Über das Selbst und das Leben - Harald Kunde - E-Book

Über das Selbst und das Leben E-Book

Harald Kunde

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Beschreibung

Warum gestalten wir? Diese Frage führte den Autor zu einer Analyse des menschlichen Selbst und zur Einsicht, dass dieses Selbst jeden Tag neu und viel größer ist, als gemeinhin angenommen. Es beinhaltet u.a. eine Repräsentation jedes Menschen, den wir kennen. Spürt den Verlust eines geliebten Menschen wie einen Phantomschmerz. Und kann vielleicht auch eine Gummihand enthalten, die sich durch einen Trick in unser Körperbild geschlichen hat. Wie aber konnte dieses Selbst Teil eines Holocaust werden? Die Spur führt zum Leben an sich. Und das ist einigermaßen verstörend.

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All unsere Worte,

all unsere Geschichten

verbergen nur,

was unaussprechlich bleibt.

Inhalt

Über das Selbst

Einleitung

Selbst-Modell

Epilog

Anlagen

Über das Leben

Einleitung

Der Zellhaufen

Der Zellhaufen in Interaktion

Menschliches Leben

Der Geist

Menschliche Abgründe

Einleitung

Sichten auf die Welt und Sichtbarkeit

Abgründe

Einhegung

Veränderung von Bedeutung

Bestandsaufnahme

Bedeutung nimmt ab

Bedeutung nimmt zu

Folgerungen

Literaturverzeichnis

Über das Selbst

Einleitung

Es gibt neue Erkenntnisse zum Selbst. Was es gefährdet, was es stärkt. Diese neuen Ergebnisse zeigen, dass es sinnvoll ist, das Modell Selbst im eigenen Gehirn umfassender zu definieren als nur auf die »eigene« Physis und Psyche beschränkt. Auch muss man, denke ich, das Selbst in Verbindung sehen mit dem neuen Ansatz der Neurowissenschaft, das Gehirn als Prognose-Maschine zu betrachten – als Halluzinationsmaschine1, wie die Neurowissenschaftlerin Doris Tsao2 es bezeichnete. Auf die Spur brachte mich meine Cousine aus dem Havelland, die in einer Mail die Gestaltung des eigenen Gartens und der eigenen Website in Beziehung setzte. Warum gestalten wir? Immer, wenn ich am Strand von Stolteraa spazieren gehe, sehe ich aufeinander geschichtete Steine, meist auf einem großen Findling – auf den man sich dann nicht mehr setzen kann (das nur nebenbei an die Adresse dieser Kreativen!)3.

Der Schöpfungsakt

Wird noch ein Gebet gesprochen?

Ob man so weit gehen muss, dass man Familienaufstellungen (gemäß systemischer Therapie, vgl. WIKIPEDIA zum Thema Familienaufstellung, Link: https://de.wikipedia.org/wiki/Familienaufstellung ) in aller Öffentlichkeit am Strand durchführt, scheint mir zumindest fragwürdig.

Im Bild sieht man offenbar die Familienaufstellung einer Großfamilie. Auch Ausgestoßene (vielleicht hat sie die Ehre der Großfamilie verletzt?) sind, wie es scheint, dabei. Offenbar regt das Kunstwerk zur Interpretation an (Wo stecken Vater und Mutter, wo die Großeltern, wo die Geschwister?). Der Umfang der Aufstellung erklärt, warum die systemische Therapie in der Türkei eine geringe Verbreitung hat (sie ist schlicht zu aufwändig). Für eine Möwe wäre das nur ein Steinhaufen ärgerlicher Art, da er die Landung erschwert. Erst unsere Interpretation macht die Anhäufung von Steinen zum Kunstwerk – und zur Familienaufstellung. Durch die Interpretation erfahren wir etwas über … den Ersteller? Nein! Über uns selbst.

Dass der Gestaltungsdrang nicht nur auf Menschen beschränkt ist, zeigt das folgende Bild.4

Warum machen wir das? Warum gestalten wir unsere Gärten wie kleine Universen, unsere Wohnungen dto.? Warum malen schon Kinder gerne? Warum gestalte ich meine Website wie einen kleinen eigenen Kosmos? Es ist offenbar ein elementares Bedürfnis.

In diesem Kapitel vertrete ich die Ansicht, dass unsere Prognosemaschine weiter geht, als nur die Zukunft zu prognostizieren. Ich werde Gründe dafür liefern, dass sie auch die Welt um uns herum gestalten will, damit die Abweichungen unseres Selbst-Modells zur Realität kleiner werden. Die Abweichungen zur Realität werden gemäß dem Prognosemodell fortlaufend im Sinne einer Fehlerkorrektur geglättet – in unserem Gehirn. Wir versuchen aber auch »Fehlerkorrektur« in unserer Außenwelt. Wir produzieren danach unser Selbst ständig. Erfahren wir damit Anerkennung, stärkt dies unser Selbst, wenn nicht, unseren Frust. Werden die Abweichungen von Selbst-Modell und Realität zu groß, neigen wir zur Gewalt.

Selbst-Modell

Wir schmücken unsere Wohnungen mit Bildern unserer Liebsten, Bildern unserer Urlaube, Pokalen und Urkunden unserer Erfolge und vielem mehr. Wir gestalten unsere Wohnungen und Gärten mit eigengefertigten Skulpturen, Anordnungen von Pflanzen und Wegen. Wir kleiden und erziehen unsere Kinder nach unseren Vorstellungen. Wir gestalten unsere Hautoberfläche mit Tattoos. Wir beglücken andere mit unseren Urlaubsfotos. Wir schreiben Bücher oder Artikel. Wir posten unsere Aufenthalte in der Toilette auf Instagram. Ähnlich gestalte ich z.B. meine Website wie einen kleinen Kosmos meines Selbst. All das soll offenbar zeigen: Das bin ich, das ist meine Welt5 – oder die Welt wie ich sie mir vorstelle. Warum?

These 1: Wir produzieren unser Selbst (nach außen) in Bildern, Filmen, Musik, Skulpturen, Geschichten, eigenem Outfit und vielem mehr, um unser Selbst und damit unsere Eigenheiten und unser Verständnis der Welt zu verbreiten. So wie wir unsere Gene weitergeben in unseren Kindern.

These 2: Wir produzieren unser Selbst, damit dieses Modell in unserem Gehirn ständig trainiert und damit gestärkt wird, in Form einer Art Selbst-Vergewisserung. Motto: Alles, was nicht trainiert wird, verkümmert.

These 3: Wir produzieren unser Selbst, damit die Abweichungen unseres Selbst-Modells zur Realität in unserer näheren raumzeitlichen Umgebung (unserem primären Erfahrungsbereich) reduziert werden (analog zur Homöostase bei Lebewesen, vgl. WIKIPEDIA, Link: https://de.wikipedia.org/wiki/Hom%C3%B6ostase) und die Welt um uns kontrollierbarer wird (vgl. nachfolgendes Kapitel »Über das Leben«).

These 4: Wir produzieren unser Selbst, um Ressourcen wie Geld, Anerkennung, Liebe oder Aufmerksamkeit zu erhalten.

Zu These 1: Es gibt Künstler, die Kunstwerke aus sehr vergänglichem Material schaffen, u.a. um zu zeigen, dass auch ihre Kunst nur temporär ist, den Weg alles Vergänglichen geht. Es gab wohl auch Künstler, die der Idee nachhingen, etwas Zeitloses zu schaffen. Jeder, der akzeptiert, dass unser Zentralgestirn dereinst die Erde verschlingen wird, wird daran Zweifel haben. Aber wer weiß, vielleicht haben manche die Vorstellung, dass gewisse Kunstwerke in einem Raumschiff – wohin? Für wen? – gerettet werden. Aber klar, so wenig wie wir aufhören, Kinder in die Welt zu setzen, werden wir aufhören, unser Selbst in Artefakten zu produzieren. Die Verbreitung des produzierten Selbst gem. These 1 würde primär im sozialen Umfeld passieren, um dies in unserem Sinne zu gestalten.

Zu These 2: Durch Erinnern und durch Produzieren unseres Selbst stärken wir unser Selbst-Modell. Denn Erinnerungen rufen Inhalte zu Erlebnissen und Ereignissen ab und assoziieren sie mit dem aktuellen Kontext, erweitern damit die Assoziationen der Inhalte und festigen sie. Unser Selbst wird gestärkt. Gemäß Artikel zur Bedeutung von Nostalgie in [10] gehen wir damit optimistischer in neue Herausforderungen. Zitat: Nostalgie erzeugt ein Gefühl der Selbstkontinuität, dass es einen roten Faden im eigenen Leben gibt. In dem Artikel wird darauf hingewiesen, dass es auch eine Verbindung von Nostalgie und Populismus gibt. Als Beispiele wurden angeführt, wie Boris Johnson die Briten mit der Vision alter imperialer Größe in den Brexit führte oder Trump mit »Make America great again« die Wahl in Amerika gewann. Auf der anderen Seite scheinen Menschen auf dem Balkan, die sich ihrer gemeinsamen Vergangenheit im alten Jugoslawien erinnern, auskömmlicher im Kontakt mit anderen Ethnien zu sein. Dies könnte man nutzen, um gemeinsame Urerinnerungen zu fördern. Erinnerungen an unsere erste Zeit als Jäger und Sammler, als wir uns noch gegenseitig die Köpfe einschlugen bei Revierstreitigkeiten. Nun, vielleicht müssen wir noch weiter zurückgehen, bis zur ersten Eva in Afrika. Mein Gott, muss die einsam gewesen sein unter all diesen geistig beschränkten Männchen. Vielleicht müssen wir doch bis zum Urknall zurückgehen.

Zu These 3: Heimweh und Fremdeln von Kindern kann als Problem der Abweichung von Selbst-Modell und (neuer) Umgebung interpretiert werden. Das Produzieren des eigenen Selbst in Form von Erinnern an schöne Dinge der Vergangenheit kann gem. Artikel zu Nostalgie (s.o.) das eigene Selbst stärken und zu optimistischer Einstellung führen. Kinder malen ihre Situation, Erwachsene tapezieren vielleicht ihre Wände mit alten Fotos oder suchen sich einen neuen Partner, der erstaunlicherweise dem alten ähnelt. In [10] findet sich ein kurzer Artikel »Gleicher Typ, gleiche Probleme« mit einer Untersuchung, die zeigt, dass Menschen die »Fehlstelle in ihrem (erweiterten) Selbst« (s.u.) i.d.R. mit neuen Partnern mit alten Eigenschaften besetzten. Der Versuch, die Abweichung von Selbst-Modell und Realität durch Produktion des eigenen Selbst zu reduzieren, kann aber auch zu den schlimmsten Exzessen der Menschheit führen. Die Verbreitung rassistischer Ideologie kann man noch der These 1 zuordnen, das Ausleben derselben im Dritten Reich nicht. Wenn man sich vorstellt, dass Juden in Viehwaggons zu den KZs gefahren wurden, um dort sortiert und großenteils direkt in die Gaskammern geschickt zu werden, so muss bei den beteiligten Organisatoren und Aufpassern ein riesiges Gewaltpotenzial vorhanden gewesen sein. Dieses Potenzial muss sich gespeist haben aus der großen Diskrepanz von Ideologie (Teil des Selbst) und dem eigenen Erleben (‚Waren das nicht Menschen wie du und ich?‘ mag sich mancher gefragt haben, um dann seine Zweifel in Gewaltpotenzial zu wandeln). Das ständige Ausleben dieses minderheitenverachtenden Selbst hat zu seiner Festigung beigetragen (siehe These 2). Wahrscheinlich kommt verstärkend hinzu eine Herrenmenschen-Attitüde, sich selbst als auserwählt zu betrachten, d.h. eine Überhöhung der Wertigkeit des eigenen Selbst in einer sozialen Filterblase. Die Thematik wird detaillierter im Kapitel »Menschliche Abgründe« behandelt.

Filterblasen sind allgemein ein beliebtes Mittel, um die Diskrepanz zwischen Selbst und Realität zu umschiffen: Die Realität wird schlicht nicht zur Kenntnis genommen oder durch exklusiven Kontakt mit Gleichgesinnten verfremdet. Die Welt ist voll von Gruppen, die diese Art der Realitätsreduzierung betreiben. Da waren die Adeligen, die das gemeine Volk nicht sehen wollten. Da sind die Schöngeister, die keine Schlachthofszenen sehen können. Da sind die Fanatiker, die Andersdenkende oder Andersartige einfach aus dem Weg schaffen. Da ist die Staatsmacht, die Andersdenkende in Umerziehungslager schickt. Da sind die Spezialisten, die vorwiegend nur noch mit ihresgleichen kommunizieren. Der Effekt ist immer derselbe: Wir werden blind für das, was es noch gibt. Die Natur hat ein Gegengewicht geschaffen: Unsere Neugier. Wer nun meint, das wäre ein uneingeschränkt positiv zu bewertender Mechanismus, dem empfehle ich, sich Berichte über Gaffer anzusehen. Gaffer, die den Tod Verunglückter mit ihrem Handy festhalten. Vielleicht genügt ja, einfach nicht immer wegzusehen, wenn … Manchmal ist die Welt schwer zu ertragen. Aber gelegentlich sollten wir trotzdem hinsehen – um nicht zu erblinden (wie es den Menschen im Roman »Die Stadt der Blinden« erging).

Wir sollten uns hüten vor der Meinung, man könnte sich vor Filterblasen schützen. Sie entstehen schlicht dadurch, dass wir bestimmte Dinge wichtiger nehmen als andere. Man könnte vermuten, Erkenntnissuche würde uns vor Filterblasen feien. Aber die Erkenntnissuche kann selbst zur Filterblase werden. Ich erinnere dazu an den Physiker Dirac, der seine über ihre Erkenntnisse berichtenden Doktoranden fortschickte, mit der unwirschen Äußerung, sie mögen wiederkommen, wenn sie wüssten, warum die Massen der Elementarteilchen so seien wie sie sind. Der unbändige Wille, ein bestimmtes Problem zu lösen, kann uns blind machen für den Rest der Welt und dazu führen, dass wir eigentlich nur noch mit solchen Menschen kommunizieren wollen, die sich mit genau demselben Problem befassen. Ein starker Wille ist ein guter Weg in Filterblasen – so wie ein schwacher Wille ein guter Weg in den Opportunismus ist.

Zu These 4: Diese These ist irrelevant, wenn auch richtig. Der Grund ist, dass wir sicher alles tun, was uns nicht auch stark schadet, damit wir Ressourcen wie etwa Geld, Anerkennung, Liebe und Aufmerksamkeit erhalten. In »Alles« ist natürlich dann auch das Produzieren von Selbst enthalten. Dies liefert, nach meiner Meinung, aber keine weitergehende Erkenntnis. Diese Eigenschaft teilen wir außerdem mit allen Lebewesen. So wie der Seidenlauben-Hahn seine Auserwählte mit blauen Blüten und erbeutetem blauen Plastik in seine kunstvoll gefertigte Laube lockt, lockt der Mathematiker die seine mit einem schönen Theorem in seine Welt. Die Unterschiede sind nicht so groß wie wir meinen.

These 1 und These 3, denke ich, können zusammengefasst werden. Denn durch die Verbreitung unseres Selbst durch (nach außen gerichtete) Produktion reduzieren wir natürlich die Abweichung des Bildes von uns und unserer näheren Umgebung mit der Realität. Da das Prinzip ähnlich dem der Vermehrung ist, muss man wohl eher davon ausgehen, dass 1 primär und 3 sekundärer Effekt ist. Das müsste man dadurch nachweisen können, dass Selbst-Produktion auch dann stattfindet, wenn niemand da ist, der dies zu würdigen wüsste. Das Training des eigenen Selbst-Modells gemäß These 2 stellt eine Art Gegengewicht zu den Einflüssen dar, die durch die Rückkopplung der Selbst-Produktion von der Außenwelt erfolgen. Es verhindert, dass wir gleich nach den ersten negativen Rückkopplungen aufgeben.

Wir bewegen unsere Finger. Das Gehirn wird über unsere Sinne darüber informiert. Es aktualisiert das Körperbild (Die Finger sind noch da; vgl. [6]). Der Partner hat die Chips-Tüte leergefressen. Unser Gehirn wird informiert. Es aktualisiert unser Umweltbild (der Partner ist noch da und is(s)t halt wie er is(s)t). Wir denken über diesen Spruch der buddhistischen Weisen nach: Leere ist Form und Form ist Leere. Unser Gehirn verschwindet im Nirwana. Film zurück! Gott sei Dank! Es funktioniert. Unser Gehirn ist zur Fehlerkorrektur fähig. Es merkt sich: Über Leere nachzudenken führt zu nichts. War eigentlich auch klar, da Leere und Nichts synonym sind. Das Gehirn fühlt sich bestätigt. Das Belohnungssystem wird aktiviert. Gemäß dieser drei Beispiele kann man folgendes Selbst-Modell (in seiner statischen Form) bilden (Anmerkung für Nicht-Informatiker: Hierarchie ist nur eine spezielle Form der Assoziation → wie man umgekehrt zu einer assoziativen Struktur eine hierarchische erhält, ist in Anlage 1 beschrieben):

Das Selbst enthält nicht nur unser eigenes Körper-Selbst, uns in der Welt, sondern auch eine Repräsentation der Umwelt, zu der Menschen in unserem Umfeld gehören und vieles mehr sowie Nicht-Dingliches aus unseren Abstraktionen der Welt. Dass dieses Bild stimmig ist, zeigt etwa die sog. »Gummihand-Illusion«. Streichelt man nämlich eine Gummihand synchron zusammen mit der Hand eines Probanden, so dass er dies sieht (die Hand des Probanden bleibt verdeckt), wird die Gummihand Teil seines Körperbildes (vgl. Artikel in [10]). Wenn wir uns erinnern, wie Assoziationen entstehen, wird auch klar, warum dies bei asynchronem Streicheln von Gummihand und Hand nicht passiert: neues Erleben wird in dem aktivierten Netz mitgespeichert, weshalb zeitlich synchrone Erlebnisse im selben Netz gespeichert werden. Auf diese Weise gelangt die Gummihand in unser Körperbild. Außerdem gilt, dass Erleben, das parallel durch mehrere sensorische Systeme gemeldet wird, zu stärkeren Assoziationen führt. Die Information gilt sozusagen als besser gesichert.

Unser Selbst-Bild enthält also mehr als nur Körper und Psyche. Wenn man darüber nachdenkt, kann es eigentlich auch gar nicht anders sein. Denn wo sollten Repräsentationen der Umwelt, eigene Ideen und Gedankengebäude denn sein, wenn nicht im eigenen Kopf? Dieses Bild unseres Selbst wächst von der Kindheit bis ins Alter. Es wird ständig nachjustiert aufgrund der Rückkopplungen durch unseren Körper, die Umwelt und neue Gedanken, die alte verdrängen. Dieses Selbst begleitet uns auf unserer Reise durch diese Welt. Änderungen der äußeren Realität während dieser Reise sind unser zweiter Begleiter. Der Verlust eines Körperteils kann dabei genau so Schmerz verursachen wie ein Verlust z.B. eines Partners oder der Zusammenbruch eines Gedankengebäudes, das man errichtet hat. Was passiert im Falle von Fehlstellen? Damit sind Stellen im Baum der Repräsentationen gemeint, deren reelles Pendant weggebrochen ist. Der Verlust eines Partners wird gemäß obigem Artikel i.d.R. kompensiert durch Wahl eines neuen Partners ähnlicher Couleur oder das Bild verblasst einfach mit der Zeit (die Eigenheiten eines eventuellen neuen Partners tragen dazu bei). Aber schon eine häufige Abwesenheit des Partners kann Schwierigkeiten bereiten, da zugehörige Assoziationen nicht mehr ausreichend trainiert werden. Das kann z.B. dazu führen, dass sich Frau X einen Hund anschafft (Bild 6): „Der Hund hat so eine Ähnlichkeit mit meinem Mann!“ Das kann helfen. Ich möchte an dieser Stelle gleich darauf hinweisen, dass der Großteil obigen Selbst-Baums im Unterbewussten liegt, d.h. ein Großteil der Selbst-Produktion ist Produktion unterbewusst gespeicherter Inhalte (siehe [1], im folgenden genauer erläutert).

Denken: Denken wäre in diesem Zusammenhang nichts anderes als Selbst-Produktion von Inhalten des Teilbaums Nicht-Dingliches. Wobei das Ergebnis i.d.R. nicht nach außen gelangt, sondern Auslöser für weitere Selbst-Produktion ist (siehe Modell zum Prozess der Selbst-Produktion nachfolgend). Wir stellen uns Denken für gewöhnlich als bewussten Prozess vor. Die Vorstellung als Selbst-Produktion erlaubt beides. D.h. es könnte auch »Denken« unbewusster Art geben, was immer das sein sollte. Träumen? Letztlich würde es wohl die Aktivität der sog. Prognosemaschine vorbereiten helfen.

Prognosemaschine: Nach den Vorstellungen vieler Neurowissenschaftler arbeitet unser Gehirn wie eine Prognosemaschine. Im Buch von Dehaene »Consciousness and the brain« [1] wird der vermutete Mechanismus genauer beschrieben. Aufgrund von großenteils unbewusst gespeicherten Inhalten wird ein Set von Möglichkeiten für einen weiteren Ablauf erstellt, aus diesem dann mittels bayesianischer Statistik der wahrscheinlichste ermittelt. Dieser liefert unsere Erwartung. Dann folgt die Wahrnehmung des tatsächlichen Ablaufs über unsere Sensorik und nur die Abweichungen von der Erwartung werden weiterverarbeitet – mit erhöhter Aufmerksamkeit, wenn sie groß sind, bis zu unterbewusst, wenn sie gering sind. Abweichung + Erwartung ergeben dann das, was wir meinen, wahrgenommen zu haben (Zauberkünstler machen sich das zunutze). Die Vorstellung ist keineswegs neu. Bereits Ende des 19.Jahrhunderts dachten Psychologen über dieses Modell nach, damals allerdings wohl beschränkt auf das sog. Gestaltsehen, d.h. das Phänomen, dass unser Gehirn offensichtlich Inhalte gesehener Bilder mehr oder weniger freizügig ergänzt zum wahrgenommenen Bild.

Zu Mechanismen unseres Gehirns: Abstraktion und Assoziation7 sind die wesentlichen Mechanismen in unserem Gehirn. Das hier vorgestellte Modell legt nahe, dass die Speicherung neuer Inhalte in weitgehend vorhandenen Netzen, die zur Auslöser-Struktur unserer Erwartung (Prognose) gehören, stattfindet. Netze, die vom Gehirn sehr geschickt ausgewählt werden (durch Auslöser aktiviertes Netz zu ähnlichem Erlebten). 8

Assoziationen verleihen Inhalten Bedeutung, die um so größer ist, je größer die Zahl der Assoziationen ist.

These Langzeitgedächtnis: Das Langzeitgedächtnis ist nichts anderes als große Vielfalt an Assoziationen zu einem Inhalt. Gelingt es, einem Erlebnis schnell Assoziationen hinzuzufügen, bleibt es im Gehirn länger aktiv, da es über (öfter) passende Auslöser häufiger abgerufen und damit verstärkt wird. Gleichmaß eines Pflegeheims oder »Tunnel-Verhalten« führen demnach automatisch zu einem Verlust an »Langzeit-Gedächtnisinhalten«.

Wie sieht es mit Abstraktionen aus? Abstraktionen können wir uns vorstellen als Speicherung von Inhalten in einem Netz, das in seiner Zahl der Neuronen signifikant kleiner ist als das Originalnetz (Speicherung des Wesentlichen). Wie bei Assoziationen spricht eigentlich nichts dagegen, dasselbe Netz zu verwenden, aber im Abruf enthaltener Information nur ein Teilnetz zu verwenden. Das wäre sicher sehr effizient und würde eine Hierarchisierung der Abstraktion erlauben (beachte allerdings die schichtweise Lage der Gitterzellen je nach Körnigkeit der Orientierung in unserer Umwelt im entorhinalen Kortex). Das Modell für Anreicherung von Assoziationen und zur Abstraktion zeigt das folgende Bild:

Das Bild enthält überlappende neuronale Netze (zu neuronalen Netzen, ihrer Funktionsweise und Bedeutung für die Modellierung unseres Gehirns siehe Anlage 2) in symbolischer Form, die Form symbolisiert verschiedene Erlebnisinhalte zu aber ähnlichen Auslösern. Die Variation liefert verwandte Erlebnisinhalte. Erweiterung von Assoziationen liefert angereicherte Erlebnisinhalte (die durch die Anreicherung besser im Gedächtnis bleiben), Fokussierung auf gleichermaßen aktivierte Inhalte liefert Abstraktion. Konsolidierung und Abstraktion erfolgen dabei nicht wirklich in eigenen Schritten, sondern mit jedem Variationsschritt schält sich die Abstraktion heraus bzw. wird der Erlebnisinhalt angereichert. Die Anreicherung deckt sich mit der Vorstellung von Schredl9 zur Einbettung von aktuellem Erleben in einen größeren Kontext durch den Traum. Eine Konsequenz des Modells ist, dass sich Erinnerungen ständig verändern (vgl. hierzu auch [16]: »Manipulierte Erinnerung« von Julia Shaw, Link: https://www.youtube.com/watch?v=b_mUe5decXo).

Zeitwesen

Wir sind Zeitwesen. Und wodurch werden wir das? Dadurch dass wir Erlebnisse assoziiert abspeichern, wenn sie zeitlich nahe beieinander liegen, schaffen wir Zeitpunkte und -raster. In [4] findet sich eine Vorstellung des Philosophen Husserl, die in folgendem Bild wiedergegeben wird:

Zeit entsteht danach für uns, indem:

Ereignisse in unser Gedächtnis gespeichert werden mit Vorgänger-/Nachfolger-Info

Abgespeicherte Ereignisse in ihrer ursprünglichen Reihenfolge reflektiert werden

den Ereignissen »Zeit« gemäß ihrer Bedeutung für das Individuum zugeordnet wird

Gesetzmäßigkeiten ermittelt werden (in nebenläufigem Prozess) für Modell

Prognosen für die Zukunft abgeleitet werden (Handlungsplanung) aus vorliegenden Ereignissen und (evtl. aktualisiertem) Modell

Abfolgen von Ereignissen entstehen jetzt durch Selbst-Produktion in Form von Erinnern und durch unseren Geschichtenerzähler. Der Geschichtenerzähler ist eine Instanz in unserem Gehirn, die unsere Lebensline kausal imaginiert und uns zu Zeitwesen macht. Stellt euch für einen Moment vor, wir würden zum Zeitpunkt des Erlebens auch weit vergangene Inhalte mitassoziieren. Wir würden dann etwa eine Art Mittelwert von uns als Körperbild haben. Wir wären keine Zeitwesen, sondern würden nur in der Gegenwart leben. Erinnern wäre sinnlos, weil ja unsere ganze Vergangenheit in den Mittelwert mit eingeflossen ist. Einen Geschichtenerzähler bräuchte es nicht. Es gibt Menschen, die es als erstrebenswert sehen, nur in der Gegenwart zu leben, sozusagen zeitlos. Sie machen sich vielleicht nicht klar, dass schon der Blick in die Augen eines anderen Menschen oder zu den Sternen ein Blick in die Vergangenheit ist. Alle anderen, die Sklaven der Zeit, müssen damit leben, dass sie bei der Selbst-Produktion in Form des Erinnerns vergangene Inhalte mit aktuellem Erlebenskontext assoziieren. Damit ist klar, dass sich Erinnerungen verändern. Auf der anderen Seite entstehen so Bausteine für unseren Geschichtenerzähler, uns einen roten Faden in unserem Leben zu liefern. Und es entstehen im Selbst (größere) Objekte (max. Teilnetze zu gewisser Unschärfe; vgl. Anlage 1), die diesem roten Faden quasi physisch entsprechen.

Anmerkungen zur Trauma-Therapie:

Das Modell liefert ein paar Hinweise für die Therapie von Traumata.

Stärke wichtige Objekte anders als das Trauma-Objekt

Schaffe möglichst viele Trauma-fremde Assoziationen zur Selbst-Produktion des Traumas (Flashbacks) → Veränderung von Erinnerungen

Vermeide Beschäftigung mit dem Trauma (sog. Aufarbeitung). Beschäftigung mit dem Trauma ist Training des Traumas.

10

Trainiere Rituale, die befolgt werden zu Zeiten der Selbst-Produktion des Traumas (mit dem Zweck der Verlagerung von Teilen bewusster Aktivität ins Unterbewusste – ähnlich dem Lernen von Autofahren)

Beachte, dass Methoden zu 2) und 4) an das akute Auftreten von Flashbacks gekoppelt sind. Eine Therapie »Heute ist Termin zur Trauma-Behandlung« mag zwar bequem sein, ist aber sinnlos.

11

Den eigenen Weg gehen

Oft hört man – mit Pathos vorgetragen – den Satz: Der Junge muss seinen eigenen Weg gehen. Oder Menschen sagen: Ich will meinen eigenen Weg gehen. Was soll das sein? Der eigene Weg? Vermutlich ist gemeint, dass man sich nicht in den Geschichten anderer verlieren will. In dem Sinn, dass man eigentlich das Selbst eines anderen produziert, also nur ein Anhängsel des Lebens eines anderen ist. Man kann sich zum Beispiel auch in den Weltmodellen eines anderen verlieren. Etwa, indem man diesen Artikel liest. Wie dem auch sei, ein Anhängsel zu sein, widerspricht unserem Wunsch nach Autarkie. Die größte Gefahr für eine Situation »Das Leben eines anderen leben« entsteht naturgemäß in Partnerschaften. Sollte man Einsiedler werden? Wenn wir die Einflüsse anderer auf unser Denken ausblenden oder vermeiden würden, würden wir zu geistigen Amöben. Ich denke, die Amöbe ist mit sich im Reinen, aber würde uns das reichen? Das wage ich doch zu bezweifeln. Vielleicht hilft hier eine Einsicht der Buddhisten. Nein, nicht »Leere ist Form und Form ist Leere« sondern »Wählt den mittleren Weg!«. Nein, nicht wirklich. Denn die Mitte ist leider relativ. Einstein lässt grüßen. Bleibt also nur, das zu stärken, was man meint, verloren zu haben.

Der Sinn des Lebens

Wir reflektieren, dass Inhalte besonders bedeutend sind für das Individuum, wenn die Zahl der Assoziationen, die für seine Speicherung im Gehirn vorhanden sind, groß ist. Inhalte sind Objekte, also maximale Teilnetze zu einer gewissen Unschärfe gemäß Anlage 1. Man kann grob sagen, dass sich je nach Unschärfe der Betrachtung, verschiedene Objekte aus dem Netz herausschälen. Das Maß der Unschärfe hat mit der Zahl der Verbindungen zu tun und ist in Anlage 1 definiert. Je nach Unschärfe erhält man also unterschiedliche Objekte in einer Überdeckung des Netzes. Wird die Unschärfe größer, werden auch die Objekte größer. Ihr ahnt vielleicht schon, wie der Sinn des Lebens (aus meiner mathematisch-neurowissenschaftlichen Sicht) definiert wird: Es geht um die größten Objekte, die Objekte mit größter Bedeutung für das Individuum, die maximale Verstrickung ins Leben oder die eigene Gedankenwelt – wodurch? Das kann z.B. ein Partner sein, die Familie oder eine Leidenschaft für Malerei, Musik oder Mathematik oder ein Glaube (eigentlich natürlich die Repräsentationen derselben in unserem Selbst). Da das Selbst ständig aktualisiert wird, kann sich der Sinn ändern. Es gibt keine Fixpunkte. Wenn die Unschärfe immer größer wird, erhalten wir das Selbst selbst (sofern das Netz der Repräsentationen im Gehirn zusammenhängend ist und nicht in isolierte Teilnetze zerfällt). Der Sinn (im herkömmlichen Sinn) wäre also bei großer Unschärfe die Produktion des Selbst. Wer hätte das gedacht?

Bei geringerer Unschärfe müssten wir eher von einer Art Multi-Sinn sprechen, da dann in der Regel mehrere große Objekte im Selbst existieren.

Warum gibt es überhaupt Objekte?

Wenn wir annehmen, dass die Funktionsweisen Prognosemaschine und Selbst-Produktion Basiseigenschaften unseres Gehirns sind, müssen wir davon ausgehen, dass diese Mechanismen evolutionär von Vorteil waren. Eine Produktion des gesamten Selbst zwecks Prognose oder Reduzierung von Abweichungen der Realität mit unserem Bild davon würde dazu führen, dass wir einen einmaligen (göttlichen) Bewusstseinszustand erreichen. Der Preis der Prognosemaschine ist also die Zerlegung der Selbst-Struktur – in Objekte. Nur diese können produziert werden und gegen Ausschnitte der Realität abgeglichen werden. Nun macht es sicher auch keinen Sinn, Objekte wie den Sinn des Lebens (häufiger) gegen die Realität abzugleichen. Das Objekt ist schlicht zu groß. Aus diesem Grund ist der Mechanismus der Unschärfe essenziell12. Im Abgleich unseres Selbst mit der Realität muss eine reduzierte Unschärfe verwendet werden, um die Größe abgeglichener Objekte zu reduzieren. Wir kennen dieses Verfahren auch aus der Physik. Dort wird häufig die »erste Näherung« im Abgleich mit (anscheinend) regelmäßigen Abläufen in der Natur verwendet oder eine Näherung, die weitere Terme einer Reihenentwicklung berücksichtigt. Aber warum die Physik hier vorführen? Wir müssen unseren gesamten Geist hier vorführen. Er macht nämlich nichts anderes, als solche Objekte zu konstruieren, die eine Sicht auf Teile unseres Selbst darstellen. In dem, was man Denken nennt, gilt genau dasselbe Prinzip. Ich muss zerlegen, um produzieren (darüber nachdenken) zu können. Andernfalls würde das Gehirn verdampfen. Diese Zerlegungen sind wie unsere Abbilder der Realität nicht permanent. Sie ändern sich mit laufender Selbst-Produktion. In jedem Fall stellen die Objekte und die damit assoziierbaren Begriffe nur kleine Ausschnitte des Gesamtnetzes dar. Was ist dann mit diesem Begriff »Sinn des Lebens« oder mit »Bewusstsein«? Sind die beteiligten Objekte nicht riesig? Ja, das sind sie. Die Begriffe aber nicht. Die Begriffe sind Symbole mit einer assoziierten vagen Ahnung der Objekte. Da ja nur mit reduzierter Unschärfe produziert werden kann, können wir an den eigentlichen Objekten immer nur anbauen bzw. nur einen Aspekt verifizieren. Wie wäre das bei einer Wespe? Hätte sie eine Chance, ihr (deutlich kleineres) Selbst zu produzieren? Ich denke, dass dies evolutionär keinen Vorteil bieten würde, und die Wespe das auch gar nicht zu schätzen wüsste. Nicht nur das. Gemäß Dehaene [1] ist Bewusstsein verbunden mit (rekursiver) Aktivierung weiter Areale des Großhirns, die erst durch Mechanismen unseres Thalamus gedämpft wird. Für die Wespe könnte das bedeuten, dass in ihrem Gehirn Bewusstsein entsteht und sie erkennen würde, wie wenig sie weiß. Das kann evolutionär nicht vorteilhaft sein.

Unternehmen als Organismen

Unternehmen können gemäß Gareth Morgan [3] als Organismen betrachtet werden. Um die Funktionsweise von Unternehmen zu verstehen, ist diese Sicht häufig sinnvoll. Vor allem dann, wenn das Unternehmen wie ein Lebewesen Ressourcen aus seiner Umgebung bezieht und im Wettbewerb mit anderen steht. Morgan beschreibt diverse andere Sichten wie etwa das andere Extrem des mechanistischen Unternehmens, das in der Regel hierarchisch organisiert ist und i.w. sich selbst genügt. Beispiele sind Behörden früherer Couleur und nahezu monopolistische Unternehmen. In der Sicht als Organismus ist das Unternehmen in starker Wechselwirkung mit seiner Umgebung und versucht dabei, ein Gleichgewicht zu finden. Diese Sicht induziert ein Selbst und eine Selbst-Produktion (etwa in Form von Werbung, Mission, Setzen von Standards u.ä,). Vieles, was hier für Menschen geschrieben steht, kann auf Unternehmen mit starkem Umgebungsbezug übertragen werden – bis hin zum Sinn des Lebens. Und wie in Partnerschaften besteht für manche ihrer Beschäftigten eine latente Gefahr, das Selbst des Unternehmens zu produzieren, statt des eigenen. Falsche Sicht! Das eigene Selbst enthält ein großes Objekt: das Unternehmen. Eine Frage drängt sich mir auf: Schlafen Unternehmen? Träumen sie? Wie finden sie ihren »roten Faden«?

Der Prozess der Selbst-Produktion:

Das folgende Bild zeigt den Ablauf einer Selbst-Produktion in Form eines Flussdiagramms. Man erkennt einen inneren und einen äußeren Zyklus.

Denken ist gemäß dem Modell nichts anderes als innen-gerichtete Selbst-Produktion. Da wir wissen, dass sensorische Zentren bei der Rekapitulation von Erlebnissen beteiligt sind, müsste dieser Teil der Sensorik als Teil des Selbst gesehen werden. Der umgangssprachliche Ausdruck »Gedanken spinnen« beschreibt sehr gut, was in unserem Gehirn passiert. Inhalte werden zu größeren Netzen assoziiert. Damit erhalten sie größere Bedeutung und sind besser gegen Vergessen geschützt. Denken als Kampf gegen das Vergessen.

Die Zahl der Objekte der Selbst-Produktion ist riesig. Einige Beispiele wurden bereits dargestellt. Erwähnen möchte ich noch vier weitere wichtige Typen, die von unserem Geschichtenerzähler produziert werden, einer Instanz in unserem Gehirn, die für Erlebtes, meiner Meinung nach, die Funktion hat, die das Gestaltsehen für die Bilder hat. Es geht um Meinungen (sie stellen Gestaltungsversuche bzgl. unserer sozialen Umwelt dar; vgl. Kapitel »Veränderung von Bedeutung«), Geschichten und Planungen. Und – sehr beliebt – sog. Problemberichte. Oft beginnen sie mit: „Stellen sie sich vor, neulich …“ oder „Sie glauben nicht, was mir passiert ist.“ Oft malt ihr euch dann in Gedanken aus, was jetzt kommt. D.h. eure Prognosemaschine ist angeworfen. Und damit habt ihr schon verloren. Der Mechanismus ähnelt dem trickreichen Verhalten türkischer Verkäufer auf einem Basar: Als erstes kriegt ihr einen Tee in die Hand gedrückt. Mit Untertasse. Denn der Tee ist so heiß, den könnt ihr nicht am Glas halten. Und vor allem, ihr braucht mindestens eine Viertelstunde, bis er so weit abgekühlt ist, dass ihr ihn trinken könnt. Bis dahin habt ihr einen Sack Gewürze gekauft. Aber die halten sich ja – eine Zeitlang. Ein Beispiel für einen Problembericht findet ihr etwa beim Liedermacher Ludwig Hirsch. In seinem Lied »In der Kellergassen« (Link: https://www.youtube.com/watch?v=xExZwALJ8Yc&list=PLh5Cd8qKt4qtiIroICUh1Cu522toSiSB9&index=4) singt er (hier etwas auf Hochdeutsch getrimmt): „In der Kellergassen sitze ich jetzt ganz verlassen auf einem Stein, einem nassen und ich wein‘ …“. Er schildert seine Liebesschmerzen.

Dazu kann ich nur sagen: Lieber Ludwig Hirsch! Du kannst wenigstens noch auf einem Stein sitzen. Ich an der Ostsee nicht mehr, weil alle Findlinge, auf die ich mich setzen will, mit Steinhaufen verziert sind!

Der Geschichtenerzähler ist ebenso wie die Bildergänzung Teil der Selbst-Produktion. Dass die Zahl der Objekte der Selbst-Produktion so groß ist, hat zu tun mit der Lokalität unserer Betrachtung. Ich will das an einem Beispiel illustrieren: Wir unterscheiden Artikel, Bilder, Videos, Podcasts und Musik (um nur ein paar Beispiele zu nennen). Auf einer bestimmten Ebene der Informationsdarstellung gibt es aber gar keinen Unterschied zwischen diesen Objekten. Nur die Art der Interpretation ist unterschiedlich.

Wo bleiben Intentionen, Ziele, Visionen und Erwartung? Sie dürften Teil der Auslöser-Struktur sein. Damit ergibt sich eine – wie ich finde – spannende Frage: Was ist die Auslöser-Struktur und wie hängt sie mit dem Selbst zusammen?

In der aktuellen 7.Auflage des Schmökers »Biologische Psychologie« von Birbaumer und Schmidt [2] findet sich ein Beispiel eines solchen Auslösers. Es geht um Träume und sog. PGO-Wellen, die vom Hirnstamm induziert werden und zusammen mit den raschen Augenbewegungen der REM-Phase unseres Schlafs auftreten. Der Hirnstamm ist nun eine sehr alte Gehirnstruktur. Was dazu passt, dass ja auch die meisten Tiere schlafen und träumen. Träume dürfen wir wohl auch als ein Beispiel der Selbst-Produktion sehen. Träume dienen nach Ansicht vieler Neuropsychologen der Festigung von Erinnerungen. Die Ansichten der Psychoanalyse zur Bedeutung der Träume als verschlüsselte Botschaften zu verdrängten Inhalten halte ich eher für fragwürdig.

Prinzipiell gilt, dass die Auslöser-Struktur mindestens so wichtig ist wie die Assoziationsstruktur des Selbst. Das mag zunächst überraschen, denn man könnte meinen, dass Defekte der Auslöser-Struktur zugehörige Selbst-Strukturen dann einfach unverändert lassen. Das ist nicht richtig, denn: Alles, was nicht trainiert wird, verkümmert. Der Ausfall etwa der Auslöser-Struktur würde unweigerlich zur Degeneration unseres Selbst führen. Einige schöne Beispiele zum Körper-Selbst finden sich in [6