9,99 €
Marceline ist fünfzehn, als sie zusammen mit ihrem Vater ins Lager kommt. Sie nach Birkenau, er nach Auschwitz. Sie überlebt, er nicht. Siebzig Jahre später schreibt sie ihm einen Brief, den er niemals lesen wird.
Einen Brief, in dem sie das Unaussprechliche zu sagen versucht: Nur drei Kilometer sind sie voneinander entfernt, zwischen ihnen die Gaskammern, der Hass, die ständige Ungewissheit, was geschieht mit dem anderen? Einmal gelingt es dem Vater, ihr eine kleine Botschaft auf einem Zettel zu übermitteln. Aber sie vergisst die Worte sofort – und wird ein Leben lang versuchen, die zerbrochene Erinnerung wieder zusammenzufügen.
Marceline Loridan-Ivens schreibt über diese Ereignisse und über ihre unmögliche Heimkehr, sie schreibt über ihr Leben nach dem Tod, das gebrochene Weiterleben in einer Welt, die nichts von dem hören will, was sie erfahren und erlitten hat. Und über das allmähliche Gewahrwerden, dass die Familie ihren Vater dringender gebraucht hätte als sie: »Mein Leben gegen deines.«
Und du bist nicht zurückgekommen ist eine herzzerreißende Liebeserklärung, ein erzählerisches Meisterwerk, ein einzigartiges Zeugnis von eindringlicher moralischer Klarheit – das wohl letzte Zeugnis seiner Art.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 87
Siebzig Jahre nach dem Tod ihres Vaters schreibt Marceline ihm einen Brief, in dem sie das Unaussprechliche zu sagen versucht: Nur drei Kilometer sind sie voneinander entfernt, zwischen ihnen die Gaskammern, der Hass, die ständige Ungewissheit, was geschieht mit dem anderen? Einmal gelingt es dem Vater, ihr eine kleine Botschaft auf einem Zettel zu übermitteln. Aber sie vergisst die Worte sofort – und wird ein Leben lang versuchen, die zerbrochene Erinnerung wieder zusammenzufügen.
Marceline Loridan-Ivens schreibt über diese Ereignisse und über ihre unmögliche Heimkehr, sie schreibt über ihr Leben nach dem Tod, das Weiterleben in einer Welt, die nichts von dem hören will, was sie erfahren und erlitten hat. Und über das allmähliche Gewahrwerden, dass die Familie ihren Vater dringender gebraucht hätte als sie: »Mein Leben gegen deines.«
Und du bist nicht zurückgekommen ist eine herzzerreißende Liebeserklärung, ein erzählerisches Meisterwerk, ein einzigartiges Zeugnis von eindringlicher moralischer Klarheit – das wohl letzte Zeugnis seiner Art.
Marceline Loridan-Ivens, 1928 als Marceline Rozenberg geboren, wurde im März 1944 mit ihrem Vater nach Auschwitz-Birkenau deportiert. Sie ist Schauspielerin, Drehbuchautorin und Regisseurin. Loridan-Ivens lebt in Paris.
Eva Moldenhauer übersetzt seit 1964 Literatur und wissenschaftliche Schriften französischsprachiger Autoren ins Deutsche, u. a. von Jorge Semprún, Gilles Deleuze und Lévi-Strauss. Sie wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet.
Marceline Loridan-Ivens
mit Judith Perrignon
Und du bist nichtzurückgekommen
Aus dem Französischen von Eva Moldenhauer
Suhrkamp Verlag
Die Originalausgabe erschien 2015 unter dem Titel
Et tu n’es pas revenu
bei Editions Grasset, Paris.
Dieses Buch erscheint im Rahmen des Förderprogramms
des Institut français.
eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2017
Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage der Ausgabe
des suhrkamp taschenbuchs 4766
© der deutschen Ausgabe Insel Verlag Berlin 2015
© Editions Grasset & Fasquelle, 2015
Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.
Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme
verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.
Für Inhalte von Webseiten Dritter, auf die in diesem Werk verwiesen wird, ist stets der jeweilige Anbieter oder Betreiber verantwortlich, wir übernehmen dafür keine Gewähr. Rechtswidrige Inhalte waren zum Zeitpunkt der Verlinkung nicht erkennbar.
Umschlagfoto: privat
Umschlag: Rothfos & Gabler, Hamburg
eISBN 978-3-518-75127-5
www.suhrkamp.deIch bin ein fröhlicher Mensch gewesen, weißt du, trotz allem, was uns widerfahren ist. Fröhlich auf unsere Art, aus Rache dafür, dass wir traurig waren und dennoch lachten. Die Leute mochten das an mir. Aber ich verändere mich. Es ist keine Bitterkeit, ich bin nicht bitter. Es ist, als wäre ich schon nicht mehr da. Ich höre Radio, die Nachrichten, ich weiß, was geschieht, und es macht mir oft Angst. Ich habe hier keinen Platz mehr. Vielleicht weil ich das Verschwinden akzeptiere, oder es ist ein Problem des Wünschens. Ich werde langsamer.
Dann denke ich an dich. Ich sehe jene Botschaft wieder, die du mir dort hast zukommen lassen, ein Stück Papier, nicht glatt, an einer Seite eingerissen, eher rechteckig. Ich sehe deine nach rechts geneigte Schrift und vier oder fünf Sätze, an die ich mich nicht erinnere. Sicher bin ich mir nur einer Zeile, der ersten, »Mein liebes kleines Mädchen«, auch der letzten, deiner Unterschrift, »Schloime«. Was dazwischen ist, weiß ich nicht mehr. Ich suche und erinnere mich nicht. Ich suche, aber es ist wie ein Loch, und ich will nicht fallen. Also beschäftige ich mich mit anderen Fragen: Woher hattest du dieses Papier und diesen Stift? Was hattest du dem Mann versprochen, der deine Botschaft gebracht hatte? Heute mag das unwichtig erscheinen, aber dieses zweimal gefaltete Blatt, deine Schrift, die Schritte des Mannes von dir zu mir bewiesen damals, dass wir noch existierten. Warum erinnere ich mich nicht daran? Es bleibt mir davon nur Schloime und sein liebes kleines Mädchen. Sie sind zusammen deportiert worden. Du nach Auschwitz, ich nach Birkenau.
Fortan verbindet die Geschichte sie mit einem einfachen Bindestrich: Auschwitz-Birkenau. Manche sagen nur Auschwitz, größtes Vernichtungslager des Dritten Reichs. Die Zeit löscht aus, was uns trennte, sie entstellt alles. Auschwitz lag neben einer Kleinstadt, Birkenau war auf dem Land. Man musste mit seinem Arbeitskommando erst durch das große Tor gehen, um das andere Lager zu sehen. Die Männer von Auschwitz sahen zu uns herüber und sagten sich, dorthin sind unsere Frauen, unsere Schwestern, unsere Töchter verschwunden, dort werden wir in den Gaskammern enden. Und ich sah zu dir hinüber und fragte mich, ist es das Lager oder die Stadt? Ist er ins Gas gegangen? Lebt er noch? Zwischen uns waren Felder, Blocks, Wachtürme, Stacheldrähte, Krematorien und über allem die unerträgliche Ungewissheit, was aus dem andern wurde. Als wären es Tausende von Kilometern. Knapp drei, heißt es in den Büchern.
Nicht viele Häftlinge durften von einem ins andere gehen. Er war Elektriker, er tauschte die wenigen Glühbirnen unserer finsteren Blocks aus. Er ist eines Abends aufgetaucht. Vielleicht war es ein Sonntagnachmittag. Jedenfalls war ich da, als er vorbeikam, ich habe meinen Namen gehört, Rozenberg! Er ist eingetreten, er hat nach Marceline gefragt. Das bin ich, habe ich geantwortet. Er hat mir das Papier gereicht und gesagt: »Es ist eine Nachricht von deinem Vater.«
Wir hatten nur ein paar Sekunden, wir konnten wegen dieses einfachen Wortwechsels getötet werden. Und ich hatte nichts, um dir zu antworten, weder Papier noch Stift, die Dinge hatten unser Leben verlassen, sie bildeten Berge in den Schuppen, in denen wir arbeiteten, die Dinge gehörten den Toten, wir waren die Sklaven, wir hatten nur einen Löffel, in eine Naht, eine Tasche oder unter einen Träger geklemmt, und ein Band um die Taille, ein aus unsern Kleidern gerissenes Stück Stoff oder eine auf der Erde gefundene dünne Schnur, um unsern Blechnapf daran zu hängen. Und da habe ich das Goldstück hervorgeholt, das ich beim Sortieren der Kleider gestohlen hatte. Ich hatte es in einem Saum gefunden, verborgen wie ein Schatz armer Leute, und es in ein kleines Stück Stoff gewickelt, ich wusste nicht, was ich damit tun, wo ich es verstecken sollte, auch nicht, wie ich es auf dem Schwarzmarkt des Lagers tauschen sollte. Ich habe es dem Elektriker gereicht, ich wollte, dass er es dir gibt, ich vermutete, dass er es stehlen würde, alle stahlen im Lager, ständig hörte man im Block jemanden schreien, »Man hat mir mein Brot gestohlen!«, also stammelte ich in einer Mischung aus im Lager gelerntem Jiddisch und Deutsch, dass er dir, wenn er es zu behalten gedenke, die Hälfte davon geben solle. Hast du es erhalten? Ich werde es nie erfahren. Ich habe deine Nachricht sofort gelesen, das weiß ich bestimmt. Ich habe sie niemandem gezeigt, aber um mich herum gesagt, »Mein Vater hat mir geschrieben«.
Damals ließen mir andere Worte von dir keine Ruhe. Sie überdeckten alles. Du hattest sie in Drancy gesagt, wir wussten noch nicht, wohin wir gehen würden. Wie alle andern wiederholten wir, Wir gehen nach Pitchipoi, dieses jiddische Wort, das ein unbekanntes Ziel bezeichnet und sanft in den Ohren der Kinder klingt, die es wiederholten, wenn sie von den abfahrenden Zügen sprachen, Sie fahren nach Pitchipoi, sagten sie laut, um sich dessen zu vergewissern, was die Erwachsenen ihnen zugeflüstert hatten. Aber ich war kein Kind mehr. Ich war groß, wie man sagt. In meinem Zimmer im Schloss hatte ich die Tapeten gewechselt, meine Träume unterbrochen, meine Spielsachen verabschiedet, Lothringer Kreuze an die Wand gemalt und über meinen himmelblauen Schreibtisch die Porträts der Generäle des Ersten Weltkriegs gehängt, Hoche, Foch, Joffre, die der vorherige Besitzer auf dem Dachboden zurückgelassen hatte. Erinnerst du dich, dass die Direktorin der Schule von Orange dich vorgeladen hatte? Sie hatte mein Tagebuch gefunden, das schwarz war von Gerüchten und Vorwürfen gegen die Oberaufseherin und bestimmte Lehrer, vor allem aber eine regelrechte gaullistische Streitschrift. »Ihre Tochter wird vor den Disziplinarrat kommen, es ist besser, wenn Sie sie von der Schule nehmen«, hatte sie gesagt, um uns zu schützen. Sie hatte dir mein Tagebuch überlassen. Wahrscheinlich hattest du es gelesen und darin entdeckt, dass ich in einen Jungen verliebt war, ich traf ihn im Bus, der uns nach der Schule nach Bollène zurückbrachte, ich gab ihm jede Woche meine Brotmarken, dafür machte er meine Matheaufgaben. Er war kein Jude. Danach hattest du zwei Monate lang nicht mehr mit mir gesprochen. Wir hatten den Zeitpunkt erreicht, uns zu streiten wie ein Vater und seine fünfzehnjährige Tochter.
Und dann in Drancy wusstest du genau, dass mir die ernsten Mienen von euch Männern nicht entgangen sind, die ihr im Hof versammelt wart, vereint durch ein Murmeln, ein und dieselbe Vorahnung, dass die Züge nach Osten und in jene Gegenden fuhren, aus denen ihr geflohen wart. Ich sagte dir, »Wir werden dort arbeiten und uns sonntags sehen«. Du hattest mir geantwortet: »Du wirst vielleicht zurückkommen, weil du jung bist, aber ich werde nicht zurückkommen.« Diese Prophezeiung hat sich mir ebenso stark und ebenso endgültig eingeprägt wie einige Wochen später die Nummer 78750 auf meinem linken Unterarm.
Gegen meinen Willen wurde sie zu einer furchtbaren Gefährtin. Manchmal klammerte ich mich daran, ich liebte die ersten Wörter, wenn meine Freundinnen und diejenigen, die es nicht waren, eine nach der andern verschwanden. Dann stieß ich sie von mir, ich verabscheute dieses »ich werde nicht zurückkommen«, das dich verurteilte, uns trennte, dein Leben gegen das meine anzubieten schien. Ich lebte noch, und du?
Es kam jener Tag, an dem wir uns begegnet sind. Mein Kommando war ausgerückt, um Steine zu klopfen, Kipploren zu ziehen und auf der neuen Straße Gruben für das Krematorium Nr.V auszuheben, wie immer gingen wir in Fünferreihen, wir kehrten ins Lager zurück, es war kurz nach sechs Uhr abends. Weißt du, dass dieser Augenblick nicht nur uns gehört? Dass er in den Erinnerungen und Büchern derer vorkommt, die ihn überlebt haben? Denn alle Wiedersehensträume sind im Lager des industriellen Todes hervorgebrochen, alle noch stehenden Körper der Unseren haben gebebt, als wir uns gesehen haben, aus unsern Reihen getreten und aufeinander zugerannt sind. Ich bin in deine Arme gesunken, mit meinem ganzen Sein hineingesunken, deine Prophezeiung war falsch, du lebtest. Sie hätten dich gleich bei der Ankunft für untauglich halten können, du warst etwas über vierzig, ein böser Leistenbruch, der dich zwang, ein Bruchband zu tragen, eine lange Narbe am Daumen, Überbleibsel einer Verletzung in der Fabrik, aber du warst