Um fünf Uhr macht die Wüste zu - Wolfgang Peters - E-Book

Um fünf Uhr macht die Wüste zu E-Book

Wolfgang Peters

0,0

  • Herausgeber: tredition
  • Kategorie: Bildung
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2021
Beschreibung

Ein junger Deutscher geht mit 21 Jahren nach Ägypten. Aus geplanten drei Monaten werden 13 Jahre. - Jahre des Lernens, des Erzählens, des Staunens und des Erlebens einer unglaublichen Kultur. Wolfgang Peters berichtet in seinem Erstlingswerk von den Unglaublichkeiten des ägyptischen Alltags, schwärmt von seinem Leben in Kairo, erzählt in humorvoller Art und Weise über sein Leben am Nil. Politik und Hintergründe zum heutigen bewegten Ägypten werden beschrieben und lassen die Aufstände gegen die Obrigkeit verständlicher werden. Seine eindrücklichen Schilderungen zu Stadt und Land, Einheimischen und in Kairo lebenden Ausländern sind nicht nur amüsant, sondern auch sehr kritisch und immer wieder hinterfragend. Der Leser erhält mit diesem Buch ohne großes vorheriges Studium den Schlüssel zu Ägypten. Kein Reiseführer also, aber ein wertvoller und zugleich humorvoller Begleiter zu einem der interessantesten Länder der Erde. Eine Hymne an Ägypten und zugleich ein Auftakt zu einer Serie über Kultur und Religionen, Erfahrenes und Erfahrungen aus aller Welt.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 471

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Wolfgang Peters

Um fünf Uhr macht die Wüste zu

Meine Jahre in Ägypten

Copyright: © 2021 Wolfgang Peters

Lektorat: Erik Kinting – www.buchlektorat.net

Umschlag & Satz: Erik Kinting

Verlag und Druck:

tredition GmbH

Halenreie 40-44

22359 Hamburg

978-3-347-34584-3 (Paperback)

978-3-347-34585-0 (Hardcover)

978-3-347-34586-7 (e-Book)

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Für Mischmisch, weil er mir die Liebe zu Ägypten vermittelt hat.

Für Amr, weil er der beste Freund war.

Für Ummfit, weil ich wegen ihm so wunderbar lachen konnte.

Inhalt

Vorwort

Tod auf dem Nil

Mit Eva in der Totenstadt

Mischmisch

Die Eisenbahn nach irgendwo

Morgenstimmung in Mittelägypten

Um fünf Uhr macht die Wüste zu

Das Gottesprinzip von Amarna

Der getilgte Name

Die erste Bleibe

Mustaschfa Heliopolis

Ein Haus, zwei Wohnungen: Sharia Rashid Nr. 22

Darau

Abu Simbel, Tempel ohne Seele

In Karnak wars

O Isis und Osiris – Abydos, die spirituelle Mitte Ägyptens

Umzug in der Sharia Rashid

Eine Villa am Mittelmeer

»The purple rose of Cairo«

His Masters Voice – Abenteuer auf dem Sinai

Fußballweltmeisterschaft in Kairo

Alexandria

Rosetta

Alexander der Große hat Eselsohren

Das Land des Seth

Al Moudira

Die tollen Mäuse von Dendara

Joseph und seine Brüder

Kafr al Dawar, Paradies Erden

Tosca wird achtzig – Oper in Kairo

Ain el Qasra’ in

Die unglaublichen Mauern der Stadt

Hosch el-Pascha

Abstecher in den Jemen

Sudan, das Land der Schwarzen

Im Schatten des Mahdi

Der erlebte Sonnengesang – Endlich nach Äthiopien

Hatatak Patatak

Rubbumeya

Das siebte Weltwunder

Dreizehn Jahre sind genug

Vorwort

Ich habe Freudentränen vergossen und sofort eine SMS an Mischmisch geschickt, mit dem einzigen Wort, das alles ausdrückte: Mabrouk! (Ich gratuliere.)

Mubarak war also gegangen worden, getreten von seinem ihn angeblich liebenden Volk. Diesem Volk, das ihn in schöner Regelmäßigkeit über 30 Jahre immer wiedergewählt hatte. – Angeblich. Diesem Volk, das in stoischer Ruhe von seinen Schergen getreten wurde. Eingesperrt und gedemütigt wurde. Verachtet wurde. Und das nur durch seinen Humor überlebt hatte. Getreten von ihm, der sich wie durch ein Wunder aufgeschwungen hatte, Herrscher zu werden über erst 60, dann 70, dann 80 Millionen Menschen. Und nur dadurch, dass sein Vorgänger neben ihm ermordet worden war – und sich dreißig Jahre lang niemand laut zu äußern wagte, über diesen Zufall.

Sein feistes Gesicht, mit fieser Sonnenbrille ver- bzw. bekleidet, zierte die Auffahrt über die Nilbrücke ins Tal der Könige. In stolzer Haltung stand er da, in seinem ewig schwarzen Anzug, die Hände vor dem Schoß zusammengelegt. Mit einem Gesicht, wie es jeder ungeliebte Offizier der ägyptischen Sicherheitskräfte aufweist, wenn er willkürlich an einen Untertanen herantritt, der allein schon dadurch Schweißausbrüche bekommt, weil er in diesem Moment nicht weiß, ob er seine Familie wiedersehen wird. Ob man ihm nur etwas anhängt, um ein wenig Geld zu kassieren, oder ob man ihn zur Seite winkt, weil man wieder einmal Gegner der Regierung aufspürt. – Wie es Amr zum Beispiel immer wieder passierte, weil er eine Zeit lang einen Dreitagebart trug und somit ins Raster islamischer Terrorist passte.

In Europa hatte man Ägypten nie verstanden. Als Sadat ermordet wurde und ein Aufschrei durch Ägypten ging, hielt man es für einen Schrei der Trauer. Amr hatte mir längst anderes erzählt. Am besagten 06. Oktober 1981, dem Ehrentag des damaligen Präsidenten Sadat, der wie jedes Jahr seinen Pseudosieg über Israel feiern ließ – wie immer mit dieser Sonnenbrille –, saß die Bevölkerung, auch wie immer, vor den Fernsehern und sah somit leibhaftig, ungefälscht und voller Schrecken der Ermordung ihres ungeliebten Präsidenten zu. Sah zu, wie Gott offensichtlich eingegriffen hatte und einen weiteren Tyrannen vom Throne stieß. Ein Tyrann, der Ägyptens Gefängnisse bis zum Überlaufen gefüllt hatte. Ein Tyrann, der keine Kritik an seinem Handeln zuließ und der niemals, wirklich niemals freiwillig abgetreten wäre. Amrs Familie fiel sich in die Arme, schluchzte, vergoss Freudentränen, sie konnten damals ja nicht wissen, dass ihr und mein geliebtes Ägypten nur den Tyrannen ausgetauscht hatte und vom Regen in die Traufe gekommen war.

Angetreten war Hosni Mubarak als geehrter Hoffnungsträger, aber auch sofort totgesagt als Zwischenlösung. Dieses wie so vieles hatte er mit Sadat gemeinsam, da auch Sadat als Nassers Vize nur wenig Mitleid entgegengebracht wurde und niemand ihm zugetraut hatte, Ägypten über 15 Jahr zu regieren und zu beherrschen.

Zuerst verschwanden die unzähligen Plakate Sadats im Straßenbild: Sadat als Pharao mit Tuchkrone. Sadat als Pharao eingerahmt in geflügelter Sonnenscheibe. Sadat als Batl ir Rumani, der große Held seines Oktoberkrieges. Mubarak, offensichtlich nicht überzeugt von seinem eigenen Aussehen, verbot anfangs den Personenkult, wollte angeblich keine ewigen Präsidentenkonterfeis. – Oder wusste er damals schon, dass sein Konterfei in Wirklichkeit Tausende jeden Tag zum Frühstück schon gesehen hatten? Im Volksmund nannte man ihn nämlich seines ewigen ungewollten Grinsens wegen La Vache Kiri, die lachende Kuh. Jene, die auf den berühmtberüchtigten ägyptischen Käseecken prangte, mit denen wir uns Jahre über Wasser hielten. Aber das ist ein anderes Thema …

Politisch gesehen hatte sich wenig geändert nach dem Machtwechsel. Genau wie heute zitterte der gelobte und protegierte Staat Israel vor einem Aufbrechen der ägyptischen Friedensfront, wusste damals wie heute, wie sehr der durchschnittliche Ägypter diesen nicht vorhandenen Frieden hasst. Tausende im ägyptischen Exil lebende Palästinenser sind Alltag in Kairo und erinnern täglich daran, dass der Zusatz des Friedensvertrages von 1979, der vorsah, in nur fünf Jahren eine Lösung für das Palästinaproblem zu finden, nie mehr aufgegriffen worden war. Ägypten hatte seinen Sinai wieder, alles andere war Farce. Und die von Sadat angesprochenen Investitionen, die durch den ewigen Frieden mit Israel nun möglich geworden seien, sollten nun endlich in Ägypten selber zum Zuge kommen, die Wüste sollte ergrünen, die Bevölkerung endlich nicht mehr darben müssen. – Und nichts geschah. Alles blieb beim Alten, zumindest für die große Masse der Fellachen, der Arbeiter und der kleinen Beamten. Aber es war auch der Beginn der reichen Katzen; so nannte man in Ägypten jene neureiche Schicht, die sich hemmungslos auf Kosten der einfachen Leute bereichert hatte. Diese überlebten den Mord am Präsidenten und erlebten weitere blühende Jahre unter einem anderen Tyrannen, denn sie wussten sich noch mit jedem Machthaber am Nil zu arrangieren.

Ägypten, das unsterbliche Ägypten. Ein Land, das nie frei war, immer von starker Hand regiert wurde. Tyrannisch. Diktatorisch. Ägypten, dieses Land von so großer Intelligenz, von so großer Schöpfungskraft, so unendlichem Fleiß, brach wieder einmal auf in eine neue, ungewisse Zukunft. Ob diese besser werden sollte, würde sich zeigen. Ob die Gefängnisse sich leeren würden, müsste sich zeigen. Ob die Kraft der Revolution ungeahntes Potenzial aufwecken würde? Man gab sich gespannt.

Ich gestehe, ich hätte nie geglaubt, dass die Menschen am Nil sich einmal erheben würden. Dass ich das erleben durfte, macht mich unendlich glücklich. Aber dieses kurze Zwischenspiel verlief wie die ganze neuere Geschichte des Landes im Sande. – Oder besser gesagt: im Blut. Der erste jemals demokratisch gewählte Präsident wurde nach kurzer Zeit des Chaos gestürzt und die verzweifelten Menschen hoben einen neuen Hoffnungsträger auf den Schild. Natürlich wieder einen Militär: El-Sissi auf Pralinen, El-Sissi mit Sonnenbrille. Mabrouk, dafür hätten sie Mubarak nicht stürzen müssen …

Tod auf dem Nil

Der Stresemann wollte auch nach dem fast vollendeten Jahr an der Rezeption des Dolder Grand Hotels zu Zürich nicht passen, die Hosen waren immer noch zu kurz, doch im Vergleich zu Heidrun in ihren Schnürstiefeln sah ich immer noch sehr ordentlich aus. Aber all das machte uns nichts mehr aus, denn wir waren fest entschlossen, diesem Etablissement der Eitelkeiten und Heuchelei für immer den Rücken zu kehren. Den Eidgenossen waren wir lange genug auf die Nerven gegangen und hatten genug vom oder am Ende aller Sätze und vom Geschimpfe auf die Cheiberdütschen. Wir hatten längst beschlossen, dass es nach der Berg- und Seeidylle von Zürich noch anderes auf der Welt geben müsste. Daher begannen wir, den Hotelführer zu wälzen, und ich schrieb zehn Bewerbungen dorthin, wo ich seit der Lektüre von Götter, Gräber und Gelehrte sowieso längst hingehörte, nämlich nach Ägypten. Nicht wissend, dass es sich mit Ausnahme des Hilton in Kairo durchweg um staatlich verlauste Bettenburgen handelte, wunderte ich mich, dass sich nicht eines dieser Häuser im Reiche der Pharaonen für mich zu interessieren schien, nur das Hilton hatte geantwortet und mich gebeten, mich in ein paar Jahren wieder zu melden, da sie zwar durchaus an ausländischem Personal interessiert seien, aber leider nur in den höheren Sparten der Hotellerie und mir dazu noch die nötige Erfahrung fehle.

Nun, das Leben musste weitergehen, Heide begab sich auf die Kanarischen Inseln und ich wurde zum Debitorenbuchhalter in Hamburg ernannt, was aber wider Erwarten dem Hotel in der City Nord auf Dauer nicht schadete, da meine Tätigkeit sich auf ganze sechs Monate beschränkte, denn nach ein paar Wochen unter Hamburger Trübhimmel kam der ersehnte Anruf aus dem Atlantik: Heidrun hatte es geschafft unserem – ursprünglich eigentlich nur meinem – Traum vom Leben am Nil eine Grundlage zu verschaffen. Auf den Kanaren liefen im Sommer viele Reiseleiter mehr oder weniger kopflos den Gästen in Hotels und am Flughafen hinterher, versorgten diese mit nicht vorhandenen Hotelbetten und mussten sich dafür anmeckern lassen, übten ihr Spanisch an unwilligen Rezeptionisten und mürrischen Busfahrern mit einem Faible für blonde Mädchen und trafen sich regelmäßig zu den Abflügen der Chartermaschinen aus Deutschland am Flughafen oder abends zu den Sprechstunden in den Hotels der Inseln. Und so lernten sich Heidrun und Sieglinde kennen und die Sprache kam auf Ägypten. So schloss sich denn der Kreis, denn Sieglinde war bereits für einen süddeutschen Veranstalter am Nil tätig gewesen und der notwendige Kontakt wurde hergestellt. Nach nur diesem einen Anruf, der auch noch während meiner Arbeitszeit erfolgte, war ich nicht mehr zu halten, träumte von Sphingen und Kamelen und erzählte aller Welt, ich plane nach Ägypten auszuwandern. Müdes Lächeln war meist die leise Antwort, man wusste ja, dass ich mit zu viel Fantasie auf die Welt gekommen war, damals vor 21 Jahren auf der Nordseeinsel Sylt.

Ein erster Kontakt mit besagter Firma, die in Stuttgart ihren Sitz hatte, ergab, dass man eigentlich nur ganz erfahrene und mit allen Wassern der Touristik gewaschene Reiseleiter einstellen würde für diese sehr undankbare und schwierige Aufgabe, die Reisenden vor der Raffinesse der Niltalbewohner zu schützen, ihre Koffer zu zählen und sie vor Durchfällen und Reinfällen aller Art zu bewahren. Dafür sei man dann aber auch bereit, 900 Deutsche Mark Aufwandsentschädigung zu zahlen. Daran merkte ich natürlich sofort, dass hier eigentlich nur Ägyptologen oder hochkarätige Wissenschaftler gemeint sein konnten. Aber im letzten Satz las ich Hoffnung zwischen den Zeilen heraus, hieß es doch, dass man mir zwar nicht die Bahnfahrt von Hamburg erstatten könne, aber gerne zu einem Gespräch bereit wäre, sollten meine Wege mich einmal in die Schwabenmetropole führen. Damals sah ich das noch nicht als eine raffinierte Art der Schwaben an, Spesen zu sparen, sondern griff gleich zum Telefon, um einem Freund mitzuteilen, dass wir unbedingt zur großen Staufer-Ausstellung in Stuttgart müssten, im alten Schloss, um genau zu sein, Bildung gehöre zum Lebensstil und im Übrigen hätte ich schon für das Wochenende freigenommen.

Nun lag bis zum Wochenende sozusagen schon Nilduft in der Luft, ich schwebte die verbleibenden Tage in meine Debitorenzelle, plante bereits den Umbau der Pyramiden und war überglücklich, nicht in Hamburg als Buchhalter enden zu müssen. Für das besagte Hotel lag der Vorteil ebenfalls auf der Hand, hatte ich doch zum Monatsende, um den Abschluss einigermaßen korrekt hinzubekommen, auf den Ausständen die Pfennigzahlen soweit abgerundet, dass meine Bilanz zumindest für das jeweilige Monatsende stimmte. Somit kann man davon ausgehen, dass mein Nachfolger als Buchhalter ziemlich schnell ob dieser genialen Abschlüsse graue Haare bekommen haben muss.

Noch war die Schlacht zwar nicht gewonnen, aber nachdem wir erst einmal Richtung Süden unterwegs waren, zweifelte ich nicht mehr am Erfolg meiner Mission. Eine ältere Dame empfing mich, Miss Marple gleich, mit einem netten Lächeln, erzählte von den Freuden junger Menschen bei der Bewältigung ägyptischer Bettenprobleme, dem netten Team junger Menschen, die im Niltal ununterbrochen in netten Eisenbahnen schrecklich nette Gäste der Firma betreuen würden, die sich dann nach einer Woche Niltal in Stammgäste und Fans verwandelt hätten. Was sie mir verschwieg, wird die Seiten dieses Buches füllen, es würde dieses Kapitel sprengen, aber eines möchte ich vorwegnehmen: Sie verschwieg mir vor allem, dass es eigentlich erst einmal eines Sprachkurses bedurft hätte, dort an den heiligen Ufern Gäste zu betreuen. Nicht etwa eines Arabischkurses, nein, eines Schwäbischkurses für Anfänger, denn ich war darauf eingestellt, es mit hochdeutsch sprechenden Urlaubern zu tun zu haben, und das sollte sich am Anfang als grundlegender Irrtum erweisen.

Nun, nach dem kurzen Gespräch, an dessen Ende man sich einig war, in mir genau den Mann gefunden zu haben, der die 900 Deutschen Mark am Monatsende auch wert sei und diese nicht etwa für unnötige Ausgaben verschwenden würde, hätte man mich am liebsten noch mit dem nächsten Flieger an den Nil transportiert, aber erst einmal musste ja meine Buchhalterkarriere abgeschlossen und die Kündigungsfrist ordnungsgemäß eingehalten werden. Am 5. Januar 1979 also sollte es losgehen und man würde mich am Abend vorher in Stuttgart erwarten. Noch sieben Wochen bis zum großen Exodus!

Wie praktisch, dass das alte Schloss so ganz in der Nähe des kleinen Schlossplatzes zu finden war, so konnte ich in wenigen Minuten meinem Freund unten auf dem Platz mitteilen, dass ich, Wolfgang Peters, Hotelkaufmann und zukünftiger Retter der Pharaonenschätze, nun bereit sei, dem Abendland Ade zu sagen und mit den Staufern eine Brücke zum Morgenland zu schlagen, dem großen Friedrich meine Aufwartung zu machen, dem Kopfreliquiar aus dem Kloster Fischbach ein letztes Lebewohl zuzurufen und die Grüße der Hohenstaufen an Sultan Saladin und Kamil il-Ayub entgegenzunehmen. Selten habe ich bei einem Freund so ein verblüfftes Gesicht gesehen wie an diesem sonnigen Herbsttag in Stuttgart, dem Tag, der meinem Leben eine gänzlich andere Richtung geben sollte, ein Tag, der so einschneidend war wie eine zweite Geburt.

Nicht, dass damit alle Hindernisse aus dem Wege geräumt waren. Zwar war die Kündigung ausgesprochen und auch akzeptiert worden, mein Mietvertrag in einem anonym-scheußlichen Hochhaus, dem Mexikoring 23, ebenfalls beendet, aber ein Brief der Reisefirma erbat Auskunft darüber, ob ich über reichliche Französischkenntnisse verfüge und gegen Gelbsucht geimpft sei, denn man habe beschlossen, mich lieber nach Gambia zu schicken, um dort eine Saison lang den Gästen des Hauses dienlich zu sein. Nicht mit mir, liebe Freunde. Es ging mir nicht darum, Reiseleiter zu werden, sondern einzig und allein darum, in das Reich des Ramses zu kommen, zwischen den Säulen von Karnak zu wandeln und das Rätsel der Sphinx zu lösen. Also verneinte ich beides, übrigens absolut wahrheitsgemäß, und es blieb beim 5. Januar als Abreisetag nach Kairo.

Als dann aber über Schleswig-Holstein der schlimmste Winter seit Menschengedenken einbrach, wäre ich fast doch noch so kurz vor dem Ziele gescheitert. Kein Zug fuhr mehr, Hamburg war völlig eingeschneit, Stromversorgung und Wasserzufuhr brachen zusammen, Chaostage waren angesagt, Deutschland in Not. Aber schon jetzt hatten Isis und Osiris Mitleid, ein einziger Zug verließ an diesem Tag völlig überfüllt die Stadt Hamburg Richtung Bremen, und dort, in der Stadt, in der ich zur Schule und von Fräulein Fink zur Liebe zur Geschichte erzogen worden war, wollte ich ja hin. Mit zwei Hosen, wenigen Hemden, ein paar Büchern und etwas flau im Magen verabschiedete ich mich von Freund und Feind und saß schließlich und endlich im Zug nach Stuttgart – die erste Etappe Richtung Ägypten war erfolgreich genommen.

Heidrun und ich begegneten uns in alter Freundschaft, hatten uns viel zu erzählen und freuten uns, dass es uns gelungen war, unserem Traum näherzukommen, sie selbst sollte allerdings erst in drei Wochen nachreisen und ebenfalls als Reiseleiterin für die gleiche Firma am Nil tätig werden. Das tat unserem Begegnungsabend indes keinen Abbruch. Wir begannen unsere Ägyptenkarriere hier und heute im Ländle mit der Agatha-Christie-Verfilmung Tod auf dem Nil. Ich weiß noch deutlich, wie es auf mich wirkte, den Kulissen des Filmes so nahe gerückt zu sein. Dort, bei den Pyramiden, würde ich morgen, übermorgen stehen, diese Gewalt würde unmittelbar sicht- und greifbar sein, wenn ich auch damals noch nicht wusste, dass eine Besteigung der Cheopspyramide in Wirklichkeit nicht mehr zugelassen war und die Freiheit der Filmemacher Medinit Habu mit Karnak und Abu Simbel nach Belieben vertauscht hatten, so wie auch die Nostalgie der Nildampfer nicht unbedingt dem entsprach, was mich in Ägypten erwartete, aber was machte es im Endeffekt aus? War nicht die Wirklichkeit in vielem schöner als das Klischee des Films? Zumindest nicht weniger spannend, nicht weniger faszinierend, nicht weniger erotisch als bei Peter Ustinov und seinen Mannen.

Endlich dort sein dürfen, nach einem Flug von knapp vier Stunden abgeladen werden in einer völlig fremden Welt, einem Chaos, wie ich es bislang nur in Istanbul erlebt hatte, einer Welt der Geräusche und Gerüche, wie sie im sterilen Abendland undenkbar waren. Aber auch im Kreise von Mitarbeitern, die Schwarzbrot und deutsches Dosenbier als das Nonplusultra ansahen und auch nach vielen Jahren des Ägypteneinsatzes nie wirklich angekommen waren, sich nie wirklich hingegeben hatten, diesem absoluten Orient, diesem Hauch Leben, das einen entweder sofort gefangen nimmt oder aber nie wirklich erreicht.

Mit Eva in der Totenstadt

Wir schrieben den 11. Februar 1979. Kairo war kalt, bitterkalt, aber der Himmel unendlich blau, strahlend blau und klar wie sonst nur auf der Leinwand im Film. Fünf Wochen waren vergangen seit meiner Ankunft am Nil, fünfmal hatte ich bereits eine Wochenreise namens Cleopatra von Kairo nach Aswan und Luxor in der ägyptischen Staatsbahn hinter mir. Zuerst eine sogenannte Einführungstour, denn schließlich wollte man die Gäste ja nicht einem absoluten Greenhorn aussetzen, aber im Endeffekt lief es aufs Gleiche raus, denn was hätte man schon lernen sollen bei einer Fahrt mit dem Bus durch Kairo, bei dem man vor allem davon fasziniert war, dass sich alle männlichen Ägypter über 14 Jahren ständig am Schambein kratzten, die meisten davon gekleidet in grün-weiß gestreifte Baumwollpyjamas – und das am helllichten Tag – und man sich dabei ständig fragte, ob es daran liege, dass sie an Lausbefall oder aber Unsauberkeit litten. (Später, viel später sollte ich herausbekommen, dass es an der mir damals noch unbekannten Sitte lag, sich die Schamhaare zu rasieren und das Nachwachsen selbiger natürlich ständig zu einem Jucken führte.) Was hätte man fragen sollen beim Dauerlauf durch koptische Kirchen, jüdische Synagogen und islamische Moscheen, bei deren Besuch einem unzählige Fakten von gut meinenden Fremdenführern an den Kopf geworfen wurden? Was hätte man berichten sollen von den elenden Zuständen in den Eisenbahnwagons, in denen man schnell lernte, das Waschbecken als WC zu missbrauchen und die Gäste mit viel Omar Chayyam abzufüllen, dem ägyptischen Rotwein der Firma Giannaclis, die das Überleben in der Eisenbahn überhaupt erst möglich machte? Wurde nicht damals bereits der Grundstein für spätere Leberprobleme gelegt? Nun, im Laufe der Zeit sollte sich herausstellen, dass dieses aufreibende Land für vieles die Schuld bekam, Positives wie Negatives, aber soweit war man nach vier oder fünf Wochen sicher noch nicht.

Auf jeden Fall war ich absolut fasziniert, in einer Art, wie ich es nie erwartet hätte, denn es gab absolut nicht den Bilderbuch-Ägypter, der mit Fliegenwedeln bewaffnet und in Lendenschurz gekleidet majestätisch, wie auf den Wandbildern versprochen, daherkam. Oder den Tempel, der in seiner Würde und Reinlichkeit deutschen Kathedralen glich, die sich vor allem durch Sterilität und Überrestauration auszeichnen. Alles war so anders. So staubig. So unordentlich. So wild und gleichfalls erotisch, dass ich seit meiner ersten Rundfahrt durch Kairo für immer fürs Abendland verloren war. Dies zu erklären ist Teil der Aufgabe, der ich diese Seiten widme. Zu erklären warum. Wieso. Wissend, dass man dieses Land entweder ab dem ersten Schritt intuitiv erfasst hat oder aber es nie schaffen wird. Hass oder Liebe, Zuneigung oder Abwehr – es gibt kein Dazwischen. Nur in Indien sollte es mir später einmal genauso gehen, würde ich die gleiche Faszination empfinden wie hier in meiner neuen und nie vergessenen Heimat am Nil.

Aber was hatte das mit Eva zu tun? Nun, kaum der ersten Rundreise entwachsen, begann ich, die unzulänglichen und oft unverständlichen Erklärungen der einheimischen Reiseleiter zu ergänzen. War es nicht schon immer meine Schwäche gewesen, dass ich alles besser wusste? Schnell hatte ich gelernt, dass auf all die Fragen, die diese uralte Zivilisation und ihre jungen Nachfolger betraf, der Ägypter selber selten eine Antwort wusste, da er den Hintergrund des Fragenden nicht kannte und somit dessen Logik auch gar nicht verstand. Ein Ägypter fragt nie nach dem Warum, er nimmt hin, er nimmt alles als gottgegeben, und Gottes Weisheit ist nicht zu hinterfragen, sondern hinzunehmen, in Geduld, in Demut, ohne Kant und ohne Schlegel. Dass dieses später Teil meiner eigenen Problematik in und mit diesem Lande werden sollte, konnte ich damals noch nicht ahnen, aber der Grundstock zu meinen eigenen Zweifeln war bereits im Abendland gelegt worden.

Es gab schon in meiner Kindheit wenig, was ich unwidersprochen hinnahm, warum also hier, wo alles noch viel fremder und vor allem unlogischer war? Und somit hatte ich früh begonnen, mit eigenen Vorträgen, Einwänden und Erklärungen den Reisenden meine eigenen Philosophien mitzuteilen. Kaum war ein Fremdenführer ausgestiegen, ergriff ich die Gelegenheit und, mit dem neuen Machtmittel Mikrofon ausgestattet, wurde zum Missionar meiner eigenen Gedanken, meiner Theorien und Weisheiten, die das tägliche Reisen und Erleben dieses Landes mir vorschrieb und mich lehrte. Und die Gäste nahmen es begeistert auf, erfreuten sich meines Redeflusses, der nach dem einheimischen Kauderwelsch eine Wohltat gewesen sein muss.

Ich weiß noch, wie ich auf dem von Fremdenführern unbegleiteten Weg von Kom Ombo sehr nervös einen Vortrag über die Nubier hielt, den ich heimlich ausgearbeitet hatte, gespannt darauf, wie er bei den Gästen ankommen würde. Und als er mit wirklich enthusiastischem Applaus aufgenommen wurde, wusste ich, dass ich zum Redner und Geschichtenerzähler geboren war und meine Worte auf zumindest dankbare Äcker fielen.

Von dem Tage an war ich nicht mehr zu bremsen. Auf meiner ersten eigenen Reise muss ich einigen vor allem jüngeren Damen sehr imponiert haben, denn auf der Rückfahrt, im Zug von Aswan nach Kairo, erhielt ich ein rührendes Geschenk – nicht nur ein übliches Trinkgeld, sondern ein Gedicht von Ringelnatz, das mir seither in netter Erinnerung geblieben ist:

Ich hab Dich so lieb

Ich hab dich so lieb!

Ich würde dir ohne Bedenken

Eine Kachel aus meinem Ofen Schenken.

Ich hab dir nichts getan.

Nun ist mir traurig zu Mut.

An den Hängen der Eisenbahn

Leuchtet der Ginster so gut.

Vorbei – verjährt –

Doch nimmer vergessen.

Ich reise.

Alles, was lange währt,

Ist leise.

Die Zeit entstellt

Alle Lebewesen.

Ein Hund bellt.

Er kann nicht lesen.

Er kann nicht schreiben.

Wir können nicht bleiben.

Ich lache.

Die Löcher sind die Hauptsache

An einem Sieb.

Ich hab dich so lieb.

Nach all den Jahren habe ich längst vergessen, wie die besagte Dame Mädchen hieß, das sich damals in mich verliebt hatte, aber die Geste hat mich sehr gerührt und mich bestärkt in meiner damals recht einseitigen Meinung, auf dem rechten Pfade zu sein. Gut, dass mich meine Selbstsicherheit in dieser Richtung jedenfalls nie verlassen hat.

Ich war damals so ziemlich der einzige Reiseleiter in unserem Team, der sich wirklich für Ägypten interessierte. Für die meisten war Kairo eine Überbrückung ihres Einsatzes auf den Kanaren, in Jalta oder an der Costa del Sol; sie nahmen es hin, dass sie für drei bis sechs Monate den Nil als einziges Gewässer zu sehen bekamen und machten das Beste daraus. Kairo war für sie ein Albtraum, man blieb im Hotel, man hielt zusammen und lästerte über die komischen Ägypter bei deutschem Bier und deutscher Wurst, steckte die Köpfe zusammen, indem man sich auf europäischem Mobiliar in Jogginganzügen Campingplatzatmosphäre schaffte, und hatte kaum Kontakt mit dem Volk, das man den Gästen näher bringen sollte. Man mochte mich nicht, ich galt von Anfang an als arroganter Außenseiter und konnte nicht verstehen, dass ich meine geringe Freizeit damit verbrachte, durch diese chaotische Stadt zu wandern und sie zu erforschen. War es nicht genug, dass man sich beruflich zwangsweise mit ihr auseinandersetzen musste?

Nun, ich hatte jedenfalls vor der abendlichen Zugfahrt nach Aswan den ganzen Tag frei und irgendwie hatte ich auch Eva, eine betagte Dame aus Kassel und Teilnehmerin meiner vorherigen Reisegruppe, davon überzeugt, dass man Kairo auf eigene Faust erobern müsse. Wir beiden fuhren in einem der vielen abenteuerlichen Taxis ohne Fenster und Türen zur Ibn-Toulun-Moschee, allerdings erst nach diversen Anläufen, denn der Taxifahrer verstand so gut wie nichts von dem, was wir verlangten, und fuhr uns erst einmal in eine völlig falsche Richtung, kutschierte uns aufs Geratewohl durch die Stadt der 12 Millionen Einwohner, von denen wir an diesem Morgen mindestens der Hälfte begegneten. Konnte ich ahnen, dass er uns so falsch gar nicht verstanden hatte, aber eben zum Platz des Ibn Toulun in Heliopolis aufbrach? Nach einigen Blicken auf den Stadtplan und meiner intuitiven Meinung, dass die Richtung absolut die falsche sei, ging es dann tatsächlich auf der Salah-Salem-Straße Richtung Zitadelle und von dort in das unglaubliche Gewirr Kairoer Gassen. Und in der Tat hielten wir nach langer Zeit direkt vor der Moschee des kurdischen Feldherrn Ibn Toulun, der sich zum Herrscher Ägyptens aufgeschwungen hatte und hier, weit vor den Toren Fustats, sein Heerlager, seinen Palast und seine Moschee errichtete. Welch eine schlichte Eleganz, welch einnehmende Welt, welche Ruhe nach der Hektik der Taxifahrt.

Noch oft sollte ich Zuflucht suchen in den herrlichen Moscheen der Stadt, wenn der Straßenlärm und der Verkehr einem die Verzweiflung in die Adern trieben. Heute war es das erste Mal, dass ich diese Ruhe spürte. Der weite Hof der Moschee zog den Blick sofort auf das wohl eigenwilligste Minarett von Kairo. Dieser Bau, dem Pharos von Alexandria nachempfunden, gehört mit dem Minarett von Samarra in Irak zu den wichtigsten Gebetstürmen der frühen islamischen Welt. Das gewaltige Viereck als tragendes Element für den schlankeren Tambur, darauf die Laterne, die uns daran erinnert, das Minara nichts weiter als Leuchtturm in der arabischen Sprache heißt und es somit auch hinfällig ist, darüber nachzudenken, ob die Kirchen oder die Moscheen die ersten waren, die über Türme verfügten. Weder die ganz frühen Moscheen noch die Kirchen hatte diese Türme, erst nach der Eroberung Ägyptens durch Amr ibn-al As im Jahre 642 lernten die Araber die Leuchttürme kennen und begannen später, sie in die Moscheen zu integrieren. Die Laterne des Ibn Tuloun, die Laterne des großen Kaljan-Minaretts von Buchara, die weithin sichtbare Giralda von Sevilla, sie alle waren Leuchttürme, die den Karawanen des Tages und vor allem des Nachts als wichtige Wegweiser dienten. Vom Toulun-Turm aus hat man einen herrlichen Blick auf die alte Stadt. Das Braun und Brau der Häusermassen erschlug mich jedes Mal, nur die Kuppeln waren Lichtblicke unter Kairos meist dunstigem Himmel. Welch Schönheit lag in den Spielereien der Liwanverzierungen, welch Freude kam auf beim Betrachten der hölzernen Minbar. Wir waren verliebt an diesem Tag, Eva und ich, sie, die weit gereiste, die sich mit Ägypten einen besonderen Wunsch erfüllte, ich, der dieses Land als sein Eigenes zu begreifen begann. Wie Harold and Maude: Ich war 21, sie war an die 70; unsere Liebe war rein und platonisch, denn ich hatte eine Verehrerin gefunden und sie einen Bewunderer, einen, der jeden bewunderte, der ihn bewunderte, wobei sie die Welt, die ich zu erobern gerade erst ausgezogen war, bereits kannte bis an den Rand.

Neben der Ibn-Toulun-Moschee liegt ein weiteres Wunder Kairoer Architektur: das Haus einer reichen Dame aus Kreta, im Volksmund Beit el-Kreatliya genannt. Lange von dem Engländer Gayer Anderson bewohnt und von ihm mit einem Sammelsurium arabischer Altertümer versehen, bietet es faszinierende Einblicke in das Kairo des 17. Jahrhunderts. Staunen beim Blick an die herrlichen Decken, Schmunzeln beim Bewundern des türkischen Eisenbahnteppichs, Kopfschütteln, wenn man auf das Bild des Herrn Anderson als ägyptische Sphinx stößt, mit Tuchkrone und schmachtendem Blick ins Nichts. So zu leben musste ein Traum sein, das erste arabisch-islamische Haus, das ich je zu sehen bekam, eine Liebe auf den ersten Blick.

Unser zweites Ziel war dann aber die berühmt-berüchtigte Totenstadt, vor der alle warnten. Zum ersten Mal erlebte ich die Faszination der außerhalb der Touristenpfade liegenden islamischen Monumente dieser verrücktesten Stadt der Erde. Die Faszination der Baukunst, wie ich sie vor Jahren schon in Istanbul genossen hatte, die Größe dieser das All, den Raum darstellenden Kuppeln, die endlosen Arabesken, die mit strahlender Kalligrafie durchsetzt Gottes Allmacht auf uns hernieder beschworen. Dass du nicht enden kannst, das macht dich groß … Wie oft sollte ich noch vor solchen unbeschreiblich schönen Wänden, Gebetsnischen und Einbaus stehen und begeistert davon sprechen, wie hier Gottes Größe ausgedrückt wurde, ohne sich dem Gebot zu wiedersetzten, sich kein Bild von Gott machen zu dürfen. Die staubigen Gassen der Totenstadt, dieses fast surrealistische Gebiet des Jenseits, in dem doch so viel Leben steckte … Spielende Kinder, die uns Worte nachriefen, die ich damals noch nicht verstand, die lachten, rannten und uns beobachteten, diese Wesen aus einer ihnen fremden Welt. Der Weg vom Doppelmausoleum des Sultans Barquq zum Kait-Bey-Mausoleum war ein Gang durch das wahre Ägypten, unbereinigt, ungeschminkt und einfach schön. Die Fußabdrücke des Propheten in Stein, ein Quo vadis des arabischen Raumes. Niemand hinderte uns, hier einzudringen, durch geheimnisvolle Gitter zu schauen, in tiefe Brunnenräume oder aber in einer der kleinsten, schönsten Moscheen dieses unglaublichen Kairo einfach Platz zu nehmen und hinzunehmen, was man nicht erklären kann. Was man einfach nur spürte. Dass hier eine Kraft zu Hause war, die nichts mit Fanatismus oder religiösem Wahn zu tun hatte, sondern die einfach nur da war, den anzusprechen, der in der Lage war, zu hören. Welch großartige Kuppeln ruhten über diesen Grabstätten der ägyptischen Herrscher, welche Vielfalt und Fantasie wurden aufgewendet, ihnen einen Himmel über ihre irdische Bleibe zu setzen, sie, die Ägypten geplündert und vergewaltigt hatten, zu ehren.

Dieser erste Tag abseits der normalen Pfade, abseits der Souvenirhändler und Nervensägen der ägyptischen Tourismusindustrie haben mir die Augen geöffnet für einen Reichtum, den zu entdecken diese Stadt mich geradezu aufforderte. Die mich rief, um ihr, der Mutter der Welt, der Umm id-Dunia, gerecht zu werden.

Der Gebetsruf, der am Nachmittag durch die Totenstadt hallte, rief uns in eine Wirklichkeit, die für mich zu einer Offenbarung wurde. Und so musste es geschehen, dass ich am späten Nachmittag, nachdem ich Eva in ein Taxi gesetzt hatte, so vom Schicksal angerufen an diesem und keinem anderen Tag auf Mischmisch el Azabawy treffen musste. Er sollte mein Führer werden zu den Geheimnissen Kairos, zu den Wegen und mysteriösen Pfaden durch die großartigste Stadt unserer Erde, die – ich fing an, es zu ahnen – meine Heimat werden sollte.

Mischmisch

Das Groppi ist bei Weitem das schönste Café im französischeuropäischen Teil Kairos, am Midan Tala’at Harb gelegen, der schönen Statue des Namensgebers dieses Platzes gegenüber, umgeben von herrlichen Häusern der Jahrhundertwende aus der Zeit des großen Ismail Pascha, des Khediven, der den Suezkanal erbauen ließ. Es hatte die Wirren der Nasser-Zeit überstanden und wurde nun wieder frequentiert von älteren Damen der übrig gebliebenen High Society, die den Wechsel der Zeiten noch nicht mitbekommen hatten. Hier saßen sie in ihren Pelzen, in ihren auf die Hacken gerutschten Strümpfen, tranken bitteren Kaffee, den sie bei einem den Kopf schüttelnden, mit einem Tarbusch, den wir heute noch fälschlich als Fez bezeichnen, gekrönten Kellner auf Französisch bestellten. Nur die Gewohnheit ließ ihn verstehen, was gemeint war, wenn man wie zu alten Zeiten einen Café noir bestellte. Ich versuchte mich hier mit ersten Worten im lokalen Dialekt und wahrscheinlich aus gleicher Gewohnheit heraus bekam ich meist, was ich gewünscht hatte. Die Kellner in ihren weißen, langen und nicht mehr ganz blütenreinen Kaftanen, die sich je nach Bauchgröße mehr oder weniger gut durch eine leicht speckige rote Bauchbinde zusammenhalten ließen, schlurften mit typisch ägyptischem Elan zur Doppeltür der Küche, hinter der ihre Stimmen schallten, hinter der die immer gleichen Bestellungen aufgegeben wurden, während der Gast voller Spannung auf den Erfolg oder Misserfolg seiner Sprachkünste und Bestellungen wartete.

Die Geräuschkulisse im Groppi war immer enorm, was aber die in die Egyptian Gazette vertieften Gäste nicht im Geringsten störte. Wie auch, denn der Lärmpegel Kairos war überall und immer unbeschreiblich und im Verhältnis zur Straße war es hier drinnen geradezu friedlich und still. Es war jedenfalls ein gewaltiger Sprung von der mittelalterlichen Totenstadt in das Kairo des 19. Jahrhunderts, das hier vorherrschte. Damals wollte der Vizekönig, der sehr selbstständig und fast unabhängig von dem kranken Mann am Bosporus das Nilreich regierte, nicht länger als Barbar unter den Fürsten der Welt dastehen. »Mein Land ist Europa!«, soll er gerufen haben, als seine aus Frankreich gerufenen Architekten Opernhaus und Paläste, breite Boulevards und Nilbrücken schufen, auf die Kairo heute noch stolz sein kann. Das Groppi sowie alle umliegenden Häuser und Straßenzüge erzählen von dieser türkisch-albanischen Familie, die mit Mohammed Ali in das ägyptische Leben getreten war, nachdem Napoleon die Ordnung am Nil gründlich gestört hatte – und die von Gamal Abd-el Nasser in die ewigen Jagdgründe von Nizza und Monaco vertrieben worden war. Ihr letzter Vertreter war König Farouk gewesen; der Adel war enteignet worden, die Häuser gerieten in Verfall, aber die allgemeine Armut verhinderte, dass sie abgerissen wurden, und sind somit bis heute beredsame und gerettete Zeugnisse dieser Jahre.

Nun saß ich also in diesem Juwel vergangener Größe und schlürfte meinen leicht gesüßten türkischen Kaffee, als mich ein junger Mann ansprach, dessen Augen fast das ganze Gesicht einnahmen und dessen Wimpern jede Frau Europas in den Wahnsinn getrieben hätten. Er hatte in einem schlecht gebundenen Buch gelesen, als ich mich an den Nachbartisch gesetzt hatte, und, wie es in Ägypten üblich ist, hatte er, ohne sich lange dafür entscheiden zu müssen, mit mir ein Gespräch begonnen. Sein Englisch war leidlich gut und als er erfuhr, dass ich eben aus der Totenstadt gekommen sei, war das Eis gebrochen und er fing an, mir von Kairo zu erzählen, von seiner Liebe zu dieser Stadt, von ihren Geheimnissen und davon, dass man nie wieder von ihr loskommen würde.

Er imponierte mir, denn bislang war ich nur auf wenige Ägypter gestoßen, die ihr Land oder ihre Stadt schätzten, die meisten schienen von Deutschland oder Amerika begeistert und entschuldigten sich ständig für irgendwelche Unzulänglichkeiten in ihrem eigenen Land. Und hier war nun jemand, der mit Stolz von einer Stadt sprach, die ich gerade anfing zu verstehen, die ich begann zu schätzen, die ich bereit war, unter ihrer Oberfläche zu entdecken und anzugehen. Da ich aber um 18.00 Uhr mit dem Schlafwagen bereits wieder nach Aswan fahren musste, blieb uns nichts anderes, als unser Gespräch abzukürzen. Ich war überrascht, als mein neu gewonnener Freund mir anbot, mich noch ein Stück zu begleiten und mich dann in ein Taxi zu setzen, das mich zum Misr Tower Hotel, unserer Bleibe am Abbassiyaplatz, befördern sollte.

Also spazierten wir Richtung Hauptgerichtshof die ganze Suliman-Pascha-Straße hinauf, benannt nach jenem ägyptischen Premierminister, den die Engländer auf die Seychellen ins Exil geschickt hatten, hier und da einen Blick auf die schönen, unter schwarzen Autoabgasen aber kaum noch sichtbaren Fassaden werfend und auch dabei wieder feststellend, dass wir einen ähnlichen Geschmack hatten bzw. uns an ähnlichen Dingen erfreuen konnten und zu den wenigen gehörten, die überhaupt sehen können, ohne nur den Schmutz zu sehen.

Als ich schließlich im Taxi saß, wusste ich von seiner Familie, seinen drei Brüdern, seinem Vater und seiner von ihm abgöttisch geliebten Mutter, die ihn Mischmisch, Aprikose nannte. Und somit verabredeten wir uns, um unsere Gespräche fortzusetzen, sobald ich aus Oberägypten zurückkehren würde. Die erste private ägyptische Telefonnummer hatte ich in der Tasche. Wenn ich damals gewusst hätte, wie viel Geduld man brauchte, um in Kairo ein Telefongespräch herzustellen …

Abends im Zug gab es nach Rotwein und dem üblichen Abendessen aus lauwarmer Suppe auf altem Porzellan mit Sprüngen, Kartoffelpüree und Wasserbüffelschnitzel sowie Orangen vieles aufzuarbeiten, über vieles nachzudenken. Und mit jeder Schwelle, die wir unter lautem Getöse und Geschnaufe passierten, wurde mir das Land vertrauter, wurde es deutlicher, dass ich diesem Lande immer mehr verfiel, ja, verfallen wollte, mich gehen lassen wollte und öffnen wollte diesem Zauber eines uralten und majestätischen Landes, so als hätte ich immer gewusst, das ich hierher gehörte, als hätte ich immer gewusst, dass dies und nicht Europa meine Heimat war. Wir schrieben den 11. Februar 1979, als ich begann, mich völlig auf Ägypten einzulassen …

Die Eisenbahn nach irgendwo

Die Koffer wurden verladen, das Trinkgeld war an die Boys ausbezahlt, die Fremdenführerin würde vor ihrem Haus in Giza warten. Man brach früh am Vormittag auf, um am Ende des Tages nicht etwa ins gleiche Hotel zurückzukehren, sondern am Abend des Tages mit dem Schlafwagen nach Oberägypten zu schaukeln. Einmal pro Woche wiederholte sich dieser Ablauf, insgesamt wohl so um die 20- bis 22-mal in einem Winterhalbjahr.

Nach der Abfahrt vom Misr Tower Hotel hatte ich Gelegenheit, den Gästen, die am Anfang ihrer Reise durch das Niltal standen, mein geliebtes Kairo noch ein wenig zu erklären, womit ich mit Anlassen des Motors dann auch sofort begann. Abbassyia, gegründet unter der Ägide des Khediven Abas Hilmi um die Jahrhundertwende, hatte nur noch wenige Reste des alten Glanzes eines Viertels bewahrt, in dem einmal die Oberschicht des Landes zu Hause war. Heute verschwanden die herrlichen Fassaden unter dem Dreck der von Sandstürmen aufgetragenen Staubschichten, unter Abgasrückständen oder Reklametafeln, wurden zersetzt durch riesige grell bemalte Filmwerbung, waren hinter kaputten und überall von dicken Spinnweben verunzierten Stromkabeln und anderen Drähten verdeckt. Aber mit meiner Hilfe wurden sie sichtbar, erfreuten uns mit ihren Putten und Balkonverschnörkelungen. Wir sahen Reste des ehemaligen Glanzes. Der liebe Gott wohnt bekanntlich im Detail, so war er auch hier zu Hause und zwischen all der Armut und dem Elend sichtbar. Barfüßige Kinder spielten in gefährlicher Nähe zur Straße Fußball, mit einem aus Lumpen zusammengewerkelten Ball. Autos hupten ohne Unterlass, sobald sich ein Fußgänger auf die Straße wagte, hupten ohne Grund und ohne Komma, erhitzten die Nerven anderer Verkehrsteilnehmer. Die unglaublich zerschrammten und zerbeulten Vehikel rieben ihre Stoßstangen aneinander, bis diese schepperten und abzufallen drohten, fuhren auf und verließen hitzig ihre Fahrzeuge, um wie von Taranteln gestochen auf einander loszugehen, nur um sich zwei Minuten später wieder mit einem Bruderkuss zu verabschieden und lachend in ihre zerbeulten Beförderungsmittel zu steigen. Dazwischen versuchten Busse wie Schiffe in schwerer See, sich einen Pfad durch die Verkehrswogen zu bahnen, Trauben von Kindern und Jugendlichen auf dem Dach, aus den Fenstern und Türen quellend. In dunklem Rot gestrichen, zerbeult und ohne eine heile Fensterscheibe, spotteten sie in ihrer Ohnmacht jeder Beschreibung, aber Tausende von Schülern, Arbeitern und Durchschnittsbürgern der Stadt mussten sich täglich mit ihnen abmühen, den Kampf aufnehmen mit dem unbeschreiblichen Verkehrschaos dieser damals ca. 12-Millionen-Stadt, die täglich wuchs, täglich aus den Nähten zu platzen drohte, täglich am Rande des Kollapses stand. Inzwischen zählt die mittlerweile sogenannte Metropolregion Kairo 19 Millionen Einwohner, aber immer noch funktioniert sie irgendwie und darin steckt das wahre Geheimnis von Kairo, das als reine Stadt eigentlich nur 9 Millionen Einwohner hat – als ob eine Verwaltungsgrenze diese Stadt begrenzen könnte.

Unsere behüteten Gäste saßen fest und sicher in erstklassigen Mercedes-Bussen mit der leuchtenden Aufschrift MISR TRAVEL und dem Streitwagen des großen Ramses. Die Flotte des staatlichen Reisebüros stammte ausschließlich aus Deutschland, musste ein Vermögen gekostet haben und war sicher mit unzähligen Bakschischschiebungen erworben worden. Aber wir waren natürlich froh, sie zu haben, schauten uns das Chaos aus der klimatisierten Zone unserer Polster an und ich kommentierte. Die Ägypter sind mit einer gehörigen Portion Humor ausgestattet worden, als Gott sie in die Welt schickte, und konnten somit immer und immer wieder über ihre eigenen Unzulänglichkeiten lachen, waren immer zu einer Bemerkung oder einem Spaß aufgelegt und es wurde nie langweilig, an der Seite eines Bus- oder Taxifahrers durch die Schlacht Kairoer Verkehrsteilnehmer zu schleichen.

In Abbassyia liegt die zauberhafte Villa eines Großunternehmers armenischer Herkunft, der Sakakini-Palast, der heute das 1937 vom Dresdner Haupthaus gegründete Hygienemuseum beherbergte. Ich bin zwar in all den Jahren in Kairo nie dazu gekommen, mir die Doppelköpfe und andere Missbildungen unglücklicher Geschöpfe in Spiritus anzuschauen, aber die Villa habe ich Hunderten von Gästen im Laufe der Jahre im Vorbeifahren gezeigt, meist mit der Bemerkung, dass sich in diesem Hause die ganze ägyptische Hygiene unter Dach und Fach befinde. Dann folgte der schöne Hauptbahnhof, der zu den Glanzstücken des damals sich modernisierende Ägyptens gehörte; seine islamisch geprägte Fassade ist eine der Schönsten der neueren Stadt. Gegenüber das einstmals prächtige Gebäude der Eisenbahnverwaltung: Im Chaos des Ramses-Platzes thronte Ramses aus Memphis, auf eine ewige Baustelle einer neuen und völlig überdimensionierten Moschee blickend, die sich hinter der Werbung des überall sichtbaren Osman Ahmed Osman versteckte. Seine Firma baute überall im Lande; dieser größte Bauherr der arabischen Welt verwandelte das ganze Land im Laufe der Jahre in eine Betonwüste ohnegleichen. Sämtliche Hochstraßen Kairos sollten seine Handschrift tragen.

1979 waren die Hochstraßen erst in Planung, aber schon wurden erste Fundamente ausgehoben und so kenne ich die Stadt eigentlich nur als ewig brodelnde Baustelle, sah dann im Laufe der Jahre die Hochstraßen sich zu einem zugegebenermaßen nützlichen Netz von Stadtautobahnen entwickeln und hätte nie gedacht, dass ich eines Tages wirklich das Ende dieses gewaltigen Vorhabens erleben würde.

Noch aber quälten wir uns durch die Schluchten der Häuser, vorbei am Hauptsitz der halbstaatlichen Zeitung Al Ahram, diesem Hauptsprachrohr der ägyptischen Regierung. An der nächsten Straßenecke hätte man abbiegen können nach Imbaba und Shobra, diesem Konglomerat des Massenelends auf engstem Raum, aber ich lenkte ab mit Hinweisen auf die kleinen Kirchen, die Zufahrt linker Hand zum Opernplatz, zur Stadtmitte, verwies auf die hoch über uns liegenden Skarabäen und Tuchkronenköpfchen, die die Eckfassade eines Bürgerhauses um 1920 schmückten.

Und dann hatte man es irgendwie geschafft: Die Ufer des heiligen Nil waren erreicht und Kairo öffnete sich. Atmete. Wurde grün und majestätisch. Alles Bauen hatte dem Blick auf den Fluss nichts anhaben können.

Elegante Reste der britischen Protektoratszeit zierten die Ufer, das schöne alte Außenministerium, die durch Mountolive unsterblich gemachte britische Botschaft, die allerdings ihren Rasen, der einst bis zum Nil gegangen war, eingebüßt hatte. Das alte Messegelände auf der Gezira, der Nilinsel, war ebenso elegant wie die Löwenbrücke, die darauf zu führte – wenige Jahre später sollten die Japaner hier ihre gewaltige Kairoer Oper bauen. Hoch in den Himmel sich drängend dann der Kairo-Turm, dieser Stempel der nasserschen Moderne. Sein Einfluss hatte nicht verhindert, dass die Insel mit dem Stadtteil Zamalik immer noch der Hort der Reichen war, die hier in den teuren Sportklubs vergangenen Zeiten nachtrauerten. Ihre verzogenen Kinder erlebten hier eine andere Wirklichkeit als die Kinder der Straße. Hier sah man keine überlaufenden Busse – das einzige Zeichen der Armut in diesen anderen Teilen der Stadt waren die elenden Eselskarren der Müllabfuhr, die sich täglich in stoischer Ruhe in diese goldene Gegend wagten, um aus dem Dreck der Reichen nützliches herauszupicken, wenn sie ihn am Ende des Tages auf die Müllberge der Totenstadt entluden.

War die Insel erst überschritten, waren wir erst am Hause der Sadatfamilie vorbei und hatten den alten Zoo erreicht, durften die Gäste aufatmen, denn mein Informationsschwall war am Ende; wir hatten das Haus unserer Fremdenführerin erreicht.

Schahenda war ein Phänomen. Sie war Professorin an der Kairoer Universität, islamische Kunst und Geschichte waren ihr Spezialgebiet, aber auch die Kunst der Pharaonen machte ihr keine Mühe. Ihr Auftreten, ihre schlichte Eleganz in Art und Wesen, ihr wunderbar klares Deutsch und ihre offenen Ansichten machten sie zu einer Botschafterin Ägyptens, die unzähligen Gästen aus aller Welt eine Sicht Arabiens und Ägyptens und des Islam vermittelte, die unvergessen und ungeheuer wertvoll ist. Ich habe sie sehr bewundert und wünschte mir, es wären Menschen wie Schahenda, die in Ägypten gehört werden würden.

Unser Tagesausflug sollte uns zu den Gräbern von Sakkara führen, vorbei an den Pyramiden des Alten Reiches bei Abu Sir, zur Stufenpyramide und in die alte Reichshauptstadt Memphis, dann nach einem Mittagessen in einem Gartenrestaurant in Gizeh fortgesetzt werden und dann am Bahnhof enden, wo wir in den Zug nach Oberägypten umsteigen würden. Ein Marathon also, den damalige Reisende mit Freude bewältigten, denn sie waren noch nicht so übersättigt wie heute, sie waren hungrig auf Hören, auf Sehen, auf Neues und waren noch nicht so verwöhnt wie in den Neunzigern.

Somit waren sie ganz Ohr, wenn Schahenda den Zustand Kairoer Häuser kommentierte. Nein, man sei nie von den Israelis bombardiert worden, die Ägypter hätten es völlig ohne jede fremde Hilfe verstanden, ihre Wohnhäuser in so einen desolaten und kaputten Zustand zu bringen, haha. Ich habe viel mit ihr gelacht, habe sie verstanden und viel von ihr gelernt; sie war einer der ganz wenigen Menschen, vor denen ich den größten Respekt hatte und habe. Nie wurde sie müde, freundlich auf Fragen einzugehen, zu erklären, zu zeigen. Nie wurde es ihr zu viel, durch den Sand zu stapfen, um in die Unterwelt des Serpheums einzutauchen, Herrn Ti aufzusuchen oder über versandete Pfade zur Unaspyramide zu führen. Wir haben uns auf Anhieb verstanden und ich zähle sie zu meinen großen Lehrern auf dem Wege, Wissen und Menschlichkeit zu erlernen.

Aber Sakkara soll hier nicht das Thema sein, auch nicht die schon tausend Mal besprochenen Pyramiden oder das Rätsel des großen Sphinx von Gizeh. Nach dem Mittagessen in ländlicher Umgebung, wo köstliches Fladenbrot von einer Bäuerin aus dem benachbarten Dorf der Hochstapler gebacken wurde (ich hatte das Dorf so getauft, weil die gesamte Einwohnerschaft auf ihren Häusern den Dung der Wasserbüffel stapelte), ging es auf das Hochplateau zu Gizeh, zu Kamelhändlern und Bakschischjägern und noch sehr lange war mir ein Besuch bei diesen unglaublichen Weltwundern ein Gräuel, denke ich daran zurück, wie wir uns geplagt haben mit den Kameltreibern und ihrem Theater, dem Geschrei und der Schauspielerei. Nie werde ich den Geruch vergessen, den diese elenden Tiere mit dem so arroganten Blick ausströmten, den Uringestank, der in der heißen Luft so intensiv war, dass man fast erstickte. Gizeh kann man nur des Nachts ertragen und auch dann nicht im Ramadan, wenn die ehrwürdigen Pyramiden damals den Hauptpicknickplatz des ganzen Landes bildeten. Oder aber morgens um sechs Uhr, wenn man von den Ställen aus mit wilden Araberpferden in die Wüste jagte und der Majestät der Pyramiden mit wehenden Haaren gegenüberstand wie im Film.

Aber all das wusste ich erst später. Der Tag war nach der Besichtigung des schlichten und unglaublich schönen und würdevollen Taltempels und dem Besuch bei der Sphinx abgeschlossen. (Jaja, ich weiß, es heißt der Sphinx …) Jetzt noch in das Papyrusinstitut des schlauen Dr. Ragab am Nil, die Maske des Tut Ankh Amun auf Papyrus erstanden oder vielleicht das Porträt der Nefertari, dann ab in den Bus und zum Bahnhof.

Und nun kam endlich mein großer Auftritt, meine Laudatio auf die ägyptische Eisenbahn, auf den ungarischen Schlafwagen, der uns nach Aswan schaukeln sollte: »Liebe Gäste. Nachdem wir eine schöne Zeit in Kairo verbringen durften, freuen wir uns nun auf Oberägypten, seine Monumente, grandiosen Landschaften, das Tal der Könige und den herrlichen Nil. Um aber dort auch anzukommen, bitte ich sie, folgende Hinweise in Bezug auf die Eisenbahn aufzunehmen und zu befolgen: Sobald wir am Bahnhof angekommen sind, werden wir in Busnähe warten, bis unsere Koffer – unter lautem Geschrei der Gepäckträger, die sich dieser Aufgabe stets und täglich neu annehmen und darum auch täglich neu diskutieren müssen, wie wer am besten welchen Koffer auf welchen Gepäckwagen hieven darf – entladen sind. Dies geschieht in gemächlichägyptischer Windeseile, sollten die Gepäckträger nicht mit anderen Gruppen beschäftigt sein. Man wird die Gepäckstücke auf einen Wagen laden, und wenn der Kofferberg herunterzustürzen droht und die Wagen wirklich bis obenhin voll sind, folgen wir denselben auf den Bahnsteig. Der Zug wird noch nicht eingefahren sein und so haben sie Gelegenheit, den Einheimischen zuzuschauen, wie sie aus ankommenden Zügen ein- und ausspringen, meist durch die Fenster den Zug verlassen, unter lautem Geschrei Hühner und Gänse nachgereicht bekommen oder wie sie in altägyptischer Hockstellung auf die Einfahrt ihres Zuges warten, der unter Garantie endlose Verspätung hat. Auch unser Zug fährt selten pünktlich ab, bitte fragen sie mich nicht nach dem Warum, von den Ägyptern fragt auch niemand nach dem Warum. Ich gebe Ihnen auf der Fahrt zum Bahnhof die Kabinennummer und die Schlafwagennummer bekannt. Wir werden in zwei Waggons untergebracht, die aber in der Regel, und so sicher auch heute, nicht gerade zusammen liegen, sodass von gegenseitigen nächtlichen Besuchen streng abzuraten ist. Ich werde Ihnen zeigen, wo in etwa der Zug mit ihrer Wagennummer zum Stehen kommt. Der Schaffner wird ihnen den Einstieg verwehren, solange er kein Ticket sieht, und da ich nicht gleichzeitig an zwei Waggons sein kann, werden wir zuerst gemeinsam in den Speisewagen einsteigen, damit wir auf jeden Fall die erste Sitzung bekommen und wenigstens die Suppe löffeln können, solange der Zug noch steht. Beim Einsteigen schauen sie bitte auf die linke Seite, bis sie an der Küche vorbei sind. Sollten sie diesen Rat nicht befolgen, dürfte es dazu führen, dass sie an längerer Appetitlosigkeit leiden werden. Nachdem sie Platz genommen haben, werden die Kellner in blütenweißen und makellosen Baumwolljacken ihre Getränkebestellungen entgegennehmen. Lassen sie sich bei der Aufgabe ihrer Getränkewünsche lieber nicht allzu viel Zeit, denn der Zug wird irgendwann einen gewaltigen Sprung tun und wenn Sie ihre Suppe bis dahin nicht ausgelöffelt haben, können sie sie allenfalls noch aus dem Tischtuch saugen, denn im Teller wird sich nach dem Geschaukel nichts mehr befinden. Natürlich gilt dieses auch für den Rotwein, also lassen sie die Gläser um Gottes willen nicht zu voll einschenken, es wäre Sünde, das von Gott genehmigte rote Nass der Tischdecke zu überlassen. Und halten sie niemals das eigentlich recht stumpfe Messer mit der Spitze in Richtung auf ihr Gegenüber, wenn sie keinen Wert darauf legen, aus Versehen zum Mörder zu werden. Bei den Tanzsprüngen unseres Zuges ist mit dem Schlimmsten zu rechnen. Nach der Suppe folgt in der Regel ein recht festes erkaltetes Nudelteil, nach Fett schmeckend aber dafür auch nicht so gefährdet wie die vorherige flüssige Nahrung. Und zum Hauptgang dürfen sie sich freuen auf ein ewig geplättetes Stück Wasserbüffelkotelett, braun eingefasst in einer Art Panade, dem aus einer großen zerbeulten Aluminiumschüssel gereichten Kartoffelpüree als Nachbar auf dem Teller dienend. Zum ersten, aber sicher nicht zum letzten Mal auf dieser Reise erfreut man sie mit durchs Wasser gezogenen Zucchini und Karotten als besonders gesunder Beilage. Bitte decken sie schützend ihre Hände über besagte Speisen, da die Aircondition über ihren Köpfen dazu neigt, aufzuspringen und endlosen Staub auf sie und die bis dato weißen Tischtücher herunterrieseln zu lassen. Nach der aus einer Orange bestehenden Nachspeise wissen sie, dass es Zeit wird aufzubrechen und ihr Abteil aufzusuchen. Bitte fassen sie sich dann wie bei einer Polonaise an den Schultern, machen sie storchenähnliche Schritte, vor allem, wenn sie zwischen den Abteilen versuchen müssen, die Stahlplatten, die die einzelnen Zugabteile verbinden, unbeschadet zu überwinden, denn diese neigen dazu, sich ständig zu öffnen, um ihre Füße aufzuschnappen und schnell wieder zuzuklappen. Immer wieder kommt es hier zu grässlichen Verletzungen, vor allem, wenn sie unnötigerweise nach unten auf die Schienen schauen oder gar oben die inzwischen erwachten Sterne beobachten sollten. Gott wird es möglich machen, dass sie irgendwann vor ihrem eigenen Abteil stehen, und eine kleine Pause sei ihnen vergönnt, bevor sie sich daran machen, ihre Bleibe für eine Nacht nun näher in Augenschein zu nehmen. Sicher erinnern sie sich an den Film Ben Hur. Wenn sie nun das runde Waschbecken in der Ecke öffnen, können sie dort mit einiger Sicherheit verfolgen, wie in dem zirkusartigen Rondell des Beckens mehr oder weniger kräftige und durch sie in ihrem Schlafe gestörte Kakerlaken das große Rennen beginnen werden. So faszinierend das Zuschauen auch sein mag, sie sollten nun beginnen, schleunigst die klamme Bettwäsche zu öffnen, damit diese vor dem Zubettgehen noch etwas lüften kann. Die leicht grüne Färbung hat nichts weiter zu bedeuten und eventuelle Flecken sind geflissentlich zu übersehen. Der Schlafwagenschaffner wird im Laufe des Abends gerne zu ihnen kommen, um auch das obere Bett aus seiner Tagesstarre zu befreien, es herunterzulassen und dann ihre Bestellungen für weiteren Rotwein entgegenzunehmen. Selbst eingefleischten Nichtalkoholikern sei eine Hinterfragung ihres Lebenswandels empfohlen, denn ohne eine nötige Abfüllung mit besagtem Omar Al Khayyam werden sie bei dem Geschaukel unseres Zuges beim besten Willen kein Auge zu tun.«

Der Erfolg meiner Rede war immer gleich, man lachte Tränen und war sich ganz sicher, dass der Reiseleiter dort vorne enorm übertrieb. Aber je mehr von dem eintraf, was versprochen worden war, je mehr man von Küche und anderen Örtlichkeiten erblickte, und spätestens sobald sich der ungarische Schlafwagen mit versprochenem Elan in Bewegung setzte, desto mehr kam das Verlangen nach ägyptischem Rotwein und dem Ende der endlosen Zugfahrt auf. Nach dem Essen wurde dann, auf dem Gang vor den Kabinen stehend, in der Regel viel gelacht, mit Wassergläsern voll dem unköstlichen Nass angestoßen auf ein Ende dieser beweglichen Tortur und irgendwann löste sich die Gruppe auf, um unter bauchtanzähnlichen Bewegungen nach Schlaf zu suchen. Ich kann die Nächte nicht mehr zählen, die mir durch diesen Zug verloren gegangen sind. Das Rattern der Räder auf den krummen Schwellen, das Ausrufen der endlosen Stationen und schließlich das morgendliche Ankommen um fünf Uhr auf dem Bahnhof in Luxor waren unvergessliche und irgendwie im Nachhinein auch unverzichtbare Bestandteile meiner Reisen durch dieses verrückte Land. Und wenn Mecki, der deutsch sprechende Agent von Misr Travel mit seinen berühmt-berüchtigten Zähnen auf dem Bahnsteig stand, um die Gruppe zu empfangen, breit grinsend, war wenigstens der schlimmste Teil der Reise nach Oberägypten überstanden. Nur Cleopatra auf ihrem riesigen Wandbild in der Bahnhofshalle konnte nie glauben, dass ein Zug auch mal pünktlich ankam, und fiel all die Jahre regelmäßig in Ohnmacht, sobald eine Gruppe die Halle betrat.

Sollte man unerwähnt lassen, dass die Rückfahrt von Aswan oder die Fahrt von Luxor nach Aswan noch dadurch gesteigert wurde, dass man den Gästen, die natürlich wieder in den Speisewagen klettern mussten, nun ein wunderbares Frühstück reichte? Eingedickte Feigenmarmelade, ranzige Butter und ein vor Fett triefendes Omelett waren weitere Höhepunkte der ägyptischen Verpflegungswut. Nur gut, dass in der Regel zumindest alle schwäbischen Gäste immer eingedenk biblischer Hungersnöte den halben Koffer voller Lebensmittel gefüllt hatten und zum morgendlichen Genuss Leberwurst, Vollfettkäse und natürlich ihr eingeschweißtes Schwarzbrot auspackten und somit sich und manchen Reiseleiter vor dem Verhungern retteten.

Und natürlich darf der Menschheit auch nicht verschwiegen werden, dass, als Janet und ich mit Reisenden aus England am Bahnhof zu Luxor ankamen und Gott sei Dank noch vor den Gästen auf dem Bahnhofsvorplatz eintrafen, um nach unseren Bussen Ausschau zu halten, den Fellachen dabei beobachteten, wie dieser schnell seine Gallabiya wieder fallen ließ. Er hatte sie angehoben, um dem verstörten Esel auf dem Platz auf seine Art und Weise seine etwas eigenwillige Zuneigung zu zeigen … Und damit sind wir schon fast bei Ursula, die nichts mehr geschockt hat als die Aussage ihres nubischen Bootsfahrers, das in nubischen Dörfern die Jugendlichen an Hühnern üben würden. Wahrscheinlich hatte Ursula nie Padre Padrone gesehen, dann hätte sie sich nicht so gewundert.

Morgenstimmung in Mittelägypten

Langsam und doch auch unheimlich schnell lernte ich Ägypten kennen. Sein Wesen, seine Menschen, seine Monumente und seine Landschaften. Schon nach zwei Monaten konnte bzw. durfte ich eine Vierzehntagereise namens Osiris durch das Land begleiten und kam damals das erste Mal nach Mittelägypten. – Ein Erlebnis, das ich oft wiederholen sollte, ein Erlebnis, das den Menschen an die Seele Ägyptens führt. Immer wieder.

Der schönste Tag einer Ägyptenreise folgte in regelmäßigen Abschnitten, aber er wurde trotz aller Planung und Regie nie Routine. Und egal von welcher Seite man sich diesem Tage näherte, er war der Höhepunkt jeder Reise durch das Niltal. Nie kam man dem Land näher als an diesem Tag. Zwar fuhren wir in der Regel von Kairo über die Halboase Fayoum nach El Minia, aber in späteren Jahren kamen wir oft von Luxor oder Naga Hamadi in die alte Handels- und Kaufmannsstadt. Und immer brauchte es wegen der anfangs zumindest sehr schlechten Hotels eine gründliche Vorbereitung, damit die Gäste sich nicht weigerten, überhaupt in die Zimmer zu gehen. Wir wohnten im Ibn Khassib Hotel, einer ehemaligen Villa im ehedem vornehm zu nennenden Stadtviertel zwischen Bahnhof und Nilufer. Und da das Haus meist überbucht war, kam der Rest der Gruppen dann eben ein paar Häuser weiter im sogenannten Beach Hotel unter, das fast noch schlimmer war als das Haupthaus. Da musste wieder gründlich vorbereitet werden und das macht man als Märchenerzähler am besten mit einem solchen. In Bezug auf El Minia kam da nur das Märchen von einem, der auszog, das Fürchten zu lernen, infrage:

»Wenn es Sie nach Minia verschlägt, dann müssen Sie wissen, dass Sie hier ein wahres Märchen erwartet. Und Märchen beginnen nun einmal mit den Worten: Es war einmal vor langer, langer Zeit.