Ukrainekind - Martin Kreuels - E-Book

Ukrainekind E-Book

Martin Kreuels

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Beschreibung

24.02.2022. Ein Datum, welches immer wieder genannt wird und das in die Geschichte eingehen wird. Experten haben gewarnt, besonders diejenigen, die sich mit Putin seit geraumer Zeit beschäftigt haben. Nun ist es also so weit und Putin greift Selenskyis Ukraine an. Olaf Scholz, der deutsche Bundeskanzler, wird von der Zeitenwende sprechen. Das Buch handelt von Danylo aus Fastiw. Ob es ihn gibt, weiß ich nicht, genauso wenig weiß ich, ob es seinen besten Freund Mykyta gibt. Zwei fiktive Jungen, die die Zeit des Krieges erleben. Sie sind schon zu alt, als dass es an ihnen vorbeigeht, und sie sind zu jung, um handeln oder gar Einfluss nehmen zu können. Sie müssen es aushalten. Sie machen sich Gedanken, werden beschädigt, sowohl körperlich als auch seelisch. Was sie davon in ihre jeweilige Zukunft tragen, wird die Zeit zeigen. Ihnen gebe ich hier Raum und vielleicht sprechen sie für andere Kinder in einer Zeit, der sie nicht ausweichen können. In der es darum geht, dass jemand ihnen die Zukunft nehmen will. Den Kindern wird die Kindheit genommen. Sie werden schneller zu Erwachsenen, als es für ihre Entwicklung gut ist.

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Für Jessi

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Glücksbringerlüge

Tauben 1

Rauchen

Nachts

Feldlerche

Frau Jeva

Schule

Geschlagen

Mama ist traurig

Schlachtfeld

Unser Auto

Bäume in der Stadt

Der Regenwurm hasst den Regen

Essen

Eichhörnchen

Auf dem Waldboden

Fliegende Schmetterlinge

Stille um uns und in uns

Mama ist müde

Die Hühner sind tot

Bei Oma und Opa

Mykyta liegt im Krankenhaus

Halbjunge

Neusortierung

Drohnenperspektive

Unbekannte Armee

Metalldetektor

Ehrung als Soldat

Krankenhausbesuch

Opa feiert

Mykyta ist wieder da

Regen

Wind

Opas Falten

Parkbank

Spuren im Sand

The Forest

Was machen

Frau Jeva und das Fotoprojekt

Glasscherben

Mykyta hat einen Plan

Bilder von unten

Ausstellungsvorbereitung

Falten

Ausstellung

Maika

Puppe

Angeln

Kirche

Eule

Schnee

Nebel

Der gefrorene Grashalm

Ohne Rollstuhl

Training

Wieder angeln

Luftalarm

Innerhalb der Explosion

Auto

Tauben 2

Seeadler

Stille

Mama

Zukunft

Oma

Wieder wach

Zwischenzeit

Schließungen

Eisschicht

Familienreduktion

Entschluss

Vogelhäuschen

Abfahrt

Tote Tiere

Feuer

Hotel

Parkplatz

Begegnung

Bombentaub

Soldatengründe

Die Hypothese

Im Keller

Traum

Opa überlegt

Moor

Weiter

Fliege an der Wand

Tauben 3

Prolog

24.02.2022. Ein Datum, welches immer wieder genannt wird und das in die Geschichte eingehen wird. Es müsste auch für ein Datum die Ehrung des Jahres geben, wie für das Wort oder Unwort des Jahres, denn kaum eines ist seit diesem Zeitpunkt häufiger genannt worden. Vielleicht auch, weil es einen Umstand darstellt, an denen nur die wenigsten geglaubt haben. Insider sahen das anders.

Richtig!

Experten haben gewarnt, besonders diejenigen, die sich mit Wladimir Wladimirowitsch Putin seit geraumer Zeit beschäftigt haben. Sie alle haben sicherlich nicht auf dieses eine Datum gewettet, aber dass der Tag kommen würde, haben sie gewusst. Nun ist es also so weit

und Russlands Putin greift Selenskyis Ukraine an. Wolodymyr Oleksandrowytsch Selenskyj war Schauspieler, erfolgreich und ist mehr oder weniger durch einen Zufall in seine heutige Position gerutscht. Dabei hat er eine Entwicklung durchlaufen, die ihm wohl die wenigsten zugetraut haben. Olaf Scholz, der deutsche Bundeskanzler, wird wenig später von der Zeitenwende sprechen. Nicht nur in Bezug auf

Selenskyi, sondern generell. Der Punkt, an dem eine weltweite Neuordnung der Machtverhältnisse begann. Ob Olaf dies für sich selbst

auch so gesehen hat, wird die Geschichte zeigen. In den damaligen Debatten war er der Vorsichtige. Treiben konnte man ihn nur in den wenigsten Fällen. Seine zögerliche Art hat ihm viel Kritik eingebracht. Das Problem an Entscheidungen ist, dass ihre Auswirkungen erst

durch die nachträgliche geschichtliche Analyse beurteilt werden können. Es stehen zukünftige Szenarien nun mal nicht zur Verfügung. Im Entscheidungsprozess der Regierung gab es folgende mögliche Konsequenzen:

Sein Zaudern hat einen dritten Weltkrieg verhindert.

Sein Zaudern hat zu einem dritten Weltkrieg geführt.

Sein Zaudern hat entweder zu mehr oder zu weniger Opfern geführt.

Es scheint so einfach zu sein, Waffen zu liefern. Gefühlt sehen alle die Notwendigkeiten ein. Aber entspricht das Gefühl auch einer zielführenden Realität? Woher sollte auch Olaf das wissen?

Der einzelne Bürger interessiert sich meist nur nachrichtlich dafür, wenn überhaupt. Eine Neuordnung der Welt betrifft ihn meist nicht persönlich. Ihm ist es egal, ob auf der anderen Seite der Erde eine Grenze neu ausgerichtet wird. Ob eine Insel zu dem einen oder zu einem anderen Land gehört. Wir kennen die Menschen, die dort leben, nicht. Wir haben keinen Bezug zu ihnen. Meist sind dies auch nur Zahlen, Fakten, vielleicht Linien auf Landkarten oder Bezeichnungen von Städten, die sich ändern. Der Bürger jedoch möchte dreimal am Tag essen, ein Dach über dem Kopf haben. Er geht seiner Arbeit nach und genießt seine Ruhe. Die meisten möchten eine Familie gründen, eventuell Kinder bekommen, Freundschaften pflegen. Ihnen ist ihre direkte Umgebung wichtig. Der Engländer sagt: My home is my castle. Die eigenen vier Wände sind das Zentrum. Tür zu, die Welt bleibt draußen. Er will leben, mehr nicht, ganz einfach und fast unmöglich, wenn er in bestimmten Bereichen der Welt lebt.

Die kleinste und vielleicht auch unwichtigste Einheit eines Volkes, für sich allein genommen, ist der Mensch. Das Individuum an sich ist unwichtig, nur im Kollektiv von Interesse und nur dann kann er

etwas bewegen. Dann, wenn alle zusammenstehen, in eine Richtung gehen. Dafür ist aber ein kollektives Bewusstsein nötig und

das muss erst geschaffen werden. In den wenigsten Ländern haben

Einzelpersonen aus der Masse heraus irgendeinen direkten Einfluss. Mit Geld sieht das natürlich anders aus. Je mehr Geld, umso größer der Einfluss.

Daneben gibt es aber eine Größeneinheit, die regelmäßig vergessen wird, die noch kleiner ist als das Individuum, von dem wir reden. Sie haben kein Mitspracherecht, weder juristisch noch weil wir Erwachsenen es ihnen ernsthaft zubilligen würden. Sie können auf weltpolitischer oder staatlicher Ebene nichts erreichen, haben keinerlei Einfluss auf Ereignisse, werden in aller Regel auch nicht ernst genommen. Es gibt Alibieinrichtungen, wenn man meint ihnen etwas Gutes tun zu müssen. Meist geht es bei ihrer Einrichtung aber darum, dieses junge Klientel zu beruhigen.

Unsere Kinder.

Danach kommen in einer imaginären Hierarchie des Mitspracherechtes nur noch die Haus- und Nutztiere.

Dass sie, unsere Kinder, die Zukunft eines Volkes sind, wird zwar betont, natürlich, hat aber im Ernstfall keine Konsequenzen, denn in einem Krieg werden auch Geburtsstationen, Kinderkliniken, Kindergärten und Schulen bombardiert, wie wir erleben. Oder vielleicht werden diese auch gerade deshalb angegriffen, denn in einem Krieg geht es darum, ein Volk langfristig zu schädigen. Werden die Kinder getötet, fällt die Zukunft eines Volkes aus. Es geht um die Verbreitung von Angst, um zu verdeutlichen, wer hier das Sagen hat. Die Furcht regiert. Es geht um das Bestehen einer Population. Biologistisches Denken in Menscheneinheiten. Immer wieder dabei rechtes Gedankengut vermutet. Mag sein, aber wir sind nun mal Säugetiere. Der Unterschied zu denen im Stall ist aber, dass wir dies erkennen können, zumindest erkennen sollten. Das dahinter Seelen stehen, spielt in Entscheidungsprozessen keine Rolle. Das Volk als homogene Masse.

Das Buch handelt von Danylo aus Fastiw. Ob es ihn gibt, weiß ich nicht, genauso wenig weiß ich, ob es seinen besten Freund Mykyta gibt. Zwei fiktive Jungen, die die Zeit des Krieges erleben. Sie sind schon zu alt, als dass es an ihnen vorbeigeht, und sie sind zu jung, um handeln oder gar Einfluss nehmen zu können. Sie müssen es aushalten. Sie machen sich Gedanken, werden beschädigt, sowohl körperlich als auch seelisch. Was sie davon in ihre jeweilige Zukunft tragen, wird die Zeit zeigen. Ihnen gebe ich hier Raum und vielleicht sprechen sie für andere Kinder in einer Zeit, der sie nicht ausweichen können. In der es darum geht, dass jemand ihnen die Zukunft nehmen will. Den Kindern wird die Kindheit genommen. Sie werden schneller zu Erwachsenen, als es für ihre Entwicklung gut ist. Eingeflochten sind immer wieder essayhafte Sequenzen, Schlaglichter und Perspektivwechsel.

In Vorbereitung zu dem Buch habe ich viel von dem gelesen, was an aktuellen Reportagen zu Einzelschicksalen zu bekommen war. Es war erschreckend wenig. Das große Ganze wird gerne in einen historischen Kontext gestellt. Es werden Erklärungsversuche unternommen, das Geschehen einzuordnen. Der Einzelne wird dabei seltener betrachtet. Für sie steht aber der Verlust im Vordergrund ihres Lebens. Seien es Angehörige, die sterben, sei es der Verlust der Heimat, des Alltages oder von Geborgenheit. Der Unterschied zu Waisen in Friedensregionen liegt darin, dass die Kinder im Krieg kaum einen Halt bekommen können, denn die Erwachsenen haben diesen auch nicht. Ob die Erwachsenen ihn in Friedenszeiten ihren Kindern ausreichend geben, muss jeder für sich persönlich bewerten. Wir waren alle mal Kinder, aber wir haben das wohl meist vergessen.

Ich habe die Geschichte für die Kinder geschrieben, denn der Job von uns Erwachsenen ist es, dass wir den Kindern eine Zukunft geben. Ob wir Erwachsenen uns mögen, spielt dabei keine Rolle, erst recht nicht für die Kinder.

Und es ist unsere Aufgabe als Autoren:innen, denen Worte zu geben, die für das, was sie erleben, keine eigenen haben oder diese nicht äußern können. Dabei ist es unerheblich, ob es Zitate und Reportagen sind oder fiktive Geschichten auf der Basis der Realität. Wir Menschen lernen nur von den anderen. Aber dafür müssen diese auch Zeugnis ablegen. Was ist, wenn sie nichts sagen? Wie können wir uns als Menschen dann weiterentwickeln? Wenn wir als Autoren:innen unsere Arbeit ernsthaft betreiben wollen, können wir Mundersatz sein.

Nein, wir müssen es sogar!

Glücksbringerlüge

Guten Tag, ich heiße Danylo. Ich wohne in Fastiw. Die Stadt liegt etwas näher zu eurem Land, wenn ihr aus Europa kommt, als das Kiew, unsere Hauptstadt, tut. Meine Eltern und ich leben in der Ivana-Stupaka-Straße, dort, wo die hohen Häuser stehen. Mein Vater hat hinter den Häusern eine Garage, in dem mein altes Kinderbettchen steht, als ich noch klein war. Jetzt brauche ich es nicht mehr, ich bin ja schon groß. Heute habe ich ein großes Bett wie für Erwachsene. Nächste Woche werde ich auch schon zehn Jahre. Die Autoreifen für unser Auto hat Papa dort in der Garage auch hingelegt und viele andere Sachen, die wir nicht mehr brauchen und die in unserer Wohnung nur Platz wegnehmen würden. Die Reifen, die hier neben meinem Kinderbett liegen, sind schmutzig. Neben der ganzen Erde von unseren Straßen kleben überfahrene Fliegen in den Rillen der Reifen. Sie sind ausgetrocknet und wenn man gegen sie stößt, rieseln sie auf den Boden. Überall liegen Fliegenkrümel herum. In der Garage steht auch ein kleiner Schrank. Dafür hat Papa einen Schlüssel, den er an einer Kette um den Hals trägt. Mama darf da auch nicht dran.

Ich erzähle euch das, weil ich da gerade mit meinem Vater bin. Er hat heute seine grünen Sachen angezogen, die er auch zum Angeln anzieht. Er sagt, dass man sich tarnen muss, damit die Fische einen nicht sehen. Ich glaube aber, er schwindelt, denn Fische gucken doch nur unter Wasser. Seine Angelsachen will er aber heute nicht, sondern seinen Tarnrucksack und viel Zeug, was er da reinpackt. Mit Mama hat er sich vorhin gestritten. Die hat dann geweint und ist nicht mit zur Garage gegangen. Ich hatte ein bisschen Angst, als die sich gestritten haben. Das mag ich nicht. Ich habe meine Puppe mitgenommen, Tilli, die mit den roten Haaren. Die kann auch Musik machen. Die halte ich fest, wenn ich Angst habe. Die ist weich und lächelt.

Jetzt stehen Papa und ich in der Garage und er zieht seinen Schlüssel über den Kopf. Er will an den Schrank. Ich bin schon ganz gespannt, was da wohl drin ist. Vielleicht sind da Geld, Schmuck, wichtige Bücher, Bilder oder Waffen drin. Mama und ich wissen das nicht. Er öffnet die Türe und ... ach schade. Da ist nur Papier drin, ein paar Dosen und hinten in der Ecke oben rechts ein Messer. Das will er haben und greift danach. Die anderen Dinge scheint er nicht zu brauchen. Er schließt die Türe und hängt sich den Schlüssel wieder um den Hals. Dann gibt er mir das Messer, damit ich mir das ansehen kann. Es ist groß und schwer in einer ledernen Scheide.

„Ist das für mich? Das hätte ich gerne. Das sieht toll aus. Schenkst du mir das?“

Er lacht.

„Du bekommst das später mal. Jetzt brauche ich das erst einmal für meine Arbeit. Das ist mein Glücksbringer.“

Jetzt verstehe ich auch, warum wir immer nur kleine oder gar keine Fische fangen. Das Messer sehe ich heute das erste Mal.

Wir gehen zurück zu Mama, die immer noch weint. Die beiden sagen nichts, schauen sich nur an und auch bei Papa fällt eine Träne auf seine grüne Jacke. Dort hinterlässt sie einen kleinen dunklen Fleck. Er greift nach der Hand von Mama und gibt ihr einen Kuss auf die Stirn. Mama schaut zum Boden. Dann schaut er mich an, streichelt mir mit seinen großen, rauen Händen über den Kopf und geht. Als die Türe hinter ihm ins Schloss fällt, weint Mama bitterlich. Das war das letzte Mal, dass ich ihn gesehen habe.

Später kommen meine Großeltern und wir essen zusammen, aber lustig wird es nicht mehr an diesem Tag. Mama hat keinen Hunger. Morgen ist Schule. Ich muss noch meine Sachen packen.

Mama hat Wochen später Post bekommen und ist ohnmächtig geworden. Den Brief habe ich nicht gelesen, aber Opa. Oma und Opa sind dann ein paar Tage bei uns geblieben.

Ich glaube, ich lege Tilli auch bald in die Garage. Es ist manchmal besser, sich auch über kleine Fische zu freuen. Vielleicht taugt der Glücksbringer doch nicht, man verlässt sich zu viel darauf. Ich vermisse meinen Papa.

Tauben 1

Bei uns in der Straße fliegt ein Schwarm Tauben. Zwanzig müssten es ungefähr sein. Es ist schwierig, sie zu zählen, weil sie nur selten ruhig irgendwo sitzen. Wenn sie denn mal sitzen, ist es Nacht und ich sehe sie nicht. Und wenn ein Teil sitzt, läuft oder fliegt der andere Teil. Es ist immer ein Durcheinander. Alle haben unterschiedliche Farben. Ein bunter Haufen Vögel, die immer wieder durch, über und hinter der Straße ihre Kreise ziehen. Woher sie kommen, weiß ich nicht. Gefühlt waren sie immer schon da. Tagsüber, wenn sie mal gerade nicht fliegen, sitzen sie auf den Dächern der Häuser, manchmal auch am Straßenrand oder auf den Grünflächen und picken Körner und kleine Steinchen auf. Abends hocken sie in den Bäumen, aber auch nicht immer zusammen, sondern manchmal über zwei, drei Bäume verteilt. Als ob die sich vorher gestritten haben, weiß ich aber nicht.

Autos, die unter den Bäumen stehen, sehen morgens anders aus als am Abend zuvor und die Besitzer schimpfen. Kot und die glänzende Autolackierung harmonieren nicht. Meistens bleibt nach der Waschung des Autos noch ein blasser Taubennachweis übrig. Nur die toten Fliegen von der Windschutzscheibe gehen gut ab. Man kann sie auch mit dem Fingernagel abknibbeln.

Alte Menschen, meistens sind es Omas, teilen ihr trockenes Brot mit den Vögeln. Dann pickt der Schwarm die Brotkrumen vor irgendeiner Bank im Park auf. In den Momenten, wenn sie die Körner vom Boden aufsammeln, lassen sie sich nicht stören. Sie laufen durcheinander, picken, laufen, gurren, fliegen, landen und picken weiter, während immer neue Brotreste auf den Boden geworfen werden. Verstehen kann ich ihr Gurren nicht, ich spreche kein Taubisch. Bis dann irgendwann die Tüte leer ist. Dann steht die Rentnerin auf und geht nach Hause. Die Vögel sammeln die letzten Reste ein, fliegen auf und ziehen wieder ihre Kreise, als ob nichts gewesen wäre. Vielleicht suchen sie durch ihr Herumkreisen andere Omas mit neuen Tüten voller Brotreste.

Ihr Rauschen höre ich, wenn sie über mich hinwegfliegen. Dann muss ich nicht mal aufschauen. Friedlich ziehen sie ihre großen Kreise am Himmel. Im Sommer kommen dann noch die Schreie der Mauersegler dazu, die wie Kamikazepiloten durch die Straßen jagen. Die Tauben fliegen gemächlich und ruhig, die Mauersegler rasen und sind laut. Tauben unterhalten sich, wenn sie am Boden umherlaufen. Mauersegler quatschen im Flug und sind leise am Nest, wenn sie gelandet sind. Am Boden trifft man sie nicht.

Sie sind da, leben unter uns, tun nichts, außer die Autos zu bekacken und rumzufliegen. Aber auch sie werden, im Gegensatz zu den Fliegen, weniger.

Rauchen

Seitdem Papa weg ist, geht Mama mit mir auf den Spielplatz. Vorher hat das Papa gemacht, wenn er von der Arbeit kam. Er geht aber nicht mehr arbeiten.

Mama ist nicht so geduldig auf dem Spielplatz wie Papa und regt sich total schnell auf. Jedes Mal, wenn ich am Kletterseil mit dem Kopf nach unten hänge, schreit sie rum.

Papa hat dann immer gelacht. Er hat gesagt, dass er mir mal einen Fahrradhelm besorgen wird, damit ich nicht ständig neue Beulen am Kopf habe. Mama wuselt mir zu Hause durch die Haare und dann fallen ihr die Beulen auf. Sie schimpft dann. Meist bekommt auch Papa Ärger, wenn wir vorher auf dem Spielplatz waren. Er hätte nicht gut auf mich aufgepasst, dabei falle ja ich von dem Klettergerüst. Dafür kann er nichts.

Sie wird seit ein paar Wochen immer ungeduldiger. Ich glaube, der Krieg macht sie nervös. Sie hat schon dunkle Augenringe und zu rauchen hat sie auch wieder begonnen. Früher hat Papa geraucht und Mama hat mit ihm geschimpft, dass das ungesund ist. Heute raucht sie seine Zigaretten, die hier noch im Schrank liegen. Sie steht am Fenster, schaut nach draußen und bläst den Rauch raus, damit es in unserer Wohnung nicht so stinkt. Aber der Rauch schwebt hinter ihr heimlich wieder ins Zimmer. Das merkt sie gar nicht. Sie schaut dann ganz nachdenklich, wenn sie raucht. Die ganze Wohnung riecht mittlerweile nach dem Zigarettenqualm von Papa.

Oma ist das auch aufgefallen, als sie vor ein paar Tagen hier war, und sie hat Mama danach gefragt. Mama aber sagte, dass sie nicht raucht. Ich frag mal selbst.

„Mama!“

„Ja.“

„Woran denkst du, wenn du am Fenster stehst und rauchst?“

Ich schaue sie an und warte auf eine Antwort. Nichts. Ich versuche es noch mal.

„Ich gehe spielen, okay?“

„Ja, mach das. Komm nach Haus, bevor es dunkel wird.“

„Mach ich.“

Mein bester Freund ist Mykyta aus dem Nachbarblock. Den habe ich gefragt, ob seine Mutter auch raucht. Tut sie nicht, aber sein Opa raucht wohl ganz viel. Der hat vor ein paar Monaten wieder damit angefangen. Mykyta sagte, dass er früher Soldat war und da auch geraucht hat. Ich weiß nicht, warum die Erwachsenen das tun. Wenn sie Schokolade essen würden, dann könnte ich mich auch dazu ans Fenster stellen und wir könnten gemeinsam rausgucken und ein nachdenkliches Gesicht machen. Am Fenster stehen und dabei nachdenklich gucken scheint irgendwie zusammenzuhängen.

Nachts

Mama und ich schlafen nicht mehr gut, seitdem Krieg ist. Früher bin ich abends ins Bett gegangen, Papa hat mir eine Geschichte vorgelesen und ich bin eingeschlafen. Morgens hat mich dann Mama geweckt und ich musste mich für den Kindergarten oder wie jetzt für die Schule fertig machen. Heute bringt mich Mama ins Bett und legt mir meine ganzen Sachen für draußen auf einen Stuhl neben dem Bett. Fast in jeder Nacht weckt mich Mama und dann müssen wir in den Flur. Ich muss mich dann schnell anziehen. Deshalb legt Mama die Sachen so hin, dass ich sie einfach nacheinander greifen kann. Ich würde bestimmt was vergessen, weil ich noch so müde bin und ich noch gar nicht denken kann. Dann legen wir uns auf die Matratze, auf der früher Papa geschlafen hat. Das finde ich gar nicht so schlimm, denn ich bin gar nicht richtig wach.

Mykyta und seine Mama müssen zu einem Keller hinter ihrem Haus. Der Keller hat eine Metalltür und dicke Wände. Das In-den-Keller-Rennen findet Mykyta doof, denn er muss dann nach draußen, auch wenn es regnet. Und im Keller ist es feucht und kalt. Da kommen auch andere Menschen hin. Schlafen kann er dort nicht, weil alle durcheinanderreden. Deshalb ist er tagsüber jetzt oft müde und schläft manchmal in der Schule ein.

Unsere Lehrerin ist nett. Wenn Mykyta einschläft, weckt sie ihn ganz lieb und legt ihm ein Stück Schokolade auf den Tisch. Vielleicht sollte ich auch einschlafen.

Manchmal knallt es nachts laut und das ganze Haus wackelt. Dann habe ich Angst. Ich drücke Tilli dann fest an mich und mache seine Musik an. Einmal ist auch ein Fenster kaputtgegangen. Da habe ich mich richtig erschreckt und Mama hat sich schnell auf mich gelegt. Mama ist schwer.

Opa ist am nächsten Tag gekommen und hat es geflickt. Mein Freund Mykyta und ich sind da hingegangen, wo es geknallt hat. Da waren auch noch die Feuerwehr und die Polizei. Die Männer von der Feuerwehr haben gelöscht und im Boden war ein tiefes Loch. Daraus hat es gequalmt. Der Feuerwehrmann sagte, dass da eine Rakete eingeschlagen ist. Das war eine blöde Stelle für die Rakete, weil wir jetzt auf der Wiese nicht mehr Fußball spielen können. Dafür sammelt sich jetzt Wasser in dem Loch. Ein Teil des Wassers kommt von der Feuerwehr und der andere Teil wird bestimmt noch durch den Regen kommen, dann ist das Loch voll. Vielleicht können wir im nächsten Jahr darin schwimmen oder wir finden Frösche. Angeln wird wohl keinen Sinn machen. Woher sollen denn die Fische kommen. Ob ich wohl Papas Angel benutzen darf? Dafür muss ich mal Mama fragen. Er braucht sie jetzt nicht mehr.

Feldlerche

Da, wo Papa ist, ist Acker bis zum Horizont. Für unser Land ist das typisch. Wir werden auch die Kornkammer Europas genannt. Einheitlich braun, klumpig, nicht mit der Egge zerbröselt, in geraden Linien, autistisch penibel, so sieht es hier überall aus. Leichter Nebel steigt morgens über den Feldern auf. Das seitliche Sonnenlicht beleuchtet die kleinen unzähligen Wassertropfen, die nur als waberndes Ganzes zu erkennen sind. Auf der Erde sind an manchen Stellen glitzernde Fäden von den Spinnen, die diese dort hinterlassen haben.

Inmitten der Flächen befinden sich kleine Mulden, keine Krater wie auf unserem Fußballplatz, nur wenige Zentimeter im Durchmesser. Konkav, glatt getreten von zwei kleinen Vogelfüßen. Der Boden der Mulde ist bedeckt mit wenigen Strohhalmen des vergangenen Jahres. Kein Nest aus einem Baum, eher ein wenig Deko oder

die Landebahnmarkierung für den Vogel, weil alles gleich aussieht. Der Vogel ist ackerfarben gemustert mit zwei seitlichen weißen Schwanzfedern, die nur im Flug sichtbar sind. Flachgedrückt in der Mulde schließt seine Oberseite mit dem Ackerhorizont gerade ab.

Die Soldaten in ihren Stellungen tun es ihm gleich. Die Feldlerche ist von der kühlen, feuchten Nacht noch ganz steif. Still saugt sie die Wärme der aufgehenden Sonne auf, bis ihre Lebensgeister erwachen.

Wenn sie warm genug ist, steigt sie senkrecht auf und singt, was die Kehle hergibt. Sie steigt immer höher, bis sie als kleiner Punkt verschwindet.

Und die Soldaten gehen währenddessen ihrem Job nach, versuchen den Feind aufzuhalten, bis auch sie durch den Beschuss des Feindes vielleicht irgendwann verschwinden. Wie mein Papa.

Frau Jeva

Oben in unserer Straße hat Frau Jeva einen kleinen Supermarkt. Ich glaube, bei euch heißt so ein Geschäft Tante-Emma-Laden. Da gibt es alles, was wir brauchen. Die Auswahl ist nicht groß, aber das ist egal. Wenn wir viel kaufen müssen, fahren wir nach Kiew. Früher sind wir dahin mit Papa gefahren. Mama möchte nicht mehr in die große Stadt fahren. Es ist ihr zu hektisch und zu gefährlich. Deshalb gehen wir zu Frau Jeva. Was sonst noch fehlt, mal ein Huhn oder frische Wurst, bringen Opa und Oma mit. Die haben einen kleinen Garten und pflanzen Gemüse an und haben zwei Hühner für die Eier. Da steht auch ein alter Apfelbaum, an dem hängt eine Schaukel. Opa hat die für mich aufgehängt. Oma kennt jemanden, der ein paar Schweine hat. Der wohnt außerhalb von Fastiw auf dem Weg nach Kiew. Von dem bekommen wir immer mal wieder Wurst. Sie tauschen Wurst gegen Hühnereier. Ich glaube, das ist ganz gut, dass wir Oma und Opa haben. Das Fleisch ist teuer geworden in der Stadt, weil es nicht mehr so viele Schlachter gibt. Der Metzger in unserer Nähe wurde erst immer teurer, dann war er eines Tages nicht mehr da. Opa sagte, dass er weggezogen sei. Er hat keine Schweine mehr für die Wurst bekommen. Für Mama ist das alles gerade zu viel mit den Einkäufen. Eigentlich muss sie auch nicht mehr einkaufen. Sie wird immer dünner, weil sie keinen Hunger hat, deshalb weiß sie auch nicht, was sie holen soll. Ich versuche ihr zu helfen. Ich bin schon groß. Mama geht seit ein paar Tagen gar nicht mehr aus dem Haus.

Vielleicht wartet sie immer noch auf Papa und will ihn nicht verpassen. Dabei könnte sie doch einen Zettel an die Türe hängen, damit er weiß, wo wir gerade sind. Sie glaubt dem Brief nicht, in dem stand, dass Papa nicht mehr nach Hause kommt.

Wenn wir zu Frau Jeva gehen, ist das ein kleines Abenteuer. Der Laden ist so vollgestellt, dass wir immer wieder was finden, was Frau Jeva schon längst vergessen hat. Beim letzten Mal haben wir einen Schokoriegel unter einem Regal gefunden, der war schon 2015 abgelaufen. Da war ich gerade zwei Jahre alt. Der war ganz hart und total krumm und schief. Manchmal finden wir im Zeitungsregal auch Zeitschriften, die noch von Weihnachten sind, also dem letzten Weihnachten. Dabei haben wir jetzt Sommer. Hat sie wohl vergessen wegzuräumen.

Ich glaube, Frau Jeva ist schon zu alt für ihren Laden. Aber wer soll ihn übernehmen? Ihr Sohn ist mit meinem Papa weggefahren und ihre Tochter hat zwei kleine Kinder. Die hat auch keine Zeit. Frau Jeva ist lieb. Sie versucht immer allen zu helfen, deshalb hat sie mir mal gesagt, dass sie den Laden so lange geöffnet halten will, wie es irgendwie geht. Das fällt ihr bestimmt schwer. Also wirklich schwer, weil sie so dick ist.

Ich bekomme ein bisschen Angst, wenn sie auf mich zukommt und ich in einem Regalgang bei ihr im Laden stehe. Ich hoffe dann, dass sie nicht stolpert und auf mich fällt. Mama ist ja schon schwer, obwohl sie so dünn ist, aber Frau Jeva! Ogottogott! Sie ist so breit, dass

sie in dem kleinen Laden, wenn sie durch die Gänge geht, an beide Regale rechts und links gleichzeitig stößt. Dabei fällt mal was runter und rollt unter das Regal. Da kommt Frau Jeva aber nicht so gut dran. Sie sagt dann immer:

„Ach lass liegen. Räum ich nachher weg.“

Tut sie dann aber nicht. Ich habe das mal beobachtet, als ihr eine Zahnbürste runtergefallen ist. Die lag am nächsten Tag immer noch unter dem Regal. Dabei habe ich dann auch gleich noch eine Nagelschere gefunden, die schon ganz verstaubt und rostig war.

Wenn sie auf mich zukommt, muss ich rückwärtslaufen, weil sie mich wegschieben würde. Dran vorbeigehen geht nicht, sie ist zu dick, drunter durch geht auch nicht, sie hat Elefantenbeine, drüber auch nicht, weil die Decke vom Laden zu niedrig hängt. Sie ist dann wie eine Dampflock, die ich mal im Museum gesehen habe.

Sie schnaubt genauso, nur dass kein Rauch aufsteigt. Aber doch, manchmal schon, weil sie Zigarre raucht. Zigarren gibt es aber aktuell kaum noch. Frau Jeva hat Haare auf der Oberlippe, unterhalb ihrer Nase, aus der auch Haare herauswachsen. Vielleicht ist Frau Jeva in Wirklichkeit Herr Jeva. Und er oder sie tarnt sich nur. Ich frag sie aber lieber mal nicht. Sie trägt ja einen Rock.

Frau Jeva hat ganz viele Sachen an. Strumpfhosen, ich glaube mehrere, Jacken, Weste, Pullover, Gummistiefel mit langen Wollsocken, ganz bunte. Meistens hat sie eine Strickmütze auf dem Kopf. Ihre Sachen sind ein wenig dreckig, als ob sie aus dem Stall kommt, dabei hat sie gar keinen. Ihre Haare sehen fettig aus und liegen ganz platt am Kopf. Das kommt bestimmt von der Wollmütze. Vielleicht sollte sie die mal abnehmen. Will sie aber nicht. Sie hat Arme, die sind so breit wie mein Bauch und sie riecht immer ein bisschen nach Schweiß. Vielleicht ist sie sehr sparsam oder eben lieb, weil sie alles für die Leute tut. Da fehlt dann auch vielleicht mal die Zeit, sich zu waschen.

Es ist gut, dass solche Leute bei uns leben. Ich mag sie. Ich möchte nur nicht von ihr in den Arm genommen werden. Ich weiß nicht, ob ich das überlebe.

Schule

W