Befreit euch! - Maike Plath - E-Book

Befreit euch! E-Book

Maike Plath

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Beschreibung

Viele unserer derzeitigen gesellschaftlichen Probleme haben ihre Ursache darin, dass Menschen einen Mangel an Selbstwert, Selbstwirksamkeit und sozialer Anerkennung erleben. Diese Entwicklung wird durch ein Bildungssystem verstärkt, das von Wettbewerb, Konkurrenz und Abgrenzung geprägt ist. Das Eigene - und Eigenwillige - muss ständig in vorgegebene Richtlinien eingehegt werden. Dadurch geht der Reichtum vorhandenen Potentials und das Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten und Bedürfnisse verloren. Die daraus resultierenden Entfremdungsgefühle werden wiederum kompensiert durch Abwertung anderer Perspektiven und Lebensentwürfe. Ein Teufelskreis mit sichtbar destruktiven Folgen für ein demokratisches und solidarisches Miteinander: Vereinzelung, Narzissmus und Gefühle von Sinnverlust nehmen zu. Maike Plath setzt dieser Entwicklung ein wirkmächtiges Konzept entgegen. Ihr hier erstmals in seiner Gesamtheit beschriebenes Partizipationskonzept geht - statt von systemischen äußeren Leistungsanforderungen - vom Eigensinn und Potential jedes einzelnen Menschen aus. Damit initiiert dieses Konzept einen grundsätzlichen Perspektivwechsel hin zu einem zeitgemäßeren Bildungsverständnis: "Wir müssen die real existierende Diversität in unserer Gesellschaft und in unseren Schulen zum Ausgangspunkt aller konzeptionellen Überlegungen machen und als selbstverständliche Grundlage aller Bildungs- und Wachstumsprozesse betrachten: Nur dann kann Vielfalt als größte gesellschaftliche Ressource wirksam und für jeden einzelnen Menschen als sinnstiftend erlebt werden". (Maike Plath)

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Maike Plath ist Autorin, Theaterpädagogin und Lehrerin. In den Jahren 1996 bis 2013 arbeitete sie als Theater- und Deutschlehrerin in der Sekundarstufe 1 und realisierte zahlreiche biografische Theater-Eigenproduktionen an einer Hauptschule in Berlin Neukölln. In der täglichen Praxis entwickelte sie eine partizipative, biografische Methodik, die Jugendliche befähigt, künstlerische Prozesse eigenmächtig zu gestalten und ihre eigenen Themen öffentlich sichtbar zu machen. Als Jurorin für das Theatertreffen der Jugend Berlin (Berliner Festspiele), durch ihre Vorstandsarbeit im BVTS (Bundesverband Theater in Schulen) und durch bundesweite Lehraufträge, setzt sie sich für ein inklusives Bildungsverständnis und für den partizipativen Theaterunterricht als wirkmächtiges Bildungsmittel ein. Sie arbeitet heute als künstlerische Leiterin des Theater-Jugendclubs ACTIVE PLAYER NK am Heimathafen Neukölln und leitet gemeinsam mit zwei Kolleginnen den Verein ACT e.V. Berlin.

Dieses E-Book ist auch als Buch erhältlich.

Für Friederike Faber

aka Mausi

Inhalt

Einleitung: Was bisher geschah — und wie es zu diesem Buch gekommen ist

Befreit Euch! — Inklusion als Aufgabe von Bildung und gesamtgesellschaftliche Perspektive

Perspektivwechsel: Bildung statt Ausbildung — Vielfalt statt Einfalt — Demokratische Führung statt Kontrolle

1.1 Ausgangssituation

1.2 Theater als wirkmächtiges Bildungsmittel

1.3 Entstehung und Grundlage des Ansatzes

1.4 Die innere Haltung der Anleitenden

1.5 Die zwei Grundprinzipien des Konzeptes: Beziehungsgestaltung und Partizipation

1.5.1 Das Prinzip des Lernens im Sinne von

to learn

und

to create

1.5.2 Neue Beziehungs- und Kommunikationsgestaltung im Bildungssystem

1.6 Kooperation statt Konkurrenz: Demokratische Führung durch gelingende Beziehungsgestaltung und stärkeorientierte Kommunikation

1.6.1 Diversität begreifen und anerkennen

1.6.2 Vision eines inklusiven Bildungssystems

1.6.3 Das Gesetz der inneren Grenze

1.6.4 Demokratische Führung — Führung muss sein!

1.7 Fazit: Demokratische Führung und Inklusion

1.8 Der partizipative Theaterunterricht als Startpunkt und Grundlage für eine Kultur Demokratischer Führung und die Umsetzung von Inklusion

1.8.1 Beispiel für exklusive Settings: Die Gruppenreise

1.8.2 Sensibilisierung für exklusive Settings: Der blinde Fleck — Race, Gender, Class

1.8.2.1 Einschub zur Sensibilisierung für den Perspektivwechsel

1.8.2.2 Umgang mit intoleranten Ansichten und Positionen

1.9 Demokratische Führung und Autoritätskonflikte

1.9.1 Beispielhafte Konkretisierung: Sanktionen

1.10 Fazit zum Konzept der Demokratischen Führung

Methodische Wege zur Erschaffung inklusiver Räume am Beispiel von Kreativgefäßen des partizipativen Theaterunterrichts

2.1 Kooperation statt Konkurrenz: Das Ball-Warm-up

2.1.1 Einschub zur Political Correctness

2.2 Übungen zum Gesetz der inneren Grenze

2.2.1 Das Spiel »Wahrheit oder Pflicht«

2.2.2 Die vier Demokratischen Führungs-Joker

2.2.3 Vertiefende Variante von »Wahrheit oder Pflicht«: Das Presse-Interview

2.3 Demokratische Führung: Arbeit mit dem Theatralen Mischpult

2.3.1 Autonomie als Prinzip beim Theatralen Mischpult

2.3.2 Strategien für Partizipation in künstlerischen Prozessen — das Theatrale Mischpult

2.3.3 Konkretisierung: Einführung des Theatralen Mischpults durch die Spielleitung

2.4 Achtsamkeitsprinzip und ständiges gegenseitiges Feedback über die Erfahrungen von »Führen und Folgen«

2.4.1 Einschub zur Feedback-Kultur: Perfektionismus versus »liebevoller Blick auf das Scheitern«

2.5 »Das Gesetz der inneren Grenze«: Einsatz der vier Demokratischen Führungs-Joker Tempo, Klarheit, Verantwortung und Veto

2.5.1 Zusammenfassung: Die vier Demokratischen Führungs-Joker beim Spiel mit dem Theatralen Mischpult

2.6 Gruppenarbeit im Nummernprinzip

2.7 Thematische Schwerpunkte setzen — Arbeit mit dem Theatralen Mischpult und der Statuslehre

2.8 Kreativgefäße

2.8.1 Beispiel für ein einfaches Kreativgefäß: »Die verzauberten Figuren«

2.8.2 Beispiel für ein komplexes Kreativgefäß: »Actionfiguren auf Bahnen« — Fragmentarisierung und Montage-Prinzip mit dem Theatralen Mischpult

2.8.3 Detaillierter Ablauf des Feedback-Verfahrens »Gespräch unter Freunden«

2.8.4 Achtsamkeitstraining »Demokratische Führung« mit »Actionfiguren auf Bahnen« — Sensibilisierung für Regie- und Coach- Prinzip

2.8.5 Zusammenfassung der Spielvarianten von »Actionfiguren-Auf-Bahnen« mit dem »Spieler-Coach-Prinzip«

2.8.6 Abschließende Zusammenfassung zur Sensibilisierung für die Verschiebung des Machtverhältnisses (»Führen und Folgen«)

2.9 Arbeit mit dem Theatralen Mischpult:

Gamification

und Fragmentarisierung — Einführung des Inszenierungs-Jokers »Erzähler und Gestenchor« (beispielhaft)

2.9.1 Arbeit mit dem Theatralen Mischpult: Einführung der Karten des Tanz-Mischpultes

2.9.2 Vertiefung der Möglichkeiten ästhetischer Gestaltung mit dem Mischpult — Thema und Variation

2.9.3 Gestaltung eines Textes mit dem Inszenierungs-Joker »Erzähler und Gestenchor«

2.10 Demokratische Führung und partizipative Stückentwicklung

2.10.1 Beispielhafter Ablauf für eine inhaltsbezogene, partizipative Arbeit mit den Mitteln des Mischpults

2.11 Die Koordinaten der Dramaturgie

2.11.1 Dramaturgische Leitfragen

2.12 Stärkeorientierte, demokratische Feedback-Verfahren

2.12.1 Bausteine des demokratischen Feedback-Verfahrens

2.12.2 Beispiele für verschiedene demokratische Feedback-Verfahren im partizipativen Theaterunterricht

2.12.2.1 Feedback-Variante 1 »Präsidenten-Runde«

2.12.2.2 Feedback-Verfahren in Nachgesprächen von Aufführungen mit verschiedenen Gruppen

Methodische Wege zur Umsetzung inklusiver Gestaltung am Beispiel des partizipativen und biografischen Theaterunterrichts

3.1 Grundkoordinaten für die Errichtung inklusiver, demokratischer Integritätsräume: Die innere Haltung der Lehrkraft und der kränkungsfreie Raum

3.2 Die Umsetzung der Prinzipien der Demokratischen Führung im partizipativen, biografischen Theaterunterricht

3.3 Eigenständige Weiterentwicklung des partizipativen Ansatzes: Demokratische Führung, Fragmentarisierung und Gamification

3.3.1 Die sieben Phasen der Erkenntnisgewinnung (des Lernens) nach Van Hauten

3.3.2 Grundsätzliche Aspekte bei der Entwicklung eigener partizipativer »Kreativgefäße« auf einen Blick

3.3.3 Ausgangspunkte und Orientierungs-Koordinaten für die Entwicklung eigener partizipativer »Kreativgefäße«

3.4 Fazit Prozessbausteine

Erfahrungsberichte aus der Praxis bei der Anverwandlung des Konzeptes

4.1 Bericht aus der Praxis: Erfahrungen bei der Umsetzung des partizipativen Ansatzes: Vom Rezept zur Autonomie von Nicole Huiskamp

4.2 Vom Rezept zur Autonomie von Anna Maria Weber

4.3 Erfahrungsbericht im Bereich Dramaturgie von Stefanie López

Demokratische Führung an die Jugendlichen abgeben— Strategien der Vermittlung

5.1 Selbstwertgefühl und Selbstwirksamkeit entwickeln: Die Kopplung von »ACT your life« und »Design Thinking«

5.1.1 Das Konstrukt der Biografie

5.1.2 Karten-Mischpult: ACT your life!

5.1.3 Die Erläuterung der verschiedenen Arbeitsphasen

5.2 Statuslehre mit Jugendlichen — Machtverhältnisse erkennen und überwinden

5.2.1 Einführender Teil: Die zentrale Bedeutung des Konzeptes der Statuslehre für den Ansatz der Demokratischen Führung

5.2.1.1 Zielbeschreibung des Status-Trainings mit Jugendlichen

5.2.2 Einführung in die Statuslehre

5.2.3 Zielbeschreibung aller Trainingseinheiten

5.3 Statuslehre für Jugendliche — Erkennen und Überwinden von Machtverhältnissen

5.3.1 Übungen zur Präsenz im Raum — Achtsamkeitstraining für Statusunterschiede und Statuswechsel: Status-Bahnen

5.4 Übung Jubelspalier und Spottspalier

5.5 Status-Typen-Training

5.5.1 Vertiefung: Training der vier Status-Typen in der Kleingruppe

5.5.2 Konkretisierung der Kleingruppenarbeit und der Spielvarianten anhand eines Beispiels

5.6 Status-Reset: Unbewusste Status-Reaktionen erkennen und durch ein bewusstes Konzept ersetzen

5.6.1 Zum Ablauf der Präsentationen und Auswertungen

5.7 Reale Statusherausforderungen im Alltag suchen

5.8 Weitere Status-Übungen für das regelmäßige Training

5.8.1 Präsenz im Raum und bewusstes Auftreten: Die Auftrittsübung

5.8.2 Status-Skala Erproben

5.8.2.1 Status-Kreis

5.8.2.2 Das »Ja-Spiel«

5.8.2.3 König und Diener

5.9 Fazit zur Statuslehre

5.10 Zusatzmaterial zur Statuslehre für Lehrkräfte: Der Film

The King’s Speech

Essays zu Bildung und Demokratie aus dem Blog »Maikes Blog«

Inklusion — oder: Sind wir eigentlich alle behindert?

Wo nehmen Emanzipationsbewegungen ihren Anfang?

Abschlussbericht für die Theaterproduktion

Die Matrix der Demokratie

am Heimathafen Neukölln

Meine (Nicht-)Begegnung mit Rosa von Praunheim — Überleben in Neukölln

Die Folgen von Kränkung — Teil 1 Zombie-Apokalypse oder Kraftakt der Vergebung?

Teil 2 Demut Statt Demütigung — Konkret reden über Vergebung — im Sinne einer inneren Haltung der Demut

Essay zum Film Men

& Chicken

zum Thema Inklusion

Bericht aus der Praxis an einer Schule in Berlin: Autonomie ermöglichen

Bericht aus der Praxis: Schule oder Theater?

Critical Kartoffel!

Critical Whiteness

— Begegnung oder Abgrenzung: Ist die Verordnung von Liebe pathetisch?

Eigensinn und Bildungs-Glück

Zur Autonomie im Lehrerberuf

Die Geschichte von Ali Brown — The artist is present

Sechs Wochen Theaterunterricht an der Quinoa Privatschule

Krisen und Kämpfe

Das Nadelöhr der Zuversicht

Die »Irrlichter« in Kassel

Der konstruktive Moment von Bildung

Rosa von Praunheim

Quellennachweise

Glossar

Danksagung

Was bisher geschah — und wie es zu diesem Buch gekommen ist

2013 habe ich nach 17 Jahren den verbeamteten Schuldienst aufgegeben, um individueller und produktiver mit Jugendlichen arbeiten zu können, als es in den derzeitigen Strukturen von Schule möglich ist. Seither leite ich gemeinsam mit zwei Kolleginnen die Bildungsinitiative ACT e.V. und führe meine konzeptionelle Arbeit dort im täglichen praktischen und kreativen Austausch fort — sowohl mit Jugendlichen als auch mit Pädagogen*-innen, Künstler*innen, Kulturschaffenden und allen Menschen, die sich auf die Suche nach produktiveren Bildungskonzepten gemacht haben.

Ich bin als Kind zweier Oberstudienräte in Schleswig-Holstein aufgewachsen. Im Anschluss an eine behütete Kindheit zwischen Geigenkasten und Ballettschläppchen, beschloss ich Lehrerin zu werden. In den ersten Jahren hatte ich das Gefühl, meine Berufung gefunden zu haben: Ich konnte — und kann mir bis heute — nichts Erfüllenderes vorstellen, als mit einer Gruppe von Jugendlichen gemeinsam kreative Lernprozesse in Gang zu bringen und mit ihnen immer neue Erkenntnisse zu erlangen.

Der berufliche Wechsel nach Berlin im Jahr 2004 führte mich aus Mangel an anderen freien Stellen an eine Hauptschule in Neukölln. Dort brachen innerhalb kürzester Zeit alle meine vermeintlichen Gewissheiten zusammen. Mir wurde klar, dass ich in einer ›Blase‹ gelebt hatte und dass unser Bildungssystem in seiner derzeitigen Form in keinster Weise geeignet ist, der Vielfalt anderer Perspektiven konstruktiv zu begegnen. Nichts, was ich in meinem bisherigen Leben erfahren, bzw. im Referendariat gelernt hatte, war in der neuen Situation hilfreich. Weder die bisher erlernten pädagogischen Methoden, noch autoritäre Maßnahmen, noch Notendruck hatten irgendeine produktive Wirkung. Ganz im Gegenteil erlebte ich eine große Hilflosigkeit sowohl auf systemischer als auch auf menschlicher Seite im Angesicht der verschiedenen Ausgangssituationen und Hintergründe der Jugendlichen.

Ich konnte beobachten, dass in den herausfordernden Situationen vielfach autoritär auf die Jugendlichen reagiert wurde, was die Situation nur immer weiter verschlimmerte und zu Gefühlen von Demütigung auf allen Seiten führte — sowohl bei den Lehrkräften, als auch bei den Jugendlichen. Dies machte Lernfortschritte nahezu unmöglich.

In dieser Situation beschloss ich eine Art Mind-Reset und überdachte alles noch einmal von vorne. Ich fragte mich: Was kann ich tun, damit sowohl innerlich (in mir und in den Jugendlichen) als auch äußerlich wieder Ordnung und Struktur entstehen kann? Was braucht es, damit mir mein Beruf wieder sinnvoll erscheint und ich Lern- und Gestaltungsprozesse in Gang setze, die für die Jugendlichen produktiv sind?

Im täglichen Probieren und Scheitern und wieder Neu-Probieren habe ich um den Sinn und den Wert meines Berufes gerungen. Das war nicht immer einfach. Aber: Dabei ist in jahrelanger Auseinandersetzung und zunehmender Zusammenarbeit mit den Jugendlichen mein Konzept entstanden: Das Konzept des partizipativen Theaterunterrichts und der Demokratischen Führung, das ich in dieser neunten und letzten Publikation zu diesem Thema grundsätzlich zusammenfasse und beispielhaft anhand aller einzelnen Phasen anschaulich beschreibe.

Es ist ein Konzept, das — provokant formuliert — am Ende die Lehrkraft überflüssig macht. Bis dahin aber ist es ein weiter, spannender und erfüllender Weg, der die Jugendlichen in ihren unterschiedlichen Potentialen sichtbar macht und vor allem die drei grundsätzlichen Bestandteile eines gelungenen Bildungsprozesses nachhaltig vermittelt: Selbstwertgefühl, Selbstwirksamkeit und soziale Anerkennung.

Das vorliegende Konzept ermutigt zu einem grundsätzlichen Perspektivwechsel hin zu einem Bildungsverständnis, das vom Menschen ausgeht — und nicht von den Zwängen eines ›Systems‹. Damit wir wieder die Möglichkeiten sehen können, Systeme zu hinterfragen und sie konstruktiv zu verändern.

Maike Plath

25. Oktober 2017

Befreit euch! — Inklusion als Aufgabe von Bildung und gesamtgesellschaftliche Perspektive

Das Wort Inklusion ist inzwischen zu einem Reizwort geworden, an dem sich die Geister scheiden und die Gemüter erhitzen. Viele sind vom Schulalltag inzwischen so erschöpft, dass sie Inklusion für eine gescheiterte Idee halten. Andere formulieren, dass sie zwar »für Inklusion seien, aber nicht für alle Kinder«. Nahezu alles, was zum Thema Inklusion geäußert wird, zeigt aber eigentlich nur eines: Dass bisher in den allermeisten Fällen nicht wirklich Inklusion an Schulen stattfindet, auch wenn es so bezeichnet wird. Denn das, was unter dem Begriff Inklusion läuft, ist in Wahrheit oft nur der (vergebliche) Versuch von Integration, was etwas ganz anderes ist und in der Praxis zunehmend an seine Grenzen gerät.

Inklusion bedeutet nicht die Integration von Menschen mit Beeinträchtigungen in das bestehende, normierte Schulsystem. Inklusion hat überhaupt nichts mit Integration in irgendein System zu tun, sondern bedeutet das Gegenteil: Nämlich, dass nicht von einem ›richtigen‹ (normierten) System aus gedacht wird, sondern von der real existierenden Vielfalt — weit über »Menschen mit Beeinträchtigungen« hinaus. Vielfalt anzuerkennen heißt: Von jedem einzelnen Menschen auszugehen und von seinen ganz eigenen Stärken — und nicht von einer Beschriftung, die ihn einer speziellen Gruppe zuordnet.

Wo Beschriftungen stattfinden (»Das sind die I-Kinder und das sind die muslimischen Kinder und das sind die verhaltensauffälligen Kinder« usw.) und wo Noten der Maßstab von Bewertung sind, kann Inklusion nicht wirklich stattfinden.

Welchen Wert haben Noten noch, wenn sie zunehmend in Frage gestellt und juristisch eingeklagt werden können? Was sagen die Noten über die Fähigkeiten und Stärken eines Menschen aus? Wäre es da nicht sinnvoller, vom Ziel her zu denken? Das Ziel ist ein sicheres Auskommen, Ansehen und Selbstwert — kurz: ein selbstbestimmtes, möglichst sorgenfreies und glückliches Leben.

Wenn jedes Kind die Möglichkeit hätte, 12 oder 13 Jahre zur Schule zu gehen und in dieser Zeit individuell sein gesamtes Potenzial entfalten und weiterentwickeln könnte, wären die Voraussetzungen für ein solches Ziel viel eher geschaffen, als durch ein Zeugnis, das Noten und Punkte dokumentiert. Jedes Kind sollte während der Schulzeit die Möglichkeit haben, herauszufinden, was es kann — und wie dieses Können sinnvoll und realistisch in die Welt eingebracht werden kann. Was könnten wir alles in den 12, 13 Jahren bei all diesen Heranwachsenden auf den Weg bringen — wenn wir nicht immer bewerten, vergleichen und in Raster einhegen müssten.

Schule ist bis heute in den meisten Fällen exklusiv. Die Lehrkräfte leiten (systembedingt und gezwungenermaßen) an und beurteilen ihre Schüler*innen1, in den Kursen und Klassen ordnen sich diese auf der genannten Skala zwischen Anpassung und Rebellion ein. Alle agieren aus diesen Rollen heraus. Alles andere erhält keinen Raum und bleibt daher unterentwickelt und begraben. Die sichtbaren Leistungen entsprechen der Rollenverteilung auf der genannten Skala und die Noten dementsprechend der Gaußschen Verteilung: Eine oder zwei »Einsen«, drei oder vier »Zweien«, acht »Dreien«, sieben »Vieren«, drei »Fünfen«, eine »Sechs«. Oder sehr ähnlich. Das ist unsere Schule. Und wenn wir das konsequent systemisch betrachten, dann ist das eine Erziehung zur Unmündigkeit.

Inklusion ist eine konstruktive Antwort auf die real existierende Diversität und damit auf die zahlreichen Herausforderungen unserer derzeitigen Gesellschaft und wahrscheinlich der einzige Weg in ein zukunftsfähiges Bildungssystem, das Vielfalt als Selbstverständlichkeit und Bereicherung betrachtet. Was derzeit aber an den meisten unserer Schulen praktiziert wird, ist keine Inklusion, sondern versuchte Integration von Abweichenden. Inklusion kann erst in dem Augenblick erfolgreich sein, in dem wir einen grundlegenden Perspektivwechsel vornehmen.

Es nützt nichts, aus der bestehenden Perspektive heraus die (offensichtlichen) Probleme immer wieder neu zu benennen. Ich kann derzeit jede Mutter verstehen, die ihr Kind mit Down-Syndrom nach mehreren gescheiterten Versuchen an einer Regel-Schule doch wieder an einer Förderschule anmelden will. So wie es derzeit ist, kann es — meiner Ansicht nach — auch nicht funktionieren (mit den bekannten Ausnahmen natürlich, die die Regel bestätigen). Um nicht erneut in diese bekannte Argumentation einzusteigen, die uns alle schon so müde werden lässt, möchte ich hier nur kurz eine ganz andere Episode schildern:

Vor einiger Zeit traf ich Herrn Enno Schmidt zu einem Gespräch in Zürich, der sich für das bedingungslose Grundeinkommen einsetzt und den Volksentscheid darüber in der Schweiz maßgeblich vorangebracht hat. Wie wir wissen stimmte ›nur‹ ein Viertel der Schweizer Bevölkerung dafür. Herr Schmidt hatte dies kaum anders erwartet, sagte mir aber folgendes: »Notwendige gesellschaftliche Veränderungen gehen grundsätzlich mit großen Widerständen einher. Das hat damit zu tun, dass eine Mehrheit erstmal aus dem gegenwärtigen Zustand und aus einer persönlichen Perspektive darüber urteilt. Das ist sehr menschlich und verständlich, es sagt aber nichts darüber aus, ob diese Veränderung nicht trotzdem notwendig sein wird. Denn es geht bei diesen Veränderungen um Antworten auf zukünftige Probleme. Wer in seinem Alltag steckt, hat nicht unbedingt ein Bewusstsein für diese zukünftigen Probleme und urteilt auf der Basis des Ist-Zustandes. Alle Argumente aus dieser Perspektive sind schlüssig und nachvollziehbar — sie führen aber nicht unbedingt weiter.«

Enno Schmidt nannte mir für diese Situation folgendes Beispiel: Als die Automobile erfunden wurden, gab es eine Phase, in der eine Mehrheit es für selbstverständlich hielt, dass die neuen Automobile auf der Straße auf keinen Fall erlaubt werden dürften, da sie die Pferde vor den Kutschen scheu machten. Aus der damaligen Perspektive erschien das sehr nachvollziehbar: Alle Argumente gegen die Autos auf den Straßen waren absolut schlüssig und verständlich. Trotzdem fahren jetzt Autos auf den Straßen.

Enno Schmidt erklärte mir, er habe aufgehört, die Argumente gegen das bedingungslose Grundeinkommen immer wieder neu entkräften zu wollen. Denn dadurch werde die alte Perspektive nie verlassen. Stattdessen konzentriere er sich inzwischen darauf, das Bewusstsein der Menschen für eine veränderte Perspektive zu öffnen, in dem er nur noch über die konkreten Fakten des bedingungslosen Grundeinkommens informierte. Seine Devise lautete: »Je mehr Menschen über Faktenwissen zu diesem Thema verfügen, desto besser, weil nur das konkrete Faktenwissen und eine unermüdliche Aufklärung über die gesellschaftlichen Zusammenhänge und derzeitigen Entwicklungen zu einem Perspektivwechsel führen können.« Dagegen hielt er es für verschwendete Zeit (»die wir nicht haben«), uns immer wieder erneut an Argumentationsketten abzuarbeiten, deren Ziel es sei nachzuweisen, dass »das bedingungslose Grundeinkommen nicht machbar ist«.

Ich sehe deutliche Parallelen zum derzeitigen Thema Inklusion. Zumal auch deshalb, weil beide Themen konstruktive Antworten auf ein zukünftiges Problem sind, das sich bereits jetzt abzeichnet: Verlust von Arbeitsplätzen und grundsätzliche Veränderungen der Arbeitswelt durch Künstliche Intelligenz. (Der tagtäglich stundenlang im Garten hin und hersurrende Rasenroboter meiner Eltern ist nur der Anfang). Kaum jemand kann sich zu diesem Zeitpunkt vorstellen, dass sehr viele Menschen bald sehr viel weniger, bzw. ganz anders arbeiten werden als heute. Und es zeichnet sich ab, dass es zum Problem werden wird, dass wir ein System erschaffen haben, in dem der (innere) Selbstwert und das (äußere) Ansehen eines Menschen von seiner Arbeitsleistung (und unserer Vorstellung davon, was ›Arbeitsleistung‹ ist) abhängt — und von dem Geld, das er mit dieser Arbeit verdient.

Was passiert, wenn die Arbeit und die Berufe, die wir kennen, in großen Teilen überflüssig werden? Wenn Arbeit von Menschen zu teuer wird, als dass alle damit ausreichend verdienen können? Verlieren dann all diese Menschen ihre Lebensgrundlage, ihr Ansehen und ihren Selbstwert? Keine gute Aussicht. Wir müssen also erstens darüber nachdenken, den Wert eines Menschen unabhängig von seiner Arbeitsleistung zu betrachten, zweitens Arbeit neu zu definieren und drittens über eine Umverteilung der finanziellen Mittel nachdenken. Langfristig wahrscheinlich global.

Kurz: Es ist wichtiger denn je, Bildung nicht länger auf Ausbildung bester ökonomischer Startvoraussetzungen zu reduzieren, sondern den Fokus darauf zu richten, was Bildung eigentlich bedeutet: Persönlichkeitsbildung und die Entfaltung individueller Potenziale. Was bringt jeder einzelne Mensch mit und wie kann er seine Stärken entwickeln, entfalten und diese als soziales und symbolisches Kapital in diese Gesellschaft einbringen — mit dem Ziel eines selbstbestimmten und erfüllten Lebens? Wenn wir Bildung in diesem Sinne verstehen, müssen wir über Bildungskonzepte nachdenken, die Vielfalt begünstigen.

Ich werde den Argumenten gegen Inklusion (also gegen das, was derzeit die meisten für Inklusion halten) in diesem Buch nicht widersprechen. Sondern stattdessen ein konkretes Konzept aufzeigen, von dem ich hoffe, dass es einen Perspektivwechsel hin zu einem positiven Verständnis von Vielfalt initiieren kann.

Denn meiner Erfahrung nach ist ein Perspektivwechsel nur auf zwei Arten möglich: Durch eine grundlegende Erschütterung — hervorgerufen durch eine schmerzhafte Krise (die uns hoffentlich erspart bleibt) — oder wie von Enno Schmidt vorgeschlagen: Durch konkrete Informationen.

Ich möchte daher mit diesem Buch dazu einladen, ein konkretes und pragmatisches Inklusions-Konzept kennenzulernen, eigene Erfahrungen damit zu machen und auf diese Weise einen Perspektivwechsel anregen — einerseits durch eine Sensibilisierung dafür, was Vielfalt tatsächlich bedeuten kann und andererseits durch die detaillierte Darstellung eines methodischen Beispiels für inklusiven Unterricht:

Der von mir in jahrelanger Praxis entwickelte Ansatz des partizipativen Theaterunterrichts ist ein Beispielhaftes Konzept für Demokratische Führung und damit Ausgangspunkt für eine inklusive Lernkultur. Denn ein Konzept der Vielfalt, in dem alle Beteiligten das Eigene einbringen können, erfordert eine demokratische Führung. Diese muss zunächst von der Lehrkraft ausgehen. Wie aber eine solche demokratische Führung konkret funktioniert und erlernt werden kann, wird von der Lehrkraft transparent gemacht, so dass alle Beteiligten Schritt für Schritt lernen, selbst demokratisch und verantwortungsvoll führen zu können.

Das vorliegende Konzept hebt sich von anderen künstlerischen Fächern und/oder Initiativen in Schulen ab. Kulturpädagogische Programme in Deutschland (wie z.B. TUSCH [Theater und Schule] oder das Kulturagenten-Programm) und die musischen Fächer im Lehrplan setzen auf einen kulturvermittelnden Ansatz. Das vorliegende Konzept setzt nicht nur auf Vermittlung, sondern ermächtigt junge Menschen darüber hinaus zu selbstständigem künstlerischen Denken und Handeln: Heranwachsende lernen nicht nur bestehende künstlerische Verfahrensweisen zu verstehen und zu erproben — sondern diese in Frage zu stellen und autonom handelnd zu überschreiten. Damit liegt diesem Konzept ein innovatives, weil zukunftsgerichtetes Bildungsverständnis zugrunde, das die Jugendlichen zu Entscheidungsträger*innen und kreativen Gestalter*innen ihrer eigenen Themen und Anliegen macht.

Der Ansatz basiert auf der gesamtgesellschaftlichen Idee, Diversität für jeden Menschen produktiv erfahrbar und lebbar zu machen. Damit stellt sich dieses Konzept der komplexen und in die Zukunft gerichteten Herausforderung, sehr unterschiedlichen Menschen ihre Gemeinsamkeiten aufzuzeigen und sie gleichzeitig in ihrer jeweiligen individuellen Autonomie zu bestärken. Die Wirksamkeit dieses Ansatzes wird dadurch sichtbar, dass die Qualität der Arbeit steigt, je heterogener die Gruppen sind. Damit leistet dieses partizipative Konzept einen wesentlichen Beitrag zu Inklusion und demokratischem Handeln.

Was ich hier vorstellen möchte ist ein praxisnahes Konzept, das sich jeder Mensch in der täglichen, pädagogischen Praxis mit Jugendlichen selbst anverwandeln, konkret umsetzen und nach eigenen Bedürfnissen und Anforderungen modifizieren und immer weiter entwickeln kann. Vielleicht kann dies ein Startpunkt sein, die real existierende Vielfalt in unseren Schulen tatsächlich endlich als Bereicherung und Ressource und nicht als zusätzliche Belastung zu erleben.

Wir sollten Inklusion noch nicht aufgeben, sondern eher einen Schritt weiter gehen — dahin, wo Vielfalt anfängt Sinn zu machen und für alle Beteiligten spürbar erfolgreich ist. Und vielleicht müssen wir dann noch ein neues Wort erfinden, das noch unbelastet ist von den negativen Erfahrungen, die jetzt fälschlicherweise mit dem Begriff »Inklusion« verbunden sind. Ich fange damit an und schreibe im Folgenden über PARTIZIPATION und DEMOKRATISCHE FÜHRUNG; denn auf diesen thematischen Säulen steht ein größer gedachtes Konzept von Inklusion. (Mehr dazu auch auf meinem Blog www.maikesblog.de und im Essay - Teil [ab S. →] dieses Buches, in dem sich ausgewählte Texte aus meinem Blog befinden).

1 In dieser Publikation möchte ich alle sozialen Geschlechter ansprechen. Da es aber noch keine generelle Lösung dafür gibt, die nicht den Lesefluss erheblich stört, verwende ich in meinen Formulierungen getreu dem Prinzip der Vielfalt — auch der Sprache — eine Mischung der gängigen Schreibvarianten.

1

Perspektivwechsel: Bildung statt Ausbildung — Vielfalt statt Einfalt — Demokratische Führung statt Kontrolle

1.1 Ausgangssituation

Unser Bildungssystem ist nicht zukunftsfähig. Unsere Schulen bilden in keiner Weise den vorhandenen Reichtum an Potenzialen ab, welchen die Kinder und Jugendlichen mitbringen. Immer mehr Kinder und Jugendliche zeigen Stress-Symptome bzw. Motivationsverlust. Die einen arbeiten emsig und recht freudlos auf Noten und Punkte hin und fragen sich nach dem Abitur oder einem anderen Abschluss relativ orientierungslos, was der ganze Stress gebracht hat, die anderen verlassen die Schule ohne Abschluss. Besondere Begabungen werden nicht entdeckt und in der Folge nicht gefördert.

Die Vermittlung von Faktenwissen verliert durch die Digitalisierung ihre Bedeutung als primäre Aufgabe des Bildungssystems. Stattdessen tritt die Vermittlung von Fähigkeiten in den Vordergrund, vorhandenes Wissen zu finden und zu nutzen, zu verstehen, zu gestalten, kritisch zu hinterfragen, es in sinnvolle Kontexte und Bezüge einzuordnen und vor allem: sich selbst in Beziehung dazu zu setzen.

Auch im Hinblick auf die sich rasant verändernde Arbeitswelt durch selbstlernende Algorithmen, Machine Learning usw., muss es noch viel mehr als vorher um die Ausbildung von Kommunikations- und Beziehungsfähigkeit gehen, um die Ausbildung von Empathie, Kreativität und selbständigem Denken und nicht zuletzt um die ganz konkrete Ausbildung der Fähigkeit, demokratisch zu führen, im Sinne von Verantwortung übernehmen.

Das vorliegende Gesamtkonzept zum partizipativen Theaterunterricht und zur Demokratischen Führung, das Vielfalt als Ausgangspunkt aller Prozesse nimmt, stellt eine Weiterentwicklung und Zusammenführung meiner bereits bestehenden Publikationen dar, verortet das zugrundeliegende partizipative Gesamtkonzept im aktuellen gesellschaftlichen Kontext und stellt die Leitfrage, die Ausgangspunkt jeglicher Selbstreflexion sein sollte: Wie müssen Lern- und Gestaltungsprozesse geführt werden, damit Diversität zur Grundbedingung und zum Motor wird — für ein zeitgemäßeres und erweitertes Bildungsverständnis?

Die Basis für die gesamte Arbeit bildet das Konzept der DEMOKRATISCHEN FÜHRUNG, aufbauend auf dem Ansatz des »Theatralen Mischpults« und der Statuslehre von Keith Johnstone. In der vorliegenden Publikation werden erstmalig die beiden Konzept-Säulen meines Ansatzes — Partizipation und Beziehungsgestaltung — als Gesamtkonzept demokratischer Führung zusammengeführt.

Das im Folgenden beschriebene Gesamtkonzept kann insofern gesellschaftsverändernd wirken, als es Demokratie von der Basis her konkret lebbar macht. Es entlarvt und reflektiert destruktive, blockierende Machtverhältnisse (exklusive Systeme und Verfahrensweisen) und zeigt konkrete, praxistaugliche Strategien auf, wie Gesellschaft durch ein Konzept der demokratischen Kommunikation und durch Prinzipien offenen Wissens (Fragmentarisierung, Gamification) den Reichtum von Diversität wirkmächtig entfalten kann.

Dieser konzeptionelle Ansatz eignet sich dafür, ein grundsätzlich neues, inklusives Verständnis von Bildung zu initiieren, welches auf der Autonomie und dem individuellen Potenzial des Einzelnen beruht und auf dem Prinzip menschlicher Begegnung und Kooperation — statt Konkurrenz (siehe auch Film ACT-Story auf www.act-berlin.de).

1.2 Theater als wirkmächtiges Bildungsmittel

Das vorliegende Konzept geht von der Diversität einer Gruppe als Grundbedingung aus und initiiert Ermächtigungsprozesse auf der Basis des Open-Knowledge-Prinzips durch den Ansatz des biografischpartizipativen Theaters. Dieser Ansatz versteht Theater — im Sinne von Theater spielen und Theater kreieren — als das wirkmächtigste Bildungsmittel unserer Zeit, das neue Antworten auf die Herausforderungen der Gegenwart geben kann. Die im Rahmen dieses Ansatzes erprobten Strategien des Lernens und Gestaltens und der demokratischen Führung können sowohl auf andere Unterrichtsfächer als auch auf jegliche Lebensund Arbeitskontexte übertragen werden.

Durch die künstlerische — nämlich forschende, fragenorientierte und Kreativität begünstigende — Arbeit werden Erfahrungsräume eröffnet, die mögliche Formen gelebter Inklusion in der konkreten Arbeit und Begegnung vermitteln.

Der partizipative Ansatz bietet Transparenz und unmittelbare kognitive Erfahrbarkeit demokratischer Prozesse — sowohl bei den Lehrkräften als auch bei den Jugendlichen.

Die hier dargelegten Lernstrategien weisen Parallelen zu den Arbeitsweisen der sich rasant entwickelnden technischen Bewegung auf: Dort ist es selbstverständlich, dass viele Menschen gleichzeitig an der Lösung eines Problems arbeiten, dass innerhalb eines einfach zu erlernenden Referenzsystems (low floor) grenzenlose Kombinations- und Erweiterungsmöglichkeiten (wide walls) bestehen und dass es jederzeit möglich ist, vollkommen neue Entdeckungen zu machen (high ceiling). Es sind diese Lernstrategien, die auf spielerische Weise individuelle Ermächtigungsprozesse initiieren und zu höheren Leistungen führen, als es in einem normierten (Schul-) System möglich ist.

Das Theatrale Mischpult, ein zentrales Arbeitsinstrument in der biografisch partizipativen Arbeit, funktioniert genau auf diese Weise. Nach dem Prinzip Open Knowledge durch Fragmentarisierung wird Theaterfachwissen in kleinstmögliche Einheiten zerlegt und transparent zur Verfügung gestellt. An den gleich einem Buffet bereitgestellten Mitteln können sich die Jugendlichen ihren individuellen Bedürfnissen und Anliegen entsprechend bedienen und finden selbstbestimmt zu künstlerischen Lösungen. Neue Entdeckungen sind jederzeit möglich. Dabei werden nicht nur Methoden für die inklusive Arbeit mit Schüler*innen vermittelt, sondern auch Instrumente zur spielerischen Selbstevaluation.

Die beschriebenen Prinzipien sind von mir in der direkten Praxis als Lösung der vielfältigen Probleme im herkömmlichen Unterricht entwickelt worden. Sie entsprechen aber überraschenderweise zahlreichen ähnlichen Ansätzen überall auf der Welt (z.B. auch dem Prinzip der agilen Softwareentwicklung). All diese Ansätze basieren auf folgenden Prinzipien:

Ziele erarbeiten und formulieren

Erfahrungsräume bieten

Selbstreflexion trainieren und immer weiter verfeinern

1.3 Entstehung und Grundlage des Ansatzes

Als Lehrerin und Theaterpädagogin habe ich im Rahmen meiner 17-jährigen Lehrtätigkeit im verbeamteten Schuldienst die Erfahrung gemacht, dass die Potenziale und Talente von Jugendlichen im System Schule meist unentdeckt blieben, bzw. als Störung wahrgenommen wurden.

In Neukölln »spielten die Lehrkräfte nur noch Schule«, während die Jugendlichen sich längst komplett verabschiedet hatten, da sie im allgemeinen Wettstreit um die bestmöglichen Ausgangsbedingungen bereits als Verlierer dastanden und sich jeglicher Anpassung verweigerten. Ich habe, damals noch als Lehrerin tätig, nach dem Trial-&-Error-Prinzip damit begonnen, die Bedingungen des Unterrichts an die Fähigkeiten und Bedürfnisse der Jugendlichen anzupassen, statt umgekehrt zu versuchen, die Jugendlichen ›passend‹ zu machen. Ich habe Wege gesucht, um sie konkret und erfolgreich zur Teilhabe zu ermächtigen, ihre Stärken sichtbar zu machen und deren Weiterentwicklung individuell zu ermöglichen — und daraus neue Lern- und Arbeitsstrategien entwickelt. Diese werden hier erstmals als Gesamtkonzept im Kontext der Demokratischen Führung dargestellt.

Das hier beschriebene Konzept geht über bestehende Ansätze in der Arbeit mit Jugendlichen hinaus, weil es die zugrundeliegenden Kommunikations- und Beziehungsformen systematisch offenlegt und mit thematisiert, was einen gelingenden demokratischen Arbeitsprozess ausmacht.

Es handelt sich bei diesem Ansatz um eine spezifisch künstlerische und pädagogische Herangehensweise, bei der die verschiedenen künstlerischen Mittel des Theaters anhand des THEATRALEN MISCHPULTES in Form einer ›Spielwiese‹, einem offenen Lernangebot, strukturiert werden. So wird individuelle Teilhabe ermöglicht und eine demokratische Kommunikationskultur etabliert — basierend auf gegenseitiger Anerkennung und Wertschätzung (Beziehungsgestaltung).

Im Gegensatz zu klassischen Lehrplänen eröffnet das Theatrale Mischpult durch eine fragmentarisierte und damit individuell zugängliche Aufsplittung von Lehrmaterial den Jugendlichen einfache Zugänge, die sie individuell dort abholen, wo sie gerade stehen. Die Lehrkraft/Spielleitung kreiert einen DEMOKRATISCHEN RAUM, der es jedem ermöglicht, miteinander und mit dem Material in Beziehung zu treten. So wird eine Offensive des Spielens, Kreierens und Erfindens initiiert.

Fester Bestandteil dabei ist die ständige Reflexion und gegenseitige Verständigung über die gewonnenen individuellen Lernerfahrungen im Kollektiv. Diese strukturell verankerte und ausdifferenzierte Feedback-Kultur, die von der Autonomie der beteiligten Personen ausgeht, ersetzt die zentrale Bewertung von außen und führt — im Gegensatz zu den oftmals geäußerten Befürchtungen — zu sichtbaren Leistungssteigerungen bei allen Beteiligten.

Das vorliegende Konzept wurde von mir in der direkten Schul-Praxis mit meinen Neuköllner Schüler*innen entwickelt und wird heute in der Arbeit der Bildungsinitiative ACT e.V. in ständiger Praxis auf immer neue Weisen individuell realisiert und an andere weitergegeben.

1.4 Die innere Haltung der Anleitenden

Der Erfolg bei der Umsetzung des vorliegenden Konzepts in die Praxis hängt entscheidend davon ab, ob wir Anleitenden bereit sind zu einem grundsätzlichen Perspektivwechsel.

Jegliche pädagogische Arbeit mit Jugendlichen ist eine Art ›Königs-Disziplin‹, die hochkomplexes Knowhow und Erfahrungswissen erfordert und jede*n Anleitende*n immer wieder neu fordert. Versierter und souveräner werden wir nur dann, wenn eine Bereitschaft zur ununterbrochenen Selbstreflexion und zur Modifikation der bestehenden Annahmen gegeben ist.

Tatsächlich bedeutet diese Arbeit eine ständige Auseinandersetzung mit sich selbst — mit dem Ziel immer besser zu werden, das heißt, immer besser darin zu werden, den vorhandenen, aber oft verborgenen, zahlreichen Möglichkeiten und Potentialen der Jugendlichen immer versierter und facettenreicher ans Licht zu verhelfen.

Um dabei immer besser zu werden, brauchen wir den Willen, uns selbst immer weiter zu entwickeln um — einerseits — immer mehr vom Ganzen, Allgemeingültigen und — andererseits — vom Einzelnen, Persönlichen zu verstehen. Besser werden können wir nur im tatsächlichen Tun, in der wirklichen Begegnung mit anderen, und in der beständigen Reflexion darüber. Es gibt keine Gesetze für Erfolg, die wir einfach auswendig lernen und anwenden können — aber es gibt Koordinaten für eine zunehmend gelingende, zunehmend komplexere Selbstreflexion — aus der sich wiederum ein zunehmend professionelleres und eigenständigeres Handeln entwickelt. Deshalb ist die Bereitschaft aller Beteiligten zur ständigen Selbstreflexion maßgebliche Grundlage für das Gelingen.

Die zentrale Herausforderung bei der Anleitung künstlerischer und pädagogischer Prozesse mit Jugendlichen liegt darin, den Prozess lebendig und produktiv zu halten — und die Wachheit der Jugendlichen nicht der Angst vor dem eigenen Versagen oder irgendeinem starren System vorgefertigter Erwartungen oder Vorgaben zu opfern.

1.5 Die zwei Grundprinzipien des Konzeptes: Beziehungsgestaltung und Partizipation

Das vorliegende Konzept setzt bei den Grundvoraussetzungen für kreative, wertschöpfende Arbeitsprozesse an und vermittelt konkrete Strategien in den Feldern Beziehungs- und Kommunikationsgestaltung, Partizipation und DEMOKRATISCHER FÜHRUNG.

Nach wie vor geschieht schulisches Lernen vorwiegend über die Ausrichtung an vorgegebenen Normen, über Leistungsvergleich mit dem Ziel der Schaffung von möglichst günstigen Ausgangsbedingungen im allgemeinen Wettstreit. Was die Inklusionsverordnung zu einem Widerspruch in sich macht: Inklusion soll innerhalb eines exklusiven Systems realisiert werden. Dies ist — ganz einfach gesagt — die Quadratur des Kreises und kann nicht gelingen. Der Burnout zahlreicher Lehrkräfte und die Unzufriedenheit großer Elternteile sind vorprogrammiert — vor allem aber die persönliche, schmerzhafte Erfahrung des Scheiterns einer ganzen jungen Generation, welche die Schulzeit als eine ununterbrochene Begrenzung ihrer Persönlichkeit und ihrer Möglichkeiten in Erinnerung behalten wird.

1.5.1 Das Prinzip des Lernens im Sinne von to learn und to create

Unser Bedürfnis nach Absicherung führt leicht zur Sehnsucht nach oder dem Glauben an »in Stein gemeißelte« Erfolgs-Rezepte. Diese gibt es nicht, weil grundsätzlich jegliches Wissen im Sinne von Erkenntnis beweglich ist. Wer versucht, die eigene Verantwortung für den Prozess an vermeintlich richtige Kategorien und ›Gesetze‹ abzugeben (»Malen nach Zahlen«), tötet damit genau das ab, worum es in diesen Prozessen überhaupt nur gehen und was darin entstehen kann — nämlich Wachheit und Wissenszuwachs durch lebendige Begegnung und Kommunikation. Diese muss immer wieder neu entstehen. Nur im ständigen wachen Austausch kann das Neue, Interessante, Überraschende passieren. Wer sich absichert, verhindert das, worum es eigentlich gehen soll. Lernen heißt nicht to memorize, sondern to learn.

Das vorliegende Konzept wird dem Widerspruch zwischen dem Wunsch nach Absicherung auf der einen Seite und der Notwendigkeit von ergebnisoffenen Prozessen auf der anderen Seite gerecht und hebt sich daher von didaktischen Vorgehensweisen ab. Jegliche Didaktik wird hier überwunden durch die Bereitstellung einfacher Grundkoordinaten und spielerischer Gesetzmäßigkeiten, innerhalb derer riesige Erfahrungsfelder eröffnet werden, in denen sich jede*r selbst den eigenen Weg erarbeiten muss. Unzählige individuelle Lern- und Gestaltungswege werden möglich — und sind dennoch niemals beliebig.

Denn selbstverständlich gibt es Aspekte, die einen erfolgreichen demokratischen Prozess kennzeichnen und hier in Form von Prinzipien Orientierung geben. Diese Aspekte ermöglichen zu jedem Zeitpunkt ein in sich schlüssiges und gerichtetes Handeln und bilden bei der beständigen Reflexion darüber die orientierende Basis. Die Prozesse an sich aber bleiben offen. Denn: Das, was den Zauber eines gelungenen Prozesses ausmacht, können wir auf genau dieselbe Weise — also in diesem speziellen Zusammenspiel von Know-how, äußeren und inneren, persönlichen Gegebenheiten und Zufall (!) — nur ein einziges Mal (!) erzeugen. Würden wir schrittweise alle Komponenten und Phasen und Augenblicke noch einmal herstellen (was glücklicherweise unmöglich ist), also alles auswendig noch einmal reproduzieren, würden wir etwas Totes hervorbringen (to memorize).

Das Wichtigste ist, (wirklich!) zu verstehen, dass das Scheitern zu einem gelungenen Prozess dazugehört und dass wir alle nur dann Erfahrungen machen können, wenn ›Fehler‹ erlaubt sind. Und nicht nur das: ›Fehler‹ sind kreative und eigensinnige Umwege, die die Ortskenntnis erhöhen.

In dieser Hinsicht können wir von den Erkenntnissen im Forschungsfeld zur Künstlichen Intelligenz eine Menge lernen: Glaubte man zu Beginn dieser Entwicklung noch, dass wir einem Computer alles vorhandene Wissen zur Beherrschung beispielsweise des Gesellschaftsspiels Dame eingeben müssten, um dem Computer beizubringen, Dame zu spielen, wissen wir heute, dass das bei selbstlernenden Algorithmen nicht mehr nötig ist. Es wäre viel zu ineffizient. Heute braucht es lediglich die Regeln des Spiels und der Computer lernt selbstständig das Spiel Dame, in dem er aus sehr vielen Spiel-Partien Erfahrungen und Optimierungs-Strategien herausfiltert. Der Computer lernt Dame, indem er Dame spielt und dabei Erfahrungswissen ansammelt — auch und gerade durch verlorene Partien.

Diese Form des Lernens (to learn) ist nachweislich wesentlich effizienter, als sich bereits vorhandenes Wissen zu einem Thema chronologisch von A—Z »raufzuschaffen« (to memorize, auch als »Bulimie-Lernen« bekannt). Vor allem aber wird auf diese Weise des spielerischen Denkens genau jene Fähigkeit im Menschen geweckt und gestärkt, die ihn der Maschine überlegen macht: Kreativität. Der Computer kann lernen (im Sinne von tolearn) und damit wird er den Menschen übertreffen können und macht es bereits. Der Mensch aber kann entgegen aller Logik und Strategie das absolut Unvorhergesehene machen — und damit Neues entdecken und erschaffen (to create).

Dieses Prinzip des Lernens (im Sinne von to learn und to create) nenne ich im hier beschriebenen Konzept »Skala der Möglichkeiten statt Tabelle«. Es bedeutet: Statt eine Tabelle auswendig zu lernen, in der »alles bisher vorhandene, wichtige Wissen zum Thema drin steht«, müssen die zugrunde liegenden, grundsätzlichen Parameter dieses Wissensfeldes transparent gemacht und dann eine Skala der Probier-Möglichkeiten von »1 bis unendlich« eröffnet werden.

Kurz gefasst geht es sowohl bei unseren eigenen Lernprozessen während des Unterrichtens als auch bei den Lernprozessen der Schüler*innen immer um diese drei Grundvoraussetzungen:

Curiosity!

Sei neugierig! Bleibe immer offen für das, was wirklich passiert!

Embrace the mess!

Begrüße das Chaos und verzichte auf vorschnelle Bewertung!

Practise reflection!

Trainiere Selbstreflexion! Was ist in dir wirklich passiert, was hast du gedacht und empfunden — und in welchem Verhältnis steht das zu den inneren und äußeren Erlebnissen der anderen und den Wissens-Parametern des thematischen Feldes?

[http://www.ted.com/talks/ramsey_musallam_3_rules_to_spark_learning]

Die Grundvoraussetzung, um solche Lernprozesse bei anderen zu initiieren, ist wiederum ein hoher Selbstwert bei den Anleitenden, den Lehrkräften [siehe auch Kapitel 3.1Die innere Haltung der Lehrkraft, S. →]. Denn, um ein Feld der Möglichkeiten zu eröffnen, müssen wir zulassen, dass wir selbst nicht mehr diejenigen sind, die das Wissen kontrollieren und verteilen. Wir müssen Freude daran entwickeln, uns auf das Unbekannte einzulassen. Wir müssen uns selbst von der (vermeintlichen) Gewissheit der ›Tabelle‹ verabschieden und uns mit Hilfe weniger Orientierungskoordinaten (Erfahrungswissen, Fachwissen usw.) auf einen unberechenbaren Prozess einlassen und dabei für die uns anvertrauten Jugendlichen die Verantwortung übernehmen — ohne uns im Vorfeld absichern zu können darüber, was passieren wird.

Um solche Prozesse verantwortungsvoll führen zu können, müssen wir Selbstwert — im Sinne einer inneren Hochstatus-Haltung [siehe Statuslehre, Kapitel 5.2.2, S.→] — entwickeln und uns in den Dienst einer größeren Aufgabe stellen. Das heißt: Nicht wir selbst, mit unseren persönlichen, kulturellen, anerzogenen Ansichten und Erwartungen sind im Arbeitsprozess von Bedeutung, sondern unsere Fähigkeit, in anderen Menschen etwas in Bewegung zu bringen, eine Gruppendynamik zu erschaffen, in der die Einzelnen zu ihrer jeweils individuellen Hochform auflaufen können. Durch unsere Anwesenheit und Interaktion muss etwas möglich werden können, was vorher nicht möglich war.

In einem zweiten bedeutsamen Schritt geht es dann später darum, diese Form der Führung zunehmend an die Schüler*innen abzugeben, indem wir während des gesamten Prozesses transparent machen, auf welchen grundsätzlichen Koordinaten unsere Führung beruht und indem wir die Jugendlichen führen lassen, damit sie ihre eigenen Erfahrungen sammeln können — wie der selbstlernende, Dame spielende Computer.

1.5.2 Neue Beziehungs- und Kommunikationsgestaltung im Bildungssystem

Das gesamte Konzept des offenen, partizipativen Lernens (to learn) und des Kreierens (to create) lässt sich auch wie folgt beschreiben:

Durch die Bereitstellung von Feldern offenen Wissens (wie z.B. THEATRALES MISCHPULT, »Actionfiguren auf Bahnen« [siehe S. →ff], oder im technischen Bereich: »Little Bits«) und spielerischen Zugängen dazu (Gamification) entstehen im Kollektiv, in der Interaktion, mit gemeinsamer Zielsetzung vielfältige Beziehungen und sowohl kollektive als auch individuelle Erlebnisse und Lernerfahrungen. Wenn diese ununterbrochen sowohl individuell als auch im Kollektiv reflektiert werden, entsteht ein ungeheurer Erfahrungs- und Wissenspool.

Alles, was in der Gruppe an Erfahrungs- und Faktenwissen zusammenkommt, kann sich gegenseitig bereichern und immer wieder zu Neuem führen, wenn die Gruppe von einer ständig wachsenden Plattform gemeinsamen Wissens ausgeht und sich immer wieder darauf und aufeinander bezieht. Und wenn jeder alles zeigen und zur Verfügung stellen kann und will, weil keine Demütigung in Form von Urteilen zu erwarten ist.

Die Konzept-Säulen Beziehung und Partizipation bedingen einander. Das Konzept zur Beziehungs- und Kommunikationsgestaltung durch die Statuslehre ist nicht getrennt vom partizipativen Theaterunterricht zu sehen, sondern als wesentliche Grundvoraussetzung, damit der Ansatz tatsächlich partizipativ und demokratisch ist und auf diese Weise zum Erfolg führt.

Da unser Gehirn ein sozial tickendes Organ ist [siehe Axel Burow, Positive Pädagogik, 2011] und wir durch lebendige Interaktion und beständigen Informations-Austausch unendlich viel mehr lernen als allein, ist diese Koppelung der beiden Säulen die Startrampe in ein geradezu ›explodierendes‹, sich immer weiter potenzierendes Lernen und Gestalten.

Grundvoraussetzung ist es, die existierenden, verschiedenen Referenzsysteme, auf die wir selbst und alle einzelnen Gruppenmitglieder sich beziehen, nicht in Konkurrenz zueinander zu bringen (und damit zu isolieren), sondern stattdessen als Ausgangspunkt aller Arbeitsprozesse ein neues, gemeinsames Referenzsystem zu erschaffen, auf das sich alle beziehen und in das sich alle einbringen können, indem es von allen gemeinsam ständig weiterentwickelt wird.

Deshalb ist es wichtig, Allgemeingültigkeitsbehauptungen (»Theater, Kunst, Deutsch, Religion, (...) Unterrichten, Lernen, Leben muss man so und so machen«) zu unterbinden. Das eine darf neben dem anderen stehen bleiben.

Man muss gar nichts. Wir dürfen alles.

Erkenntnisse lassen sich nicht auswendig lernen, sondern nur selbst individuell erfahren. Sie sind das Ergebnis freien, selbständigen Denkens, Verwerfens und Wieder-Neu-Denkens. Ein solcher Prozess kann nur fruchtbar werden, wenn er individuell sein darf.

Verschiedenheit in Ansichten und Herangehensweisen ist erwünscht. Es dürfen auch alle verschieden bleiben. »Richtig« und »Falsch« gibt es nicht. »Richtig« und »Falsch«, »Besser« und »Schlechter«-Bewertungen verengen die Perspektive und schränken die unendlichen Denk- und Gestaltungs-Möglichkeiten unseres Verstandes ein.

Unser Gehirn hat Freude daran, ununterbrochen mit anderen gemeinsam im Informations- und Beziehungs-Fluss zu bleiben, Daten und Handlungen zu kopieren, zu spiegeln und neu zu prozessieren. Die Energien unseres Geistes werden dadurch aus den engen, einschränkenden Bahnen befreit und können ungehindert fließen.

Diese Erfahrung erzeugt ein Glücksgefühl. Denn unser Hirn reagiert lustvoll auf spielerische und kollektive Lernprozesse, in die wir uns ständig neu, fragend, interagierend, probierend und forschend einbringen können.

Das gilt für alle Menschen. Ob jung oder erwachsen.

Unsere Aufgabe als Impulsgeber*innen und Anleitende solcher Prozesse ist es, diese hoch komplexen, vielschichtigen Abläufe als »Unterrichts-Dramaturgen*innen« und Beziehungsgestalter*innen zu führen. Wir müssen zu jeder Zeit gewährleisten, dass diese Prozesse stattfinden können und niemand Sorge haben muss, in seinem Selbstwert beschädigt zu werden. Weder von uns, noch von den jeweils anderen anwesenden Jugendlichen.

Ziel ist es, auf diese Weise zu führen und — durch die im methodischen Teil beschriebenen Prinzipien — alle Beteiligten Schritt für Schritt zu ermächtigen, diese Form der Führung selbst übernehmen zu können.

Provokant kann man — angelehnt an Roland Barthes — formulieren: Eigentlich geht es darum, sich als Lehrkraft abzuschaffen. Das ist die höchste Form der Pädagogik: Der ›Tod‹ des Lehrers.

Aber keine Angst: Bis wir das mit einer Gruppe geschafft haben, dauert es ein Weilchen — und es kommen ja immer neue... Der Lehrerberuf wird, wenn wir ihn so verstehen (!) trotz aller künstlichen Intelligenz niemals aussterben, da können wir ziemlich sicher sein.

1.6 Kooperation statt Konkurrenz: Demokratische Führung durch gelingende Beziehungsgestaltung und stärkeorientierte Kommunikation

Menschen können kooperieren oder konkurrieren. Beides zusammen geht nicht. Wenn ich in Konkurrenz zu jemandem stehe, verfolge ich eine fundamental andere Strategie, als wenn ich mit jemandem kooperiere. Unser derzeitiges Schulsystem begünstigt Konkurrenzverhalten. Welche Konsequenzen ergeben sich daraus — persönlich für die Heranwachsenden und insgesamt für unser gesellschaftliches Zusammenleben?

In Konkurrenzgesellschaften ist die ursprünglich von Adam Smith nur für das Wirtschaftsleben formulierte These, dass das Streben nach partikularem Eigennutz und die sich daraus ergebende Konkurrenz auf Märkten den allgemeinen Wohlstand fördere, praktisch zu einer allgemeingültigen Werttheorie umgedeutet worden. Nach ihr sind individuelle Nutzenmaxi- mierung und Durchsetzungsfähigkeit in Konkurrenzen ohne weitere Rechtfertigung an sich gut und dienen angeblich in allen gesellschaftlichen Bereichen der Optimierung.

Die auf der Grundlage dieser Werttheorie operierenden Erziehungssysteme haben entsprechend einen narzisstischen Persönlichkeitstyp begünstigt, der nur eine verminderte Fähigkeit zur Empathie und Vertrauensbildung besitzt, jedoch einen starken Willen zur Durchsetzung eigener Interessen.

Daraus resultiert eine wachsende Entsolidarisierung, die zu Motivationsverlust, Entfremdungsgefühlen und mangelndem Interesse an wertschöpfender, über die eigenen persönlichen Interessen hinaus weisender Arbeit, führt. Bildung wird in diesem Zusammenhang zu einer streng individuellen Investition in möglichst günstige Ausgangsbedingungen im allgemeinen Konkurrenzkampf.

Sofern schulische Ausbildungs- und Anreizsysteme vor allem Personen fördern, die auf ihren persönlichen Erfolg in der Konkurrenz blicken, unterminieren sie selbst das Projekt modernen Gesellschaftswachstums.

Die zunehmende narzisstische Vereinzelung führt spürbar zu einem Verschwinden der vier demokratischen Kernkompetenzen:

Empathie:

Die Fähigkeit, sich in die Perspektive anderer hineinzuversetzen.

Toleranz:

Die Anerkennung fremder Lebensentwürfe, die nicht den eigenen Vorstellungen entsprechen.

Vertrauen:

Die Fähigkeit, mit anderen auf verschiedensten Ebenen zu kooperieren, auch, wenn die anderen unterschiedliche Lebensentwürfe verfolgen.

Identifikation:

Der Wille und die Kreativität, gemeinschaftliche Ziele zu entwickeln und zu verfolgen, die über die eigenen privaten Interessen hinausgehen.

Die Auswirkungen dieser Entwicklungen sind deutlich spürbar, sowohl bei den Jugendlichen in den Schulen (vermehrte Verhaltensauffälligkeiten und soziale Störungen), bei den Auszubildenden am späteren Arbeitsplatz und in seiner stärksten Form bei zunehmend populistisch und antidemokratisch agierenden Randgruppen in unserer derzeitigen Gesellschaft:

Es fehlt die Fähigkeit, sich ganzheitlich mit anderen und mit der eigenen gesellschaftlichen Aufgabe in Beziehung zu setzen. Dies bedeutet langfristig eine Gefährdung des gesellschaftlichen Zusammenhalts und insgesamt die Gefährdung unserer demokratischen Gesellschaft.

Durch die mit meinem Konzept konkret konzeptionell verankerte Etablierung einer wertschätzenden und inklusiven Kommunikations- und Beziehungskultur, werden bei allen Teilnehmenden die vier demokratischen Kernkompetenzen nachhaltig ausgebildet und in zahlreichen Erfahrungs-Spielräumen konkret erlebbar gemacht und kontinuierlich weiterentwickelt.

Auf diese Weise entsteht ein Resonanzraum der Selbstwirksamkeit, der es jedem teilnehmenden Menschen ermöglicht, sich in Beziehung zu setzen zu sich selbst, zu den anderen und zur Welt.

Dies geschieht durch die vier folgenden Arbeitsprinzipien:

Schaffung eines bewertungsfreien Raumes:

Vielfältige verbale, non-verbale und individuelle Erfahrungen werden zugelassen, ohne diese zu werten oder zu bewerten.

Offenheit und Vertrauen:

Interaktionen und Beiträge werden ermöglicht, die es erlauben, alle Stärken und Talente sichtbar zu machen, auch die der ›Zurückhaltenden‹ oder der ›Kritischen‹ oder der ›Störenden‹ oder all derer, die vom Erwartbaren in irgendeiner Weise abweichen.

Entscheidungs- und Verteilungsprozesse werden offengelegt; dies erhöht die Identifikation aller Beteiligten mit den Entscheidungen.

Biografische Basis:

Themen, Fragen und Inhalte von den unmittelbaren Lebenswelten der Jugendlichen werden zum Ausgangspunkt gemacht.

Learning by doing:

Verständnis braucht Praxis, Lernen braucht Erfahrung, Entwicklung braucht Selbstbeobachtung. Die Praxis ist Ausgangspunkt für Wissensaneignung. Selbstreflexion und beständiger angeleiteter Austausch im Kollektiv bilden das Fundament für eine höchst produktive Feedback-Kultur, die zentrale Bewertungen ›von außen‹ überflüssig macht.

Die vier demokratischen Führungskompetenzen

Empathie

Die Fähigkeit, sich in die Perspektive anderer hineinzuversetzen.

Toleranz

Die Anerkennung fremder Lebensentwürfe, die nicht den eigenen Vorstellungen entsprechen.

Vertrauen

Die Fähigkeit, mit anderen auf verschiedensten Ebenen zu kooperieren, auch, wenn die anderen unterschiedliche Lebensentwürfe verfolgen.

Identifikation

Der Wille und die Kreativität, gemeinschaftliche Ziele zu entwickeln und zu verfolgen, die über die eigenen privaten Interessen hinausgehen.

1.6.1 Diversität begreifen und anerkennen

Wenn viele und sehr verschiedene Menschen miteinander kooperieren wollen, müssen sie zunächst einmal verstehen lernen, wo der andere steht, wer der andere ist, was der andere will und kann, bzw. nicht will und nicht kann. Wie können das die einzelnen Mitglieder einer Gruppe herausfinden? Alle kennen das (exklusive) Konkurrenzsystem und rechnen immer mit Bewertungen. Daher sind alle Meister der Verstellung und verstecken ihre vermeintlichen Schwächen.

Allerdings verstecken sie auch ihre Stärken, weil sie diese gar nicht als solche sehen. Das bewertende Verhalten hat uns alle so sehr deformiert, dass wir verlernt haben, unseren eigenen Impulsen zu folgen und unsere Bedürfnisse überhaupt als Bedürfnisse wahrzunehmen.

1.6.2 Vision eines inklusiven Bildungssystems

Anmerkung vorweg: Ich weigere mich, diese Vision als Utopie zu betrachten, weil ich in meiner jahrelangen Arbeit mit diesem Konzept tagtäglich die sehr reale Erfahrung mache, dass Vielfalt der Schlüssel für Bildungsund Gestaltungswachstum ist.

In einem System, in dem allen klar ist, was erwünscht ist und was nicht, sortieren sich alle auf einer Skala zwischen Anpassung und Rebellion. Dabei geht das intuitive Gefühl für die eigenen Bedürfnisse, Interessen und Begabungen verloren. Vor allem aber entsteht eine Bewertung im Kopf, die einige Fähigkeiten als »wertvoller« und andere als »weniger wertvoll« abstempelt. Hier liegt das Haupt-Hindernis auf dem Weg zu gelungener Inklusion. So lange der Fähigkeit, schnell rechnen zu können, ein höherer Wert beigemessen wird (und sei es nur gefühlt), als beispielsweise der Fähigkeit, aus wenigen Brettern in kürzester Zeit eine stabile Hütte zu bauen, wird es schwierig bis unmöglich, die Vorteile von Inklusion zu erkennen.

Ich wage zu behaupten, dass Menschen, die in diesem Augenblick über 30 Jahre alt sind, große Schwierigkeiten haben, dieses wertende Denken zu überwinden, weil wir alle bereits exklusiv (im Gegensatz zu inklusiv) sozialisiert sind. Wenn es uns aber wieder möglich wäre, Berufe und Fähigkeiten unabhängig von Wertungen zu denken, dann könnte ein Mensch seine ganz eigenen Talente erkennen, weiter entwickeln und sich unabhängig von Wertungen für einen Lebensweg entscheiden, der ihn (als Menschen) erfüllt. Dabei bliebe die Frage nach dem finanziellen Auskommen. Hier sind wir wieder bei dem eingangs genannten Problem — oder der Chance? — einer sich gerade rasch verändernden Arbeitswelt. Es sind gerade die wenig erfüllenden Aufgaben und relativ stupiden Tätigkeiten, die zunehmend von Maschinen übernommen werden. Bleiben also die anspruchsvolleren, komplexeren Tätigkeiten. Selbst wenn auch in diesem Bereich Arbeitsplätze wegfallen werden, wäre es dann nicht gerade sinnvoll, vielseitig ausgebildet worden zu sein, die eigenen Stärken zu kennen und sich zuzutrauen ein eigenes Lebensmodell zu gestalten?

Es gäbe wahrscheinlich eine wesentlich größere gedankliche Freiheit, neue Berufe, Tätigkeiten und Lebensmodelle individuell für sich zu erfinden und zu realisieren, die auf gegenwärtige gesellschaftliche Veränderungen und Herausforderungen eine Antwort sein könnten. Der Wert eines Menschen ist ein Konstrukt aus Arbeitsleistung und Einkommen, das der Mensch selbst geschaffen hat. Daraus folgt, dass Menschen aber auch neue, andere Wertzusammenhänge und damit gesellschaftliche Veränderungen initiieren können — wenn sie ermächtigt wurden, selbst zu denken und den eigenen Stärken und Ideen zu vertrauen.

Warum ›lernt‹ aber bereits jedes 6-jährige Kind in der Schule, dass es ›minderbegabt‹ ist, wenn es kein Mathe kann? Das ist keine gute Voraussetzung, um Selbstwertgefühl auszubilden und sich motiviert auf die neugierige Suche nach den eigenen Stärken zu machen — zumal dafür an unseren Schulen auch viel zu wenig Gelegenheit geboten wird:

Die Schule geht nicht von den vorhandenen Potentialen der heranwachsenden Generation aus. Sondern von den angeblichen Interessen eines kapitalistischen Wirtschaftssystems.

Ich schreibe »angeblich«, weil auch ein kapitalistisches Wirtschaftssystem nicht per se ›böse‹, vor allem aber von Menschen gemacht und daher veränderbar, ist und wir nicht wissen können, was »der Markt, bzw. die Gesellschaft, morgen braucht«. Eventuell hätte da auch die neue, heranwachsende Generation innovative Ideen dazu, wenn sie im Ganzen ermutigt würde, verschiedenste Kompetenzen als gleich wertig zu betrachten. Denn wie auch immer sich die Welt entwickeln wird: Wir kommen um die Vielfalt und Komplexität unserer heutigen Welt nicht herum, die auf einer Skala von 1 bis unendlich die verschiedensten Fähigkeiten und Talente braucht. Natürlich können wir auch wie Präsident Trump anfangen, wieder Mauern zu bauen, oder uns mit unseren Federtaschen einen kleinen Sichtschutz bauen, damit der Tischnachbar nicht abschreiben kann; aber ist das die Welt, in der wir leben wollen?

Für uns Erwachsene ist in gewisser Hinsicht »der Zug abgefahren«: Wir können uns nur noch bedingt aus einem wertenden Denken befreien, wobei ich jeden Menschen nur ermutigen kann, dauerhaft zu trainieren, diese ständigen Bewertungen zu unterlassen — es ist erstaunlich, wie sehr sich die eigene Perspektive erweitert und wieviel Positives sichtbar wird, wenn wir unsere eigenen Wertungen anfangen in Frage zu stellen.

Die große Hoffnung liegt aber tatsächlich bei den Jugendlichen. Bei einem Kind, das ganz selbstverständlich in der Schule mit einem Kind mit Down-Syndrom aufwächst, entsteht diese Beschriftung nicht. Es gibt dann nicht »das Kind mit Down-Syndrom« — es gibt nur den Freund Alex, fertig. Die mitleidige defizitäre Wahrnehmung hat dieses Kind gar nicht, weil es eine komplexe persönliche Bindung zu Alex hat und dessen Stärken kennt. Der Aspekt des Down-Syndroms ist einer unter unzähligen anderen Aspekten von Alex Persönlichkeit.

Genauso verhält es sich mit verschiedenen kulturellen oder geschlechtlichen Hintergründen. Wir, die Erwachsenen, sind es, die Schule ist es, die die Verantwortung dafür tragen, wie die heranwachsende Generation mit Diversität umgehen und darüber denken wird. Wenn es normal ist, dass alle verschieden sind und dies erwünscht ist und sich das in den verschiedensten Leistungen auch im Schulsystem abbildet, verschwinden bei Kindern und Jugendlichen sehr schnell von Haus aus mitgebrachte, eventuelle Vorurteile und Wertungen. Und damit auch der »Wunsch der Kinder nach Noten«, der irrsinnigerweise oft als Begründung angegeben wird, warum wir die Noten nicht abschaffen sollten (!).

Ich selbst erlebe seit Jahren in meiner tagtäglichen Arbeit mit Jugendlichen das Gegenteil, nämlich eine totale Selbstverständlichkeit im Umgang mit Vielfalt — und ohne Bewertung durch Noten. Muslimische, christliche, nicht-gläubige, weiße und People of Colour (POC), Kinder aus heterosexuellen, gleichgeschlechtlichen Lebenspartnerschaften, eingewanderte, geflüchtete und einheimische Jugendliche überwinden mitgebrachte Vorurteile und Konkurrenzverhalten in Windeseile (wirklich), wenn sie tagtäglich lernen, das »Verschiedenheit spannend ist« und positiv bewertet wird.

In unseren Schulen aber scheinen wir große Probleme zu haben, uns von dem Gedanken zu verabschieden, dass es »stärker und schwächer begabte Schüler*innen« gibt. Ich möchte die Frage aufwerfen: stärker und schwächer auf welchen Maßstab bezogen??

Das Ergebnis eines wertenden Schulsystems ist offensichtlich: Das eigene, individuelle Potential liegt oftmals brach. Alle sind entweder damit beschäftigt, sich im Hinblick auf die vorgegebene Norm zu ›optimieren‹, zu resignieren oder aber gegen die vorgegebene Norm zu rebellieren.

Um dieses System auszuhebeln und uns wieder dafür zu trainieren, unseren eigenen inneren Impulsen zu folgen und uns auf diese Weise in unserem individuell einzigartigen Potential zu bestärken, braucht es als ersten Schritt einen grundlegenden Perspektivwechsel und eine veränderte innere Haltung und als zweiten Schritt ein wirkmächtiges, konkretes Konzept, das die Frage beantwortet: Was genau aber sollen wir tun?

Ohne ein solches Konzept sind wir auch als Anleitende schnell verloren, da wir — wie gesagt — das bewertende System unserer Gesellschaft internalisiert haben und noch nicht geübt darin sind, jedem Menschen individuell angemessen — also ohne eigene Wertungen — zu begegnen. Wir brauchen also Koordinaten, die unserem Handeln eine Richtung ermöglichen, aber dennoch individuelle Freiheit und individuelle Wachstumsmöglichkeiten bieten.

1.6.3 Das Gesetz der inneren Grenze

Eine hilfreiche Konzept-Koordinate im partizipativen Theaterkonzept (neben der Statuslehre und dem Theatralen Mischpult) ist das sogenannte GESETZ DER INNEREN GRENZE:

Es macht den Jugendlichen die grundsätzliche Tatsache transparent, dass jeder Mensch von unterschiedlichen Erfahrungen, Grundbedürfnissen, Ängsten und Erwartungen ausgeht, und dass jeder Mensch ein Recht auf diese individuelle Ausgangssituation besitzt.

Die Arbeit mit dem Theatralen Mischpult bietet beispielsweise von Anfang an die Möglichkeit, sich selbst zunächst überhaupt erst einmal für die selbstreflexiven Fragen zu sensibilisieren: Wo erlebe ich innere Widerstände? Was möchte ich tun und was nicht? Sind mir die Gründe für meine inneren Widerstände bekannt?

Durch den Einsatz der KARTEN ZUR DEMOKRATISCHEN FÜHRUNG (TEMPO, KLARHEIT, VERANTWORTUNG, VETO) haben die Spieler*innen jederzeit die Möglichkeit, eigene Wahrnehmungen und Bedürfnisse und persönliche Grenzen und/oder Widerstände an die Regisseure*innen zurück zu melden.

Einerseits trainieren sie dabei, ihre eigenen Empfindungen bewusst wahrzunehmen und zu kommunizieren, andererseits helfen sie denen, die gerade (Regie) führen, dabei, ihre Mitspieler*innen besser kennenzulernen und besser einschätzen zu können, wo sie eventuell ›innere Grenzern‹ der Spieler*innen überschreiten.

Um die ›inneren Grenzen‹ (sowohl die eigenen als auch die der anderen) spürbar zu machen und den sensiblen Umgang damit zu trainieren, bieten sich zu Beginn Spiele wie Flaschendrehen oder Wahrheit oder Pflicht an: Die Spieler*innen müssen abwägen: Kann ich diese persönliche Frage (Wahrheit) meinem Gegenüber zumuten oder überschreite ich damit seine innere Grenze‹?

Oder, wenn mein Gegenüber sich für »Pflicht« entscheidet: Kann ich meinem Gegenüber diesen Auftrag zumuten, wird sie/er Spaß daran haben, ihn auszuführen, oder überschreite ich gerade ihre/seine innere Grenze?

Während des Spiels »Wahrheit oder Pflicht« — in der im Praxisteil beschriebenen Variante — werden diese Überlegungen auch gemeinsam mit der Gruppe offengelegt. Ziel ist es für alle, »geniale Regisseure« im Sinne einer demokratischen, klugen Führung zu werden, die die Stärken aus ihren Spieler*innen ›herauskitzeln‹ können, da sie deren innere Grenzen hochsensibel und facettenreich kennen und einschätzen können und ihnen somit einen optimalen Raum zur individuellen Entfaltung erschaffen.

Im gemeinsamen Spiel entsteht ein vorsichtiges Ausloten der gegenseitigen Voraussetzungen und Bedürfnisse und damit größere Sicherheit und Souveränität in der gegenseitigen Führung und Anleitung.

Die ›inneren Grenzen‹ der Spieler*innen sind bei allen grundverschieden. Was für den einen völlig ok, bzw. einfach ist, mag für den anderen »unmöglich zu ertragen« sein, bzw. viel zu schwierig.

Die Einführung des GESETZES DER INNEREN GRENZE ermöglicht es, wertfrei mit den individuellen Voraussetzungen, Widerständen und Stärken der Spieler*innen umzugehen und auf diese Weise jede einzelne Person zur Selbstverantwortung und zur eigenen Arbeit an den ›inneren Grenzen‹ zu motivieren.

Das kann mit einem persönlichen Fitness-Training verglichen werden: Wenn jede für sich weiß, wo sie steht, kann sie sich jeweils die eigene nächste Herausforderung suchen, wie den nächsten Schwierigkeitsgrad (Level) in einem Spiel.

Die ›inneren Grenzen‹ der Spieler*innen werden sowohl im Spiel »Wahrheit oder Pflicht«, als auch mit dem Theatralen Mischpult, als auch in zahlreichen anderen Übungen immer weiter trainiert und thematisiert, was eine hohe Motivation bewirkt:

Allen scheint schon immer klar gewesen zu sein, dass »fünf Regeln für alle « nur ungerecht sein können und dass in Wahrheit jeder Mensch ein kleines, komplexes Universum ist, das sich von allen anderen natürlich unterscheidet. Herauszufinden, wo die inneren Grenzen der anderen sind und die eigene Führung behutsam zwischen angenehmer Herausforderung und Überforderung ausbalancieren zu können, stellt für Jugendliche ein spannendes und motivierendes Ziel dar.

Das GESETZ DER INNEREN GRENZE spielt in allen Phasen des Prozesses eine Rolle: in der Gruppenarbeit, bei der Generierung biografischen Materials, beim gemeinsamen Spielen und Inszenieren, beim Präsentieren einzelner Szenen und beim regelmäßigen Feedback.

Das Motivationsgeheimnis des GESETZES DER INNEREN GRENZE liegt darin, dass es nicht darum geht, dass »alle Respekt vor den anderen zeigen sollen « — das ist für einen 15-Jährigen kein besonders attraktiver Auftrag — sondern darum, einen Gruppenprozess professionell und verantwortungsvoll führen zu können. Nur wenn alle wissen, wie eine solche Führung konkret umgesetzt werden kann und alle wechselweise die Führung übernehmen können, ist eine demokratische Zusammenarbeit und eine demokratische Gesprächskultur wirklich konstruktiv.

Demokratie heißt eben nicht, dass jeder irgendwie (in all seiner unreflektierten Befindlichkeit) seine Stimme einbringen kann, sondern dass alle über das Handwerkszeug demokratischer Führung informiert sind und Verantwortung für die anderen und den Prozess übernehmen können.

Das Ziel, in diesem Sinne »gut zu führen« ist von der moralischen, nämlich pädagogisierenden, Last befreit. Genau deshalb führt das GESETZ DER INNEREN GRENZE zu einer wertschätzenden und stärkeorientierten Arbeitskultur, die jeden Einzelnen zur individuellen Hochform auflaufen lässt. Auf diese Weise ›lernen‹ Jugendliche Autonomie und Selbstbestimmung. Dies ist die Grundvoraussetzung, um wiederum andere in ihren ›Eigenarten‹ respektieren zu können:

Nur, wenn das Eigene nicht in Frage gestellt ist, nicht ängstlich verteidigt werden muss, sondern als solches angenommen wird, kann ich den inneren Raum entwickeln, anderen zuzuhören und ihnen zu begegnen — und — besonders wichtig — dadurch Eigenes eventuell auch weiter modifizieren und verändern.

Das Gesetz der inneren Grenze (als inneres Bild) ist ein konzeptionelles Instrument, das den vorhandenen Reichtum von Diversität hervorbringt und individuelles Potential bestärkt. Das Gesetz der inneren Grenze etabliert als Grundvoraussetzung dafür eine Kultur der Kooperation — statt der Konkurrenz.

1.6.4 Demokratische Führung — Führung muss sein!

Wann immer eine Gruppe zusammenkommt, um etwas gemeinsam zu tun, wirkt das Gesetz: »Den König spielen immer die anderen«. Das heißt: Die Gruppe richtet sich nach der Person aus, die die Führung innehat. Das passiert gar nicht unbedingt bewusst, aber es passiert. Dafür gibt es so banale Sprichwörter wie »Wie der Herr so’s Gescherr« aber auch das schöne Beispiel des Gastgebers, der »den ersten Fleck in die Tischdecke machen sollte«, damit alle anderen wissen, dass sie sich »wie zu Hause fühlen dürfen« (der Gastgeber lebt die Kultur des Festes vor).

Entweder es gibt eine Führung (einen Gastgeber bei einem Fest, einen Chorleiter bei einer Chorfahrt, eine Organisatorin einer Gruppenreise usw.) oder es gibt (offiziell) keine Führung (Kommune, Wohn- oder Hausgemeinschaft usw.).

Menschen sind immer bestrebt, ihre Rollen untereinander zu klären und somit ihren Status innerhalb der Gruppe. Ansonsten herrscht Verunsicherung, weil in jeder Kommunikationssituation der Status neu verhandelt, also mit Anstrengung ›erkämpft‹ werden muss und niemand sich wirklich frei fühlt.

Wenn es keine Führung gibt, befinden sich die Gruppenmitglieder ununterbrochen im Stress, weil sich verschiedenste Ansprüche, Bedürfnisse und Erwartungen — oft missverständlich — ungeordnet Bahn brechen. Niemand spricht sein eigenes Unwohlsein an, weil alle glauben, dass es nur ihnen selbst ganz allein so geht und »alle anderen« ja offenbar kein Problem haben, man also nur selber die schwache, empfindliche, ›blöde‹ Person ist, während alle anderen »ja offenbar gut zurechtkommen«. Es dauert dann nicht lange, bis sich Allianzen und unsichtbare Hierarchien bilden, um den Mangel an gefühlter Sicherheit zu kompensieren.

Dies ist das große Missverständnis von Gruppen, die sich selbst als inklusiv und demokratisch bezeichnen und deshalb eine klare Führung ablehnen. Solche Gruppen behaupten oft, »jeder könne tun und lassen, was er wolle«, »wir sind alle gleich und gleichberechtigt«, »wir entscheiden alles gemeinsam«, »wir brauchen keine Führung« usw. Solche Wohngemeinschaften, Kommunen usw. tragen aber ein großes Risiko in sich, unterschwellig eigene, unausgesprochene (aber dadurch nicht weniger wirksame Psycho-) Hierarchien auszubilden, welche die Lauten, Starken und Egozentrierten begünstigen und erst recht Demütigungen und Herabsetzungen durch Ausschluss generieren. Am Ende setzen sich nicht selten exklusive