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„Männer schreiben nicht von Gefühlen, das ist nicht männlich. Männer sind hart, denken logisch, stringent und zeigen keine Gefühle.“ Und trotzdem kommen sie an Grenzen, wo dieses Bild nicht mehr stimmt.“ Dies waren die Worte zur ersten Ausgabe. Jetzt sind weitere sechs Jahre vergangen. Wir haben neue Tiefs erleben müssen, aber uns auch gefunden. Wir haben unseren Weg gestaltet. Ob er gut ist? Vielleicht. Aber auf jeden Fall ist es unser Weg. Dieses Buch beinhaltet den ersten Teil in überarbeiteter Form und neu die folgenden sechs Jahre.
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Seitenzahl: 197
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Vor ein paar Monaten hatte ich schon mal angefangen und viele Seiten geschrieben. Damals schrieb ich in wenigen Tagen wie im Rausch, bis alles raus war. Stundenlang tippte ich ohne aufzusehen, ohne Korrekturen vorzunehmen. Jetzt, einige Monate später, sitze ich wieder hier und arbeite weiter an dem Text, lese ihn immer wieder. Mittlerweile ist Juni 2011.
Vor meinem ersten Schreibanfall schrieb ich mir immer wieder Gedanken aus dem Kopf. Mein externes Gehirn nannte ich es, gebannt auf Papier in einer Kiste, die neben dem Schreibtisch stand. Darin, zwischen Notizen, zwei Bücher, von Barbara Pachl-Eberhardt und Herrad Schenk. Beides Frauen, die versucht haben, ihre Gedanken zu Papier zu bringen, zu beschreiben, wie sie damit fertig geworden sind, mit dem Verlust, mit der Einsamkeit, wenn der Partner stirbt.
„Fertig werden, als ob man es irgendwann beenden kann“, schreibt Herrad Schenk.
In zunehmendem Maße muss ich feststellen, dass es so nicht geht. Man wird nicht damit fertig, es ändert sich, aber es bleibt. Es wird auch nicht besser, nur anders, vielleicht besser auszuhalten. Vielleicht lernen wir auch dazu, reifen an den Umständen, werden sensibler für Dinge, die das praktische Leben betreffen.
Ich habe versucht, Platz zu schaffen in meinem Kopf, um neue Gedanken zuzulassen. Jetzt habe ich Angst, dass mein Kopf leer sein wird, wenn ich das Buch beendet haben werde. Werde ich dann alles vergessen? Womit wird sich mein Kopf dann füllen? Ich weiß es nicht. Gleichzeitig ist aber auch eine ganz große Neugierde dabei, was wohl kommen wird. Neugierde und Angst, Neues zuzulassen. Irgendwie bin ich verbunden mit dieser Frau, die mich 17 Jahre lang begleitet hat.
Ich weiß nicht, ob es Schuldgefühle sind, wenn ich an neue Dinge denke, die ich nicht mehr mit ihr teilen werde. Von denen ich ihr nicht erzählen werde, weil sie nicht mehr da ist.
Ich habe viel recherchiert, habe Bücher gesucht, um Anregungen zu bekommen für mein Leben. Ideen für den Tag, den Monat, das Jahr danach. Um zu lesen und zu sehen, dass ich nicht alleine bin. Wie gehe ich weiter, wie mache ich das, das Leben als Single, als Witwer mit vier kleinen Kindern? Ich wollte keine psychologischen Abhandlungen lesen, die nur theoretischer Natur sind, weil der oder die Autor(in) noch keine direkten eigenen Erfahrungen gemacht hat. Bei den Recherchen bin ich aber fast nur auf Frauen als Autorinnen gestoßen. Aber warum schreiben Männer nur so wenige Bücher darüber? Rein biologisch betrachtet sterben Männer eher als Frauen, also gibt es natürlich mehr Witwen als Witwer, aber es gibt doch auch Krankheiten oder Unfälle, so dass Frauen eher gehen. Es wäre doch einfacher für mich zu sehen, wie ein Mann das macht, da er doch anders denkt als eine Frau. So sagt man doch, oder nicht?
Der Mann versucht, die Sache logisch, rational anzugehen, heißt es. Vielleicht aber auch zu kalt, nicht fähig seine Gefühle zu beschreiben. Vielleicht versteckt er aber auch nur seine Gefühle hinter dem äußeren Ich. Verdeckt mit diesem Ich seinen Kern, seine emotionale Seite.
In der Vergangenheit habe ich versucht, mein Leben zu kontrollieren, habe versucht es rational und logisch zu betrachten, habe auch Heikes Weg versucht, nüchtern zu planen in der Krebszeit. Jetzt ist der Punkt gekommen, wo die kühle Rationalität nicht mehr funktioniert. Der Wissenschaftler, der ich immer meinte zu sein, macht einem Wesen Platz, das auf einmal Gefühle hat. Der ein Häufchen Elend ist und manchmal nicht mehr will, nicht mehr laufen, nicht mehr denken und nicht mehr sehen will. Das Leben ist nicht mehr kontrollierbar und trotzdem müssen wir, muss ich, damit klarkommen.
In mir drin ist ein emotionales Wesen, das ich nicht kenne. „Wo warst du die ganze Zeit?“ „Ich war hier“, sagt es. „Du hast mich bloß nicht ans Licht gelassen. Du hieltest die Türe immer fest verschlossen.“
Darf ich das alles aufschreiben? Bin ich jetzt ein Weichei, weil ich meine Gefühle aufschreibe, wenn ich meine Angst, meine Unsicherheit in die Bücherregale lege, so dass es jeder lesen kann? Will ich mich dadurch bestrafen, indem ich mich bloßstelle?
Nein, sicherlich nicht. Ich bin auch nicht der mit dem erhobenen Zeigefinger. Ich bin ein Mann, der eine Erfahrung gemacht hat, der versucht hat, sein Leben wieder in den Griff zu bekommen und dabei viel nachgedacht hat. Der versucht, dieses Gefühlschaos so aufzuschreiben, wie es ihm in den Sinn kommt, um authentisch zu bleiben.
Und was ist, wenn ich unwissenschaftlich werde? Wenn die Kollegen sagen, dass ich mich nicht mehr in der Realität aufhalte? Bin ich dann traumatisiert, benötige ich dann Hilfe von Psychologen? Habe ich ein posttraumatisches Belastungssyndrom?
Natürlich werden alle Mitleid haben. Der arme Mann mit den vier Kindern, ganz alleine. Wie soll das gehen, ohne Frau? Für viele Fragen habe ich keine Antworten. Das Wort „vielleicht“ wird dieses Buch prägen. Ich weiß auch nicht, ob ich Antworten bekomme werde. Dennoch sind hier überall Fragen.
Es ist aber auch zu einfach, den Tod nur als zum Leben gehörend zu deklarieren, als natürlich und zu sagen, dass es jeden treffen kann. Es hat mich getroffen, es hat unsere vier Kinder getroffen und es hat unsere Freunde getroffen. Ein großes schwarzes Loch wurde gerissen. Wir tappen am Rand entlang, sehen immer mal wieder entsetzt in die grenzenlose Tiefe und versuchen doch weiterzulaufen, nicht hinter herzufallen. Bei jedem Schritt aber rutsche ich wieder ab.
In diesem ersten Jahr 2010 habe ich viel nach hinten gesehen, wollte nicht nach vorne schauen, auch wenn ich viel dafür gemacht habe. Wollte begreifen, was passiert ist, mir überlegen, wie und ob ich weitermachen soll. Daraus sind Gedanken entstanden, sind Gespräche geworden. Der Kopf ist voll davon und es muss raus. Ich bin an einem Punkt, der alles grundsätzlich ändern wird. Dazu gehört auch, dass ich es rausschreiben muss, damit Platz für Neues entsteht. Dazu soll dieses Buch dienen. Es soll auch dazu beitragen zu zeigen, dass Männer nicht einfach weitermachen können oder müssen, sondern dass auch sie das Anrecht auf eine unbestimmte Art von Trauer haben, dass auch sie zerbrechlich sind, auch wenn sie es nach Außen hin nicht zeigen dürfen – sollen – können. Geschehnisse können dazu führen, dass sich Dinge grundlegend ändern. Bei mir hat sich alles geändert und vieles davon ist gut so.
Wenn Sie dieses Buch lesen, werden Sie eine Abfolge erkennen, von einer Entwicklung will ich nicht sprechen. Es haben sich Dinge ergeben, sie haben sich geändert. Es ist mein Weg, den ich zurückgelegt habe. Ich gehe ihn immer noch und trage meinen Kopf oben. Ich schaue mittlerweile fröhlich nach vorne und sehe mit zunehmender Dankbarkeit zurück. Es ist kein Groll dabei, sondern ein Anerkennen dessen, das mich meine Frau geformt hat, dass sie aus mir einen anderen Menschen gemacht hat, 17 Jahre lang.
Der Tod beendet ein Leben, nicht eine Beziehung. (Talmud)
Trauer ist Liebe. (Fritz Roth)
Für Heike (Voeti), meine gestorbene Frau, für unsere lebenden Kinder Paul, Emma, Anton, Conrad und die beiden zu früh gestorbenen Jungs Jacob und Hannes, die nie die Sonne gesehen haben.
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Einschub
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
Kapitel 45
Kapitel 46
Kapitel 47
Kapitel 48
Geboren wurde ich an einem Rosenmontag, den 17. Februar 1969 in Kevelaer. Kevelaer am Niederrhein, ist ein Wallfahrtsort der oberen Kategorie - mit vielen Kirchen, vielen Pilgern, die jedes Jahr nach Kevelaer kommen, um sich ein kleines Marienbild anzusehen, das Wunder verspricht. Ein Ort, der vom Glauben und von der katholischen Kirche lebt. Dessen Geschäftsleute Papstlutscher, religiöse Statuen und Kreuze verkaufen. Eine Gnadenkapelle mit zahllosen Krücken (Unterarmgehstützen, wie Heike immer sagte, nachdem sie sich die Achillessehne beim Volleyball gerissen hatte), die sich viele Menschen jährlich ansehen. Und der immer wieder die vielen Menschen aufnimmt, die in die Gnadenkapelle gehen, um dann anschließend in einer der zahlreichen Gaststätten ihr Käsebrot oder ihren Apfelkuchen zu essen, den Kaffee zu trinken, um dann in einem der Devotionalienläden eines dieser Andenken zu kaufen. Der die Menschen danach wieder ausspuckt und auf die Heimreise schickt mit einem Segen, nur, um sie im folgenden Jahr wieder aufzusaugen.
Aufgewachsen bin ich in einem gutbürgerlichen Elternhaus. Mein Vater war Direktor (Oberlehrer genaugenommen, weil es nicht genügend Schüler waren) der örtlichen Grundschule, sehr engagiert in der Kirche und neben dem Ortsvorsteher und dem Pastor der dritte wichtige Mann im Dorf. Das Dorf: Winnekendonk, ein Durchgangsdorf zur Autobahn A57, Golddorf. Meine Mutter war erst Hausfrau und Mutter, dann Künstlerin, dann zentrale Pflegeeinheit meines Vaters, als er an Krebs erkrankte, bis er 1996 starb. Eigentlich wollte sie sich ja von ihm trennen, wenn wir Kinder erwachsen sind, aber er kam ihr mit seinem Krebs zuvor. Jetzt konnte sie nicht mehr gehen. Wie hätte das denn ausgesehen.
Ich habe mich schon damals immer für die Natur und für die Fotografie interessiert, mehr als für Mädchen. Vielleicht hat mir die Natur aber auch das gegeben, was ich benötigt habe, die Flucht vor meinem viel zu engen Elternhaus. Deshalb war ich eigentlich immer draußen, meist alleine, wenn ich nicht wie meist lernen musste, weil der Schulstoff nicht in mein Hirn zu passen schien. Irgendwie hatte er eine andere Abmessung, als dass er kompatibel zu meinen Hirnwindungen gewesen wäre.
Als Kind habe ich mich folgendermaßen in Erinnerung: weich, leicht dicklich, blass, eher unsportlich, wenn es um Mannschaftssportarten ging. Ich erinnere mich an unseren Umzug, als ich zwei oder drei Jahren alt war. Meine Eltern gaben mich für einige Wochen zu meiner Großmutter nach Duisburg. Ich erinnere mich an die Abschiede, wenn meine Onkel und meine Großmutter mich an den Wochenenden nach Kevelaer brachten, dort einen Kaffee tranken und mich dann zwei Stunden später wieder ins Auto setzten und wir zurück nach Duisburg fuhren. In meinen Erinnerungen starb ich jedes Mal und es tat unendlich weh. Ich war schon damals kein Freund von Abschieden.
Nachdem wir dann umgezogen waren, kamen der Kindergarten, in den ich nicht wollte, und dann anschließend die Grundschule. Bei meinen Klassenkameraden war ich immer der Doofe, weil ja mein Vater der Chef war. Ich konnte mir keinen Streich erlauben, wurde bei ihren Streichen auch nicht miteinbezogen, weil bei mir die Gefahr bestand, dass ich alles petzen würde. Ich stand also am Rand. Ich erinnere mich, dass mich meine Klassenlehrerin, Frau Möllers, ziemlich auf dem Kieker hatte, weil sie mit meinem Vater Stress hatte. Sie starb später an Krebs, nachdem sie zwischenzeitlich ausgesehen hatte, als ob sie schwanger sei. Sie war wohl vom Krebs bereits ausgefüllt. Während der Grundschulzeit wurden die Kinder unserer Umgebung nach und nach in den lokalen Sportvereinen angemeldet. Meine Eltern wollten nicht, dass ich Fußball bei uns im Ort spielte, also wurde ich stattdessen zum Schwimmen in einer anderen Stadt angemeldet. Zwei- bis dreimal Schwimmtraining pro Woche hatte ich ab diesem Zeitpunkt. Mein Vater hatte mir das Schwimmen schon vor dem Kindergarten beigebracht. Wenn ich an meinen Vater zurückdenke, fallen mir nur wenige Erinnerungen an ihn ein. Ich weiß, dass er einmal mit mir eine Fahrradtour von Kevelaer nach Münster gemacht hatte, die eine Woche dauerte. Eine Woche, in der es jeden Tag Pommes mit Currywurst gab. Ansonsten kümmerte er sich wenig um mich. Vielleicht hatte er keine Zeit für uns, vielleicht haben wir ihn auch nicht wirklich interessiert. Doch, Nachhilfe hat er mir immer gegeben. Der einfache Holztisch mit Eisenbeinen vor seinem Schreibtisch aus massivem Holz. Es waren Stunden der Hinrichtung. Ich hatte jedes Mal Angst.
Meine Mutter achtete immer darauf, dass wir Kinder uns benahmen, weil wir im Dorf eine gewisse Position inne hatten. Daran bemaß sich alles und es wurde peinlichst darauf geachtet, diese Position auszufüllen. Beispielsweise durften wir am Sonntag nicht spielen, weil wir unsere Sonntagsanzüge trugen.
Mir war das alles zu eng. Ich halte wenig von Konventionen, und Traditionen sind mir zuwider. Ob ich diese ablehnende Haltung quasi seit der Geburt hatte oder sie, aufgrund der häuslichen Enge, nachträglich entwickelt habe, kann ich nicht sagen. Ein Grundinteresse an der Natur scheint allerdings angeboren zu sein, so dass ich mit zehn Jahren in den Naturschutzbund Deutschland eintrat, um meinem Hobby intensiver nachzugehen. Seit dem Eintritt konnte ich jederzeit legal in die Natur zu gehen, um der häuslichen Enge zu entfliehen. Da es zu dieser Zeit weder Handy noch andere mobilen Kommunikationsmittel gab, war ich, sobald ich das Haus verlassen hatte, auch nicht mehr zu erreichen. Meist bin ich mit dem Fahrrad losgefahren, habe es irgendwo versteckt, und bin dann durch die Wälder und Felder gestrichen. In der Regel alleine, weil meine Schulkollegen aufgrund ihrer sportlichen Aktivitäten meist zusammen unterwegs waren. Ich war also alleine. Damals, so erinnere ich mich, war das allerdings kein Problem. Ich kannte es ja nicht anders. Oder sagen wir es anders: Da ich nicht in die betreffenden Sportvereine durfte, es mir zu Hause aber zu eng war, hatte ich keine andere Wahl.
Natürlich war ich auch mal mit anderen Kindern unterwegs, aber auch diese waren Außenseiter, mit einigen Kindern durfte ich nicht spielen, weil deren Mutter Putzen ging und der Vater „nur“ Hilfsarbeiter war, was in den Augen meiner Eltern unter unserem Stand war.
Allerdings spielte ich immer mal wieder mit einem Mädchen aus der Nachbarschaft, die an Leukämie erkrankt war. Bettina war mal da und dann wieder weg, bis sie irgendwann endlich geheilt war. Sie ging nach der Grundschule erst auf die Hauptschule, wechselte aber zwei Jahre später auf das Gymnasium.
Meine Klasse aus der Grundschule kam, bis auf wenige Ausnahmen, auf das Gymnasium. Die Klasse wurde zwar durch einige weitere Schüler aufgestockt, allerdings bestand der Kern immer noch aus unserem Dorf. Damit war ich weiterhin der Außenseiter, weil ich ja schon in den vier Jahren der Grundschule nicht in die Klassengemeinschaft reingekommen war.
Die neuen Schüler orientierten sich gleich in Richtung unseres Ortskerns, so will ich das mal nennen. Also zu den dominanten Kindern, die schon in meiner Grundschulklasse zusammen unterwegs waren.
Während des Gymnasiums bekam ich sehr bald Nachhilfeunterricht von einem Physikstudenten, täglich, damit ich einigermaßen Schritt halten konnte. Mathe habe ich nie verstanden. In der siebten Klasse bekamen wir Herrn Röttgers als Mathelehrer. Er machte mir sehr schnell klar, dass er von mir nichts hielt und alles daran setzen würde, mich von der Schule zu bekommen. In der achten Klasse musste ich dann eine Nachprüfung bestehen, weil ich sonst sitzen geblieben wäre, was in meinen Augen nicht ging. Das einzige Kapital, das ich besaß, war meine Disziplin. Ich hätte vor mir, vor meinen Eltern und vor all meinen Klassenkameraden verloren, wenn ich eine Klasse hätte wiederholen müssen. Also habe ich gearbeitet bis zum Umfallen. Mittlerweile war ich mit ein paar anderen Jungen (Christoph D., Harald E.-B. und Werner W.) unterwegs. Wir verstanden uns ganz gut, und ich gehörte dazu. Daneben verstand ich mich noch mit einem Mädchen (Lore H.) ganz gut. Mit Lore konnte man nächtelang reden, wobei ich meistens zuhörte. Wir waren kurz vor dem Abi auch für drei Wochen zu zweit in Schottland. Es war immer eine körperliche Distanz da, leider, aber es hätte sich entwickeln können. Meine Mutter sah mich wohl eher als geilen Bock, wollte sie doch, dass ich mit einem Hunderterpack Kondome nach Schottland fliegen sollte. Ich dachte aber nicht an Sex. Christoph, Lore und ich waren häufiger zusammen unterwegs. Da wir untereinander keine Konkurrenz entstehen lassen wollten, hatten wir ausgemacht, dass keine intimeren Freundschaften entstehen sollten. Irgendwann wollte ich Lore besuchen und fand Christoph in ihrem Bett.
Die Schule war endlich vorbei und mein Vater, Leutnant der Reserve, schickte mich zur Bundeswehr. Ich ging hin und wäre fast verhungert, denn ich konnte nichts runter bekommen. Ich hatte mich durch die Schule gequält und musste jetzt die 15 Monate Bundeswehrzeit überstehen. Alle meine Klassenkameraden waren in der Umgebung von Kevelaer bei der Bundeswehr, nur ich musste nach Oldenburg und vorher nach Rothenburg an der Wümme zwischen Hamburg und Bremen. Wenn überhaupt, konnte ich am Wochenende nach Hause fahren. Die anderen konnten untereinander Kontakt halten, weil sie sich abends treffen konnten.
Zusätzlich nagten die ständigen Selbstmordfälle (zwölf Menschen in zwölf Monaten) in der Kaserne an meinen Nerven. Ich füllte jede freie Minute mit Fachliteratur über Biologie aus, um noch mehr zu wissen. Endlich war auch das geschafft, und ich konnte zum Studium nach Münster. Dort angekommen ging eine Welt auf, weil ich auf einmal meinen Traum umsetzen konnte. Ich war frei.
Der Irakkrieg hatte gerade begonnen, und ich startete in Münster mein Biologiestudium. Ich hatte meinen Kindheitstraum erreicht, ich wurde Naturwissenschaftler. Solange ich denken kann, wollte ich immer Biologie studieren, mit Tieren und Pflanzen arbeiten. Das Leben als Single machte mir Spaß, ich kannte ja auch nichts anderes. Ich fuhr alleine nach Schottland, war viel unterwegs. Ich genoss es, die Ruhe, die Stille. Heiraten war für mich so abwegig wie der Flug zum Mars. Obwohl ich hin und wieder über den Flug nachdachte und mir ausmalte, wie es sein könnte. Die Träume kamen in Münster, meinem Studienort, immer häufiger. Dennoch hatte ich nicht vor, irgendetwas zu ändern, zumal ich mit vier anderen Freunden (zweimal Michael, Johannes und Volker), die ähnlich dachten, eine Gemeinschaft hatte, der Club, der sich der praktischen Biologie im Gelände mit ausgiebigen Tierforschungen verschrieben hatte. Wir gingen nicht auf Partys und hatten kein Interesse an Kneipentouren. Wir bestimmten Tiere, gruben Bodenfallen im unwegsamen Gelände ein, um in diese Flüssigkeiten einzufüllen, die die reinfallenden Tiere abtöteten. Und wenn die anderen in der Kneipe saßen, standen wir in der Bibliothek und kopierten Fachliteratur. Im Grunde waren wir Spießer, Verrückte, Freaks, Nerds, die ihr Studium durchzogen. Vielleicht waren wir sogar Streber. Aber wir fühlten uns wohl damit und es schien uns nichts zu fehlen.
Im zweiten Semester wurde ich von einer Professorin angesprochen, ob ich nicht Lust hätte im Naturkundemuseum zu arbeiten. Da Geld für Studenten immer knapp ist - bei mir war es nicht anders - griff ich gleich zu. Ich bekam den Job in der Mikroschau: ein fensterloser Raum auf der Empore des Museums, eher im hinteren Winkel des Museums mit zehn Mikroskopen, unter denen Objekte wie Wasserflöhe und Pflanzenzellen zu sehen waren, die wir täglich frisch herstellen mussten. Ein Studienkollege und Freund, Carsten, begann gleichzeitig mit mir dort, und wir teilten uns die Schichten, bei denen wir immer wieder einschliefen, weil das Tageslicht fehlte. Kein harter Job, eher langweilig, weil die Arbeitsstunden nur so dahinkrochen, aber gutes Geld. Außerdem konnten wir, weil wir ja nur Aufsicht führen mussten, nebenbei für das Studium arbeiten und dort unsere Protokolle schreiben. Sehr zum Widerwillen unserer Chefin, die mich ab und an ertappte, wie ich in dem dämmrigen Licht weggedöst war.
Ende 1992 wurde diese Abteilung geschlossen. Es begann die Zeit von Jurassic Park. Die Dinosaurierzeit begann. Die Museumsleitung war clever und hatte frühzeitig die Zeichen der Zeit erkannt. Sie richtete eine gigantische Ausstellung zum Urzeit-Thema ein. Wir wurden in andere Bereiche eingesetzt. Hatten wir bisher zumindest in Ansätzen noch Biologie betrieben, weil wir Präparate für die Mikroschau züchten mussten, durften wir jetzt Plastikdinosaurier verkaufen. Uns war das gleich, wurde doch weiterhin gutes Geld verdient. Der Job machte Spaß, weil die Kollegen nett waren. Da das Museum zeitweise die Türen schließen musste, weil einfach keine Besucher mehr hinein passten und damit natürlich der Stress stieg, allen Bedürfnissen der Besucher gerecht zu werden, wuchsen wir Studenten immer mehr zusammen. Wir waren in diesen Wochen eine eingeschworene Mannschaft geworden, die auch den Dienst am Neujahrstag nicht scheute, weil das bezahlte Zusammensein einfach Spaß machte.
Irgendwann Anfang 1993 stand ich an einem Vormittag mit Carsten hinter unserer Plastikdinosaurierverkaufstheke. Es war wenig los, ausnahmsweise, als Heike, die gerade neu angefangen hatte, mit irgendeiner Mitteilung von der Infotheke zu uns kam. Eine schlanke, sportliche, gut gebaute, junge Frau mit geraden Beinen. Mir schoss es bei dieser ersten Begegnung gleich durch den Kopf: „Das ist sie, die muss ich heiraten.“ Für einen Menschen, der das Heiraten weit von sich geschoben hatte, der diese Frau nicht mal zwei Minuten am Stück gesehen hatte, geschweige denn ein Gespräch mit ihr geführt hatte, ein verwegener Gedanke. Sie hätte ja auch furchtbar stottern und lispeln können oder ihre Gedankengänge hätten völlig wirr sein können. Ich sah Carsten an, sagte ihm meinen Gedanken, der ihn augenblicklich in brüllendes Gelächter ausbrechen ließ. Ich konnte nicht anders und ging hinter Heike her. Ich wollte sie irgendwie ansprechen, sie zum Essen einladen. Was auch klappte. Aber ich hatte keinen Plan, keine Idee, wie man am geschicktesten so etwas weiterstrickte. Also musste ich jeden Abend mit Carsten telefonieren, Wasserstandsmeldungen abgeben und Tipps einholen. Auf meinen Bauch zu hören, lag mir völlig fern. Diese Sprache kannte ich nicht oder wollte sie zumindest nicht verstehen. Carsten hingegen war als Ratgeber sicherlich der Richtige, denn er hatte bereits seit der Schulzeit eine feste Freundin. Er musste also über ein gewisses Maß an Erfahrungen verfügen.
Alles ging gut, bis wir endlich bei einem gemeinsamen Abendessen im Restaurant anlangten. Es nannte sich „Auflauf“. Ein Laden, den es heute nicht mehr gibt und der nur Aufläufe servierte. Heike war offensichtlich nervös. Ich musste an dem Abend nichts zur Gesprächsführung beitragen. Sie redete den ganzen Abend wie ein Wasserfall. Und ich bekam, weil wir blöderweise nebeneinander saßen und ich sie die ganze Zeit anschaute, einen schiefen Nacken.
Nach diesem Abend war klar, dass wir uns zumindest noch einmal treffen wollten, auch wenn das nicht ausgesprochen wurde. Wir waren wie zwei naive Kinder. Außer Händchenhalten und mal ein Küsschen war nicht mehr drin. Unbewusst wollten wir uns Zeit lassen, hatten wir doch beide keinerlei Erfahrungen in Sachen Freundschaft, geschweige denn Partnerschaft. Also versuchten wir, in den kommenden Wochen gemeinsame Dienste im Museum zu bekommen, verabredeten uns in der Mensa und gingen spazieren. Lange Spaziergänge mit vielen Gesprächen. Am Valentinstag überraschte sie mich mit einem Geschenk. Passend zu meiner ständigen Gier nach Schokolade bekam ich ein Nusspli. Auch in den kommenden Jahren sollte ich am Valentinstag immer einen Schokoriegel bekommen. Dieser Tag wurde unser offizieller Starttag.
Einmal saßen wir am Aasee und küssten uns langanhaltend. Wir waren so sehr in uns vertieft, dass wir nicht merkten, dass eine Truppe Ruderer vor uns am Ufer leise angehalten hatte. Irgendwann fingen sie an, uns anzufeuern. Wir wurden rot und fanden es ein wenig peinlich, aber auch eigentlich wieder nicht. Unsere Bindung wurde zunehmend fester. Ich besuchte sie häufiger in Kinderhaus, einem Ortsteil von Münster, fuhr aber am Abend wieder zurück nach Angelmodde zu meinen Rentnern. Bei Luzi und Jupp wohnte ich, hatte ein möbliertes Studentenzimmer mit vier Mahlzeiten am Tag. Wäre ich nicht mit dem Rad zur Uni gefahren, wäre ich wohl hoffnungslos verfettet.
Nach drei Wochen machte ich ihr einen ersten Heiratsantrag, den sie entsetzt ablehnte. Ich war mir so sicher, dass sie meine Frau werden würde, wenn nicht jetzt dann später. Sie konterte und führte alle ihre Bedenken ins Feld und lachte dabei. Wir sollten uns noch ein paar Jahre Zeit lassen. Okay, sagte ich ihr, ich würde sie in drei Jahren noch einmal fragen.