Überlebenstraum - Helmut Baumgärtner - E-Book

Überlebenstraum E-Book

Helmut Baumgärtner

4,8

Beschreibung

Der Stress in unserer leistungsorientierten Gesellschaft verursacht bei einem Unternehmer erhebliche Zweifel an seiner beruflichen und privaten Lebensweise. Ein ungewöhnliches, tragisches Ereignis zwingt ihn plötzlich zu anderen lebensnotwendigen Aktivitäten. Durch akribische Planung und Organisation sichert er das Überleben. Eine überraschend schlüssige Erklärung für den Schicksalsschlag verändert sein Bewusstsein und führt zu einer neuen Lebensqualität. Zahlreiche Episoden und Erfahrungen aus vielen Bereichen, mit glaubwürdig dargestellten Personen, fließen in die abwechslungsreiche Handlung ein.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 250

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
4,8 (33 Bewertungen)
26
7
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

VITA

Strandfundstück

Impressum

Kapitel 1

Verfluchter Stress!

Im Münchener Stadtverkehr unter Termindruck unterwegs. Von einem Stau in den Nächsten. Schon fast alltäglicher Standard. Kein Vorankommen möglich, kein Ausweg ist in Sicht. Auto an Auto kriecht langsam durch die Stadt. Gleichmäßige Schrittgeschwindigkeit wäre relativ schnell. Vielfach gibt es aber minutenlang nur Stillstand. Zweimal hatte er jetzt bereits die Route gewechselt. Ohne Erfolg, nirgends ging es etwas zügiger voran. Alle Straßen in die Innenstadt scheinen wieder einmal komplett dicht zu sein. Zu Fuß käme man wahrscheinlich schneller ans Ziel.

Wo es möglich ist preschen ab und zu ungeduldige Nadelstreifen-Rowdys über freie Abbiegespuren vorbei an den schier endlosen Fahrzeugschlangen. Rücksichtslos quetschen sie sich einige Wagen weiter vorne in die Reihe. Diese bedauernswerten Terminsklaven, die sich selbst zu wichtig nehmen. Mit ihren großen Limousinen, bei denen sie meinen die Vorfahrt wäre Bestandteil des sehr teuer erworbenen Ausstattungspaketes, ihres meistens von der Firma bezahlten Wagens. Die Verkehrsregeln gelten ihrer Meinung nach nur für die Anderen. Rücksichtnahme ist für sie wohl ein Fremdwort. Außer dem Unmut der vielen Staugeschädigten gewinnen sie jedoch so gut wie nichts. Vereinzelt hupt jemand um seine Missbilligung lautstark kund zu tun. Das gesamte angewendete Repertoire an beleidigenden Handzeichen wird ignoriert oder arrogant mit einer lässigen Handbewegung abgetan. Ein Spiegelbild unserer Ellbogengesellschaft. Manche scheinen zu glauben, ihre Fahrweise wäre durch mangelnde Ortskenntnis zu entschuldigen, weil sie ein auswärtiges Kennzeichen haben. Das glaubt aber heutzutage niemand mehr.

Kurz ging er nachdenklich in sich. Fuhr er nicht selbst einen noblen Sportwagen als Firmenauto. Verhielt er sich immer ganz korrekt? Ist es nicht so, dass jeder Autofahrer sich für die rühmliche Ausnahme hält? Nach der Meinung seiner Frau fuhr er oftmals auch nicht besonders rücksichtsvoll.

Ein wenig konnte er die Ungeduld nachvollziehen. Am liebsten würde er auch gerne das Gaspedal voll durchtreten und durch alle freien Lücken auf den Bürgersteigen und Randstreifen preschen, wie fliehende Gangster und verfolgende Polizisten in den Kriminalfilmen. Vernunft und Einsicht hielten ihn aber davon ab. Nur nicht durchdrehen, behalte deine Nerven im Zaum und zügle deine Hektik, ermahnte er sich.

Seine Überlegungen wurden gestoppt. Der Verkehr erforderte wieder alle Aufmerksamkeit. Es ging tatsächlich ein Stück weiter. Aber das war leider nicht von langer Dauer. Eilig und erfreut hatten alle Gas gegeben, um gleich darauf wieder auf Stillstand zurück zu bremsen. Einige stiegen fest in die Pedale, weil sie zu euphorisch gespurtet waren. Erstaunlich, dass es immer gerade so reichte, ohne auf den Vordermann aufzufahren. Das Quietschen der Reifen durch das Blockieren der Räder zeugte geräuschvoll von ihrem Überreifer.

Dabei ist das noch nicht der Feierabendverkehr. Also ist in den nächsten zwei Stunden eine weitere starke Verdichtung zu erwarten.

In fast allen Fahrzeugen sitzt nur eine Person. Kein Wunder, da auch die öffentlichen Verkehrsmittel keine zuverlässige Alternative bieten. Immer hört man nur Klagen über Verspätungen, überfüllte Züge, Rempeleien und zum Teil lästige Gerüche von schwitzenden oder ungepflegten Mitreisenden. Außerdem sind viele Randbezirke nicht gut in den Verbund einbezogen. Wechsel der Verkehrsmittel und mehrmaliges Umsteigen ist notwendig um das Ziel zu erreichen. Park-and-ride-Plätze gibt es auch keineswegs ausreichend.

Wie viel kosten diese Unmengen verlorener Zeit eigentlich die Wirtschaftsunternehmen? Hunderte Beschäftigte werden von ihrer Arbeit abgehalten. Was könnte währenddessen alles produziert und erledigt werden. Und wie viele Verabredungen können nicht rechtzeitig wahrgenommen werden? Planen kann man unter diesen Umständen ohnehin nur mit großen zeitlichen Spielräumen. Fahrzeit und Parkplatzsuche in der gesamten Innenstadt müssen sehr großzügig berücksichtigt werden.

Rundherum telefonieren Autofahrer, ungeachtet der Vorschriften, ohne Freisprecheinrichtung mit ihren Mobiltelefonen. Was nutzen die Gesetze, wenn es keine ausreichenden Kontrollen gibt!

Die Kinder in einigen Fahrzeugen haben offensichtlich Langeweile. Manche quengeln, andere schneiden Grimassen an den Seitenscheiben oder am Heckfenster und suchen Blickkontakt mit den übrigen Verkehrsteilnehmern. Aber von den vielen Leidtragenden reagiert kaum jemand. Betreten schauen sie lieber in eine andere Richtung. Für freundliche Gesten haben sie keine Laune.

Unmengen an Treibstoff werden sinnlos vergeudet. Feinstaub und Stickstoffdioxid verschmutzen die Umwelt schon seit Jahrzehnten. Grenzwerte sind zwar gesetzlich festgelegt, Prüfungen finden auch regelmäßig statt. Einhaltung ist aber nicht möglich. Ständig werden die Höchstwerte drastisch überschritten. Zu unpopulären Maßnahmen traut sich niemand und freiwillig tut die Menschheit sowieso nichts. Die Autoindustrie baut stattdessen lieber schnellere und größere Fahrzeuge mit höherem Schadstoffausstoß. Angaben über Abgasmengen werden genauso schamlos manipuliert wie die Verbrauchswerte und Umweltfreundlichkeit wird vorgetäuscht. Es kostet ja „nur“ die Gesundheit und Menschenleben. Ungefähr 47.000 vorzeitige Todesfälle durch akute Atemwegserkrankungen, Herzkrankheiten oder Lungenkrebs pro Jahr wird in Statistiken angegeben. Die zählen für die Politik offenbar nicht. Wirtschaftliche Interessen scheinen absoluten Vorrang zu haben. Sicherheit der vielen Arbeitsplätze in der Automobilindustrie und den Zulieferbetrieben wird als beliebtes Argument vorgeschoben. Vorrangig scheinen doch nur die Zufriedenheit der Aktionäre und der möglichst hohe Profit zu sein.

Die Autofahrer selbst sind auch nicht bereit bei Feinstaubalarm auf freiwilliger Basis ihr Fahrzeug stehen zu lassen. Alle Appelle nutzen bisher nichts. Immer sollen nur die anderen auf das Auto verzichten. Ausreden lassen sich jederzeit finden.

Es geht sicher nicht ohne gesetzliche Verfügungen, die zwar vorhanden oder geplant sind, jedoch nur äußerst selten durchgesetzt werden.

Hinzu kommt noch die Unvernunft der Menschen. Im großen, extrem viel Sprit schluckenden VAN oder Geländewagen werden die Kinder zur Tagesstätte, in die Schule und zu sonstigen sportlichen oder musischen Aktivitäten befördert. Ungeachtet der meistens nur sehr geringen Entfernungen.

Wieder musste er seinen Gedankenfluss bremsen. Spiele nicht den Schulmeister und Weltverbesserer, rügte er sich. War er nicht auch so manches Mal zu bequem das Fahrrad zu nehmen oder gar zu Fuß zu gehen? Nicht immer konnte er den chronischen Zeitmangel als willkommenen Grund vorschieben. Die Bequemlichkeit hatte bisher auch bei ihm meistens gewonnen. Verzicht war zu umständlich. Also erst an die eigene Nase fassen, bevor man kritisch mit Anderen hadert.

Und erst seine Frau? Fuhr sie nicht auch mit einem Mittelklassewagen die wenigen Kilometer zum Tennisplatz und zum Einkaufen. Sie hatte doch am ehesten die Zeit das Fahrrad zu nehmen.

Statusdenken vieler Bürger tut ein Übriges für die Umweltbelastung. Was würden wohl die lieben Nachbarn denken, wenn man sich das dicke Auto nicht leisten würde und einen Kleinwagen fährt. Noch immer betrachten viele Bürger das Auto als Statussymbol und zeigen gerne was sie haben. Erfolg im Leben rechnen sie in PS und Hubraum. Andersdenkende werden oftmals nur belächelt oder sogar als Neider abgestempelt.

Die armen Kinder, denen man dieses Vorbild mit auf den Lebensweg gibt, werden eines Tages die Folgen bitter zu spüren bekommen. Erstaunlich, dass die Eltern darüber so wenig nachdenken.

Abhilfe für die ständige Verkehrsüberlastung und Umweltverschmutzung ist nicht in Sicht, nur vage Versprechen der Politiker, ohne dass Taten folgen. Der Kollaps ist absehbar.

Keine Hektik aufkommen lassen, bleib ruhig, du kannst es nicht ändern, ermahnte er sich. Machtlos bist du dem Verkehrschaos ausgeliefert. Hör Musik und entspann dich, auch wenn es dir schwer fällt. Zurückhalten musste er sich, um nicht auch zum Smartphone zu greifen um Telefonate zu erledigen. Damit wäre wenigstens die wertvolle Zeit nicht nutzlos vergeudet.

Sein Blick schweifte über die unüberschaubare Menge Autos. Verbissene Mienen ließen erkennen, dass niemand die Situation besonders lustig fand. Starr stierten die meisten frustriert vor sich hin.

Warum sollte der Tag besser weitergehen, als er begonnen hatte? Schon am Frühstückstisch gab es lange Debatten mit der halbwüchsigen Tochter. Alle Belehrungen darüber, dass es ein Leben neben ständigen Events, Facebook und allen sonstigen sogenannten sozialen Netzwerken gibt, verpuffen. Auch, dass man mit 16 Jahren nicht bis spät in die Nacht ausgehen kann, stößt auf wenig Akzeptanz. Die vielen Möglichkeiten, die den Kindern heutzutage offenstehen, sind zur Selbstverständlichkeit geworden. Eltern haben für alles zu sorgen. Etwas selbst zu erarbeiten ist nicht mehr angesagt. Kosten für die teure Kleidung, Unternehmungen und die allerneueste Technik sind ebenso normal, wie für Tattoos und Piercing. Dank dafür ist auch nicht notwendig. Vergleiche mit der eigenen Jugend zählen nicht, das waren eben noch andere Zeiten. Orientiert wird sich allenfalls an den Jugendlichen die immer mit der neuesten Mode gehen und alle vermeintlichen Trends bedingungslos mitmachen.

„Ihr müsst euch daran gewöhnen, in welcher Zeit wir leben, sonst gehört ihr zu den ewig Gestrigen“, ist die trotzige Antwort auf so manche Fragen.

Wie sehr sie dabei von der Werbung mit ihrem ständigen Jugendwahn und von den Herstellern aller trendigen Artikel und den Modemachern manipuliert werden, fällt ihnen nicht auf und wird nicht eingesehen. Über die Kleidung hatten sie schon des Öfteren Diskussionen. Aufreizende Hotpants anziehen und dann wundern, wenn man ihnen hinterherpfeift wie käuflichen Mädchen. Mehr noch die zerschlissenen Jeans, die heutzutage extra so produziert werden, fanden bei ihm und seiner Frau wenig Zuspruch.

„Stell dir vor, ich würde mein Auto absichtlich zerkratzen und noch Löcher in die Karosserie schneiden, weil irgendein verrückter Designer das für IN erklärt“, fragte er sie einmal.

„Außerdem muss dir bewusst sein, dass gerade die Jeans in den Billiglohnländern produziert werden. Menschen, denen es am Allernötigsten fehlt, zum Beispiel in Bangladesch, müssen Textilien absichtlich zerstören um eurem unnatürlichen Geschmack gerecht zu werden. Wie sollen die das verstehen? Dann bleiben wir lieber bei unserer, wie du es nennst, stinkkonservativen Auffassung“.

Selbstkritisch fragte er sich dabei immer, ob er nicht tatsächlich rückständig war. War er schon zu alt um Veränderungen mitzumachen? Seine Welt und die seiner Frau war das jedenfalls nicht mehr. War es aber nicht schon immer das Privileg der Jugend sich von den Älteren abzuheben?Natürlich duldet man vieles, weil die zeitliche Zuwendung zu gering ausfällt. Der Job fordert eben seinen Tribut. Bloß die Diskrepanz zwischen SMS schreiben, Musikhören, Internetchats und allen Vergnügungen einerseits und den Schulnoten andererseits ist nicht zu dulden. Uneinsichtigkeit und vor allem Bequemlichkeit gilt es zu überwinden. Später würde sie sicher dafür dankbar sein. Bei diesen wiederholten Debatten kam er sich oft genervt und machtlos vor.

Dann auch noch die Vorwürfe von seiner Ehefrau. Etwas mehr Familiensinn wünscht sie sich.

„Merkst du nicht, wie wir uns auseinanderleben? Wo sind unsere Gemeinsamkeiten geblieben, wo unsere endlosen Gespräche wie in früheren Zeiten? Wir leben doch nur nebeneinander her und sind mehr eine Interessengemeinschaft als eine Familie. Fast alle anderen Männer sind früher und öfter zu Hause als du und widmen sich intensiver ihren Frauen und den Kindern“, wirft sie ihm böse vor.

Klar, die haben eben andere Jobs, oder auch ein anspruchsloseres Leben. Darunter, dass für die sportlichen Betätigungen, Vergnügungen, Besuche bei Freunden und auch Verwandten zu wenig Zeit bleibt, leidet er selbst genug. Wie oft schon musste er die angenehmeren Dinge zurückstellen oder sogar ganz ausfallen lassen, weil unangenehme berufliche Pflichten Vorrang hatten. Das musste sie ihm nicht auch noch vorwerfen. Letztendlich galt es für ihn, den sehr schwer erworbenen Lebensstandard zu erhalten und dauerhaft zu sichern. Merkte sie eigentlich nicht, wie sehr er unter den ständigen Belastungen zu leiden hatte. Darüber zu jammern war nicht seine Art. Wollte sie ihm das Leben noch schwerer machen?

Die Annehmlichkeiten, die sein hohes Einkommen ermöglichte, wurden von ihr gerne angenommen. Ein gut gefülltes eigenes Konto war obligatorisch. Einkäufe in den teuren Geschäften und Boutiquen, ohne Rücksicht auf die horrenden Kosten nehmen zu müssen, waren ihr sehr angenehm und sie machte regen Gebrauch davon. Die großzügigen Urlaube in noblen Hotels, mindestens dreimal im Jahr, betrachtete sie auch als Selbstverständlichkeit. Anscheinend unterlag Sabine, seine Angetraute, ebenso wie seine Tochter Verena dem Trugschluss, dass Geld ganz von selbst in unbegrenzter Menge auf das Bankkonto kommt. Ebenso wie der Strom einfach so aus der Steckdose zu entnehmen ist.

Alles in allem hatte es Heinz Krüger nach dem Frühstück schon gereicht. Sein Pensum an Ärger war für diesen Tag voll ausgeschöpft.

Auf dem Weg zur Firma dann auch einige Staus. Manches Mal fragt man sich, was sich die Planer eigentlich denken, wenn sie während dem starken Berufsverkehr noch Baustellen einrichten lassen. Natürlich muss ständig einiges repariert oder erneuert werden, aber etwas mehr Sensibilität bei dem ohnehin schon viel zu dichten Verkehr wäre angebracht. Vor allem entsteht der Eindruck, dass nicht schnell genug für die Fertigstellung gesorgt wird. Wie oft befinden sich an den Baustellen keine oder nur sehr wenige Beschäftigte. Wie soll es dann zügig voran gehen?

Was kann man als einer von vielen Leidtragenden dagegen tun, außer sich darüber zu grämen und zwangsläufig damit abzufinden? Zu wenig wird protestiert, zu viel wird einfach hingenommen. Im Vergleich mit anderen europäischen Ländern sind die Deutschen offensichtlich ein Volk von Jasagern.

„Was sollen wir denn machen, das bringt doch sowieso nichts“, wird oft geklagt bei Gesprächen über die vielen Unzulänglichkeiten und Ungerechtigkeiten. Klar, wenn jeder zu faul ist es überhaupt zu versuchen, kann sich auch nichts ändern. Uns geht es wohl viel zu gut und die Bequemlichkeit hat absoluten Vorrang.

Die Besprechung beim Kunden hatte ihn auch noch genervt. Besonders die langatmigen Erläuterungen und vielen Wiederholungen der Aufgabenstellung. Dabei war sehr schnell alles überschaubar und klar. Die Sachbearbeiter in den Großbetrieben müssen viel Zeit haben und keine Ahnung von der Hektik in einem kleinen Dienstleistungsbetrieb. In dieser langen Besprechungszeit war er sonst gewohnt einiges mehr zu bewältigen. Bei aller notwendigen Sorgfalt hatte ihm das erheblich zu lange gedauert. Aber er musste sich beherrschen, der Kunde ist König. Andererseits waren das bestimmt die normalen Menschen, er war der Hektiker. Während er eine Arbeit ausführte war er in Gedanken schon bei der nächsten Aufgabenstellung. Multitaskingfähig versuchte er immer mehrere Sachen gleichzeitig zu erledigen. Oft verließ er mit fünf bis sechs Anliegen seinen Schreibtisch. Wenn er zurück kam hatte er einen Teil davon noch nicht erledigt, dafür aber einige neue dazubekommen.

Hinzu kamen die zahlreichen störenden Anrufe mit sofortigem Handlungsbedarf, die ihn aus dem geplanten Ablauf heraus rissen. Man kann nicht mal in Ruhe arbeiten, ständig stören die Kunden, äußerte er manchmal scherzhaft.

Das gibt schon wieder ein später Feierabend heute. Überstunden bleiben bestimmt nicht aus. Endlich ein größerer Auftrag von einem renommierten Automobilhersteller. Lange hatte er darum gekämpft und ein sehr günstiges Angebot abgegeben. Nun hatte er endlich den Zuschlag bekommen. Aber mit einem Termin jenseits von Gut und Böse. Wahrscheinlich war das jedoch gerade der Grund, weshalb seine Firma ausgewählt wurde. Bestimmt waren nicht sehr viele Betriebe in der Lage in der kurzen Zeit die für diesen Auftrag notwendige Manpower zu mobilisieren.

Er fragte sich jetzt auch, wie er das bewältigen sollte. Schnell vor dem Schichtwechsel noch alle Mitarbeiter einbeziehen und zu Überstunden veranlassen. Zusätzlich ein paar Aushilfen aktivieren. Dann bleibt nur die Hoffnung, dass alle überproportional mitziehen und alles reibungslos läuft. Aufschub ist nicht möglich. Pannen darf es auch keine geben, es muss unbedingt termingerecht geliefert werden. Der Verkauf der Produkte, die mit den Drucksachen beworben und beschrieben werden sollten, ist dem Kunden ohne die rechtzeitige Fertigstellung nicht möglich. Messen und eine Vertreterversammlung sind bereits fest terminiert. An der Wichtigkeit des Auftrages gemessen, steht die Bezahlung eigentlich nicht im Verhältnis zum Aufwand und zum Risiko.

Zuerst galt es nun zu überprüfen, was alle anderen laufenden Aufträge für terminliche Spielräume zulassen, die man ausnutzen kann und auch muss. Dann alles umdisponieren und neue Prioritäten setzen. Herausholen was nur geht war angesagt. Eigene Freizeit, Sport und Familienleben konnte er gleich wieder abschreiben. Trotz der Diskussion mit seiner Frau über dieses Thema am Morgen. Was hatte er aus Managementseminaren gelernt, danach sollte er sich jetzt wohl am besten richten. Lieber mehr Zeit in die Arbeit, als Arbeit in die Zeit stecken, sonst machst du dich kaputt. Davon hätte keiner einen Nutzen. Irgendwie wird das zu schaffen sein. Bisher haben wir immer alles zur Zufriedenheit der Kunden bewältigt.

Seine Gedanken überschlugen sich. Der Kopf dröhnte. Unendliche Zahlenkolonnen und Daten liefen wie auf einem Monitor gescrollt ständig vor seinem geistigen Auge vorbei. Nicht resignieren, ganz ruhig abarbeiten, beruhigte er sich.

Zusätzlich zu den Aufträgen, die zu koordinieren und zu überwachen waren, gab es noch einiges, was dringend erledigt werden müsste.

Es ist Monatsende.

Die Lohnabrechnungen für die Mitarbeiter müssen umgehend zum Steuerberater.

Der Anwalt wartet auch seit einer Woche auf die Fakten für eine Klage wegen säumiger Zahlungen. Wahrscheinlich ist das vergebliche Liebesmüh und hinterher außer hoher Spesen nichts gewesen. Zum Schluss würde er zwar sicher Recht bekommen, aber nicht unbedingt das einzuklagende Geld. Sei es wegen Insolvenz des Beklagten oder weil aus irgendwelchen Gründen nichts mehr zu holen ist. Dem Verteidiger des Gegners wird wohl wieder ein juristischer Winkelzug einfallen, wie eine Zahlung zu umgehen ist. Dann könnte er die nicht unerheblichen Rechtsanwalts- und Gerichtskosten zum Ausfall dazu addieren, wie leider schon so oft. Im günstigsten Falle müsste er sich voraussichtlich auf einen ungerechtfertigten Vergleich einlassen, um wenigstens einen Großteil des ihm zustehenden Geldbetrages zu retten.

Rechnungen müssten auch dringend geschrieben werden, damit wieder Geld auf die Konten fließt. Totes Kapital in Form von abrechnungsfertigen Produktionen stapelt sich seit einigen Tagen schon auf seinem Schreibtisch. Für die vielen laufenden Verpflichtungen muss die Kreditlinie herhalten. Überflüssige Zinsen sind die Folge. Zumal durch seine großzügigen Materialvorräte auch noch hohe Lieferantenrechnungen zu begleichen sind. Aus kaufmännischer Gewohnheit zahlte er zügig mit Ausnutzung der Skontierung.

Angebotsanfragen waren jede Menge aufgelaufen. Zur Sicherung der nächsten Aufträge sollten sie schnellstens erledigt werden. Vielleicht ließ sich ein Teil davon an die Mitarbeiter delegieren. Dann müsste er nur noch eventuelle Ungereimtheiten beseitigen und die Preise sowie die möglichen Zugeständnisse festlegen.

Personalgespräche und Betriebsratsbesprechungen standen zu allem Überfluss auch an. Ein Mitarbeiter müsste eine Abmahnung erhalten wegen seines übertriebenen Alkoholgenusses während der Arbeitszeit. Ob berechtigt oder nicht, Unruhe und Diskussionen unter den Beschäftigten gab es fast immer bei solchen Aktionen. Auswirkungen auf die Arbeitsmoral und Einsatzbereitschaft könnten folgen. Diese waren im Moment aber überhaupt nicht zu gebrauchen. Jetzt müsste er das besser vorsorglich zurückstellen, weil jede verfügbare Arbeitsstunde benötigt wurde.

Ganz ruhig bleiben, auch wenn es schwerfällt. Systematisch eins nach dem anderen abarbeiten, nahm er sich fest vor. Hineingewachsen in seinen umfangreichen Arbeitsbereich hatte er im Laufe der Jahre festgestellt, wie viel mehr der Mensch zu bewältigen in der Lage ist, wenn er unter Druck steht. Natürlich half ihm die lange Erfahrung und Routine. Arbeiten, die früher endlose Stunden benötigten, konnte er jetzt in kurzer Zeit bewältigen. Auch hatte er gelernt zu differenzieren was davon sofort sein musste und was noch Spielraum hatte. Vieles erledigte sich auch mit der Zeit von selbst oder wurde sogar überflüssig. Überhaupt nicht bearbeiten war die letzte verbleibende Alternative. Zum Beispiel Kostenanfragen die nicht sonderlich erfolgversprechend scheinen, oder nicht lukrativ sind. Einfach notgedrungen unbeantwortet lassen. Gerne machte er das nicht und die Kunden waren das auch nicht von ihm gewohnt. Aber was blieb ihm sonst übrig. Der Tag hat nur 24 Stunden.

Endlich hatte Heinz Krüger nun seinen Standort erreicht. Schnell einparken in der Tiefgarage und auf geht es mit Elan. Was macht das Auto mitten in der Einfahrt zum zweiten Untergeschoss des Parkhauses? Der Fahrer schläft wohl ein wenig. Mit etwas Mühe kam er gerade so daran vorbei. Das war verdammt eng.

Beim Aussteigen erfasste ihn plötzlich ein leichtes Schwindelgefühl. Einige Sekunden verschwamm alles vor seinen Augen. Einen Moment musste er verharren und sich abstützen. Vielleicht ist es nur etwas Unterzucker. Schnellstens sollte er etwas trinken. Mittagessen wäre auch längst überfällig, aber jetzt hatte er dafür überhaupt keine Zeit.

Hastig begab er sich zum Fahrstuhl und fuhr in die zweite Etage. Hier produzierte seine Firma. An dem Unternehmen hatte er nur einen Kapitalanteil, war aber als geschäftsführender Gesellschafter verantwortlich und den zwei anderen Teilhabern gegenüber Rechenschaft schuldig.

An sich lief wirtschaftlich alles noch gut, aber der ständige Umsatzdruck setzte ihm beachtlich zu. Die kurzfristigen, meist kleinen Aufträge sicherten keine längerfristige oder gar dauerhafte Auslastung. Jeden Tag musste man sich neu bewähren. Jeder Kunde war wichtig und musste dementsprechend hofiert werden. Ob er angenehm war oder nicht. Auch risikoreiche Aufträge mussten mitlaufen. Nie wusste er, ob er nach drei bis vier Tagen noch genügend Beschäftigung für die mehr als 30 Mitarbeiter hatte. Aber die gleichbleibend hohen monatlichen Kosten wusste er sehr genau. Die waren fix und lasteten auf seinen Schultern. Es war eine nicht unerhebliche ständige Belastung.

Jede Woche kontrollierte er sorgfältig den Umsatz und rechnete die bereits anteilig produzierten Aufträge hinzu. Es war oft ganz schön knapp, aber meistens ging es wenigstens gerade noch so auf. Reserven und Liquidität waren zwar vorhanden, aber die wollte er nicht ausschöpfen.

Bequem war sein Job nicht. Spaß an der Arbeit gab es selten, Umsatz- und Kostendruck fast immer. Gerne wäre er so manches Mal aus dem täglichen Trott ausgebrochen. Aussteigen, neu beginnen mit einer bequemeren Beschäftigung, die befriedigt und dennoch für ausreichendes Einkommen sorgt. Aber der Druck der privaten Kosten und die Ungewissheit, was die Alternative bringen würde, hielten ihn ab. Als Alleinverdiener musste er ja auch seine Frau und seine Tochter mitversorgen. Hypotheken waren auch auf seinem Anwesen.

Hektisch im zweiten Stock angekommen, überkam ihn erneut der Schwindel. Alles rundherum nahm er für kurze Zeit nur ganz verschwommen wahr. Der Druck in seinem Kopf ließ nicht nach.

Ausspannen wäre wieder einmal angesagt. Am Wochenende würde aber sicherlich dafür keine Zeit bleiben. Haus und Garten und die familiären Beanspruchungen würden mehr Zeit in Anspruch nehmen, als neben den beruflichen Pflichten noch verbleiben konnte.

Bald hatte er ja Urlaub geplant. Das würde zwar vorher durch die Vorausplanung den Stress nochmals erheblich erhöhen, aber dann könnte er zwei Wochen an einem Stück ausspannen. Dabei würde er sich mehr seiner Frau und seiner Tochter widmen. Das sollte etwas Ruhe in die momentan sehr angespannten Verhältnisse bringen, hoffte er. Dafür müsste er sich aber etwas umstellen und überwinden. Mehr Zeit opfern, die er entsprechend seiner permanenten Ruhelosigkeit ansonsten mit Sport, Strandwanderungen und allen Aktivitäten die vor Ort angeboten wurden verbringen würde.

Normalerweise war er mit Ausnahme der fest eingeplanten gemeinsamen Tennisrunden und der Essenszeiten ständig unterwegs von einer Unternehmung zur anderen. Immer auf der Suche nach neuen Attraktionen oder Eindrücken. Ruhig am Strand oder Pool liegen und Bücher verschlingen war nicht seine Art. Wenn er von Sabine gebeten wurde etwas auszuruhen, hielt er das nur wenige Minuten aus. Dann zog es ihn wieder los. Schwimmen, Surfen, Tennis spielen, Volleyball, Bogenschießen und vieles mehr hielten ihn davon ab. Allenfalls an einer der zahlreichen Bars konnte er sich, in interessante Unterhaltungen und endlose Diskussionen verstrickt, manchmal etwas länger aufhalten. Kontaktfreudig wie er war, fand er oft angenehme Gesprächspartner.

Falls gerade mal nichts auf dem Programm stand, pilgerte er am Strand entlang auf der Suche nach Unbekanntem. Es kam vor, dass er sich vom Liegestuhl entfernte und erst nach über zwei Stunden wieder zurückkehrte. Kopfhaut und Rücken zeigten dann deutliche Spuren der Sonnenbestrahlung, weil er zu nachlässig war für entsprechenden Schutz zu sorgen. Am Ufer entlang laufend, reizte ihn das Gelände hinter der nächsten Biegung und trieb ihn weiter bis Durst und Hunger endlich zur Umkehr zwangen. Mit diesem Verhalten würde er bestimmt nicht die Wogen der momentanen familiären Spannungen glätten. Er wusste darum und würde sich bemühen, den Rest musste er auf sich zukommen lassen. Sabine stellte schon fest, wann er litt und ließ dann die Zügel vielleicht lockerer.

An die Rückkehr aus dem Urlaub dürfte er nur gar nicht erst denken. Fast immer waren dann so viele aufgelaufene Arbeiten zu erledigen, dass selbst die beste Erholung schnell wieder aufgezehrt wurde. Bisher hatte er immer nach seinen Auszeiten bis zum Umfallen schuften müssen, bis alles wieder aufgearbeitet war. Sein Stellvertreter hatte mit der Bewältigung seines eigenen Aufgabenbereiches genug zu tun, der musste bestimmt einiges vor sich herschieben und für ihn liegen lassen. Zu manchen Entscheidungen fehlten ihm auch der Mut und die entsprechende Erfahrung.

Zunächst hieß es jetzt für Heinz Krüger sich erst mal wieder zu sammeln und die aktuelle Situation zügig zu bewältigen.

Viel Zeit hatte ihn die Fahrt gekostet, aber noch schlimmer war die Beanspruchung seiner Nerven. Mindestens vier bis fünf Zigaretten hatte er zu seiner Beruhigung auf dem Rückweg geraucht. Das war seiner Gesundheit nicht gerade zuträglich.

Nur sehr langsam löste sich der Schwindel und er konnte etwas klarer sehen und denken.

Kapitel 2

Beim Betreten des Betriebes rief Heinz Krüger laut:

„Hallo Leute, ich bin wieder zurück. Wie läuft es, ist alles klar, liegt irgendetwas Besonderes an? Es tut mir leid, dass es so lange gedauert hat, aber die ganze Stadt ist voller Blechlawinen."

Er wusste um die straffe Auftragslage und den starken Termindruck. Jede vergeudete Stunde sorgte für noch mehr Hektik.

Als keine Antwort kam, schaute er zu den Schreibtischen und fand seine beiden Sachbearbeiter in Büroschlafhaltung nach vorne gebeugt an ihren Arbeitsplätzen kauernd. Sein Hals schwoll an, das hatte er auch noch nicht erlebt.

Wieder verspürte er einen leichten Schwindel, sein Blick war verschwommen. Ein wenig schwankte er wie betrunken, sein Gleichgewichtsinn war wohl gestört. Wie im Nebel nahm er die Umgebung war. Verzweifelt versuchte er sich zu konzentrieren und deutlicher zu sehen. Es gelang ihm nur mit Mühe.

Näher herangetreten stutzte er noch mehr. Die beiden Mitarbeiter zeigten keinerlei Lebenszeichen mehr. Bewegungslos und seltsam starr hingen sie über ihren Schreibtischen. Sofort suchte er ihren Pulsschlag an Armen und Schläfen und prüfte die Atmung. Ohne Erfolg, sie waren unverkennbar tot. Die Körper waren noch warm, also konnte es noch nicht lange sein. Nichts deutete auf eine Ursache hin. Es gab keinerlei Anzeichen einer Gewalteinwirkung. Äußerlich schienen beide unversehrt. Der Schreck fuhr ihm in alle Glieder, ein kalter Schauer lief ihm über den Rücken, seine Hände zitterten.

Beide kannte er schon sehr lange, sie verband ein freundschaftliches Verhältnis. Auch die Familienverhältnisse und die persönlichen Schicksale waren ihm nach langer Zusammenarbeit vertraut.

Harald, sein Stellvertreter, Auftragssachbearbeiter und erster Disponent hatte mit ihm zusammen die Firma aufgebaut. Selbst in schwierigen Situationen war auf ihn immer Verlass gewesen. Manchen größeren Auftrag hatten sie durchgeboxt und das eine oder andere Feierabendbier zusammen getrunken um sich die Sorgen von der Seele zu reden.

Haralds Ehefrau, eine hübsche aber sehr stille Person, arbeitete in verantwortlicher Stellung bei einem internationalen Unternehmen außerhalb von München. An den Werktagen wohnte sie dort in einem Appartement. Sie führten eine lockere Wochenendehe, in der sich beide Freiheiten nahmen und ließen. Mit zwei guten Gehältern konnten sie sich viele ihrer Wünsche erfüllen. Einige Fernreisen und viele Wochenendurlaube sorgten für ein ausgeglichenes Gemüt. Jede freie Minute war Harald auf der Suche nach neuen abwechslungsreichen, zum Teil recht abenteuerlichen Unternehmungen. Jeden Montag wusste er von einem ereignisreichen Wochenende zu berichten. Von Hausarbeit und vielen anderen Verpflichtungen wurden sie von seinen Eltern frei gehalten, mit denen sie im gleichen Haus wohnten.

Um sein sorgenfreies Leben beneideten ihn viele. Harald war nicht nur ein geschätzter Mitarbeiter, sondern auch ein Freund, mit dem er vertrauliche Gespräche führen konnte. Privat hatten sie sich schon oft verabredet und die beiden Ehefrauen verstanden sich ausgezeichnet. Nur schwer konnte er den Blick von ihm abwendenund sich dem zweiten Sachbearbeiter zuwenden.

Gerhard war ebenfalls verheiratet und hatte zwei kleine Kinder. Seine sehr zierliche Frau war die Unselbstständigkeit in Person. Bei jeder Kleinigkeit rief sie ihn an und musste beraten werden. Fast alle Besorgungen und Erledigungen überließ sie ihm. Er musste sie buchstäblich wie ein kleines Kind an die Hand nehmen und durch das Leben führen. Ihre Anhänglichkeit war ihm manches Mal lästig. Es kam öfter vor, dass er sich losreißen musste aus ihrer Umklammerung und in die Firma flüchtete. Da für ihn immer genügend zu tun war, konnte er es ihr gegenüber leicht rechtfertigen.

Wie sollte diese arme Frau in ihrer Unbeholfenheit jetzt mit den beiden kleinen Kindern ohne Ehemann im weiteren Leben zurechtkommen? Durch Freunde und Verwandte hatte sie seines Wissens auch keine Unterstützung zu erwarten.

Während Heinz den beiden ersten Mitarbeitern nachtrauerte, überlegte er fieberhaft, was passiert sein könnte. Im Moment fand er keine schlüssige Erklärung. Auch im ganzen angrenzenden Betrieb war es ungewöhnlich ruhig. Kein Laut war zu vernehmen. Von dem verkehrsreichen Platz vor dem Bürogebäude war ebenfalls nichts zu hören.

Ein Blick in die angrenzenden Produktionsräume ließ ihn dann vollends erstarren. Das Blut stockte ihm in den Adern, er befürchtete tot umzufallen, wie offensichtlich alle anderen auch. Schnell durchlief er die restlichen Räume. Überall das gleiche Bild. Alle hingen oder lagen leblos herum. Ihre Gesichter wirkten eingefallen, der Blick starr. Sie sahen aus, als hätte man ihren Körpern alle Flüssigkeiten entzogen.

Geschockt ließ er sich auf dem nächsten erreichbaren Stuhl nieder und sank in sich zusammen. Lähmende Angst blockierte alle seine Gedanken und Bewegungen. Was war hier bloß los? Für einen Unfall in der Firma gab es keinerlei Anzeichen. Alle Geräte waren in Betrieb, alles funktionierte augenscheinlich wie sonst immer.

Erst nach einigen Minuten löste sich seine Starre. Sein Organisationstalent kam wieder zu Tage. Helfen könnte hier zwar bestimmt niemand mehr, aber er musste sich Klarheit verschaffen über diese außergewöhnliche Situation und irgendetwas unternehmen. Also schnell einen Notruf absetzen. Das Telefon funktionierte offensichtlich, aber unter der 110 meldete sich nach langem läuten niemand. Der nächste Versuch galt der Feuerwehr, aber auch unter der Nummer 112 kam nur das Freizeichen. Sein Herz schlug wie wild. Was konnte passiert sein? Ratlos ging er noch einmal von einem zum anderen und schaute sie verzweifelt und nachdenklich trauernd an.

Da war zunächst Ingrid, eine ebenfalls langjährige Mitarbeiterin. Sie würde ganz bestimmt in vielen Münchener Diskotheken eine Lücke hinterlassen. Als absoluter Nachtmensch entging ihr kein Event. Das zeigte sich fast täglich an den dunklen Ringen unter ihren Augen. Sie lebte als Single und kostete ihre Freiheit aus. Manchmal nahm sie sich auch im Betrieb Besonderheiten heraus. Heimlich bediente sie sich an seinem Whisky. Trotzdem war sie eine engagierte Mitarbeiterin, die er zu schätzen wusste.

Bei Hartmut musste er gleich mehrmals schlucken. Dessen Frau war jetzt im achten Monat schwanger. Das Kind würde nun wohl leider ohne Vater das Licht der Welt erblicken. Hartmut hatte die ganze Schwangerschaft mitgefühlt, als würde er selbst gebären. Die Schwangerschaftsgymnastik gehörte ebenso wie ein Wickelkurs zu seiner Vorbereitung. Voller sehnsüchtiger Erwartung hatten sie der Niederkunft entgegengefiebert und bereits die Tage bis zur Geburt gezählt. Mehrmals täglich erkundigte er sich telefonisch nach dem Wohlbefinden seiner Frau.

Bei allen Angestellten kamen die Erinnerungen hoch an so manche Episoden, die bleibenden Eindruck hinterlassen hatten.

Vor allem aber musste er an ihre Familien denken, die jetzt ohne ihre Ernährer dastanden.

Besonders auch bei Bert, der gerade seine ganze Freizeit und Energie in den Bau eines Eigenheimes steckte. Die Arbeit in der Firma hatte dadurch nie gelitten. Es war aber erkennbar und bekannt, dass er sich finanziell sehr stark übernommen hatte. Seine Frau ging jeder angebotenen Arbeit nach, um mitzuverdienen. Selbst zum Putzen war sie sich nicht zu schade. Mit einem Firmendarlehen hatte Heinz ihm kürzlich aus der größten Not geholfen, was er mit überproportionalem Einsatz quittierte.

Günter, der neben Bert zusammengesunken war, hatte auch kein leichtes Leben. Seine, bei ihm im Haus lebenden Eltern waren beide sehr krank und gebrechlich. Immer mal wieder musste er in akuten Notsituationen die Arbeit niederlegen und schnell zu ihnen nach Hause fahren, um sie zu versorgen. Ein Altersheim kam für die beiden nicht in Frage. Ihr Haus würden sie nur liegend mit den Füßen voran jemals verlassen, ließen sie immer verlauten. Wer würde sich jetzt um die beiden hilflosen alten Menschen kümmern?

Im nächsten Raum fand Heinz dann Wolfgang am Boden liegend vor. Ein Mann wie ein Bär, der in der Vergangenheit immer mal wieder durch seine Eskapaden aufgefallen war. Hauptsächlich bei den alljährlichen obligatorischen Oktoberfestbesuchen sorgte er für Aufsehen. Einmal wurde er danach nachts vor dem Eingang des Firmengebäudes stark unterkühlt aufgefunden. Da er im Rausch seinen Heimweg nicht mehr fand, wollte er im Büro übernachten. Der Firmenschlüssel war ihm jedoch aus den Händen geglitten. Er war nicht mehr in der Lage ihn aufzuheben und schlief vor der Eingangstür in eisiger Kälte ein. Durch Zufall wurde er noch rechtzeitig, stark unterkühlt aufgefunden.

In einem anderen Jahr wollte ihn ein Kollege vorsorglich nach Hause bringen. Der Taxifahrer war erst nach Zahlung einer Sicherheitsleistung für die eventuell zu befürchtenden Verunreinigungen des Wagens bereit, ihn mitzunehmen. Anschließend hatten sie sehr große Mühe seine Adresse aus ihm heraus zu bekommen. Vor der Tür der allerersten angegebenen Anschrift erzählte ihnen Wolfgang ausführlich, dass er in diesem Haus geboren wurde und lange dort gelebt hatte, bevor er in eine eigene Wohnung gezogen sei. Auch das nächste Ziel war nur eine frühere Bleibe. Erst die dritte Anschrift außerhalb der Stadt, die ihm nach langem Kampf zu entlocken war, stellte sich als richtig heraus. Zusammen mit seiner momentanen Lebensgefährtin mussten sie ihn mühevoll in die zweite Etage schaffen und ins Bett verfrachten. Die Taxikosten hatten durch diese lange nächtliche Stadtrundfahrt eine beträchtliche Höhe erreicht, was bei der nachfolgenden Spesenabrechnung zwangsläufig erklärungsbedürftig war.

Auch Herbert, der Kollege den er als nächsten fand, kannte bei entsprechenden Gelegenheiten keine Grenzen. Eines Nachts fand er zwar seinen Heimweg noch, nicht jedoch das richtige Haus. Seiner Erzählung nach klammerte er sich zunächst an einen Laternenpfahl, den er ständig umrundete und dabei verzweifelt versuchte sich zu orientieren. Vermeintlich kamen viele ähnlich aussehende Häuser rotierend an ihm vorbei. In seiner Not wankte er dann von Block zu Block. Mit der flachen Hand drückte er sämtliche Klingeln und fragte lallend nach, ob er in dem Block wohnen würde. Zu nächtlicher Stunde sorgte das verständlicherweise für Aufruhr. Beim dritten Haus angelangt, kamen zwei freundliche, grün gekleidete Männer und nahmen ihn mit in ein nur sehr spärlich möbliertes Übergangsquartier. Seine Frau musste ihn am nächsten Vormittag aus der Ausnüchterungszelle des Polizeireviers abholen. Einige Tage hing danach der Haussegen schief.

Diese Erlebnisse waren durch den jeweils guten Ausgang immer wieder unterhaltsame Episoden, die in trauter Runde noch oft erzählt wurden und nachhaltig in der Erinnerung haften blieben. Jetzt fielen sie ihm wieder ein, während er seinen Rundgang fortsetzte.