Das leere ich - Martin Kreuels - E-Book

Das leere ich E-Book

Martin Kreuels

0,0

Beschreibung

Gemeinsame Wege müssen wir zeitweise verlassen, um wieder zueinander zu gelangen. Manchmal bietet eine Reise diese Möglichkeit. Auf Reisen machen wir Erfahrungen, treffen andere Menschen, sehen neue Länder, lernen. Aber was hat ein Koma mit einer Reise zu tun und welche Möglichkeiten bietet es? Fox begibt sich unfreiwillig auf den Weg und seine Frau Sunday und seine Freunde helfen ihm auf diesem Weg, ohne es zu wissen.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 185

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inhaltsverzeichnis

ANMERKUNG

FOX

SCHMETTERLINGSEFFEKT

BEZIEHUNG

GEDANKEN

FIRMA

WOCHENENDE

TRAUM

ABBRUCH

SUCHE

GEFUNDEN

KRANKENHAUS

VERÄNDERUNG

WANDERUNG

DÄMMERUNG

GLOCKE

SÜDEN

KRANKENHAUSZEIT

GEBIRGE

HAUT

KÖRPERKONTAKT

WAND

ZIEL

UNTERSCHIEDE

ABGENUTZT

ETAPPENSCHLUSS

STADT

BIBLIOTHEK

AUFGABE

VERUNSICHERUNG

ANLAUF

VATER

KREISSAAL

SPIEGEL

NEUBESINNUNG

BEZIEHUNGEN

WIR

TRIEBE

KOMATRAUM

TRAUMREALITÄT

FEIERABEND

ANFANG

ANMERKUNG

Nach Jorge Luis Borges, einem Schriftsteller und Bibliothekar aus Argentinien, sind Bibliotheken Türen in der Zeit. Türen in die Vergangenheit für das, was bereits geschehen ist. Alles, was wir direkt erleben ist im nächsten Augenblick schon Vergangenheit. Es ist für uns nicht mehr erreichbar und vergeht, wenn sich darum keiner kümmert. Aufgeschrieben von Menschen, die sich zur Aufgabe gemacht haben, Dinge, Menschen, Handlungen zu konservieren, damit sie mit dem Eintritt in die Bibliothek die Möglichkeit haben, auf Vergangenes zurückzugreifen. Mit jedem Herausziehen eines Buches aus einem der vielen Regale, öffnen sie eine Tür. Manchmal nur einen Spalt breit, wenn sie das Buch nur anlesen, manchmal öffnen sie die Türe ganz, wenn sie im Buch versinken.

Wenn sie zurückgehen, nehmen sie ein kleines Stück der erlebten Vergangenheit mit in ihre Gegenwart, als ob etwas haften an dem bliebe, der das Buch geöffnet hat. Durch das Hin und Her knüpfen sie ein Netz zwischen den Zeiten. Sie verknüpfen vergangene Erfahrungen mit denen der Gegenwart. Sie werden zu Zeitreisenden, Wanderern zwischen den Welten, zwischen Kontinenten, Epochen, Kriegen und Universen. Sie werden zu Boten, bekommen eine zusätzliche, manchmal auch eine neue Aufgabe. Sie lösen die Verdammnis, nur in ihrer Gegenwart isoliert zu sein, weil sie bereits gefallene Entscheidungen nachlesen können.

Der Leser ist der Bote für vergangene Informationen, die er weitertragen kann. Der Autor wird zum Buchhalter, zum Informanten, der die Vergangenheit bewahrt.

„Und manchmal liegt das Buch auch in uns, wir müssen es nur finden, aufschlagen und lesen. Dafür benötigen wir ab und an den Rückzug, das Verlassen von ausgetretenen Pfaden. Mut gehört genauso dazu, wie die Zeit, die wir uns heute nicht mehr geben. Ein Buch zu lesen, bedarf Zeit. Jeder Buchstabe, jedes Wort will gelesen werden, denn nur so ergibt sich ein Zusammenhang, ein Sinn und das Verständnis, nach dem wir die ganze Zeit gesucht haben. Ich für mich bin jetzt wohl an diesem Punkt. Zehn Jahre habe ich gesucht, hab mich mit Wissen von außen abgeglichen, habe versucht für mich einen Weg zu finden und muss erkennen, dass ich zu viel nach hinten geschaut habe. Ich habe die ganze Zeit in meinem Buch gelesen. Jetzt, zehn Jahre später, bin ich in einer neuen Position und richte meinen Blick nach vorne. Spannend dabei ist, dass ich das wieder aufnehme, was ich vor den zehn Jahren getan habe. Ich knüpfe an, an meiner Vergangenheit, um nach vorne zu schauen. Es fühlt sich gut an, auch wenn ich im Augenblick noch etwas unsicher bin. Ich muss wieder Tritt fassen, um auf festem Grund gehen zu können. Das wird seine Zeit dauern, aber auch die zehn Jahre waren notwendig. Ich habe überlegt, ob sie verloren waren. Manchmal hatte ich den Eindruck, manchmal glaube ich es noch, aber ein Gedanke macht sich breit, dass es vielleicht notwendig war, ein Teil meines Lebens ist. Meine Aufgabe ist es zu akzeptieren, Frieden zu schließen, um weiterzugehen.“

FOX

Fox ist ein durchschnittlicher Typ in einer langweiligen Kleinstadt mit unauffälligen Freunden und einem normalen Einkommen. Er lebt ein unaufgeregtes Leben mit seiner Frau Sunday und den Kindern Joy und Hope. Seine Frau könnte man als lieb bezeichnen. Die Kinder gelten als handzahm. Sie sind in der Schule keine Überflieger, müssen aber auch nicht um ihre Versetzung bangen. Ihr Ziel ist es, nicht aufzufallen. Sie bewegen sich stets im Normalbereich zwischen Markenkleidung und Secondhand.

Die ganze Familie hält sich am liebsten im sicheren Mittelfeld auf. Es passierte nichts, was einem Sorgen bereiten müsste.

Fox‘ Haus steht in einer Siedlung, in der sich die Eigenheime nur anhand der Hausnummern unterscheiden. Selbst die Vorgärten ähneln sich wie ein Ei dem anderen. Alle Hausbesitzer haben zur Straße hin eine Jasminhecke gepflanzt, exakt einen Meter hoch, dahinter befindet sich ein 3,5 cm hoch geschnittener Rasen mit einer kleinen Rotbuche als Zentrum. Der Rasen ist eingefasst mit grauen Randsteinen und die Zufahrt rötlich gepflastert.

Die Straßen sind in einem immergleichen Schachbrettmuster angeordnet, ohne Auffälligkeiten oder Unterschieden. Es gibt Luftbilder von solchen Siedlungen, die durch ihre Ordnung bestechen und einem Angst machen.

Die Siedlung ist von Maisfeldern umgeben. Monotone Pflanzenreihen, übermannshoch in einem gleichmäßigen Grün. Alle wiegen sie sich in die Richtung, in die der Wind sie zwingt, nur um sich dann wieder aufzurichten, als ob nichts geschehen wäre. Jeder Pflanze hat ihren Platz und ist gleichweit von ihren Nachbarn entfernt. Sie zieht Nährstoffe und Wasser aus dem Boden, nutzt die Sonne für stoffwechselphysiologische Prozesse und wächst bis zu einer gewissen Höhe. Im Durchschnitt sind dies zwei Meter. Parallel zum Wachstum legt sie einen Maiskolben an, der irgendwann im Spätsommer gelbe Körner ausbildet.

Keine von den Maispflanzen weiß, dass der Tag kommen wird, da sie fallen werden, geschlachtet, durch eine große Maschine, die herzlos durch die Reihen fahren wird, um zu nehmen, was dort steht und Platz für Neues zu machen.

Im Augenblick stehen sie im Sonnenlicht, umgeben die Siedlung und schirmen sie von der Natur ab. Hinter den Maisfeldern beginnt das Chaos. Die Menschen der Siedlung sehen bis zu dieser grünen Wand, schauen nicht über sie hinweg, weil kaum jemand der hier wohnt, länger als zwei Meter ist. Im Laufe der Zeit haben sie vergessen, dass es ein Leben jenseits des Feldes gibt. Wachstum und Bewegung jenseits der Wand und jenseits der Ordnung. Sie sehen weder die Rehe noch die Hasen. Selbst die Blumen, die am Feldrand leben, in denen Insekten spielen und neben denen die Maulwürfe kleine Burgen bauen, sind ihnen unbekannt.

Wenn der Mais fällt, wird es Herbst sein. Die Bäume verlieren ihre Blätter, die Tiere ziehen sich zurück, um im Winter zu ruhen. Die Blumen am Feldrand verblühen. Es bleiben nur tote, braune Überreste von ihrer Pracht.

So war das Leben, das Fox kannte und schätzte. Monotonie sicherte sein Leben. Alles war gleich. Alles belanglos. Es gab keine Unruhe und keine Änderung im stetig gleichen Einerlei der Siedlung und des Lebens.

Fox fährt ein kleines graues Auto mit wenig PS. Die Ausstattung ist einfach und auf das nötigste reduziert. Einen CD-Spieler hat er nicht, nur ein Radio. Die Sender schreiben ihm die Musik vor. Das macht es einfacher. Es gibt keine Entscheidungen zu treffen.

Alle haben ein Auto. Wofür er selbst ein Auto benötigt, weiß er nicht. Den Weg zur Arbeit oder zum Einkaufen könnte er genauso gut mit dem Fahrrad erledigen. Urlaubsfahrten werden mit der Bahn durchgeführt.

Betrachten wir Fox genauer:

Er sieht durchschnittlich gut aus, auf eine unauffällige, schlichte Art und Weise. Er pflegt sich und ist höflich.

Fox ist glücklich. Zumindest hält er sich dafür. Die Definition von „glücklich“ ist ihm zwar nicht ganz klar, dieser Umstand stört ihn aber auch nicht weiter. Er macht das, was alle anderen tun. Somit macht er also alles richtig, und damit ist man zwangsläufig glücklich, oder? Es entspricht der Norm.

Seine Eltern stammen aus einer Hochhaussiedlung. Die Mietwohnungen haben keine Nummer, aber die Farbe der Balkone ist unterschiedlich. So kann man sicher nach Hause finden. Pfiffige Architekten entwickelten diesen Plan. Seitdem gibt es viel weniger Nachfragen in der Wohnungsbaugesellschaft. Fragen kosten Personal, Geld und vor allem Zeit. Deshalb setzte die Gesellschaft, sich eines Tages hin und berechnete den Preis. Was kostet es wohl, alle Balkone unterschiedlich farbig zu streichen? Wie sich herausstellte, konnte man eine ganze Planstelle einsparen. Jetzt verlaufen sich die Bewohner nicht mehr.

Jeder kann sich seine Balkonfarbe merken. Sie steht aber auch in jedem Wohnungspass.

Leider zeigte sich bald, dass die Menschen keinen Grund mehr haben, miteinander zu reden. Gespräche sind überflüssig geworden. Auch die Anzahl der Freundschaften, Beziehungen und Eheschließungen nimmt ab. Die Anzahl der Singlehaushalte nimmt dagegen zu, während die Familienhaushalte abnehmen.

Es finden keine zufälligen Begegnungen mehr statt, die Wahrscheinlichkeit neue Menschen oder vielleicht sogar potenzielle Partner zu treffen schwindet und die Menschen der Siedlung vereinsamen zunehmend. Die ersten Wohnungen sind bereits leer. Kinder gibt es nur wenige.

Die Diskothek, in der sich die jungen Leute früher trafen, hat man vergessen. Sie wurde nicht farblich gekennzeichnet. Sie hatte ja keinen Balkon.

In dieser Siedlung ist Fox aufgewachsen. Sie ist bunt, erscheint warm und freundlich. Und doch friert man selbst im Sommer. Seine Eltern wohnen dort noch immer. Ihr Balkon ist maisgrün.

Fox ist schon eine ganze Zeit aus der elterlichen Wohnung ausgezogen. Er hat es besser getroffen. Er hat ein Eigenheim mit eigenem Autostellplatz. Wenn man ihn fragt, zu wem er gehört, sagt er: „Ich gehöre zur gutbürgerlichen Mittelschicht. Gutbürgerlich deshalb, weil das gute Bürger sind, die ihre Aufgaben tun.“ Unter „ihre Aufgaben tun“ versteht er: Das tun, was einem aufgetragen wird. Und nur das.

Morgens, wenn er zur Arbeit fährt, bilden sich kleine Staus in der Siedlung. Alle männlichen Nachbarn fahren zur gleichen Zeit los. Die Frauen bleiben zu Hause. Ein klares Rollenverständnis. Emanzipation ist mit zu viel Unruhe verbunden. Vor allem muss man sich absprechen und das will keiner. Es führt oft genug zu Konflikten, und die kosten Kraft und Zeit.

Die Männer treffen sich zeitgleich vor dem Haus, steigen synchron ins Auto, rollen die Wagen rückwärts vom Grundstück und ordnen sich ein. Da alle gleichmäßig freundlich sind, lässt jeder seinem Nachbarn den Vortritt. Das führt dazu, dass immer Derjenige als Erstes losfahren kann, der am Ende der Straße wohnt. Jeder weiß das mittlerweile. Dennoch bleibt der Ablauf Tag für Tag gleich, ein sich immer wiederholendes, perfekt eingeübtes Schauspiel.

Abends geschieht das Gleiche nur andersherum. Auch die Arbeitszeiten der Siedlungsbewohner sind identisch. Sie steigen simultan aus ihren Fahrzeugen, grüßen sich und gehen ins Haus, werden von ihren zwei Kindern umarmt. Ihre Frauen werfen ihnen lachend einen Kuss zu, während sie den Abendbrottisch decken.

Die Männer stellen ihre Arbeitstaschen an die Garderobe, hängen die Jacke an den Haken, ziehen sich die Hausschuhe an, waschen sich die Hände und setzen sich an den gedeckten Tisch.

Die Kinder lächeln. Es wird gegessen, ein wenig über den Tag geplaudert. Anschließend bringen die Männer die Kinder ins Bett. Die Frauen räumen den Tisch ab und reinigen die Küche. Danach trifft sich das Ehepaar im Wohnzimmer vor dem Fernseher. Sie schauen sich eine durchschnittliche Quizsendung an und gehen dann gemeinsam um 22 Uhr ins Bett. An bestimmten Tagen schläft das Paar miteinander, an anderen Tagen wird ein Buch oder die Tageszeitung gelesen.

Am Wochenende begegnen sich die Siedlungsbewohner im Park beim Picknick, spielen mit den Kindern und reden über belangloses Zeug. Am Montag dreht sich der Arbeitskreisel wieder von vorn.

Die Zeit läuft so dahin, stetig, wie ein windloser Landregen, dessen Regenbänder gerade vom Himmel herunterhängen. Minuten, Stunden, Tage, Wochen, Monate und Jahre zerfließen ineinander. Sie läuft einfach weiter, die Zeit. Keiner hält sie auf, keiner will sie aufhalten, keiner stört sich daran, dass sie einfach davonläuft in ihrer egoistischen Art und Weise. Es ist wie der ewige Strom in einem Fluss. Eine scheinbar nie enden wollende Abfolge von Gleichförmigkeit. Keiner hinterfragt, alle schwimmen mit.

SCHMETTERLINGSEFFEKT

Es ist der 29.2. Ein normaler Morgen. Und doch wird heute alles anders. Das Ereignis wird nicht einmal zwei Zentimeter lang sein. Mehr bedarf es nicht für einen grundlegenden Einschnitt im Leben.

Das Geschehen wirkt wie der Schmetterling, der durch seinen Flügelschlag am anderen Ende der Welt ein wenig Luft in Bewegung setzt. Dieser kleine Luftwirbel trifft auf einen anderen Wirbel, verbindet sich mit ihm und verstärkt ihn. Andere Wirbel nehme ihn auf. Ein Orkan entsteht, der Häuser zerstört, die Stromversorgung unterbricht, Straßen unpassierbar werden lässt, Schiffe versenkt, jahrhundertalte Bäume abknickt wie Streichhölzer, Menschen und Tiere tötet, Familien auseinanderreißt, Kinder zu Waisen macht. Und alles nur deshalb, weil irgendwo ein kleiner, farbenfroher Schmetterling in einem bestimmten Augenblick mit den Flügeln freudig schlug, weil er eine schöne Blume gesehen hat. Er ist sich keiner Schuld bewusst. Dennoch hat seine kleine Bewegung diese Auswirkungen hinterlassen. So wird es auch diese kleine Ecke am Türrahmen im Haus von Fox sein. Sie konnte nichts dafür, sie war nur da.

Das Ereignis

„Kinder, aufstehen. Die Schule wartet auf euch,“

ruft Sunday durchs Haus, während sie auf dem Weg in die Küche an den Kinderzimmern vorbeiläuft. Gleich wird sie beginnen, das Frühstück vorzubereiten.

Fox kriecht kurz nach ihr aus seinem Bett. Er ist morgens immer sehr verschlafen und versteht seine Frau nicht. Wie kann sie immer mit so viel Energie und so gut gelaunt aufstehen.

“Boar ey, Sunday, nicht so laut! Kannst du nicht auch mal morgens schlechte Laune haben und dann leise durchs Haus gehen?“

grummelt er vor sich hin und fährt sich mit seiner linken Hand durch die zerzausten Haare.

Sunday lacht laut, als sie die Worte von Fox hört.

„Mein Morgenmuffel.“

Er tappt langsam und wackelig in das Badezimmer, um sich den Schlaf vom Körper zu waschen. Zähne putzen, Duschen und Ankleiden sind übliche und tägliche Rituale. Es ist ihm sehr wichtig, sauber und adrett am Arbeitsplatz zu erscheinen, obwohl dies bei seinem Bürojob ohne Kundenkontakt völlig überflüssig ist. Er sieht lediglich im Laufe des Tages die Kollegen, die mit einer Kaffeetasse bewaffnet ihre Arbeitsplätze entern. Die Kunden, die von draußen in das Geschäft strömen, Fragen stellen, lästig sind und Dinge kaufen, kennt er nicht. Er spricht nie mit ihnen.

Nach ihm wollen seine Mädchen ins Bad. Nachdem er seine morgendlichen Waschungen beendet hat und das Badezimmer verlassen will, unterläuft ihm eine winzige Unachtsamkeit. Er ist durch die Müdigkeit noch nicht wach und schwankt beim Gehen leicht. Durch das Schaukeln nimmt er die Kurve aus dem Badezimmer heraus in den Flur ein wenig zu eng und tritt mit voller Wucht den kleinen Zeh des linken Fußes gegen die untere Türkante.

Augenblicklich signalisiert sein Fuß eine Beschädigung an das Gehirn. Das Gehirn wandelt die Information zu einem Schmerz um. Es will den gesamten Körper warnen. Die Unfallstelle am Fuß ist nicht unerheblich: Schließlich dient der kleine Zeh dem Gehenden zum Halten der Balance. Darum bläst ein ganzer Fanfarenzug von Trompeten in seinem Kopf den Schmerzangriff. Seine Augen schalten auf ein weißes Testbild um und ein brüllender Schrei entkommt seinen Lungenflügeln.

Dann schaltet sich das weiße Bild ab. Sein Kreislauf, noch nicht durch ausreichend Kaffee auf Touren gebracht, legt eine Verschnaufpause ein, das weiße Bild wechselt auf schwarz.

Wie in Zeitlupe schwankt Fox hin und her, um dann mit einem unüberhörbaren Stöhnen in sich zusammen zu sacken

Alarmiert durch den Lärm eilt seine Familie herbei und findet Fox vor dem Badezimmer auf dem Boden liegen, wo er sich jammernd den Fuß reibt.

„Ooooh, uuuh, er ist gebrochen“.

Die Familie betrachtet interessiert erst den Fuß, dann die Tür. Dann scheinen alle zu verstehen, was passiert ist. Die Kinder beginnen zu lachen und seine Frau stellt ihm wortlos Pantoffeln hin.

„Zieh dir mal Pantoffeln an, ist besser so.“

Dann dreht sie sich um, geht zurück in die Küche und widmet sich wieder ihren morgendlichen Aufgaben. Die Kinder laufen kichernd zurück in ihre Zimmer.

Nur Fox kehrt nicht in seine Morgenroutine zurück. Er sitzt allein auf dem Boden und reibt sich seinen pochenden Zeh, welcher sich langsam blau verfärbt. Neben dem Gefühl des Schmerzes, breitet sich ein weiteres aus, das er in dieser Form nicht kennt: Wut. Vielleicht ist es auch Zorn oder sogar Hass. Irgendein Schalter hat sich in ihm umgelegt. Diese Art von Sicherung, wenn sich Dinge ändern, wenn man das Gefühl hat, die Kontrolle zu verlieren. Im Körper steigt Unruhe auf. Sie befällt einen, packt einen im Nacken. Der Körper beginnt zu zittern: erst der Rumpf, dann die Arme und Beine. Man spürt, wie das Herz immer stärker pocht, bis der Hals sich anfühlt, als würde er platzen. Der Druck im Kopf steigt. Auf der Stirn bilden sich Schweißperlen, die Adern treten hervor. Die Hände werden feucht. Man kann Bewegungen nicht mehr kontrollieren. Es ist wie ein Stromschlag, nur dass der Schlag nicht enden will.

Fox steht langsam auf. Mit der einen Hand stützt er sich an der Wand ab. Für einige Sekunden lehnt er sich an ihr. Das Blut scheint sich in seinen Beinen versammelt zu haben. Der Kopf ist leer. Vor seinen geschlossenen Augen erscheinen Blitze. Als er die Lider schließlich wieder öffnet braucht er eine Weile, bis er den Blick wieder fokussieren kann. Dann humpelt er ins Schlafzimmer, um sich anzuziehen.

Er setzt sich aufs Bett. Der Schmerz in seinem Fuß nimmt all seine Aufmerksamkeit in Anspruch. Er treibt ihm Tränen in die Augen und spornt seine Wut zusätzlich an.

„Diese gottverdammte Kante. Ich hasse sie. Ich hasse dieses Haus. --- Scheiße, scheiße, scheiße.“

Bricht es aus ihm heraus. Mit einer wütenden, ausholenden Bewegung stößt er das Buch und die Nachttischlampe von dem kleinen Schränkchen neben dem Bett. Die Birne der Lampe zersplittert und die Scherben verteilen sich auf dem Teppichboden. Er greift nach seinem Kopfkissen vom Bett und wirft es gegen das Bild an der Wand. Das fällt zu Boden, wo es ebenfalls zerbricht. Er reißt das Bettzeug vom Bett und wirft auch dieses durch das Zimmer. Dann die Matratze. Er sieht den Staub unter seinem Bett, was ihn nur weiter anstachelt.

Fox ist noch nicht fertig. Er greift mit beiden Händen nach dem Schränkchen neben dem Bett und schleudert es mit einem wütenden Schrei durch das Zimmer. Es zerschellt an der gegenüberliegenden Wand. Putz und Tapete rieseln auf den Boden.

Fox sieht sich um. Eine Trümmerlandschaft liegt vor ihm. Es widert ihn an. Er könnte kotzen.

Er ist so schrecklich wütend. Es ist eine Mischung, die alles Böse dieser Welt in sich vereinigt.

Zum ersten Mal in seinem Leben gibt er diesem Impuls nach. Er ist nicht kontrolliert, ist nicht ruhig. Er ist kein liebevoller, beherrschter Ehemann und Vater. Jetzt ist er der Fox, der sich nicht kontrollieren lassen will. Unbändig, wild, von allen Ketten befreit. Ein wildes, aggressives, bösartiges Tier. Dort steht er und schreit. Er kreischt heraus, was er fühlt, und kann nicht aufhören.

Erneut läuft seine Familie herbei, diesmal still, verängstigt, mit weit aufgerissenen Augen. Sie legen die Hände über die Ohren. Keiner wagt es, einen Ton zu sagen. Kein bissiger Spruch ist zu hören. Gespenstische Stille breitet sich aus. Sie mischt sich mit Verwirrung und Angst vor dieser Kraft, die den Raum geflutet hat. Sie scheint ihn zu sprengen. Als ob sich die Wände des Raumes nach außen wölben. Der Druck wird größer und größer, wie in einem Vulkan dessen Ausbruch kurz bevorsteht, die Flanken blähen sich auf. Der Druck im Inneren nimmt zu. Die Eruption steht bevor.

„Jetzt nichts sagen!“

zischt Sunday ihren Töchtern zu.

„Papa hat die Beherrschung verloren“.

Vorsichtig gehen Sunday und die beiden Mädchen aus dem Schlafzimmer.

Kurze Zeit später sitzt Sunday allein am Frühstückstisch. Fox packt im Flur seine Sachen und verlässt grußlos das Haus. Sunday geht leise hinter ihm zur Tür und lehnt sich an den Türrahmen. Sie beobachtet ihren Mann und im Bauch spürt sie etwas. Es ist eine alte, verloren geglaubte Empfindung. Weder Angst noch Wut, sondern Stolz. Sie genießt es, einen Partner zu haben, der männlich und stark ist. Nach so vielen Jahren der Monotonie und Eintönigkeit wirkt er durch dieses neue Verhalten anziehend auf sie. Sie steht an der Tür und spürt ein leichtes Zittern in ihrer Hüfte.

BEZIEHUNG

Sunday denkt:

„Woher kommt diese Monotonie?“

Fox verlässt jeden Morgen das Haus, geht seiner Arbeit nach und kommt abends müde nach Hause. Sie steuert die Familie zu Hause. Sie stellt die Regeln auf, führt ihre Töchter, erzieht sie, läuft mit ihnen tagsüber durch die Welt. Er ist schon ein guter Vater, das Gegenteil entspricht nicht der Wahrheit. Aber er hat leider viel zu wenig Zeit. Sie dagegen ist nicht nur für die Kinder da, sondern auch für das gesamte Rahmenprogramm. Treffen sie sich mit Freunden auf ein Glas Wein, dann hat sie den Termin organisiert. Trifft man sich am Wochenende zum Grillen, hat sie mit einer Freundin, diesen Termin vereinbart. Die Männer kennen sich, grillen das Fleisch und tauschen sich aus, aber die Bindung findet zwischen den Frauen statt. Mehr oder weniger alle Sozialkontakte kommen auf ihre Initiative hin zustande. Heißt es, dass Besuch zu Fox und Sunday kommt, dann wurden sie von Sunday eingeladen und man geht zu Sunday und ihrem Mann.

Schultermine und Elternsprechtage, sind ihre Aufgabe. Dafür kann keiner etwas. Aber es führt dazu, dass Fox nur noch mitläuft. Er ist nicht mehr Teil des Geschehens. Er wird durch seine Arbeit von der Familie isoliert, wird Gast, Parallelläufer.

Unbewusst unterstützt Sunday diesen Weg. Sie nimmt die Zügel wie selbstverständlich in die Hand. Sie gibt den Weg vor. Sie bespricht sich nicht mehr mit Fox. Nicht aus Boshaftigkeit, sondern um ihn zu entlasten. Er ist so oft müde abends, dass sie ihn schützen will. Er soll sich erholen und sie will ihn nicht mit den scheinbaren Belanglosigkeiten des Alltags nerven. Aber damit grenzt sie ihn unbewusst immer weiter aus, und er ist immer häufiger zu müde, um nachzufragen.

Schon länger stellt er keine Fragen mehr. Ihr gemeinsamer Weg wird zu einem parallelen Weg. Man geht nebeneinanderher, nicht mehr miteinander.

GEDANKEN

„Was ist mit mir? Brauche ich diese Art von Gewalt? Nein, wohl eher nicht. Aber es ist gut zu wissen, dass in diesem Mann, der seine Zeit am Schreibtisch verbringt, auch ein Mann ist, der aus Schweiß, Muskeln und Aggression besteht. Ein Mann, der für mich kämpfen würde, der seinen Körper dazu einsetzen würde, mich zu schützen,“

denkt Sunday als Fox fort ist.

Jahrelang hatten Gefühle keinen Platz mehr. Vielleicht kosten sie zu viel Kraft. Vielleicht hat sie auch Angst, sich darauf einzulassen. Sie will die schlechten Gefühle vermeiden und verhindert damit auch die Glücksgefühle. Verletzungen werden reduziert. Man nähert sich einem emotionslosen Nullpunkt an. Alles ist seicht geworden. Es läuft ja, auch wenn die Höhen und die Tiefen fehlen.