Überwiegend Himmel. Ein Frauenleben - Maria M. Koch - E-Book
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Überwiegend Himmel. Ein Frauenleben E-Book

Maria M. Koch

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Beschreibung

Leidest du noch oder liebst du schon? »Zwei Herzen wohnen, ach! in meiner Brust« Zwischen Verpflichtung und Verlangen – auf der Suche nach einem beständigen Glück. Hansi meint, als Teilzeitbestatterin, Ehefrau und Mutter eines kleinen Sohnes ein perfektes Leben zu führen. Doch dann konfrontiert ein traumatisches Erlebnis sie mit Léona – eine Seite von Hansi, die sie seit ihrer Kindheit verdrängen musste. Der Ruf der lebenshungrigen Léona wird lauter und Hansi steht vor der Herausforderung, sich als ganze Persönlichkeit zu lieben. Kann sie den inneren Kampf zwischen ihrem vernünftigen Hansi Anteil und dem der sinnlichen Léona beenden und ihre Versöhnung leben? »Überwiegend Himmel. Ein Frauenleben« ist eine tiefgehende Erzählung über den Mut, altgewohnte Begrenzungen zu überwinden und die transformative Kraft der Selbstliebe zu erleben. Ein Roman, der nicht nur berührt, sondern auch inspiriert, den eigenen Weg zum Glück zu finden.

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Inhaltsverzeichnis

Überwiegend Himmel.

Ein Frauenleben

Überwiegend Himmel.

Ein Frauenleben

Maria M.Koch

Es kommen darin Themen vor, die vielleicht belastend sind, wie Sex, Suizid, Missbrauch, Tod und Bestattung. Darauf sei hiermit aufmerksam gemacht.

IMPRESSUM

Copyright © 2023 Maria M. Koch

Alle Rechte vorbehalten.

Maria M. Koch,

Von-Kühlmann-Str. 11,

82327 Tutzing

Deutschland

Cover:

Deincoverdesign (Daniela P.Brenner)

Korrektorat/Lektorat:

Lektorat Detailteufel (Susanna Schober)

Kein anderer Mensch kann dich auf Dauer glücklich machen.

Nur Selbstliebe ermöglicht beständiges Glück.

In einem Ort in Oberbayern Ende Februar 2021

»Grüß Gott, ich bin Léona Himmel und …« Mein Atem stockte, bevor ich weitersprach »… er hat mich missbraucht.« Heiß schoss mir die Scham ins Gesicht. Hatte ich eben laut gesagt, was mir seit letzter Nacht in Endlosschleife im Kopf herumkreiste? Klack, klack, klack. Wie ein Hubschrauber, dessen Rotorblätter von innen an die Hirnwindungen stießen. Ich musste verrückt geworden sein, es der fremden Nachbarin zu erzählen.

Zum Glück schien sie mich nicht gehört zu haben, denn sie reagierte nicht. Und warum hatte ich meinen zweiten Vornamen genannt, statt Hansi, wie mich alle riefen? Von Léona, die heute Morgen erschöpft aus dem Bett gekrochen war, wusste nur, wer meine Geburtsurkunde kannte.

Mit angehaltenem Atem stand ich an den Briefkästen und beobachtete die Frau im Rollstuhl. Die alte Dame, die wenige Tage zuvor in die Wohnung nebenan gezogen war, wendete das Gefährt und fuhr, ohne ein Wort gesagt zu haben, auf ihre Wohnungstür zu. Ich sah der Frau mit dem silbergrauen Kurzhaarschnitt hinterher und entdeckte dabei meinen Sohn im Schlafanzug, der mit nackten Füßen auf uns zugelaufen kam. »Sam, gehst du bitte zur Seite, damit Frau Grassl vorbei kann?«

Erschrocken drückte er sich an die Wand, um dem Rollstuhl auszuweichen. Dann kam er zu mir und suchte meine Hand. Wir warteten, bis die Nachbarin den Rollstuhl über die Schwelle ihrer Wohnung bugsiert hatte.

»Ich mag die nicht«, nuschelte Sam und ließ sich von mir auf den Arm nehmen.

»Schatz, du hast heute Geburtstag. Herzlichen Glückwunsch!« Mit der Zeitung unter dem Arm trug ich ihn in die Diele. Beim Gedanken an Thomas, der nach dem Vorfall der letzten Nacht am Frühstückstisch wartete, schluckte ich. Doch ich würde damit umgehen können, auch wenn ich mich wie ein benutzter Waschlappen fühlte.

Als ich am Wandspiegel vorbeiging, warf ich einen Blick hinein. Gut, dass ich mich wie üblich nach dem Duschen geschminkt hatte. Niemand sollte mir etwas anmerken. »Sam, hol deine Hausschuhe und komm zum Frühstücken.«

Sein Geburtstag, der Fünfte, war diesmal ein Freitag. Normalerweise war das mein Putztag, sodass ich improvisieren musste. Wollte ich vor dem Besuch von Sams Kitafreunden und deren Eltern noch putzen oder erst danach? Vielleicht sowohl als auch?

Am Tisch angekommen glitt mein Blick über die Kaffeekanne, den Korb mit den Brötchen, die Butter in der geblümten Schale, mein Glas Tomatensaft und die Milch neben den Cornflakes. Vor dem dritten Teller stand eine blühende Primel im gelben Übertopf neben einer Kerze.

Aus dem Augenwinkel heraus nahm ich den Blick von Thomas wahr und bemerkte sein wie immer sorgfältig glatt rasiertes Kinn. Ohne ihn anzuschauen, ließ ich mich auf dem Korbsessel nieder und schlug die Zeitung auf. Für einen Moment fühlte ich mich dahinter sicher, nur die Hände zitterten.

Meine Augen glitten, ohne etwas zu erfassen, über die Zeilen, bis Fingerkuppen am oberen Rand erschienen und an den Seiten zogen. Die Blätter entglitten mir, manche segelten zu Boden. Ich hielt den Atem an und hörte meine Zähne aufeinanderschlagen. Ein Blick hin zu Thomas, der die Seiten ordnete. Da entdeckte ich Sam an der Tür, sprang auf und trat auf ein Zeitungsblatt. »Geburtstagskind!« Fest zog ich ihn an mich und küsste sein weizenblondes Haar, das er von mir geerbt hatte.

Sam drehte den Hals zu den Zebrafinken im Käfig, der mit einer großen gelben Schleife geschmückt auf dem Couchtisch stand. Er hatte sich Haustiere gewünscht, und ich hatte den Kauf bei Thomas durchgesetzt, der anfangs nur zu einem Aquarium mit Fischen bereit gewesen war.

»Sollen wir dir ein Geburtstagslied singen?«, fragte ich und schaute Thomas an. Doch meine Aufforderung erreichte ihn nicht, und mein Solo hörte sich für mich wie ein überdehntes Gummiband an. Thomas nahm währenddessen die Streichhölzer vom Tisch und zündete die Kerze an. Sam riss die Augen auf wie ein Maki, seine Lieblingstiere im Zoo. Ich hatte ihm versprochen, dass er am Geburtstag die Streichhölzer benutzen durfte.

»Der Papa hat deine Kerze angezündet.« Thomas sog den Atem hörbar zwischen den Zähnen ein und fügte hinzu: »Du weißt ja: Messer, Gabel, Schere, Licht, sind für kleine Kinder nicht.« Seine Hände griffen nach Sam. »Komm her. Ich hab eine Überraschung für dich.« Er zog ihn auf seinen Schoß und drückte ihn fest an sich. »Weißt du was? Wir gehen ins neue Freibad mit der Riesenrutsche, wie findest du das?«

»Aber das ist zu, sagt die Mama.«

»Wenn´s wieder öffnet. Logisch. Das verstehst du doch mit deinen fünf Jahren.«

Sam senkte still den Kopf.

»Und außerdem. Pass auf. Du darfst dann so viel Eis essen, wie du magst. Gut?«

Das Kind warf mir einen Blick zu, und Thomas fügte hinzu: »Was dein Papa verspricht, hält er auch.«

Ich biss mir auf die Oberlippe.

»Und jetzt wird gefrühstückt«, damit griff er nach einem Brötchen.

Sam hatte sich aus den Armen von Thomas befreit, stand vor dem Käfig und beobachtete die Zebrafinken. »Die schmusen. Ich will die füttern.«

»Dafür hat er ja noch am Nachmittag Zeit, oder?«, wandte sich Thomas an mich.

Ohne darauf zu reagieren, goss ich Kakao in Sams Tasse. »Ja. Die haben sich lieb. Aber jetzt komm, setz dich. Hast du die Malkreiden gesehen, die ich selbst gemacht hab? Gefallen dir die Farben?«

Die Messer klickerten auf den Tellern, die Brötchen knackten beim Schneiden, die Heizung klopfte. Mein Magen schmerzte und erinnerte mich an die Verfassung, in der ich aufgewacht war. Mich derartig geschwächt zu fühlen ertrug ich nur schwer.

»Ich mag zu den Vögeln.« Sam hatte seine Schale Cornflakes nicht angerührt und griff nach dem Teller mit Apfelstücken.

»Gib sie ihnen durch die Stäbe.«

»Wie heißen die?«

»Susi und Strolch. Der mit den orangen Wangen und Zebrastreifen ist der Mann.«

»Kriegen die auch Junge?«, fragte Thomas mit vollem Mund, und nachdem ihm niemand antwortete, fügte er hinzu: »Was ist für den Nachmittag geplant?«

»Kindergeburtstag«, ließ ich ihn wissen.

»Ehrlich? Das tust du dir an? Die tobenden Kinder, die mit den Kreiden unsere Wände bemalen? Ich dachte, wir machen mal wieder was als Familie. Hab extra eine Vertretung ab Mittag im Lokal.«

»Dazu hätten wir auch sonst genug Zeit. Sam will mit seinen Kitafreunden feiern.«

»Das musst du schon mir überlassen, das mit der Zeit. Ich hab nämlich weniger davon als du mit deinem Teilzeitjob. Wie gesagt. Musst du nicht längst schon weg sein?«

»Hab mir freigenommen.« Ich stand auf und griff nach den Tellern. »Aber du musst sicher gleich los.«

»Soll das ein Rauswurf sein?«

Seine Stimme hatte sich verändert. Erschrocken hätte ich mir fast die benutzten Teller an die Bluse gedrückt und obwohl ich wusste, was ich riskierte, fragte ich: »Könntest du mir in Zukunft vielleicht Bescheid geben, ob du nachts nach Hause kommst?«

Die Lippen prusteten wie die eines Pferdes. »Spinnst du? Mich anmelden, wenn ich heimkomme? Hast du vergessen, dass ich hier wohne? Nur weil ich mal ´ne Nacht weggeblieben bin oder auch zwei, bin ich noch lange nicht ausgezogen.«

Sam stand im Bad vor dem Waschbecken. Er betrachtete im Spiegel das über der Badewanne hängende Bettlaken. Ich kam dazu und sah seinen Blick und die Lippen, die sich öffneten. Doch ehe er danach fragen konnte, drehte ich mich um und ging zurück an den Tisch.

Thomas las Zeitung und sagte in meine Richtung: »Ich bring Sam zur Kita.«

»Was? Das geht nicht. Der Kuchen muss mit.«

»Und das traust du mir nicht zu?« Er erhob sich und rief: »Sam. Wir fahren.«

»Mit dem Motorrad?«, quiekte dieser.

»Na klar. Zieh die Regenjacke an«, fügte er mit einem Seitenblick auf mich hinzu.

Sams Stimme klang hell. »Vielleicht sieht mich der Timmy.«

Ich hielt die Kuchenbox hoch. »Moment. Die muss noch in den Beutel.«

Thomas griff nach dem Behältnis und öffnete die Tür. Sie fiel hinter Sam ins Schloss. Mit der ungenutzten Tasche ging ich zum Schrank und brachte sie dort an ihren Platz zurück. Dann schob ich jeden Stuhl bis dicht an den Tisch heran. Die Ordnung im Außen ließ meinen Atem wieder ruhig fließen.

Die Sonne, der Himmel und der liebe Gott

In der Hoffnung, etwas von Sam und Thomas zu sehen, trat ich ans Fenster hinter die Gardine. Doch ich hörte nur noch das Jaulen der Maschine vor der Kurve zur Hauptstraße. Es weckte die Erinnerung an die Honda, auf der Thomas mit mir bis nach Barcelona gefahren war. Wann hatte das stattgefunden? Es musste lange her sein, denn inzwischen schienen meine Füße im Sand zu stecken und mit jedem Schritt tiefer einzusinken. Wer sich nicht selber helfen kann, dem kann niemand helfen, hatte ich einmal gelesen. Mein Blick fiel auf die Stelle, wo an sonnigen Tagen das Bündel Strahlen lag, das die Sonne durchs Fenster auf den Vinylboden in Eichenoptik warf. War ich allein, setzte ich mich gern auf den gelben Fleck, um das Licht im Schoß liegen zu haben.

Bei einem Kirchenbesuch hatte ich einmal erlebt, dass mich die Sonne, die durch eines der Fenster fiel, in ihrem Licht badete. Da hatte ich mich mit dem Himmel verbunden gefühlt. Himmel wie Himmel, unser Familienname.

Mit einem tiefen Atemzug nahm ich mir vor achtzugeben, um nicht all das zu zerstören, was so schlecht bisher nicht gewesen war. Jahrelang hatte ich mein Leben gut geschafft. Lag es an mir, dass es wieder in Schieflage zu geraten drohte? Früher meine Mutter und jetzt Thomas? Der Brustkorb wurde eng und ich sehnte mich nach Licht. Doch der Himmel hinter den Fenstern hing tief an diesem Morgen, und seine Farbe ließ mich an Mangosahne denken. In den Medien war ein >Blutregen< aus Saharastaub angekündigt worden.

Mein Blick glitt die künstlich angestrahlten Buchreihen entlang. Für den Einzug in Thomas´ Wohnung hatte ich die Bücher in Kisten gepackt, ohne eines auszusortieren. Wieder auf Regalbretter gestellt fielen sie in einen Dornröschenschlaf, wo sie nur gelegentlich das Staubtuch streifte und sie ansonsten neben den Nachbarn ihres Genres ein eher ödes Dasein fristeten. Manchmal stellte ich mir vor, sie wieder zu lesen, doch es kam fast nie dazu. Welches von ihnen hatte hilfreiche Antworten auf meine Fragen?

Manchmal wünschte ich mir, das Leben als Weg zu erfahren, auf dem man wenden und eine neue Richtung gehen durfte. Doch so war es nicht. Es verzieh kein Stolpern, egal, was geschah, es führte immer vorwärts. Bisher hatte ich nie darüber nachgedacht und mich nur gewundert, was man mir zutraute. Eine gute Ehe mit Thomas zu führen und der Verantwortung für Sam gerecht zu werden. Das war das, was von mir erwartet wurde, und ich nahm die Herausforderung an. Warum kam ich mir dann manchmal wie eine Betrügerin vor? Weil ich eigentlich ganz anders war?

Niemand ahnte, wieviel Angst ich vor einem Scheitern hatte. Deshalb blieb ich diejenige, die ich war. Die Frau von Thomas, die Mama von Sam, die Kollegin mit den gefühlt meisten Sterbefällen im Bestattungsinstitut und die nette Nachbarin von nebenan. Zuverlässig, angenehm, korrekt. Ich liebte den Scanner im Kopf, der mein Leben ständig auf Schwachstellen hin überprüfte. Er half mir dabei, Fehler zu vermeiden. Dass ich unglücklich war und mich manchmal alte Gefühle bedrängten, ging keinen etwas an. Vorsichtshalber bat ich Gott darum, mich mein Leben weiterhin gut schaffen zu lassen.

Meine Hand zog am Holzknopf, um die linke der drei Türen des Buffetaufsatzes zu öffnen, hinter der sich die Tassen stapelten. Warum brauchten wir zu dritt mehr als zehn davon? Das Thema wiederholte sich bei den Tellern und Kuchengabeln, den Vasen, Haarbürsten und Schirmen. Die Fülle bedrängte mich und meinen Anspruch, sie alle in Ordnung zu halten.

Als Erstes wollte ich Sams Zimmer zum Feiern vorbereiten. Damals, als ich zu Thomas zog, wurde es mein Raum. Hell mit zwei Fenstern nach Südwesten, mit Sekretär und Klapptisch für den Laptop, einem Bücherregal mit Schubladenfächern und einem hellblauen Sofa. Doch nach Sams Geburt gab ich es für ihn auf. Die Materialien, aus denen ich Schmuck, Nippes und Mobiles herstellte, kamen in den Keller, und der Laptop wanderte mit mir zusammen durch die Wohnung auf der Suche nach einem guten Platz.

Das Putzen im Schlafzimmer ersparte ich mir an diesem Morgen. Eine der Ecken bekam kürzlich eine Schreibplatte für mich. Doch wenn ich dort saß, starrte mich der Winkel an und ich spürte das Ehebett im Rücken, das mir Unbehagen bereitete.

Viel lieber bewegte ich mich mit dem Staubmopp durch unser Wohnzimmer. Es war ein nach zwei Seiten hin offener Raum, der von einem Heimkino-TV dominiert und der Küchenzeile begrenzt wurde. Hier hielt ich mich auf, wenn es auf der Loggia zu kühl und ungemütlich wurde.

Thomas hatte das Küchenbuffet restauriert und zwischen ihm und dem Herd eine Ablage vor dem Fenster geschaffen. Den Platz mochte ich und räumte ihn manchmal frei für den Laptop.

Auf dem zierlichen Hängeschrank über der Couch sammelten sich ständig Flusen genauso wie auf dem breiten Rahmen des Ölgemäldes, das Sam schon als Baby mochte. Sein erstes Wort war »Henne« gewesen und dabei zeigte er auf die weißen Hennen und den schwarzen Hahn.

Mitten im Zimmer stand ein alter Holztisch mit gedrechselten Beinen, der für mich zusammen mit den bequemen Korbsesseln und den roten Kissen den Mittelpunkt der Wohnung darstellte. Die Tischplatte war genagelt und gesprungen, doch jeder strich bewundernd darüber.

Als ich mit dem Staubsauger auf dem Weg zum Bad an der Garderobe vorbeifuhr, stieß ich nicht zum ersten Mal an den Strohblumenkranz, ein Hochzeitsgeschenk der Schwiegermutter. Er durfte nicht entsorgt werden, obwohl er längst unansehnlich war.

Trotz der Begrenztheit mochte ich die Wohnung und die niedrige Miete, die am Pachtvertrag von Thomas´ Lokal hing und ein Umziehen zu keiner Option werden ließ.

Unterwegs als Bestatterin

Am Tag nach Sams Geburtstag war ich mit meinem Kollegen Dieter unterwegs. Den Blick auf den Tacho bereute ich, doch Dieter hatte keine Alternative, wenn er mich quer durch München rechtzeitig zum Westfriedhof bringen sollte. Die Bestattungen an den weit auseinanderliegenden Friedhöfen waren von Anfang an zu eng aufeinander terminiert worden.

Mit einem tiefen Atemzug lehnte ich mich im Sitz zurück und rieb die ausgekühlten Finger. Das hoch eingestellte Gebläse der Lüftung rauschte und Dieter beugte sich über das Lenkrad, um die beschlagene Scheibe frei zu wischen.

Die Gedanken flogen zur Feier, die vor mir lag. Die Kollegen waren längst dort, um entsprechend meiner Angaben die Beerdigung vorzubereiten. Tücher und Blumen in den passenden Farben um den Sargwagen herum zu drapieren, Teelichter um das aufgestellte Porträt zu entzünden und die CDs mit den gewünschten Musikstücken bereitzulegen. Zum Abschied der Verstorbenen war ein Kerzenritual geplant, in das die Angehörigen eingewilligt hatten. Alles war top vorbereitet. Es würde gelingen.

Am Friedhof angekommen warf ich aus dem Wagen heraus einen Blick auf die Gruppe von wartenden Trauergästen und betrat die Halle ungesehen durch den Hintereingang. Ich mochte den runden Kuppelbau, der nach dem Vorbild eines frühchristlichen römischen Mausoleums gebaut worden war. Die Kerzen brannten bereits, das Blumenarrangement stimmte. »Danke«, sagte ich zur Kollegin, die an der hohen für die Gäste noch geschlossenen Tür wartete.

Frau Wünschs Augen über der Maske wurden schmal. »Ist Ihnen eigentlich klar, dass das Ritual so nicht passt?«

»Wie meinen Sie das?«

»Sie können den Leuten doch nicht schon am Anfang die Kerzen geben und sie erst später anzünden und in die Sandschalen am Sarg stecken lassen.«

»Aber warum nicht? Dann haben sie während der Feier doch wenigstens etwas zum Festhalten.«

Statt auf mein Friedensangebot einzugehen, gab Frau Wünsch einen missbilligenden Ton von sich. Mein Puls beschleunigte sich, ich biss auf die Unterlippe. Da roch ich das kalte Nikotin des uniformierten Angestellten, der sich unnötig nah zu mir her beugte. »Fertig? Ich lass die Leute jetzt rein.«

»Moment. Ich will noch die Angehörigen …« begann ich, doch der Mann beachtete mich nicht, wandte sich der Tür zu und öffnete beide Flügel.

»Die Kerzen gehören von Anfang an zum Sarg«, meinte Frau Wünsch noch, bevor die Musik aus der Anlage dröhnte.

Unter den eintretenden Menschen erkannte ich hinter der schwarzen Maske und einer dunklen Sonnenbrille die Witwe und bemühte mich, zu ihr zu gelangen. Stumm drückte ich ihr die Hand. Keiner der Kollegen hatte wie mit mir verabredet am Eingang die cremefarbenen Stabkerzen verteilt, die nun unbemerkt in einer Schale am Sarg lagen. Meine Fingernägel gruben sich in die Handflächen. Ich nahm mir vor, Herrn Totenstätter zu schildern, wie man sich über meine Anweisungen hinweggesetzt hatte. Auch wenn ich nur eine Teilzeitkraft war, kannte der Chef meine Qualitäten, die zum Erfolg seines Unternehmens beitrugen.

Am Ende der Feier schoben die Angestellten den Wagen aus der Halle und den Weg entlang zum Grab. Ich wartete das Ablassen des Sarges ab und überließ das Aufräumen der Halle diesmal ausnahmsweise den Kollegen.

Als ich das gläserne Gebäude des Instituts betrat, saß Irene am Empfang vor ihrem Computer und telefonierte. Ich fragte leise nach dem Chef, die Kollegin deckte kurz den Hörer ab und formulierte mit den Lippen »bei Tisch«.

Vorbei an der roten Sitzgarnitur und dem deckenhohen Gummibaum folgte ich dem mit echtem Carrara Marmor gepflasterten Gang bis zu den offenen Büros. Jedes von ihnen hatte eine Sicht auf die betriebseigene, topp gepflegte Gartenanlage hinaus.

Frau Wünsch, die sogar noch vor mir ins Institut zurückgekehrt war, saß an ihrem Schreibtisch und las in einem dicken Roman. Ein süßlicher Geruch ging von ihr aus und ich sah das Leberwurstbrot liegen. Mir schmerzte der Magen, doch es war kein Hunger, der an mir nagte. Es war die Enttäuschung darüber, von den Kolleginnen mit dem, was ich leistete, nicht gesehen zu werden. Merkte niemand, dass ich mit meiner Teilzeit ähnlich viel schaffte wie diejenigen mit Vollzeit? Mit verspannten Schultern stand ich am Fenster und schaute blicklos auf die Büsche hinaus.

Da trat Frau Hauser zu mir. »Frau Himmel. Sie sind zurück. Alles gut gegangen?« Statt meine Antwort abzuwarten, redete sie weiter. »Soeben kam ein neuer Sterbefall herein. Übernehmen Sie? Die Leute sind in zwanzig Minuten da.«

Ihre fehlende Mimik sollte schätzungsweise Autorität und Arbeitsüberlastung ausdrücken, unter der sie zu leiden meinte. Ohne die harten Furchen zwischen den Augenbrauen wäre sie sogar hübsch, dachte ich und sagte: »Aber ich geh in einer Stunde. Kann sie nicht übernehmen?«

Frau Hauser folgte meinem Blick in Richtung Frau Wünsch. »Nein. Sie hat noch eine Beerdigung am Nachmittag. Sie kriegen das schon hin, bevor Sie für heute Schluss machen.«

Ich las die Notiz. Ein verunglücktes Kleinkind. Seine Eltern wollten wissen, was ihnen bis zur Beerdigung an Abschiedsmöglichkeiten noch ermöglicht werden konnte.

Um genug Zeit für das Gespräch zu haben, musste ich Timmys Mutter, der Sams Kindergartenfreund war, anrufen und sie bitten, Sam mit zu sich nach Hause zu nehmen.

Trauernde Eltern vor mir sitzen zu haben, war für mich noch immer die heftigste Herausforderung. Doch meist gelang es mir, gefasst und distanziert zu bleiben. Das musste sein, andernfalls riskierte ich, meine eigene Betroffenheit zu zeigen. Wenn die Eltern sahen, dass mir die Tränen in den Augen standen, fingen sie selbst zu weinen an. Dann schwamm meine ganze Organisation dahin, was völlig unprofessionell wäre. Doch auch wenn die Unterschrift unter dem Vertrag stand, war noch längst nicht alles geschafft. Weitere Fehler konnten passieren, und es gab keinen, der empfindlicher darauf reagierte als ein trauernder Angehöriger. Immer hatte der Bestatter die Verantwortung zu übernehmen, auch für den Irrtum der anderen. >Ich bin in Trauer, Sie müssen mich kontrollieren<, sagte mir einmal der Vater eines verunglückten Jungen.

Mein Magen krampfte. Vielleicht sollte ich einen der trockenen Kekse essen, die ich für diese Fälle im Schreibtisch bunkerte.

Der Blick auf ein fremdes Leben

Nach dem Trauergespräch brach ich auf, um Sam abzuholen. Timmys Elternhaus kannte ich nur von außen und ahnte, dass ich mir im Inneren wie in einer exklusiven Einrichtungsfirma vorkommen würde. Beinahe erwartete ich Türsteher am Eingang, die die Besucher kontrollierten.

Mit einem tiefen Atemzug drückte ich auf den messingfarbenen Klingelknopf und hörte eine melodische Tonfolge ansteigen und verebben. Während ich noch lauschte, bewunderte ich die breite Tür aus Stahlsprossen und geometrisch geschnittenen Milchglasflächen. Welchem Stil war sie wohl nachempfunden? Bauhaus oder Jugendstil? Ich mochte beide Kunstrichtungen.

Kurz darauf stand Frau Lang im Türrahmen. In Leggins, dicken Socken, einem übergroßen Sweatshirt und mit blondem, nachlässig zum Dutt gebundenem Haar sah sie umwerfend aus. Ich fühlte mich in meinen dunklen Klamotten farblos und plump neben ihr. Doch mit diesem Aussehen und einem solchen Haus im Rücken könnte wahrscheinlich sogar ich selbstbewusst auftreten, tröstete ich mich.

»Kommen Sie doch herein«, bat sie mich und wartete, bis ich an der Garderobe meine Stiefel gegen bereitstehende Gästeslipper eingetauscht hatte. Stumm folgte ich ihr in den Wohnraum, dessen Glasfront sich zum Garten hin öffnete. Pastellfarbene Blütenranken, die vielleicht sogar echt waren, stürzten aus Ampeln von der hellen Kassettendecke herab und trafen auf geraffte Stores, die wie vor einer Theaterkulisse den Blick hinaus ins Grüne einfassten. Nicht nur die Scheiben, sondern auch die fließenden Übergänge der Bodenmaterialien ließen das Innen und Außen miteinander verschmelzen. Ich war zu Frau Lang getreten, die an der Glastür stand und nach Sam und Timmy rief. Sie kamen mit einem Au-pair Mädchen am Schilf gesäumten Naturpool entlang auf uns zu.

»Nehmen Sie doch Platz.« Frau Lang zeigte auf die eierschalenfarbene Couchecke mit pinkfarbenen Kissen. Davor standen auf einem Glastisch Blumen in unterschiedlichen Rottönen. Unmöglich zu beurteilen, ob sie echt waren. Für den herrlichen Strauß hatte Frau Lang sicher viel Geld bezahlt. Neid auf dieses Leben pikste mich und ich hoffte, ihn hinter meinen Worten verbergen zu können. »Sie haben ein wunderschönes Haus.« Frau Lang schien sich über meine Bewunderung zu freuen und lächelte mir zu.

Sam hatte mich kurz begrüßt und bewegte sich, als wäre er hier zu Hause, während ich zum Aufbruch drängte. Überflutet von den Eindrücken wollte ich nicht länger bleiben.

Frau Lang erwähnte zum Glück einen Termin, den sie mit Timmy hatte, sodass Sam nur kurz protestierte. Auf dem Heimweg redete er wie ein Wasserfall davon, was er bei seinem Freund erlebt hatte. Von der riesigen Wandtafel im Garten und der Schaukelcouch, mit der man mit den Füßen angeblich die hohen Bäume auf dem Grundstück erreichen konnte. Außerdem vom Feuer im Kamin, an dem man sich keine Finger verbrannte, die Leiter mit den Lämpchen um die Sprossen herum und einiges mehr. Das Einzige, das fehlte, war laut Sam der Hund, den sich Timmy sehnlichst wünschte, jedoch nicht bekam, weil seine Mama keinerlei Tiere im Haus haben mochte. Mein Brustkorb hob sich mit einem tiefen Atemzug. Wenigstens ein Vorteil, den Sam mit den Finken seinem kleinen Freund gegenüber hatte.

Zuhause standen vor unserer Wohnungstür die abgetragenen Straßenschuhe von Thomas. Ich presste die Lippen zusammen. Immer wieder brachte er mich in den gleichen Zwiespalt. Wie oft hatten wir deswegen schon gestritten? Es half nichts.

»Da willst du eine saubere Wohnung, und dann passt es dir nicht, wenn ich die Schuhe schon vor der Tür ausziehe. Was willst du eigentlich?«

»Ich will, dass du sie ausziehst und in der Garderobe auf den Rost stellst.«

»Sonst noch Wünsche?«, knurrte mir Thomas jedes Mal an dieser Stelle entgegen.

Mit einem Seufzer nahm ich die Schuhe mit in die Wohnung. Frau Grassl, die Sam noch immer nicht mochte, sollte sich darüber nicht ärgern müssen. Wir wohnten hier schließlich nicht im Hotel. Meine Gedanken kehrten zum Haus der Familie Lang zurück. Wie gut verstand ich Sam und seine helle Freude darüber, Timmy zum Freund zu haben.

Sam hatte sich zu Thomas gesetzt, um ihm das Erlebte zu schildern. Der lag in den Kneipenjeans auf dem hellen Sofa und hatte den Fernseher eingeschaltet. Wieder einmal stellte ich mir vor, dass er Bakterien mitbrachte, die Sam schadeten. Den entsprechenden Kommentar verkniff ich mir, um nicht beschimpft zu werden. Thomas´ Sweatshirt lag als Knäuel auf dem Teppich, weil er sich später für die Kneipengäste neu einkleiden würde. Das war okay, da mir das Wäsche waschen die liebste unter allen Hausarbeiten war, und ich den Duft frischer Kleidungsstücke mochte.

»Hände waschen«, rief ich Sam vom Bad aus zu, bückte mich nach einem Badetuch und hängte es auf. Dabei zog ich auch die übrigen Handtücher gerade und betrachtete sie zufrieden.

Als ich hinüber zur Küchenzeile ging, rief Thomas etwas, das nach Helfen klang.

»Danke, ich komme zurecht«, antwortete ich. Ausgehungert, wie ich war, würde ich ein schnelles Nudelgericht kochen. Für den Fall, dass Thomas zum Essen blieb, schüttete ich die doppelte Menge an Pasta ins kochende Wasser. Ihn zu fragen brachte mir vielleicht nur eine Antwort ein, über die ich mich ärgerte.

Während der Garzeit erwärmte ich etwas vom selbstgemachten Tomatensugo. Der Griff nach dem Oregano auf dem Holzbrett ging ins Leere. Ärgerlich! Das Glas müsste doch zwischen den Nelken und dem Paprikapulver stehen! Stand es aber nicht. Es stand auch nicht falsch. Es fehlte! »Weißt du, wo ich den Oregano finde?«

Thomas brummte etwas Unverständliches, und ich beschloss, den Sugo mit Pfeffer, Rosmarin und etwas Zucker zu würzen.

»Übrigens, ich hab eine Mahnung bekommen«, hörte ich ihn plötzlich sagen.

»Ja und? Dann hast du sicher die Rechnung nicht bezahlt oder deine Briefe gar nicht erst geöffnet. Mir passiert das nie.« Den letzten Satz hatte ich leise gesagt, doch Thomas war er nicht entgangen.

»Dir passiert ja auch nie, dass ich Rechnungen von dir verräume.« Seine Stimme war laut geworden, er schob Sam unsanft von der Couch und schlug mit der Hand auf den Glastisch, sodass die Tasse darauf klirrte.

Seine Wutausbrüche waren nicht neu, doch die Vorstellung, dass Thomas an mich adressierte Briefe verlegen könnte, erhöhte meinen Pulsschlag. Das war vielleicht der Grund, warum ich immer die Option >Vorauskasse< wählte, wenn sie bei einem online Kauf angeboten war. Es war doch angemessen zu bezahlen, bevor ich eine Leistung erhielt. »Also bin ich an deiner Mahnung schuld, weil ich in der Wohnung für Ordnung sorge?« Ich hielt den Atem an.

»Ordnung?« Thomas gab ein meckerndes Geräusch von sich. »Pedanterie würde besser passen. Das ist zwanghaft, was du da von mir und dem Kind forderst.«

Mit einem tiefen Atemzug wandte ich mich wieder dem Herd zu. Es war immer die gleiche Gratwanderung. Thomas gelang es mit wenigen Worten, die gemeinsamen Stunden zu vergiften, und ich fühlte Erleichterung, wenn die Tür hinter ihm zufiel, auch wenn Sam ihm dann manchmal hinterher weinte.

Diesmal ging Thomas überraschend schnell, vielleicht hatte er das fehlende Gewürz ins Lokal mitgenommen und deswegen ein schlechtes Gewissen. Die Sauce schmeckte besser als befürchtet. Mit der Prise Zucker traf ich sicher Sams Geschmack. »Magst du den Tisch draußen in der Loggia decken? Dann können wir in der Sonne sitzen.«

Er brachte die Teller einzeln hinaus und legte Gabeln und Löffel dazu. Unser Danke-Lied summend folgte ich ihm. Kleine und große Freuden sammeln. Darum ging es. Sommer im März. Dem Himmel schickte ich ein Lächeln, während mein Blick die frischen Triebe an den Rosenstöcken streifte. Auch die Pfingstrosen zeigten schon die Stellen, wo sie vorhatten zu blühen, und der Weinstock bildete dicke Knoten, aus denen er hellgrüne Blätter in die Welt treiben würde, die sich im Herbst blutrot verfärbten. Ich liebte die Pflanzen, mit denen mich persönliche Geschichten verbanden. Manche hatte ich in kleinen Töpfen im Supermarkt gekauft, auf dem Fahrradgepäckträger heimgebracht und seitdem beim Wachsen begleitet.

Die Träume eines frühen Morgens.

Es war die Stille, die mich weckte. Unterbrochen vom heiseren Krächzen eines Vogels. Die gewohnten Geräusche fehlten zu dieser frühen Stunde. Der Digitalwecker zeigte die Sechs und der Himmel ein schmutziges Aschgrau. Als ich am Fenster im Wohnzimmer stand und nach Osten schaute, wo ich die Ankunft der Sonne ahnte, sah ich noch die Nachtschwärze auf den Dingen liegen. Sie schien sich nicht von ihnen trennen zu wollen.

Da ertönte das Tschilpen des Rotschwanzes, der oft kam, um zwischen den Steinplatten der Loggia nach Kellerasseln zu picken. Eine Krähe rief ihr eintöniges »Krakra« und glitt über den bewölkten Himmel. Die Sonne, noch verborgen hinter dem See, warf einen allerersten Schein auf die Wipfel der höchsten Bäume und setzte ihnen gelbe Lichter ins Geäst. Die helle Tonfolge einer Amsel klang wie die Einladung an sie zum Auftauchen. Die ersten Glockenschläge von Peter & Paul klangen hohl, und das Krähenpaar, das den Blick querte und zum See hinflog, antwortete mit heiseren Rufen. Der Himmel hinter der zerfransten Wolkenfront wurde blau, und die Umgebung gewann unter der weichenden Dämmerung ihre Farben zurück. Das Grau der Mimosenblüten wurde zum hellen Gelb, und die Wiese leuchtete froschgrün. Eine Taube auf dem Dachfirst war erwacht und erzählte beharrlich von der Nacht. Eine Wolke durchbrach orangeleuchtend die dunstigen Fetzen, und ein Flugzeug zog funkelnd eine Spur vom See herüber nach Westen. Schwalben, Meisen, Rotkehlchen, Drosseln, Finken und Stare begannen zu tschilpen und schnarren, zu ratschen und gurren, zu zwitschern und zirpen, zu flöten und zu tirilieren. Wie gern hätte ich ihre Stimmen unterschieden. Mein Halbwissen ärgerte mich, doch ich war keine Ornithologin und würde es nie werden.

Die Wolkendecke wurde für einen Moment golden bestrahlt, bis sie weiß wurde. Da teilten auch die restlichen Kirchenglocken der Welt mit, was die Zeit geschlagen hatte. Die Sonne hatte endgültig alle Farben zurückgebracht und die Menschen begannen ihren Tag, zogen Rollos hoch, rückten Gartenmöbel zurecht und wässerten die Blumenkästen. Der Himmel über dem See strahlte sonnengelb und verhieß einen schönen Tag.

Die erste Tasse Milchkaffee trank ich am liebsten im Bademantel in der Loggia, vor allem zu dieser frühen Uhrzeit. Es war wie einen günstigen Wechselkurs für den Tag bekommen zu haben. Mehr Stunden für den gleichen Tag. Wie genial war das denn. Und womit wollte ich die geschenkten Stunden füllen?

In den ersten Jahren unserer Ehe war es eine schöne Option gewesen, ins Bett zurückzugehen und Thomas zu verführen. Doch das war vorbei. Inzwischen begann er jeden Morgen zu schnarchen und gab ein unwilliges Grunzen von sich, wenn ich ihn berührte. Der Erinnerung an unser Kuscheln, das ich inzwischen nicht mehr vermisste, schickte ich einen Seufzer.

Und was war mit Andreas? Ich schloss die Augen und träumte mich zurück zu unserem ersten gemeinsamen Nachmittag. Es hatte mit einem Missgeschick begonnen. Weil ich unterwegs zu einer ehemaligen Kollegin von den öffentlichen Verkehrsmitteln unabhängig sein wollte, hatte ich mein Rad im Zug dabei. Dass mich Andreas dann mit seinem Audi anfuhr, war allein mein Fehler gewesen, weil ich ihm auf dem Rad die Vorfahrt genommen hatte. Mir war außer Löchern in der Strumpfhose und einer Schürfung am Schienbein nichts passiert. Andreas betupfte die blutige Schramme und fragte im Café nebenan nach einem Pflaster.

Als sich herausstellt, dass das Fahrrad einen Achter im Vorderrad hatte, brachten wir es in die Werkstatt. Ich sagte den Besuch bei der Kollegin ab, und Andreas lud mich auf den Rummel ein, der am Ort gastierte. Wir hatten drei Stunden bis zur Fertigstellung des Rades. Genug Zeit, um mich zu verlieben.

Das >Frühlingsfest< bot außer Kettenkarussell, einem Stand zum Büchsenwerfen, einer Losbude und dem Schießstand noch ein kleines Zelt mit einer Bühne für die Musikkapelle. Das Plakat am Eingang hatte zu einem Senioren-Nachmittag eingeladen. Auf langen Bierbänken an kariert gedeckten Tischen saßen weiß- und grauhaarige Herrschaften, die mit fröhlichen Gesichtern die Lieder mitsangen, die von Musikern in Trachtenanzügen gespielt wurden. Andreas zog mich hinter sich her und kaufte ein Maß Radler und Riesenbrezen mit zwei Portionen Obatzda.

Ich streckte das Bein auf der Bank aus, und er streichelte die Verletzung. Die Augen blitzten mich an. Wir hatten aufgehört zu reden, weil die Verstärker der Kapelle uns zum Schreien zwangen. Das Zelt füllte sich und ich kam mir vor wie auf einer Miniausgabe vom Münchner Oktoberfest. Überall in meinem Körper spürte ich die Bässe. Deshalb mussten wir uns mit dem verständigen, was Mimik und Gestik hergaben. Wir lachten und schüttelten die Köpfe. Ich spürte seine Lippen am Ohr und von da überall im Gesicht. In seinen Augen zu versinken schubste mich auf eine Achterbahn, aus der ich freiwillig nicht mehr aussteigen wollte. »Fall in love«. Ein Ameisenkribbeln auf der Haut.

Es war, als erlebte ich einen Film. Vielleicht erwachte ich gleich zu Hause neben Thomas. In diesem Moment spielte die Kapelle erste Walzertakte, die Senioren begannen zu schunkeln und ich zog das Bein von der Bank zurück. Es zuckte schmerzhaft, doch ich ignorierte es. Weil ich in Andreas´ Blick die Frage nach einem Tanz gelesen hatte, ließ ich mich auf die freie Fläche führen.

Er legte mir seinen Arm um die Taille und drückte sich an mich. Kurz hielt ich den Atem an, wie um meine Brust von seiner fernzuhalten. Welche gute Geistin hatte mich vor dem Aufbruch zu Sonia nach dem knielangen Plisseerock mit dem breiten Bund greifen lassen? Es war ein Fehlkauf gewesen, da er viel zu feminin für mich war. Der älteren Kollegin hätte ich sicher eine Freude damit gemacht. So wie den Senioren, in deren Blicken wir ein besonders schönes Paar abgaben, meinte ich zu erraten.

Andreas führte mich zu einer Drehung unter seinem erhobenen Arm hindurch, und ich spürte, wie sich der rote Rock im weiten Bogen öffnete und zu mir zurückkam, um sich an meine Beine zu schmiegen. Auf den »Boarischen« folgte eine Polka. Die Zuschauer belohnten uns mit wachsendem Applaus. Weil mir schwindelig geworden war, ließ ich mich von Andreas halten. Er grinste. Mein Herz klopfte und der Atem raste, doch ich schickte jeden Gedanken an ein Innehalten weit von mir. Erst nach dem Abschiedsstück der Kapelle kehrten wir zu unserem inzwischen fad schmeckenden Radler zurück.

Im Auto unterwegs zur Werkstatt wusste ich nichts zu reden, so voller Glück fühlte ich mich. Andreas warf mir einen Blick zu. »Alles in Ordnung?«

Stummes Nicken.

»Soll ich dich mit dem Rad zum Bahnhof fahren?«

Außer einem erneuten Nicken fiel mir nichts ein. Der Gedanke daran, nach Hause zu fahren, war wie das drohende Aufwachen in der Wirklichkeit meines Lebens.

»Ich geb´ dir meine Kontaktdaten für den Fall, dass Probleme auftauchen.«

»Probleme?«

»Na ja, wegen des Sturzes, meine ich. Vielleicht muss meine Versicherung …«

»Was? Nein, bestimmt nicht. Aber ja, für alle Fälle …«

»Darf ich?« Vor dem Bahnhof hielt er im Halteverbot, griff nach meinem Handy und gab eine Nummer ein. Dann stellte er das Rad auf den Gehweg, während ich ausstieg. Nach einem flüchtigen Kuss stieg er ein und hupte beim Anfahren.

Im Zug ließ ich mich auf einen Sitz sinken und schloss die Augen. Mein Herz drohte zu platzen. Es pumpte rasend schnell das Blut durch den Körper und wärmte mich trotz der gesunkenen Temperaturen. Doch mit der schleichenden Kühle kam die Ernüchterung. Niemals durfte ich ihn wiedertreffen. Was war in mich gefahren? Ich suchte seinen Namen unter den Kontakten, um ihn zu löschen, fand ihn aber nicht. Flüchtig hatte ich erwogen, ihn unter >Friedhofsverwaltung A< zu speichern, doch die Idee ließ ich wieder fallen. Erst als ich die gesendeten Nachrichten kontrollierte, wurde klar, dass er meine Nummer an sich selbst geschickt hatte.

Ich lachte auf bei der Erinnerung daran und hörte Sam sagen: »Ich hab dich gesucht.«

»O, das tut mir leid. Komm, wir machen Frühstück.«

Der Arztbesuch

Die Magenschmerzen waren stärker geworden, sodass ich mir einen Termin in einer gerade neu eröffneten Praxis besorgte. Der junge Arzt wirkte, als müsste er seine Entscheidung für das Medizinstudium noch einmal überdenken. Nachdem ich ihm detailliert meine Beschwerden beschrieben hatte, fiel ihm nur ein, mich zu einem Psychotherapeuten zu überweisen. Dabei wollte ich doch ein Mittel gegen den Schmerz, den ein Angelhaken in meinem Zwerchfell zu verursachen schien.

Um die Untersuchung mit Ultraschall musste ich ihn direkt anbetteln. Zugegeben, sie brachte kein Ergebnis, aber das hätte ja auch anders sein können. Wovor ich Angst hätte, fragte er mich. Ich und Angst? Nicht einmal vor Thomas fürchtete ich mich, auch wenn der richtig fies sein konnte. Die einzige Angst, die ich kannte, war die vor dem eigenen Chaos. Wenn alles außer Kontrolle zu geraten drohte. Davor hatte ich Horror. Nie mehr ein Durcheinander wollte ich erleben, das hatte ich mir bereits als Kind versprochen. Aber warum sollte mir das passieren? Seit Jahren war alles geordnet verlaufen. Nur die Begegnung mit Andreas hatte etwas ins Wanken gebracht. Oder war Thomas schuld daran mit seiner gemeinen Übergriffigkeit?

An den Druck auf den Magen musste ich mich eben gewöhnen. Der Angelhaken saß tief im Fleisch. Mich jemals davon zu befreien, ging vielleicht gar nicht mehr.

Bei der nächsten Begegnung mit Frau Grassl wollte ich klarstellen, dass ich >Hansi< hieß. Eine gute Nachbarschaft war wichtig für Sam, Thomas und mich. Die Leute sollten positiv über uns reden. Vor allem über mich als Hausfrau und Mutter. Dass ich darin gut war, gab sogar meine Schwiegermutter zu. Am Institut sprach die Betriebsstatistik für mich und den Stress mit Thomas würde ich in Zukunft auch noch schaffen. Sex wurde sowieso überbewertet. Männer waren halt so. Vielleicht war ich auch selbst daran schuld. Sicher sogar. Denn wer von uns beiden war es, der unsere Beziehung gefährdete? Damit musste jetzt Schluss sein.

Was ich als junges Mädchen für mich entdeckte.

In der Nacht zuvor hatte ein Sturm gewütet. Dazu war viele Stunden lang Regen gefallen. Gleich nach dem Heimkommen ging ich mit meiner Olympus Kamera zum See hinunter und hoffte auf überraschende Motive vor einem ungewöhnlichen Himmel. Am Ufer lagen Äste und eine zerbrochene Spanplatte. Teile eines Plastikabfalleimers leuchteten blau im geknickten Gras. Als ich sie fotografierte, entdeckte ich ihr Spiegelbild in einer breiten Pfütze. Da wurde es mir klar. In jeder noch so armseligen Wasserlache zeigte sich mir der Himmel, wenn ich nach ihm suchte.

Müll, darunter Masken, hatten die Windböen weit verstreut. Die Trauerbuche, die aus den vor Unzeiten geborstenen Hälften neu getrieben hatte, ließ ihre Zweige und Blätter bis knapp über dem Wasser wehen. An einer Bank mit der Widmung >Für Papa zum 90. Geburtstag< hielt ich inne und nahm mit angedeuteter Verbeugung für den alten Herrn darauf Platz. Mein Blick glitt über den trüben See. Als ob ein Ascheregen darüber hinweggefegt und darauf liegengeblieben war. Am gegenüberliegenden Ostufer gab es das weiße Schloss nicht mehr. Die Ferne war verschwunden, und ich stellte den Blick neu auf die Nähe ein. Er blieb an einem verankerten Müllbehälter hängen. In schwungvollen Buchstaben hatte jemand >Mit Wonne in die Tonne< darauf geschrieben. Das altmodische Wort. Es klang nach Wärme und Wolle, nach Schlecken und Genuss. Schön, dass man es noch benutzte. In mir entstand das Bild des Mädchens, das ich einmal war.

Es lag in seinem schmalen Bett im Durchgangszimmer und bemerkte es jedes Mal sofort, wenn sich die Türklinke senkte, und der Vater hereinkam. Er wollte nichts von ihr. Und doch. Er störte. Wenn sich ihre Finger gerade über den Körper bewegten, auf der Suche nach dem, was ihr gut tat. Sie praktizierte es manchmal auch mit geschlossenen Augen am Schreibtisch, bekleidet, ohne sich zu berühren. Das Atmen zur tiefsten Stelle des Körpers hin. Ein. Aus. Ein. Aus. Sie sah den Kreis vor sich, den sie atmete. Das unmerkliche Kippen ihres Beckens. Schauer glitten ihr über den Rücken. Wer ihr dabei ins Gesicht geschaut hätte, dem wäre das Lächeln aufgefallen, das sich darauf ausbreitete. Und wer seine Hand auf ihre Bauchdecke gelegt hätte, der wäre vom starken Atemrhythmus überrascht gewesen. Dieser endete in einem beglückenden Strömen, das über den Rücken zum Nacken hinauf und über die Schultern und Arme in die Hände hinunterlief.

Ich mach´s mir selbst. Der großartige Gedanke gefiel mir. Doch etwas schmälerte den Genuss. Es war der Beichtspiegel, von dem Anni, meine katholische Schulfreundin, erzählt hatte. Lange dachte ich darüber nach. Als Ungetaufte musste er mich nicht interessieren, doch ich war, ohne dass jemand etwas davon ahnte, eine Gläubige geworden. Von Anni erfuhr ich, was im Katechismus stand. Vor allem die Lossprechung, die nicht galt, wenn man etwas verschwieg bei der Beichte. Gleichzeitig sah Gott alles, was ich tat, und kannte alle meine Gedanken. Und die konnten schrecklich sündig sein, erzählte Anni. So wie bei mir, was ich ihr lieber nicht sagte. Also war es vielleicht besser, ungetauft zu bleiben. Trotzdem redete ich mit Gott und bat ihn, mich zu lieben. Er hatte mich erschaffen, behauptete Anni. Mich mit meinen schnellen Fingern und der warmen Freude im Bauch.

Als ich der Freundin dann doch etwas davon andeutete, mochte sie mich nicht mehr. Vielleicht sagte sie es ihrer Mutter. Jedenfalls hörte unsere Freundschaft auf, und ich blieb allein. Welch ein schlaues, wenn auch trauriges Mädchen ich trotz allem war.

Sam wartete im Kindergarten schon auf mich und ich fragte ihn beim Heimgehen: »Was wünschst du dir heute zum Essen? Pfannkuchen mit Nüssen und Äpfeln?«

»Jaaaaaa«, rief Sam, »aber mit ohne Rosinen.«

»Wie der Prinz es sich wünscht. Sein Wunsch ist der großen Schlossköchin Befehl.«

Sam lachte mit offenem Mund und strahlte mich an. »Du bist die liebste Königmama von der Welt.«

»Perfekt. Dann schmeißen wir jetzt die Maschine an und lassen sie Hirse und Dinkel mahlen.«

Ein ohrenbetäubendes Geräusch ertönte, als das alte Schnitzer Laufwerk seine Arbeit aufnahm. Ich legte Eier, Butter, Quark, Äpfel, Sonnenblumenkerne und frischen Ingwer auf den Küchentisch. Mit einem Ohr lauschte ich zur Tür hin und hoffte, dass Thomas nicht kommen würde. Er hielt wenig von meinen gesunden Pfannkuchen und würde etwas anderes fordern, falls er Hunger hatte.

Doch plötzlich stand er im Türrahmen. Ich drückte den Schalter der Maschine. »Wir sind schon fertig.«

»Aha, gibt´s wieder Körnerkost?«

»Es ist einfach das, was Sam und ich mögen. Vielleicht magst du mitessen?«

Er schüttelte wortlos den Kopf und ging zur Sofaecke hinüber.

»Schade. Papa hat auch Hunger. Sollen wir etwas anderes kochen?«

Sam verzog das Gesicht. »Ich will nicht.«

»Klar. Du kriegst Pfannkuchen. Ich werde den Papa fragen, was er essen will.«

Doch da stand Thomas schon vor mir. »Bemüh´ dich nicht. Ich hol mir Döner, wenn´s hier nichts Genießbares gibt.«

Ich sah seinem breiten Rücken hinterher, als er auf die Wohnungstür zuging, ohne sich noch einmal umzuwenden. Sollte ich ihm nachlaufen? Doch worum hätte ich ihn bitten können? Anders zu sein? Vielleicht hatte er ja recht, und ich war diejenige, die sich verändert hatte. Wie konnte ich etwas von ihm fordern, was er nie würde bringen können? Damit hatte ich mir etwas vorgemacht und schob ihm im Nachhinein die Schuld daran zu.

Als ich in der Küche fertig war und wir gegessen hatten, brachte ich Sam bei Timmy vorbei. Frau Lang freute sich jedes Mal, wenn die beiden miteinander spielten. Mich zog es wieder an den See. Wegen des trüben Wetters war ich offensichtlich die Einzige, die sich in eine Regenjacke gekuschelt auf einem der Stege niederließ. Das überstehende Dach des Bootshauses schützte mich vor dem erneut einsetzenden Nieselregen und den Blicken der Hundebesitzer, die den Weg entlang gingen.

Mir war traurig zumute, doch die Tränen blieben aus. Hatte das Weinen jemals etwas gebracht? Schon ewig entschied ich mich dagegen. Vielleicht seit damals, als Mama nicht mehr erreichbar war und Papa mich bat, vernünftig zu sein. Darin wurde ich großartig und nutzte alle Möglichkeiten, um zu verbergen, wie mir wirklich zumute war. Das Schminken in der Pubertät half und ein cooles Auftreten. Damit schaffte ich mein Leben. Beruf, Haushalt, Ehe und Kind. Perfekt.

Und die Gewalttätigkeit von Thomas? Als verheiratete Frau erlebte man so etwas früher oder später. Männer wollten einfach mehr Sex als Frauen. Das gehörte zum ältesten aller Spiele dazu. Unruhe machte sich breit im Bauch. Oder war es das Herz, das plötzlich heftig schlug?

Die uralten Gefühle meldeten sich, weil ich das Dümmste überhaupt zugelassen hatte. Mit einem anderen Mann flirten. Wohin das führte? Zum Fremdgehen. Ich riskierte meine Ehe und würde allein mit Sam bleiben. Etwas, das ich nie erleben wollte.

Meine Zähne knirschten und plötzlich drückten Tränen, die mir übers Gesicht laufen wollten beim Gedanken an Andreas. Er war echt nett zu mir gewesen. Trotzdem nahm ich mir vor, nicht mehr an ihn denken.

Denn natürlich war man selbst schuld, wenn man sich verliebte. Es war ein streng reguliertes System aus hormonellen Wirkstoffen wie Dopamin, Serotonin und Ähnlichem. Anstelle eines Fremdgehens konnte man auch den eigenen Ehemann anlächeln und sehen, was passierte. Der Aufwand und vor allem die Konsequenzen waren weitaus geringer.

Ich würde Andreas einfach nicht mehr treffen und versuchen, netter zu Thomas zu sein. Dann würden vielleicht auch die Bauchschmerzen aufhören.

Warum ich mit Andreas mehr als einmal fremd ging.

»Kommst du? Ich zahl´ das Taxi.«

Trotz der Freude über seinen Anruf zögerte ich. Andreas, der nicht aufgab. Und ich, die keine Vorsätze einhielt. Doch er war zum Rettungsanker geworden im Leben mit Thomas. Der war wie üblich in seinem Lokal, Sam schlief tief, und Andreas gurrte wie eine rollige Katze.

»Ich hab eine Überraschung für dich, fein verpackt«, fügte er hinzu. Lachend sagte ich zu, duschte und föhnte mir die Haare. Ihm würde die kastanienrote Tönung nicht auffallen, stattdessen würde er auf meine Brüste schauen. Ich spürte, wie sich die Mundwinkel hoben beim Gedanken an ihn. Es war nicht nur die Freude auf seinen schönen Körper. Es war auch das Gefühl, das mich mit ihm verband, auch wenn wir bisher das Wort >Liebe< vermieden hatten. Einen Moment lang dachte ich an Thomas. Das, was er mir zugemutet hatte, konnte ich bei Andreas vielleicht vergessen. Also war es doch in Ordnung, zu ihm zu fahren.

Mit der neuen Mund-Nasen-Maske aus rot changierendem Stoff vor dem Gesicht klingelte ich bei Emmi Scheffel im ersten Stock. »Entschuldige, dass ich dich so überfalle. Darf ich dir das Babyphone hierlassen? Sam ist schnell eingeschlafen, und ich möchte gern noch ausgehen.«

Emmi taxierte mich mit schmalen Lippen. »De Zahnschmerzn vo letztens san weg?«

Ich blieb stumm, und Emmi fügte hinzu: »Du hosd so arg gjammert. I konnte kaum mehr einschlafa.«

»Oh, das tut mir leid. Aber jetzt ist alles wieder gut. Wenn du Sam weinen hörst, rufst du mich an, ja?«

Mit einem Seufzer der Erleichterung darüber, der peinlichen Situation entkommen zu sein, stieg ich ins wartende Taxi und nannte die Adresse.

---ENDE DER LESEPROBE---