeder kleinen Bewegung knarzende Geräusche macht. »Und? Warum bist du jetzt in Berlin?« »Private Gründe.« Ich mache eine Pause und habe das Gefühl, das klingt irgendwie abweisend. Also füge ich hinzu: »Ich wollte noch mal einen anderen Eindruck von Schule kriegen … und Berlin ist ja schon ’ne spannende Stadt …« Ich komme mir vor wie eine Landpomeranze. — Bin ich ja auch. Lena lacht schallend. »Okay, mutig, Alter! — Also bist du freiwillig hier? Also ich meine — an dieser Schule?« Ich zünde meine Zigarette an, nehme einen Zug und sehe sie zum ersten Mal direkt an. »Freiwillig? Ja, klar. Oder was meinst du …?« »Na ja, hier geht ja keiner FREIWILLIG hin. Hauptschule Neukölln halt. Ist sozusagen der Vorhof zur Hölle.« Ich atme etwas zu laut aus. »Boah. Das ist doch voll das Klischee. Böses Neukölln, Kriminalität, Räuberpistolen … Also ich denke, das wird in den Medien auch immer übertrieben dargestellt, oder?« Lena wirft mir einen seltsam ironischen Blick zu. Ich finde, ein bisschen überheblich. Ich fühle mich blöd. Was will sie überhaupt? Sich wichtigmachen? Mir Angst machen? Ich lächle sie an, puste Rauch in die Luft und hoffe, dass ich nicht ganz so provinziell wirke. »Na ja«, sagt sie. »Ehrlich gesagt … Ehrlich gesagt, ist es schon krass, also … schwierig. Ich will dir jetzt nicht die Motivation nehmen — aber es ist schon … heftig.« Ich merke, wie ich innerlich trotzig werde. »Was meinst du denn?«, entgegne ich etwas zu laut. Sie zögert. Dann wirft sie mir einen kurzen Blick zu, zuckt mit den Schultern. »Egal«, sagt sie, »vielleicht findest du es ja wirklich nicht so schlimm. Es hat auch alles Vorteile hier. Man kann machen, was man will. Hauptsache, es dringt nix nach draußen … «

Das finde ich interessant. Diese Aussage habe ich fast wortwörtlich von der Neuköllner Schulrätin beim Einstellungsgespräch gehört. An einem der letzten Sommerferientage sitze ich in der Boddinstraße in Neukölln bei der zuständigen Schulrätin. Sie erzählt fröhlich von ihrer anstehenden Pensionierung und dass sie »noch einiges auf den Weg bringen« möchte. Offenbar möchte sie auch mich auf den Weg bringen, denn ich habe noch keine Stelle.

In Schleswig-Holstein hatte ich gekündigt und meine Verbeamtung aufgegeben, weil ich keine Lust hatte auf das offizielle Verfahren, bei dem mein Wechsel in ein anderes Bundesland eventuell Jahre gedauert hätte. Ich hatte mich entschieden, nach Berlin zu gehen — und zwar jetzt. Nicht in ein paar Jahren. Ich war mit meinem ganzen Krempel nach Berlin gezogen, hatte mich vorher persönlich an einer Reihe von Schulen beworben und gehofft, dass es irgendwie klappen würde. Im Verlauf der Sommerferien musste ich feststellen, dass dies offenbar nicht der Fall sein würde. In Berlin war 2004 von einem Einstellungsstopp die Rede und ich fing an, zu zweifeln, ob meine spontane Entscheidung richtig gewesen war. Neben der Wohnung in der Rosenthaler Straße, in die ich mit meinem Freund gezogen war, hing ein Schild im Laden eines Schuhgeschäfts: Verkäuferin gesucht. Ich ertappte mich hin und wieder bei dem Gedanken, dass ich mich dort vielleicht mal melden sollte … Jetzt aber saß ich im Büro der Schulrätin und hoffte, dass sich noch etwas ergeben würde. Frau Behrens wirkte auf mich wie eine typisch schnoddrige Berlinerin, die die Dinge beim Namen nennt. »Ja, Frau Plath, ich hätte hier ’ne Stelle für Sie. Sie können gleich nächsten Montag anfangen, wenn Sie wollen.« »Das ist ja toll.« »Na ja, das müssen Sie entscheiden. Ich hab hier nur was an ’ner Hauptschule, und da wollen ja viele nicht hin. Aber ich sehe hier in Ihren Akten, dass Sie ja in Schleswig-Holstein ’ne Menge bewegt haben und eine engagierte Lehrerin sind. Dann werden Sie es auch an einer Hauptschule schaffen, da bin ich mir sicher. Vor allem haben Sie ja die Fachqualifikation für Darstellendes Spiel und offenbar viel Erfahrung mit dem Theater. Das ist doch großartig.« »Gibt es an der Hauptschule denn überhaupt offiziellen Theaterunterricht? Ich dachte, das gibt es nur in der gymnasialen Oberstufe.« »Da haben Sie recht. Das gibt es an der Hauptschule nicht. Aber ich bin jetzt mal ganz offen mit Ihnen: Das interessiert hier sowieso niemanden. An den Hauptschulen ist Untergang. Ende Gelände. Da können Sie machen, was Sie wollen. Da redet Ihnen keiner rein. Hauptsache, der Deckel bleibt drauf.«

»Und was heißt das genau?« »Das heißt, dass an den Hauptschulen hier sowieso kein normaler Unterricht mehr möglich ist. Wenn Sie da mit dem Theater kommen — und das irgendwie hinkriegen, dann sind alle froh. Was offiziell unterrichtet wird, ist völlig egal. Hauptsache, das läuft irgendwie ohne Drama ab. Minimalanforderung ist, dass die Polizei nicht kommt.« »Aha.« Ich muss lachen. »Ja, da lachen Sie jetzt. Aber ich verrate Ihnen mal was: Ich kriege hier reihenweise Suiziddrohungen von Lehrkräften, die da unterrichten sollen. Ich kann meine Stellen hier nicht besetzen, weil die dann mit dem Anwalt kommen. Da freue ich mich doch über eine Person wie Sie. Sie haben Ihre Verbeamtung aufgegeben, um herzukommen. Da steckt ja ordentlich Wumms dahinter, das brauchen diese Kinder an der Hauptschule. Und ich bin mir sicher, Sie sind da richtig. Wenn Sie schlau sind, können Sie da richtig was draus machen.« Sie zwinkert mir aus ihren tiefblau geschminkten Augen verschwörerisch zu. »Ja, ich weiß nicht … Mit Hauptschülern habe ich keine Erfahrung. Und ich komme ziemlich aus der Provinz, also vielleicht …« »Ach, das ist doch alles Quatsch. Sie sind ’ne patente Person. So was kann ich riechen. Ich sitz hier schon ’ne Weile, glauben Sie mir, ich habe Erfahrung. Sie werden mir noch danken, dass ich Sie dahin geschickt habe. Und wenn Sie Probleme kriegen: Sie können sich jederzeit bei mir melden. Ich werde die Hand über Sie halten, da können Sie sich drauf verlassen … «

Frau Behrens stand zu ihrem Versprechen. Sie »hielt ihre Hand über mich« — allerdings nur drei Jahre. Dann wurde sie pensioniert. Und nachdem das alte Schlachtschiff mit den blau geschminkten Augen nicht mehr in der Boddinstraße saß, brachen andere Zeiten an. Ganz andere Zeiten. Lena drückt ihre Zigarette aus und seufzt. »Na, dann wollen wir mal«, sagt sie, lächelt halb aufmunternd, halb mitfühlend und wir machen uns auf den Weg zurück ins Lehrerzimmer. Mit ihr an der Seite ist es etwas einfacher und ich stehe nicht mehr ganz so verlassen im Türrahmen — wie bestellt und nicht abgeholt. Aber an der Tür stehe ich trotzdem noch eine ganze Weile, bis Lena einige Kolleg:innen überredet hat, mir einen Platz freizumachen. Etwas umständlich und begleitet von leicht genervtem Gemurmel werden einige Stühle gerückt und Taschen und Ordner beiseitegeschoben. Ich bekomme einen Platz, obwohl der »nur vorläufig« ist, wie mir ein älterer Kollege in grimmigem Ton erklärt: »Da sitzt eigentlich Frau Wehmeier — aber die ist langzeitkrankgemeldet. Wer weiß, ob die überhaupt wiederkommt. Aber wenn, dann müssen Sie da wieder weg.« Aha. Ich frage mich, ob sich hier alle siezen — oder ob das Ironie ist. So eine Art Theaterstück, das die hier für mich aufführen. So wirkt es jedenfalls.

In den ersten Tagen fahre ich von Berlin Mitte aus mit dem Fahrrad zur Schule. Es ist ein weiter Weg, aber ich habe den Ehrgeiz, die Stadt kennenzulernen und freue mich tatsächlich darüber, dass es sich anfühlt, als würde man durch einen Spielfilm fahren. Alexanderplatz, Fernsehturm, Haus des Lehrers, Moritzplatz, Kreuzberg, Kottbusser Tor, Hermannplatz — alles Orte, die ich gefühlt schon kenne. Aus »Film und Fernsehen«, sagt man ja so schön. Super. Und hier wohne ich jetzt also. Mitten in einer Touri-Postkarte.

Am vierten Tag regnet es in Strömen und ich trage mein Fahrrad runter in die U-Bahn. Ich ziehe ein Ticket und sitze mit meinem Fahrrad in der U8. Fahrscheinkontrolle. Ein Typ steht vor mir. Ausdrucksloses Gesicht. Ich fingere meinen Fahrschein aus dem Portemonnaie. Er starrt ungerührt darauf. Wartet.

»Ja, dit Fahrrad?«

»Wie bitte? Mein Fahrrad?«

»Ja, dit is Ihr Fahrrad, nehm ick ma an.«

»Ja …«

»Ja, und wo is der Fahrschein?«

»Sie haben den doch in der Hand.«

»Nee, dit is für Sie. Ick brooch den Fahrschein für dit Fahrrad.«

»Oh, das wusste ich nicht, ich habe gedacht …« Er unterbricht mit Automatenstimme: »40 Euro.« Und fängt an, etwas in sein Gerät zu tippen. Ich bin fassungslos. Aber woher soll ich wissen, dass ich auch noch …

»40 Euro.«

»Entschuldigen Sie mal, ich bin erst seit ein paar Wochen hier, woher soll ich wissen …«