Übersinnlicher Retter - Tina Folsom - E-Book

Übersinnlicher Retter E-Book

Tina Folsom

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Beschreibung

Als eine Hellseherin Pearce warnt, dass er von der menschlichen Frau Daphne ermordet werden wird, macht er sich auf die Suche nach ihr, um die Zukunft zu verändern. Nach einer Karriere als Hackerin und mehreren Zusammenstößen mit dem Gesetz versucht Daphne als Analytikerin für Cyber-Security auf der rechten Bahn zu bleiben. Doch als ihr Bruder mit einem Kredithai in Schwierigkeiten gerät, ist sie gezwungen, ihre Fähigkeiten zu nutzen, um seine Schuld zu tilgen – eine Tat, die sie auf Kollisionskurs mit den Hütern der Nacht und deren Erzfeinden, den Dämonen der Angst, leitet. Die Mission, die Daphne davon abhalten soll, Pearce zu töten, verwandelt sich schnell in einen Wettlauf gegen die Zeit, um zu verhindern, dass der Schlüssel zur sicheren Vernichtung der Hüter der Nacht und der gesamten Menschheit in die Hände der Dämonen fällt. Lara Adrian, New York Times Bestseller Autorin der Midnight Breed Serie: "Bereiten Sie sich auf eine wilde Fahrt vor! Die Hüter der Nacht sind die Einzigen, die zwischen der Menschheit und der Dämonen stehen, die versuchen, die Welt zu beherrschen. Für rasante paranormale Liebesromane, bei denen viel auf dem Spiel steht, sollten Sie unbedingt Tina Folsom zu Ihrer Pflichtlektüre hinzufügen!" Über die Serie Die unsterblichen Hüter der Nacht können sich unsichtbar machen und schützen die Menschen seit Jahrhunderten vor der dunklen Macht der Dämonen der Angst. Die Hüter leben in Komplexen, die für Menschen und Dämonen gleichermaßen unsichtbar sind, aber die Gefahr ist nie weit entfernt. Nur die Hüter der Nacht stehen zwischen der Menschheit und den bösen Plänen der Dämonen, die Menschheit zu unterwerfen. Während sie die Menschen vor den Dämonen und ihrem bösen Anführer Zoltan, dem Großmächtigen, beschützen, müssen die Hüter ihr eigenes Leben riskieren, um ihre Mission zu erfüllen, ohne dass die Menschen herausfinden, wer sie sind. Doch nicht alles läuft nach Plan. Und selbst unsterbliche Hüter können sich verlieben. Hüter der Nacht Band 1 – Geliebter Unsichtbarer Band 2 – Entfesselter Bodyguard Band 3 – Vertrauter Hexer Band 4 – Verbotener Beschützer Band 5 – Verlockender Unsterblicher Band 6 – Übersinnlicher Retter Band 7 – Unwiderstehlicher Dämon Scanguards Vampire Band 1 - Samsons Sterbliche Geliebte Band 2 - Amaurys Hitzköpfige Rebellin Band 3 - Gabriels Gefährtin Band 4 - Yvettes Verzauberung Band 5 - Zanes Erlösung Band 6 - Quinns Unendliche Liebe Band 7 – Olivers Versuchung Band 8 – Thomas' Entscheidung Band 8 1/2 – Ewiger Biss Band 9 – Cains Geheimnis Band 10 – Luthers Rückkehr Band11 – Blakes Versprechen Band 11 1/2 – Schicksalhafter Bund Band 12 – Johns Sehnsucht Novelle – Brennender Wunsch Band 13 – Ryders Rhapsodie (Scanguards Hybriden - Band 1) Band 14 - Damians Eroberung (Scanguards Hybriden - Band 2) Band 15 - Graysons Herausforderung (Scanguards Hybriden - Band 3) Codename Stargate Band 1 - Ace – Auf der Flucht Band 2 - Fox – Unter Feinden Band 3 - Yankee – Untergetaucht Band 4 – Tiger – Auf der Lauer Der Clan der Vampire Der Clan der Vampire (Venedig 1 – 2) Der Clan der Vampire (Venedig 3 – 4) Der Clan der Vampire (Venedig 5) Jenseits des Olymps Band 1 - Ein Grieche für alle Fälle Band 2 - Ein Grieche zum Heiraten Band 3 - Ein Grieche im 7. Himmel Band 4 – Ein Grieche für Immer Die Hüter der Nacht Serie hat alles: Liebe auf den ersten Blick, von Feinden zum Liebespaar, Alpha-Helden, Leibwächter, Brüderschaft, Jungfrau in Not, Frau in Gefahr, verborgene Identität, Unsichtbarkeit, Seelenverwandte, gequälter Held , Altersunterschied, zweite Liebeschance, trauernder Geliebter, Rückkehr von Totgeglaubten, heimliches Baby, Entführungen, von Freundschaft zu Liebschaft, heimlicher Verehrer, unerwiderte Liebe, verbotene Liebe, Partner bei der Verbrechensbekämpfung.

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Table of Contents

Title Page

Kurzbeschreibung

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Auch in dieser Serie

Über die Autorin

Copyright

Übersinnlicher Retter

 

Hüter der Nacht – Buch 6

 

Tina Folsom

Kurzbeschreibung

 

Als eine Hellseherin Pearce warnt, dass er von der menschlichen Frau Daphne ermordet werden wird, macht er sich auf die Suche nach ihr, um die Zukunft zu verändern.

Nach einer Karriere als Hackerin und mehreren Zusammenstößen mit dem Gesetz versucht Daphne als Analytikerin für Cyber-Security auf der rechten Bahn zu bleiben. Doch als ihr Bruder mit einem Kredithai in Schwierigkeiten gerät, ist sie gezwungen, ihre Fähigkeiten zu nutzen, um seine Schuld zu tilgen – eine Tat, die sie auf Kollisionskurs mit den Hütern der Nacht und deren Erzfeinden, den Dämonen der Angst, leitet.

Die Mission, die Daphne davon abhalten soll, Pearce zu töten, verwandelt sich schnell in einen Wettlauf gegen die Zeit, um zu verhindern, dass der Schlüssel zur sicheren Vernichtung der Hüter der Nacht und der gesamten Menschheit in die Hände der Dämonen fällt.

 

* * * * *

Copyright © 2019 Tina Folsom

* * * * *

1

 

„Du wirst ermordet werden!“

Pearce wirbelte herum. Sein Haar war tropfnass, er war barfuß und beinahe hätte er das Badetuch fallen gelassen, das seine nackte Haut von der Taille bis zu den Knien bedeckte. Er hielt das Badetuch fest um sich gewickelt und starrte den Eindringling an.

Es war eine ungeschriebene Regel im Komplex, nie uneingeladen das Privatquartier eines Kriegers zu betreten. In den vielen Jahren, die er schon in Baltimore lebte, hatte noch nie jemand seine Privatsphäre gestört. Obwohl die Türen Schlösser hatten, benutzte sie niemand. Wozu auch? Ein Hüter der Nacht konnte durch Wände und Türen dringen, als schritte er durch Luft. Schlösser waren somit nutzlos. Mit den menschlichen Frauen seiner Kameraden war es jedoch eine andere Sache – sie besaßen die übernatürlichen Fähigkeiten ihrer Ehemänner nicht. Das Gleiche galt für die Hellseherin in ihrer Mitte. Obwohl sie übernatürliche Fähigkeiten hatte, war Wände zu durchschreiten keine davon. Also hatte sie einfach die Tür geöffnet – ohne Einladung und scheinbar ohne vorher zu klopfen.

„Was zum Teufel, Winter?“, knurrte er sie an.

Winter wischte die Rüge weg, als kümmerte es sie gar nicht, und näherte sich. „Hast du mich nicht gehört, Pearce? Du wirst erstochen werden!“

„Ja, das glaube ich gerne. Und zwar sobald Logan dich in meinem Quartier auffindet!“

Winters Gefährte, der Hüter der Nacht Logan, war ein außerordentlich besitzergreifender Mann und sehr geschickt mit seinem Dolch. Sollte er Winter, nur mit einem Bademantel über ihrem dünnen Nachthemd bekleidet, in den Räumen des halb nackten Pearce auffinden, dann würde dieser dafür büßen müssen.

Bestenfalls würde Logan ihn verprügeln und schlimmstenfalls würde er seinen Dolch, eine Waffe, die sogar einen Unsterblichen töten konnte, benutzen, um wirklichen Schaden anzurichten.

„Hast du noch alle Tassen im Schrank, hier aufzutauchen? Was, wenn Logan dich in meinem Quartier findet?“

Sie machte eine wegwerfende Handbewegung. „Mach dir nicht in die Hose. Er ist in der Dusche.“

„Ja, das war ich auch“, sagte Pearce trocken und machte eine entsprechende Bewegung mit seiner freien Hand, mit jener, die nicht gerade sein Badetuch umklammerte. „Und jetzt würde ich mich gerne anziehen.“ Er deutete zur Tür. „Ohne Zuschauer.“

„Du verstehst nicht“, fuhr Winter mit frustriert klingender Stimme fort. „Es ist nicht Logan, der dich umbringen wird, sondern Daphne.“

Wasser tropfte in Pearce’ Augen, er wischte sich mit der Hand über sein Gesicht und streifte die nassen Haare, die einen Haarschnitt nötig hatten, zurück. „Wer zum Teufel ist Daphne?“

„Die Frau, die dich in meiner Vision umgebracht hat.“

„Du hattest eine Vision über mich?“

Sie ließ sich auf die Couch fallen und seufzte. „Na endlich kapierst du’s. Wenn du sonst auch so langsam bist, dann ist es kein Wunder, dass du ermordet wirst.“

Pearce verdrehte die Augen. „Damit hättest du anfangen sollen.“

„Womit?“

„Mit der Tatsache, dass du eine Vision hattest. Und damit, zuerst zu klopfen.“

„Na, tut mir leid, dass ich mir Sorgen mache, aber meine Visionen sind nie falsch.“ Sie erhob sich mit einem Schnauben. „Aber wenn du lieber unvorbereitet in die Gefahr laufen willst, dann mach nur.“ Sie schickte sich an, den Raum zu verlassen.

„Tut mir leid, Winter. Bitte geh nicht.“

An der Tür zögerte sie, dann wandte sie sich langsam um. „Also glaubst du mir jetzt?“

„Ich habe nie gesagt, dass ich dir nicht glaube. Ich war nur über die Art und Weise deiner Offenbarung nicht erfreut. Es passiert ja nicht jeden Tag, dass ein Mann herausfindet, dass er ermordet werden wird.“

„Mit einem Dolch der Hüter der Nacht erstochen, um genau zu sein“, sagte sie. „Von einer Frau!“

„Einer Dämonin“, korrigierte Pearce sie.

Winter schüttelte, wenn auch zögernd, den Kopf. „Ich glaube nicht. Ich bin mir nicht sicher, aber ich glaube, sie war ein Mensch.“

„Wieso glaubst du das?“

„Sie hatte einen verletzten Arm. Und die Wunde blutete. Rot.“

„Kein grünes Blut? Bist du dir da sicher?“ Es gab zwei Arten, auf die man einen Dämon erkennen konnte. Eine davon war das grüne Blut. „Und ihre Augen? Waren sie grün?“

„Ich konnte die Farbe nicht sehen, aber sie haben nicht giftgrün geschimmert, wie ich es bei anderen Dämonen gesehen habe.“

Und Winter war schon vielen Dämonen begegnet, mehr, als sie jemals gewollt hatte. Zum Glück hatte sie die Tortur überlebt. Wenn jemand außer den Hütern der Nacht die grünen Augen eines Dämons erkennen konnte, dann war das Winter.

Pearce dachte ein paar Augenblicke über Winters Worte nach. „Sie hätte farbige Kontaktlinsen tragen können.“

„Möglich, aber dann bleibt immer noch der blutende Arm.“

„Hmm.“ Das Risiko, über kurz oder lang von einem Dämon getötet zu werden, war Teil des Lebens eines Hüter-der-Nacht-Kriegers. Aber von einem Menschen getötet zu werden? „Woher weißt du, wie sie heißt?“

„Du hast sie Daphne genannt, bevor sie dir in die Brust gestochen hat. Du kanntest sie.“

Pearce schüttelte den Kopf. „Das ist unmöglich. Ich kenne keine Frau, die Daphne heißt.“

„In meiner Vision kanntest du sie.“

Er durchkämmte seine Erinnerungen, doch er war sich sicher, dass er keine Frau namens Daphne kannte. „Was sonst noch? Wo wird es geschehen?“

Winter sah aus, als wollte sie mit den Schultern zucken, doch dann überlegte sie es sich anders und hob ihren Kopf, als erinnerte sie sich plötzlich an etwas. „Eigentlich war es seltsam. Es sah aus wie im Backstage-Bereich eines Theaters oder Filmstudios – du weißt schon, wo sie Filme drehen. Es sah aus wie in einer Szene eines mittelalterlichen Theaterstücks oder einer Show.“

„Ein Filmstudio?“

„Ja, oder ein Theater.“

„Erzähl mir mehr von der Frau“, verlangte Pearce.

„Bin mir nicht sicher, was ich dir über sie erzählen soll.“

„Alter, Haarfarbe, Größe, hässlich oder hübsch, dünn oder dick, du weißt schon.“

Winter sah in die Ferne, als beschwöre sie das Bild nochmals herauf. „Sie war etwa in ihren Dreißigern, aber ich finde es schwer, das Alter einer anderen Frau zu schätzen. Also, lass uns sagen, sie war über fünfundzwanzig und vermutlich unter vierzig. Gut aussehend, nicht dünn, aber muskulös.“

„Burschikos?“

Winter verdrehte ihre Augen. „Männer! Nein, nicht burschikos. Sie sah nur so aus, als ob sie auf sich achtet, Sport treibt und gesund isst. Sie war auch hübsch. Langes dunkles Haar. Irgendwie niedlich.“

„Oh, super!“, sagte Pearce voller Sarkasmus. „Nicht nur werde ich von einer menschlichen Frau umgebracht, sondern auch noch von einer niedlichen. Na, dann ist es ja ok. Dann muss ich wenigstens in der Stunde meines Todes nicht in das Gesicht einer hässlichen Frau starren.“ Er seufzte. „Sorry, mach nur. An was erinnerst du dich sonst noch?“

„Sie war sonderbar angezogen.“

„Wie?“

„Sie trug ein Kostüm. Du weißt schon, wie eine Superheldin.“

„Das macht überhaupt keinen Sinn.“

Winter zuckte mit den Schultern. „Du warst nicht weniger sonderbar angezogen. Du hattest eine Art mittelalterliche Uniform an. Weißt du, als wärt ihr beide für eine Halloween-Party verkleidet.“

Pearce schüttelte den Kopf. „Ich gehe zu keinen Halloween-Partys. Hast du sonst noch was bemerkt?“

„Eine Sache war echt seltsam.“ Sie zögerte.

„Was?“

„Du hast dich nicht gewehrt.“

„Wie bitte?“

„Als sie den Dolch in dich gestoßen hat, hast du sie nur angestarrt, als wolltest du, dass sie es tut.“ Winter lachte nervös. „Vielleicht habe ich mir das auch nur eingebildet. Aber dein Gesichtsausdruck, so wie du sie angesehen hast ... Das war eigenartig. Du sahst nicht aus, als wärst du verärgert oder als hättest du sie als Feind angesehen. Fast, als würdest du ihr vertrauen.“

„Das ergibt keinen Sinn.“

„Vielleicht doch“, sagte Winter. „Sie könnte eine Art Mata Hari sein, die es auf dich abgesehen hat, dich verführt und dich dann verrät.“

„Oh, bitte! Als wäre ich dumm genug, nicht zu sehen, wenn eine Frau versucht, mich zu benutzen. Auf so etwas würde ich nie hereinfallen. Außerdem kenne ich niemanden namens Daphne.“

„Was gut ist, denn das bedeutet, dass du die Zukunft noch ändern kannst.“

Er nickte. „Du hast recht. Ich muss die Gefahr eliminieren.“

Winter schluckte schwer. „Eliminieren? Das war nicht der Grund, warum ich dir von der Vision erzählt habe. Ich will nicht, dass jemandem wehgetan wird.“

„Winter, mittlerweile hättest du schon lernen müssen, dass irgendjemand immer verletzt wird.“ Und eine Gefahr musste beiseite geräumt werden, bevor es zu spät war. „Lieber meine Möchtegern-Mörderin als ich.“

„Was hast du vor?“

„Ich muss herausfinden, wer sie ist.“ Und er hatte eine Idee, wie er das schaffen würde. „Würdest du sie auf einem Foto erkennen?“

Winter runzelte ihre Stirn. „Aber ich dachte, du kennst niemanden namens Daphne. Und jetzt hast du auf einmal Fotos?“

„Ich nicht, aber die Führerscheinzulassung.“

„Es muss doch Tausende von Daphnes in allen Zulassungsstellen in den USA geben.“

„Wir fangen in Maryland an. Da kann es nicht so viele geben. Es ist kein beliebter Name. Und wir haben Parameter, mit denen wir die Suche eingrenzen können: eine Frau mit schwarzem Haar, die zwischen fünfundzwanzig und vierzig Jahre alt ist.“

„Ich würde die Suche nicht auf schwarzes Haar beschränken. Was, wenn sie es gefärbt hat?“

„Guter Punkt. Trotzdem kann es nicht so viele Frauen namens Daphne geben. Komm in die Kommandozentrale, sobald Logan auf dem Weg zu seiner Mission ist. Ich fange in der Zwischenzeit mit der Suche an und dann gehen wir zusammen die Fotos durch.“

Winter nickte. „In Ordnung.“

Als sie sich zur Tür wandte, sagte Pearce: „Und Winter ...“

Sie sah über ihre Schulter. „Ja?“

„Kein Wort über deine Vision zu den anderen. Nicht mal zu Logan. Ich will nicht, dass jemand davon erfährt, bevor ich wirklich weiß, womit wir es hier zu tun haben. Einverstanden?“

„Im Moment, ja. Aber sobald wir wissen, wer sie ist und warum sie dich umbringen will, müssen wir mit den anderen reden.“

„Eins nach dem anderen“, sagte er und beobachtete, wie Winter sein Privatquartier verließ.

Sobald er wusste, wer die Frau war, würde er tun, was er tun musste.

2

 

Es war vormittags, als Winter endlich die Kommandozentrale betrat, wo Pearce vor einer Reihe von Computern saß.

„Wo warst du so lange?“ Er wollte nicht anklagend klingen, doch er war ungeduldig. Schließlich geschah es nicht jeden Tag, dass einem jemand erklärte, man würde ermordet werden. Er blickte über seine Schulter.

„Sorry“, sagte Winter und senkte ihre Augenlider, als sie sich näherte.

Pearce starrte auf den goldenen Schimmer, der ihr Gesicht überzog. Tatsächlich bedeckte dieser auch ihren Hals und jeden Zentimeter ihrer Haut, der zu sehen war. Ungläubig schüttelte er den Kopf. „Das ist doch nicht zu glauben.“

Winter setzte sich in den Stuhl neben ihm, doch sah ihn nicht direkt an. „Was ist?“

„Oh, bitte!“

Schließlich stellte sie sich seinem Blick. „Was hätte ich denn tun sollen? Logan bekam einen Anruf, dass sein Treffen um zwei Stunden verschoben wurde. Also hatte er Zeit.“

„Natürlich“, sagte Pearce trocken. Zeit, seine Frau auf die Art der Hüter der Nacht zu lieben, sein Virta, seine Lebenskraft in sie strömen zu lassen, um ihre Erregung zu erhöhen und ihr mit jeder seiner Berührungen einen Orgasmus zu bescheren. Und solange sein Virta durch ihre Venen floss, würde sie weiterhin golden schimmern.

Nun, wo bereits vier Hüter des Baltimore-Komplexes gebunden waren, sollte Pearce eigentlich daran gewöhnt sein, ab und zu deren Frauen mit dem verräterischen goldenen Schimmer herumlaufen zu sehen. Doch aus irgendeinem Grund rüttelte es ihn immer noch auf. Als er das Haus seiner Eltern verlassen hatte und in den Komplex gezogen war, war er dort von vier ledigen Hütern und einer Hüterin umgeben, deshalb hatte er sich mit diesem Anblick nicht auseinandersetzen müssen.

„Wenn ich nein gesagt hätte, dann wäre Logan nur misstrauisch geworden.“

Pearce verdrehte die Augen. „Ja, sicher, das ist der Grund, warum du dich von ihm ins Bett ziehen hast lassen.“ Er seufzte. „Dein Mann ist unersättlich.“

Winter lächelte. „Das ist er.“

Ganz offensichtlich kam der Tadel bei ihr nicht an. Unverbesserlich!

„Tja, jetzt bist du da.“ Er öffnete eine Anwendung, an der er vorher gearbeitet hatte, und bedeutete Winter, ihren Blick darauf zu richten. „Ich habe die Suche schon eingeschränkt.“

„Warte. Wie hast du das gemacht?“

„Ich habe die Daten der Volkszählungen aufgerufen. Seit 1880 wurden mehr als dreißigtausend Mädchen in den USA Daphne genannt. Der Name war 1962 am beliebtesten.“ Er warf Winter einen Seitenblick zu. „In dem Jahr wurde elfhundert Babys der Name Daphne gegeben. Aber eine Daphne, die damals geboren wurde, wäre jetzt zu alt. Und du sagtest, sie wäre Ende zwanzig, Anfang dreißig?“

„Ja, aber ich bin gar nicht gut darin, das Alter einer anderen Frau zu schätzen, also weite die Suche lieber aus. Vielleicht von zwanzig bis vierzig, nur um auf Nummer sicher zu gehen.“

„Ok, kein Problem.“ Er öffnete ein anderes Programm, das die Datenbank der Zulassungsstelle in Maryland anzeigte. Er hatte sich vorher dort eingehackt und den Zugang offengehalten, um schnell wieder Zugriff zu haben. Er begann, die Kriterien für seine Suche einzugeben. „Also dann: weiblich, Alter zwanzig bis vierzig, Vorname Daphne.“ Er drückte auf die Enter-Taste und beobachtete, wie sich das Rad drehte.

„Das dürften nicht zu viele sein, oder?“, fragte Winter. „Selbst wenn jedes Jahr tausend Daphnes in den USA geboren werden, können sie ja nicht alle in Maryland leben. Ich meine, das ist ja ein kleiner Staat.“

„Das stimmt. Aber wir können nicht mit Sicherheit wissen, ob sie aus Maryland ist oder ob sie hier einen Führerschein hat. Wenn wir hier nichts finden, dann müssen wir die Zulassungsstellen der Nachbarstaaten durchforsten. Aber diese Brücke überqueren wir, wenn wir so weit sind.“ Es hatte keinen Zweck, sich um etwas zu sorgen, das sich nicht als Problem herausstellen würde.

Pling!

Der Computer gab einen sanften Ton von sich, um anzukündigen, dass die Suche durchgeführt war.

„Vierundfünfzig Dateien“, las Pearce. „Du sagtest, sie hätte schwarzes Haar. Wir können die Suche noch weiter einschränken.“ Er wollte gerade etwas tippen, als Winter ihn stoppte.

„Das würde ich nicht machen. Das Haar könnte gefärbt sein und ihr Führerschein könnte eine andere Farbe anzeigen.“

„Guter Punkt. Also, dann lass uns diese Daten durchgehen.“ Er drehte den Monitor etwas, damit Winter eine bessere Sicht darauf hatte. „Kannst du’s gut sehen?“

„Ja. Mach mal.“

Langsam öffnete Pearce die Führerscheindateien der Frauen aus dem Suchresultat. Die erste war schwarz.

„Sortiere alle schwarzen Frauen aus“, sagte Winter sofort. „Sie war auf jeden Fall weiß.“

„Ok.“

Das nächste Foto zeigte eine weiße Frau. Winter beugte sich näher. „Nein, sie war viel hübscher. Und ihr Gesicht war nicht rund. Weiter.“

Bei jedem Foto gab sie andere Kommentare ab, die Frau nach Frau aussonderten. Die Möglichkeiten schrumpften schnell.

„Warte“, sagte Winter plötzlich und deutete auf ein Foto. „Die hier sieht ihr ähnlich, aber ihr Haarschnitt stimmt nicht. Kannst du die Datei speichern, damit wir sie uns später nochmal ansehen können?“

Pearce nickte und kopierte die Datei der Frau in einen separaten Ordner. „Ist gemacht.“

Nach fünf weiteren Dateien stoppte ihn Winter wieder. „Die kommt mir bekannt vor. Aber ihr Haar ist zu kurz. Da sieht ihr Gesicht ganz anders aus. Aber wenn ihr Haar länger wäre, dann könnte sie es sein.“

„Ok, ich gebe sie zu unserem gespeicherten Ordner.“

Sie mussten nur noch zehn weitere Datein durchgehen. Mehrere davon gehörten schwarzen Frauen, eine war Asiatin und eine Frau hatte ein Muttermal der Größe einer Kiwi auf ihrer Wange.

„Nein“, sagte Winter.

Die restlichen sahen der Frau aus Winters Vision gar nicht ähnlich.

„Ok, dann zurück zu den zweien, die wir gespeichert haben“, schlug Pearce vor und öffnete den Ordner, dann ließ er die zwei Führerscheine nebeneinander anzeigen.

„Hmm.“ Winter legte ihren Kopf schief. „Beide haben einige der gleichen Züge wie die Frau aus meiner Vision. Gleiche Gesichtsform, Nase, Kinn – alle kommen mir sehr bekannt vor. Natürlich sehen sie beide ein bisschen jünger aus. Und die Haare werfen mich aus der Bahn. Keine hat denselben Haarschnitt wie die Daphne, die ich sah. Und es ist schwer, sich vorzustellen, wie sie mit langem schwarzen Haar aussehen würden. Beide könnten es sein. Sorry.“

Pearce nickte. „Keine Sorge. Die Fotos wurden vermutlich vor ungefähr zehn Jahren gemacht. Wir müssen die zwei einfach aufsuchen und überprüfen, wie sie jetzt aussehen.“ Er sah nochmals auf die Führerscheine. „Lass mich schnell ein paar Sachen überprüfen, um festzustellen, wo die beiden arbeiten und ob sie immer noch an der Adresse auf dem Führerschein wohnen. Danach können wir losziehen.“

„Wir?“

Er wandte seinen Kopf, um sich Winters überraschtem Blick zu stellen. „Natürlich wir. Du bist die Einzige, die die Frau gesehen hat. Du bist die Einzige, die sie identifizieren kann.“

„Kannst du nicht einfach Fotos von den beiden machen und dann zurückkommen und sie mir zeigen?“

„Es wird viel einfacher sein, die Frau zu identifizieren, wenn du sie selbst siehst. Ein Foto kann das Aussehen verzerren. Es ist nicht zuverlässig. Und wir müssen uns dabei sicher sein.“ Denn wenn diese Frau ihn wirklich umbringen wollte, dann musste er drastische Maßnahmen angehen und sie eliminieren, bevor sie ihm Schaden zufügen konnte.

„Aber Logan mag es nicht, wenn ich den Komplex verlasse“, sagte sie.

„Er wird’s nicht herausfinden.“

„Berühmte letzte Worte.“

Pearce zuckte mit den Schultern. „Du wirst die ganze Zeit unsichtbar sein.“ Und nicht nur, weil sie in ihrem gegenwärtigen Zustand – immer noch golden schimmernd – nicht in der Öffentlichkeit gesehen werden durfte. Die Dämonen waren wegen ihrer hellseherischen Gabe immer noch hinter ihr her. Sollte Winter ihnen in die Hände fallen, dann hätten sie ein Instrument, mit dem sie die Hüter der Nacht zerstören könnten.

„Komm schon“, sagte er, „sag nur nicht, dass dir hier im Komplex nicht ab und zu mal die Decke auf den Kopf fällt.“

„Ok. Ich komme mit.“

Es dauerte nur ein paar Minuten, die zwei Daphnes zu recherchieren und herauszufinden, wo sie arbeiteten. Es dauerte weitere zwanzig Minuten, bis sie den Komplex unsichtbar verlassen konnten und sich auf den Weg zum Arbeitsplatz der ersten Daphne machten. Es war ein Kindergarten.

Pearce spürte, wie sein Herz immer schneller schlug, als sie das kleine Gebäude betraten, in dem sich der Kindergarten befand. Würde er hier seiner Möchtegern-Mörderin begegnen, wo Kleinkinder bis zu fünf Jahren ohne Sorgen, ohne Gedanken an die weite Welt, spielten? Gab sich die Frau, die ihn ermorden würde, hier als Kindergärtnerin aus?

Pearce hielt Winter am Arm fest und führte sie den kurzen Gang entlang, während er die Schilder an den Türen las. Obwohl sich niemand im Flur befand, sprach er nicht und deutete stattdessen auf eine der Türen, die er mit Winter ansteuerte. Auf dem Schild darauf stand Miss Daphne Athertons Klasse. Ein kleines Fenster in der Tür ermöglichte es ihnen, in das Klassenzimmer hineinzusehen.

Er sah eine Bewegung hinter der Tür und erkannte, wie mehrere Kinder um eine Frau herumrannten, die Süßigkeiten austeilte. Er trat zur Seite und machte Platz für Winter, damit sie in den Raum hineinsehen konnte, während er den Gang beobachtete, damit sie niemand überraschen konnte.

Nach weniger als dreißig Sekunden wandte sich Winter von dem Fenster in der Tür ab und schüttelte den Kopf, während sie ein lautloses „Nein“ von sich gab.

Er verstand und nickte. Geräuschlos verließen sie das Gebäude. Draußen fragte er, immer noch unsichtbar: „Bist du sicher?“

„Hundert Prozent.“

„Ok, dann schauen wir uns die andere Daphne an.“

3

 

Mit einem Latte macchiato in der Hand, die Kuriertasche diagonal über ihren Oberkörper geschlungen, fischte Daphne ihren Arbeitsausweis aus der Jackentasche. Bestürzt musste sie feststellen, dass sich das Band, an dem ihr Ausweis hing, mit ihrem Handy verheddert hatte, das sie willkürlich in dieselbe Tasche gesteckt hatte, und es mit herauszog. Es fiel auf den Steinboden, bevor sie es auffangen konnte.

„Scheiße!“, fluchte sie, während sie den Sicherheitsbeamten auch schon kichern hörte. Sie warf ihm einen verärgerten Blick zu und hob vorsichtig ihr Handy auf, darauf bedacht, ihr heißes Getränk nicht zu verschütten. Nichtsdestotrotz konnte sie sich nicht verkneifen, auf das Gekicher des Sicherheitsbeamten zu reagieren. „So etwas würde nicht passieren, wenn Sie nicht jeden Tag verlangen würden, dass ich meinen Ausweis zeige. Verdammt nochmal, Gus, Sie wissen doch, wer ich bin!“

Gus stand neben der Rezeption und schob seinen Bierbauch in ihre Richtung. „Firmenregeln. Sie kennen sie. Keine Ausnahmen. Nicht mal für Sie, Daphne.“

„Ich weiß wirklich nicht, warum das notwendig ist. Ich arbeite doch schon seit sechs Monaten hier.“

„Stimmt, aber was, wenn Sie von einem Tag auf den anderen entlassen werden und mir sagt keiner sofort Bescheid? Ich darf doch niemanden Unbefugten hier reinlassen. Onlinesicherheit beginnt im Haus.“ Er deutete zu dem Kartenleser neben ihm.

Sie murrte einen leisen Fluch und tippte ihre Karte an den Leser. Ein grünes Licht leuchtete auf.

„Na, sehen Sie“, sagte Gus selbstgefällig, „jetzt weiß ich, dass man Sie noch nicht gefeuert hat. War das so schwer?“

„Ihnen auch noch einen schönen Tag“, sagte sie und ließ in ihrer Stimme eine gute Dosis Sarkasmus mitschwingen. Sie legte ihre Kuriertasche in den Plastikbehälter und schob sie durch den Scanner, wo ein zweiter Sicherheitsbeamter deren Inhalt auf seinem Computerbildschirm inspizierte.

„Versuchen Sie, heute nicht gefeuert zu werden“, rief Gus ihr nach, als sie durch den Metalldetektor marschierte. „Ich würde sonst unsere morgendlichen Plaudereien vermissen.“

Hinter dem Scanner schnappte sich Daphne wieder ihre Tasche, dann wartete sie vor dem Lift, bis sich dessen Türen mit einem sanften Klang öffneten. Sie warf einen Blick zurück zu Gus, doch dieser schaute nicht mehr in ihre Richtung. Sie mochte den glattrasierten Mann in den Fünfzigern, doch sie mochte keine Regeln. Da sie allerdings nun in der Unternehmenswelt arbeitete, bedeutete das, dass sie sich an Regeln halten musste, ob sie das erdrückend fand oder nicht.

In gewisser Weise hatte sie Glück gehabt. Wenn ihr Strafverteidiger nicht einen Handel mit Cyberhack, einer internationalen Onlinesicherheitsfirma, die regelmäßig Ex-Hacker für den Kampf gegen Internetkriminalität einstellte, getätigt hätte, dann wäre sie im Knast gelandet. Überraschenderweise war der Richter nachsichtig gewesen und hatte ihre Strafe auf Bewährung ausgesetzt. Teil ihres Übereinkommens war ein dreijähriger Arbeitsvertrag mit Cyberhack. Und sie durfte sich nichts mehr zuschulden kommen lassen. Hacken durfte sie nur noch im Dienst der Firma, die damit ihre eigene Software testete.

Es war eine gute Stelle, sie verdiente anständig – jedenfalls besser als in der Gefängniswäscherei – und sie hatte relativ flexible Arbeitsstunden. Solange sie die Aufgaben erledigte, die ihr Chef ihr jeden Tag zuwies, konnte sie ihre Arbeitszeiten frei wählen. Doch natürlich gab es auch Regeln. Sie durfte sich nicht mit den anderen Ex-Hackern, die die Firma beschäftigte, abgeben. Dieser Bestimmung folgte sie, nicht weil es eine Firmenregel war, sondern weil sie nicht an deren Gesellschaft interessiert war.

Dieser Teil ihres Lebens lag in der Vergangenheit. Sie hatte genügend Jahre in heruntergekommenen Wohnungen, die nach kalter Pizza und abgestandener Cola rochen, mit gleichgesinnten Hackern verbracht, die die Regierung stören, die Welt verändern und die Menschen aufrütteln und sie auf die Probleme dieser Erde aufmerksam machen wollten. Und was hatte sie sich damit eingehandelt? Einen Termin bei Gericht. Und beinahe eine Einladung in den Knast. Damit war sie fertig. Von jetzt an würde sie auf dem rechten Pfad bleiben. Die Regeln befolgen. Innerhalb der Grenzen des Gesetzes arbeiten.

Die Aufzugstüren öffneten sich im 4. Stock. Daphne trat hinaus und nippte an ihrem Latte, dann ging sie den Flur zu ihrer Bürokabine entlang. Über die Hälfte der Kabinen waren mit anderen Spezialisten für Internetsicherheit besetzt, die emsig auf ihren Tastaturen tippten. Die restlichen Angestellten würden zur Arbeit kommen, wenn sie aus ihren Betten gekrochen waren. Daphne zog es vor, nicht nach zehn Uhr anzufangen, da sie gerne ihre Abende frei hatte, anstatt abends lange bleiben zu müssen. Doch heute Morgen hatte sie verschlafen.

Die Gegend, in der sich das Bürogebäude befand, war nicht gerade die beste und sobald es dunkel wurde, lungerten zwielichtige Gestalten in den dunklen Gassen um das Gebäude herum. Sie machte sich deshalb zur Regel, die Arbeit so zeitig zu verlassen, dass es noch von anderen Angestellten auf den Bürgersteigen wimmelte. Sie wollte ja nicht mit ihrem Leben spielen. Obwohl sie vorbestraft war, hatte sie noch niemals eine Gewalttat verbrochen und sie wollte mit Sicherheit kein Opfer einer solchen werden. Da sie auf Bewährung war, trug sie keine Waffe bei sich, mit der sie sich gegen die Ganoven, die nachts aus ihren Verstecken krochen, verteidigen könnte.

Daphne stellte den Latte auf den Schreibtisch in ihrer engen Kabine und begegnete den Blicken einiger ihrer Kollegen mit einem kurzen Nicken, bevor sie ihre Tasche auf den Boden stellte, sich in ihren Stuhl fallen ließ und den Computer einschaltete. Während der Rechner hochfuhr, wühlte sie in ihrer Tasche nach ihren Kopfhörern mit Rauschunterdrückung und nahm diese heraus. Zumindest konnte sie während der Arbeit Musik hören, was ihr bei der Konzentration half.

Als sie sich eingeloggt hatte, überflog sie schnell die Liste mit der ihr zugeteilten Arbeit, die ihr Chef zu ihrem Monitor geschickt hatte. Sie zuckte mit den Schultern. Wenn ihr Chef wüsste, dass sie für die Aufgaben, die er ihr zuwies, kaum einen halben Tag brauchte, dann würde er mit Sicherheit ihr Arbeitspensum verdoppeln. Doch sie hatte noch nie zugegeben, dass sie zu viel mehr fähig war. Warum sollte sie sich dafür bestrafen lassen, so viel schneller und effizienter als ihre Kollegen zu arbeiten?

Daphne wollte gerade ihre Kopfhörer aufsetzen, als sie spürte, dass ihr Handy in ihrer Tasche vibrierte. Sie hob sich schnell ein paar Zentimeter aus dem Stuhl, um einen Blick zu dem verglasten Büro ihres Chefs zu werfen. Er mochte es nicht, wenn die Beschäftigten auf ihren Handys telefonierten, doch glücklicherweise war er in ein Gespräch mit einem anderen Angestellten vertieft. Sie ließ sich wieder auf den Stuhl fallen, griff nach dem Handy und sah auf den Bildschirm.

„Verdammt!“, fluchte sie leise. Der Name ihres Bruders auf dem Display verursachte ihr sofort Sodbrennen. Sie überlegte, ob sie den Anruf ignorieren sollte, doch sie wusste, dass er solange anrufen oder ihr SMS-Nachrichten schicken würde, bis sie antwortete.

„Was willst du?“, antwortete sie mit unterdrückter Stimme und formte dabei ihre Hand zu einer Muschel, damit ihre Stimme nicht im ganzen Büro gehört werden konnte.

„Hör gut zu.“

Der Befehl schreckte sie unwillkürlich auf. Das war nicht die Stimme ihres Bruders. Und sie klang erstickt, als spräche jemand durch eine Schicht Kleidung.

„Wer zum Teufel bist du?“

„Mein Name ist nicht wichtig.“

„Also hast du sein Handy gestohlen, du Arschloch.“ Das überraschte sie nicht. Schließlich hatten die Typen, mit denen ihr Bruder herumhing, keinerlei Achtung vor dem Eigentum anderer.

„Geliehen“, biss der Mann zurück. „Aber du hörst mir jetzt –“

„Lass mich mit meinem Bruder sprechen!“

„Er kann gerade nicht. Er ist etwas angebunden.“ Daphne konnte ein Kichern im Hintergrund hören.

Na, super! Also war ihr Bruder betrunken und seine idiotischen Freunde spielten ihm einen Streich. Sie hatte keine Zeit für deren Spiel.

„Weißt du was? Sag meinem Bruder, er soll erwachsen werden!“ Sie drückte auf die Anruf beenden-Taste und warf ihr Handy auf einen Stapel Papiere. „Idioten!“

Ihr Kabinennachbar Neil, ein Geek mit einer John-Lennon-Brille und einem Spitzbart, hob seinen Kopf über die Trennwand. „Gibt’s Probleme?“

Sie warf ihm einen Blick zu und verdrehte die Augen. „Familie.“

Er zog eine Grimasse. „Ja, am besten, man ignoriert sie. Das mache ich so.“

„Das ist auch mein Plan“, gab sie ihm recht und sah, wie sein Kopf wieder abtauchte. Einen Moment später hörte sie ihn auf seiner Tastatur weitertippen.

Bereit zu arbeiten öffnete Daphne ein Fenster auf ihrem Bildschirm, doch bevor das Programm vollständig laden konnte, erklang ein sanfter Ton, der eine SMS auf ihrem Handy ankündigte. Sie griff danach und sah auf die Anzeige. Eine Nachricht von ihrem Bruder. Na, was für eine Überraschung. Sie hatte ihn mit Sicherheit verärgert, weil sie sein kleines Spielchen nicht mitgespielt hatte. Widerwillig las sie die Nachricht.

Wage es nicht, mich zu ignorieren, oder dein Bruder stirbt.

Die Nachricht rüttelte sie einen Moment lang auf. Meinte der Typ das ernst? Während sie noch darüber nachdachte, wie sie reagieren und ob sie darauf antworten sollte, kam eine weitere Nachricht.

Schau das Video an.

Was für ein Video?

Ping! Eine weitere Nachricht, dieses Mal ein Video.

„Tim, wenn du mir ein Porno-Video schickst, dann bringe ich dich höchstpersönlich um“, murmelte sie zu sich selbst. In Ordnung, sie würde das verdammte Video ansehen und ihm dann die Leviten lesen. Aber um auf Nummer sicher zu gehen, setzte sie ihre Kopfhörer auf und steckte sie in den Anschluss in ihrem Handy, damit niemand im Büro mithören konnte.

Seufzend tippte sie auf das Video, um es abzuspielen.

Zuerst konnte sie kaum etwas sehen. Es war dunkel. Irgendein Keller. Dann schien ein Lichtstrahl direkt auf eine Stelle in der Mitte des Videos und dann sah sie ihn: Tim, ihr siebenundzwanzigjähriger Bruder. Fast hätte sie ihn nicht erkannt. Sein Haar war zerzaust, sein Hemd zerrissen und Blutstropfen waren sowohl auf seiner Brust als auch um seine Nase und seinen Mund herum zu erkennen. Ein Auge sah geschwollen aus. Seine Arme schienen hinter seinem Rücken gefesselt zu sein.

Daphne unterdrückte ein Keuchen. Oh Gott, was ging hier nur vor sich?

Plötzlich sah Tim direkt in die Kamera.

„Daphne, du musst mir helfen. Ich bin in Schwierigkeiten. Ich schulde denen eine Menge Geld. Bitte, hilf mir. Oder sie werden mir wehtun.“

So wie’s aussah, hatten sie das schon getan.

Das Video brach abrupt ab. Schockiert saß sie wie erstarrt da. Sie konnte nicht einmal blinzeln. Sie hatte schon immer gewusst, dass ihr Bruder ein Glücksspielproblem hatte und verantwortungslos mit seinem Geld umging, doch ihr war nicht klar gewesen, wie tief er drinsteckte.

Scheiße!

Das Handy gab nochmals einen Ton ab. Noch eine Nachricht.

Jetzt zum Reden bereit?

Sie hatte keine Wahl, als zu antworten.

Ja.

Eine Sekunde später vibrierte das Telefon. Ein Anruf vom Handy ihres Bruders. Sie nahm ihn entgegen, behielt ihre Kopfhörer an und sprach in das Mikrofon, so leise wie möglich, damit ihr Kabinennachbar nichts mitbekam.

„Wenn du ihm wehtust –“

„Halt die Klappe!“, unterbrach der Mann. „Jetzt rede ich. Freut mich, dass wir deine Aufmerksamkeit erregen konnten. Nächstes Mal legst du lieber nicht auf, damit verärgerst du mich nur.“ Er grunzte etwas Unverständliches.

„Wer bist du?“

„Du kannst mich Guido nennen.“ Er kicherte in sich hinein.

Daphne fand es nicht lustig. „Was willst du?“

„Dein Bruder schuldet uns Geld. Eine ganze Menge. Er hat uns angefleht, ihm nicht wehzutun, und behauptet, dass du ihm helfen wirst, seine Schulden abzubezahlen.“

„Ich habe kein Geld.“ Ihr Bruder wusste, dass sie von Gehalt zu Gehalt lebte.

„Das ist uns bewusst. Darum kannst du uns einen Gefallen tun.“

„Einen Gefallen?“ Sie konnte sich nicht vorstellen, was für eine Art Gefallen sie diesem Gauner tun konnte, um ihren Bruder aus dem Schlamassel zu helfen. Doch sie wagte es nicht, ihre Skepsis zu äußern.

„Er sagte, du hättest eine Gabe.“

Sie schluckte schwer. Sie musste kein Genie sein, um zu wissen, worauf er sich bezog. Natürlich hatte ihr Bruder bei dem geringsten körperlichen Schmerz sofort alles ausgeplaudert.

„Ich weiß nicht, wovon du sprichst“, log sie.

„Na, na, Daphne. Ich darf dich doch Daphne nennen, oder?“ Er wartete nicht auf ihre Antwort. „Wir wissen über deine Vergangenheit Bescheid. Das Hacken, die Verhaftung.“

Sie fluchte unterdrückt.

„Keine Sorge. Dein Geheimnis ist bei uns sicher.“

„Es ist kein Geheimnis.“

Doch Guido, oder wie auch immer er hieß, fuhr unbeirrt fort: „Also kannst du einen kleinen Job für uns erledigen. Du kannst uns durch ein Sicherheitssystem einschleusen, etwas für uns rausholen, weißt du, so ’ne Art Job. Und wenn wir haben, was wir wollen, dann ist die Schuld deines Bruders getilgt und er ist frei.“

Verdammt, wollten die, dass sie einen Einbruch beging? In eine Bank womöglich? „Kommt nicht in Frage.“ Wenn sie in so etwas hineingezogen wurde und es schiefging, dann wäre ihr Abkommen mit dem Gericht null und nichtig und sie würde lange Zeit im Gefängnis verbringen.

„Du hast keine andere Wahl.“

Nein, das konnte sie nicht tun. Das würde ihr Leben ruinieren. Es musste eine andere Lösung geben.

„Tu es oder wir fangen an, dir Körperteile per Post zu schicken.“

Sie blufften. Tim konnte doch nicht in Geschäfte mit Leuten verwickelt sein, die wirklich solche Drohungen wahr machten. Während ihrer Zeit als Hackerin hatte sie genügend Bluffs gesehen und als solche erkannt. Sie hatte selten falsch gelegen.

„Das wirst du nicht machen“, sagte sie. „Denn wenn du es tust, dann werden weder mein Bruder noch ich dir zahlen, was er euch schuldet.“

„Du glaubst, ich bluffe?“

Ihr Herz schlug ihr bis in die Kehle. „Lass ihn frei. Sofort. Er wird euch das Geld zurückzahlen. Wir schaffen das irgendwie.“

„So funktioniert das nicht.“

„Lass ihn gehen“, verlangte sie nochmals.

„Du gibst hier nicht die Befehle, Tante.“ Dann klang seine Stimme etwas weiter entfernt und sie wusste, dass er nicht mehr zu ihr sprach. „Sieht so aus, als wollte deine Schwester nicht mitspielen. Mit welchem Finger sollen wir denn anfangen?“ Plötzlich erklangen laute Schreie, die sie als die ihres Bruders erkannte, im Hintergrund. Dann wurde der Anruf abgebrochen.

Ihr Herz klopfte wie ein Presslufthammer. Daphne starrte auf das Handy. Was jetzt? Sie musste ihn zurückrufen, vernünftig mit ihm reden. Sekunden verstrichen. Vielleicht könnte sie vorgeben, auf seinen Plan einzugehen, dann mit ihrem Bewährungshelfer reden und die Situation erklären. Dann könnte die Polizei diesen Mafiosi eine Falle stellen und ihren Bruder befreien. Ja, so musste sie das machen.

Mit zitternden Fingern navigierte sie zur eingespeicherten Nummer ihres Bruders, doch bevor sie ihn anrufen konnte, kam eine weitere SMS an.

Ein Foto.

Ihr graute davor, es anzusehen, doch das musste sie tun.

Das Foto zeigte einen blutigen Finger. Einen Finger, der von einer Hand getrennt worden war.

Ihr Magen drehte sich um und beinahe hätte sie das bisschen Frühstück, das sie am Morgen zu sich genommen hatte, wieder von sich gegeben. Guido hatte seinen Punkt gemacht. Er meinte es ernst.

Ihre Finger zitterten jetzt noch schlimmer als zuvor, während sie eine kurze Nachricht tippte und sie absandte: Ich mach’s.

Guidos Antwort kam fast sofort. Wir melden uns bald mit Einzelheiten. Wir werden dich beobachten. Sei nicht dumm. Um deines Bruders willen.

Sie wusste, was das bedeutete. Sie konnte die Polizei nicht einschalten.

4

 

„Bleib so nahe wie möglich bei mir, wenn wir drinnen sind“, ermahnte Pearce Winter, während sie sich dem Gebäude näherten, das er als den Arbeitsplatz von Daphne Butler, der zweiten Daphne auf seiner kurzen Liste von möglichen Möchtegern-Mörderinnen, identifiziert hatte.

Winter nickte. Sie wusste, wie die Sache lief. Um auf Nummer sicher zu gehen, nahm Pearce sie am Arm, damit seine Berührung Winter weiterhin unsichtbar machen würde, falls er seine geistige Konzentration verlor. Denn sollte ihr während dieses außerordentlichen Ausflugs etwas passieren, würde ihm Logan das Fell über die Ohren ziehen.

Die gläserne Eingangstür war geschlossen und sie mussten einige Augenblicke warten, bis jemand sie öffnete und hineinging, sodass sie hinter dieser Person hineinschlüpfen konnten. Wäre Pearce alleine gewesen, hätte er einfach durch das Glas schreiten können, doch für Winter war das nicht möglich. Nur Hüter der Nacht hatten die Fähigkeit, ihre Körper zu dematerialisieren, um feste Objekte zu durchdringen.

In der großen Eingangshalle saß ein Sicherheitsbeamter hinter einem Schreibtisch. Er erhob sich, um den Besucher, einen Boten mit einem Umschlag, zu begrüßen. Während der Wachmann für den Empfang des Umschlags unterzeichnete, führte Pearce Winter an dem Tisch vorbei. Er entdeckte die Aufzüge und nahm ein paar weitere Schritte in deren Richtung. Als er plötzlich erkannte, dass er und Winter durch einen Metalldetektor schritten, war es schon zu spät.

Warnglocken ertönten und rote Lichter blitzten über ihren Köpfen. Der Alarm war vermutlich durch den altertümlichen Dolch, den Pearce in seinem Stiefel versteckt hatte, ausgelöst worden. Schnell zog Pearce Winter zur Seite, denn der Sicherheitsbeamte, der neben dem Handgepäckscanner saß, sprang auch schon auf.

„Was zum Teufel?“, fluchte er und rannte auf den Metalldetektor zu. „Was ist jetzt wieder mit dem doofen Ding los?“

Der Wachmann, der den Umschlag entgegengenommen hatte, starrte ihn an. „Frag mich nicht. Du bist der Techniker.“

Während die beiden auszutüfteln versuchten, warum der Alarm losgegangen war und wie sie das Gerät wieder neu einstellen konnten, drückte Pearce auf den Knopf für den Aufzug. Während sie warteten, las er das Firmenverzeichnis, das auf der Wand neben dem Aufzug hing. Er fand schnell, wonach er suchte.

Als sich die Aufzugstüren öffneten, versicherte er sich, dass der Aufzug leer war, und nickte Winter zu, einzutreten. Aus seinem Augenwinkel bemerkte er, wie einer der Wachleute in seine Richtung blickte.

„Und warum geht jetzt plötzlich der Aufzug auf?“, fragte der Wächter seinen Kollegen und tippte ihm auf die Schulter.

Pearce trat in den Aufzug und drückte auf den Knopf für den 4. Stock. Langsam begannen die Türen, sich zu schließen.

„Wir sollten die Wartung anrufen“, hörte er den zweiten Sicherheitsbeamten vorschlagen, bevor sich die Türen ganz schlossen und Stille eintrat.

„Das war knapp“, sagte Winter.

„Nichts Schlimmes.“ Trotzdem fühlte er sich wie ein Idiot, weil er nicht bedacht hatte, dass sein Dolch, und vermutlich auch sein Handy, den Metalldetektor auslösen würde. Er schob die Schuld auf sein jähes Erwachen am Morgen. Ein Mann, der plötzlich herausfand, dass ihn in naher Zukunft eine Frau ermorden würde, durfte doch sicher einen oder zwei Fehler machen.

„Also, alles, was wir tun, ist, so nahe wie möglich an sie ranzukommen. Sobald du einen guten Blick auf sie werfen kannst und dir sicher bist, dass sie die Frau aus deiner Vision ist, gibst du mir ein Zeichen und wir verschwinden von hier. Verstanden?“

„Verstanden. Aber hetze mich nicht. Ich muss mir sicher sein, dass sie es ist.“ Sie zögerte. „Wirst du sie eliminieren müssen?“

Er holte tief Luft. Diese unverblümte Frage hatte er nicht erwartet.

„Sag schon, musst du das?“

„Wenn du dir sicher bist, dass sie mich mit einem Dolch der Hüter der Nacht erstochen hat, dann habe ich keine andere Wahl.“ Als sich ein trauriger Ausdruck über Winters Gesicht legte, fügte er hinzu: „Aber nicht heute. Nicht bis wir uns hundertprozentig sicher sind. Ich verspreche dir, ich werde es schmerzlos und schnell erledigen.“

Die Aufzugstüren öffneten sich im 4. Stock, bevor Winter antworten konnte.

Den Großteil des Stockwerks schien ein riesiges Großraumbüro mit jeder Menge Bürokabinen einzunehmen. Mehrere glasumschlossene Arbeitsbereiche säumten eine Wand, eine Kochnische sowie verschiedene Bürogeräte und Vorratsschränke die andere. Ohne die Namensschilder an den Zugängen zu den kleinen Kabinen wäre es schwierig gewesen, Daphne Butlers Büro zu finden.

Daphnes Bürokabine war leer – allerdings konnte sie nicht weit weg sein. Ihr Computer war eingeschaltet – der Monitor gesperrt – und persönliche Dinge waren auf dem Schreibtisch verstreut. Ein Becher Kaffee stand neben dem Telefon und eine Jacke hing über der Stuhllehne. Pearce sah sich um. Daphnes Kabinennachbar, ein Nerd mit einer kleinen, runden Brille und einem Bart, hackte, scheinbar nichts wahrnehmend, auf seine Tastatur ein. Die Angestellten in den anderen Kabinen taten das Gleiche. Alle steckten tief in der Arbeit.

Winter zerrte an seinem Ärmel und Pearce wandte ihr seinen Kopf zu. Sie bewegte lautlos ihre Lippen zu einem „Dort“ und deutete auf die Tür der Damentoiletten, die gerade von einer jungen Frau geschlossen wurde. Eine Säule hinderte Pearce daran, einen guten Blick auf ihr Gesicht werfen zu können, doch er musste nicht lange warten, bis sie auf die Bürokabine zuging, vor der Pearce und Winter warteten.

Sie schaute nach unten und rieb an einem Fleck auf ihrem Pullover, während sie etwas Unverständliches fluchte. Vermutlich hatte sie etwas darauf verschüttet, denn die Stelle war feucht. Ihr Haar sah ganz anders aus als in Winters Beschreibung: Es war kurz und schwarz, doch nicht burschikos. Der Haarschnitt sah eher aus wie etwas, das eine französische Frau tragen würde. Wie eine Elfe. Modisch, leicht, sexy. Ihre Figur war teilweise durch den großen Pullover verdeckt. Doch ihre engen Jeans konnten nicht verbergen, dass sie lange schlanke Beine hatte, also nahm Pearce an, dass der Rest ihres Körpers genauso ansprechend war.

Als sie die Kabine erreichte, fragte ihr Kabinennachbar: „Hast du’s rausbekommen?“

Erschrocken hob sie ihren Kopf und gewährte somit Pearce und Winter zum ersten Mal einen guten Blick auf ihr Gesicht.

„Ich glaube schon“, sagte sie zu ihrem Kollegen.

Pearce stand da wie eingefroren und konnte sie nur anstarren, als sie an ihm vorbeiging und die Bürokabine mit dem Namensschild Daphne Butler betrat. Winter zerrte wieder an seinem Ärmel. Sie machte ein Zeichen und deutete auf Daphne. Dann nickte sie. Sie war es. Sie war die Frau aus Winters Vision, die Frau, die ihn irgendwann in der Zukunft töten würde. Er bedeutete Winter, dass er verstanden hatte.

Er schluckte schwer und betrachtete Daphne. Winter hatte versäumt zu sagen, dass seine Möchtegern-Mörderin eine außergewöhnliche Schönheit mit strahlend grünen Augen war. Nicht die Art von grün wie die Augen eines Dämons, sondern die Art von grün, die besänftigend und tröstend war, die Art, die Sinnlichkeit und Leidenschaft versprach. Zusammen mit ihrem elfenhaften Haarschnitt und ihrer makellosen Haut sah sie aus wie eine Frau, die auf ein Filmposter gehörte, und nicht wie eine, die sich in einer Softwarefirma abrackerte. Oder einen Hüter der Nacht umbrachte.

Ja, er musste sich daran erinnern, dass sie ihn eines Tages umbringen würde. Wenn Winter es gesehen hatte, dann würde es auch eintreffen. Wann? Keiner wusste das. Doch Winters Visionen waren noch nie falsch gewesen.

Er trat einen Schritt näher und betrat die Kabine, als Daphne plötzlich ihren Kopf in seine Richtung wandte, als hätte sie etwas gehört, obwohl er still gewesen war. Dann sah er es. Ihre Augen waren etwas rot unterlaufen und die Haut um sie herum sah verquollen aus. Darum war sie also in der Toilette gewesen: Sie hatte geweint.

Als Daphne sich wieder ihrem Computer zuwandte und den Monitor entsperrte, wandte Pearce sich um und nahm Winters Arm. Sie mussten von hier weg. Hier konnte er nichts unternehmen, selbst wenn er sie sofort hätte eliminieren wollen. Doch plötzlich war er sich nicht mehr sicher, ob er das überhaupt wollte. Wie konnte er das Leben einer Frau auslöschen, die so verletzlich erschien? Wie konnte er sich sicher sein, dass sie überhaupt dazu fähig war, ihn zu töten? Die Überreste ihrer Tränen deuteten auf eine Frau mit tiefen Gefühlen, mit Mitgefühl, mit Liebe. Wie konnte er die Welt so einer Frau berauben?

Auf dem Weg nach draußen vermied Pearce den Metalldetektor, denn er wollte den beiden verdutzten Sicherheitsbeamten nicht noch mehr Probleme bescheren. Als er und Winter in einer abgelegenen Gasse ein paar Blocks entfernt waren, stoppte er.

„Bist du dir sicher, dass das die Frau aus deiner Vision war? Dass sie die Frau war, die mich umbringen wird?“

„Ganz sicher. Ihr Haar ist anders, aber ihr Gesicht ist das gleiche. Alles passt. Vielleicht lässt sie ihr Haar wachsen und die Vision wird nicht gleich eintreffen. Oder vielleicht hat sie in meiner Vision eine Perücke getragen. Schließlich hat es so ausgesehen, als wäre sie auf einer Kostümparty. Was machen wir jetzt?“

„Ich weiß es noch nicht.“ Er schob eine Hand durch sein Haar und überdachte seine Optionen.

„Wir könnten ein Meeting einberufen und mit den anderen sprechen. Ich bin mir sicher, sie werden dir helfen auszutüfteln, wie du vorgehen sollst“, schlug sie vor.

„Nein.“ Ihre Unterstellung, dass er Hilfe brauchte, ärgerte ihn. „Ich kümmere mich selbst darum.“ Wie, dessen war er sich noch nicht sicher. „Ich bringe dich zurück. Aber du musst mir versprechen, den anderen nichts zu sagen, nichts über deine Vision und nichts über unseren kleinen Ausflug. Nicht einmal Logan.“

„Das kann ich nicht versprechen. Nicht bis du mir sagst, was du vorhast.“ Sie stemmte ihre Hände in die Hüften. Er wusste, dass Rothaarige den Ruf hatten, stur zu sein, und es schien, als hätte diese Rothaarige eine doppelte Dosis davon abbekommen.

„Halte dich da raus, Winter.“

„Das geht mich genauso an.“ Sie stupste mit dem Finger an seine Brust. „Meine Vision, meine Verantwortung.“

„Ich entbinde dich deiner Verantwortung.“

„Pff!“ Sie machte eine undamenhafte Geste. „Scheiß drauf.“

„Küsst du Logan mit diesem Mund?“

„Wechsle nicht das Thema. Du wirst mir jetzt sofort sagen, was du vorhast.“ Sie verengte die Augen.