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Weltkriege, Spione und eine Liebe, die Zeiten und Kontinente überwand - ein christlicher historischer Liebesroman aus der Feder der preisgekrönten Autorin Roseanna M. White. Spannend wie ein Krimi, wunderbar erzählt wie eine Generationensaga. 1942: Vor der Küste von Ocracoke Island, North Carolina, wird ein U-Boot torpediert. Kurze Zeit später findet Evie Farrow einen bewusstlosen Fremden im nassen Sand. Ist er ein Spion? Als Evie ihn in ihrer Pension aufnimmt und gesund pflegt, ahnt sie nicht, welche Verbindungen er zu ihrer Familie und bis in die Vergangenheit der Insel hat ... 1914: Louisa Adair ist in einfachen Verhältnissen auf Ocracoke aufgewachsen. Nie hätte sie gedacht, dass sie und der reiche Engländer Remington Culbreth sich verlieben würden. Dann bricht in Europa ein Weltkrieg aus und Rems Eltern sprechen sich gegen eine Verbindung aus. Noch weiß Louisa nicht, dass ihre verbotene Liebe Evie Farrows Leben Jahrzehnte später entscheidend beeinflussen wird ... Eine Geschichte voll unerwarteter Wendungen, Spannung, Romantik und Glauben durch die Zeiten hindurch.
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Seitenzahl: 620
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Roseanna M. White
Deutsch von Dorothee Dziewas
Copyright 2023 by Roseanna M. White
Originally published in English under the title Yesterday’s Tides by Bethany House Publishers, a division of Baker Publishing Group, Grand Rapids, Michigan, 49516, U.S.A.
All rights reserved.
© 2024 Brunnen Verlag GmbH, Gießen
Lektorat: Alexandra Eryiğit-Klos
Umschlagfoto: © Ildiko Neer / Trevillion Images (Frau)
Umschlaggestaltung: Dan Thornberg, Design Source Creative Services; Daniela Sprenger
ISBN Buch 978-3-7655-2187-4
ISBN E-Book 978-3-7655-7857-1
www.brunnen-verlag.de
Für Tante Pam, die Ocracoke schon viel früher entdeckt hat als ich.
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Anmerkungen der Autorin
Heute
11. Mai 1942 Ocracoke Island, North Carolina
Das erste Licht des Sonnenaufgangs verwandelte das Wasser des Pamlico-Sunds in Gold, die Wolken in rosa Watte und die Dunkelheit in einen Morgen, der Evie Farrow versprach, dass der heutige Tag genauso werden würde wie der gestrige. Und wie der morgige. Genau wie jeder andere Tag auf der winzigen Insel in den Outer Banks von North Carolina. Sie konnte dagegen ankämpfen oder es einfach akzeptieren.
Aber es wurde schon genügend gekämpft auf der Welt und Evie hatte immer friedliche Lösungen bevorzugt. Also atmete sie tief ihren Lieblingsduft ein – Hefe, Zucker und Zimt – und legte die noch leicht warmen süßen Brötchen in ihren Korb. Einen Moment lang blieb sie stehen und starrte zum Küchenfenster hinaus, von dem aus man die Meerenge sehen konnte – ein Anblick, der sie immer wieder beruhigte. Später würde sie am Ufer entlanggehen. Vielleicht sogar die Bucht einmal umrunden bis zu der Stelle, an der sich der Atlantik mit stärkeren Wellen und Strömungen zu seiner zahmeren Schwester gesellte. Sie würde den üblichen Weg nehmen. Sie würde Muscheln und Strandglas sammeln. Und sie würde für alle beten, die sie besonders liebte.
Zu viele von ihnen waren jetzt auf der anderen Seite des Ozeans. Zu viele von ihnen waren in den Krieg verwickelt, der das Meer zu einem Überbringer von Feinden anstatt von Freunden machte. Andererseits war dieses Gewässer immer launisch gewesen. Es nahm so oft, wie es gab. Aber Evie liebte es trotzdem.
Eine Hand berührte leicht ihren Arm. Evie fuhr herum und lächelte Grandma Si an, die ihr einen Becher mit dampfendem Kaffee entgegenstreckte. Evie berührte mit den Fingerspitzen ihr Kinn und bewegte ihre Hand dann von sich fort – dies war das zweite Zeichen der Gebärdensprache, das sie damals gelernt hatte. Danke. Dann schob sie die Finger in den vertrauten Henkel, hob den Becher an und nahm einen Schluck, um sich zu stärken.
Grandma Si lächelte ebenfalls und wedelte mir ihrer Hand. Es war ihr üblicher Morgengruß: Zeit, mit der Sonne um die Wette zu laufen.
Evie lachte und beugte sich vor, um einen Kuss auf die vertraute federweiche Wange zu drücken. „Ich gehe ja schon.“ Diese Worte brauchte sie nicht in Gebärdensprache auszudrücken – obwohl Grandma Si sie nicht hörte, konnte sie das Gesagte an Evies Lippen ablesen, und außerdem erwartete sie auch genau diese Reaktion. Es war ihr tägliches Skript.
Evie hängte sich den Korb über den Arm und trat in den Frühlingsmorgen hinaus. Genauso wie sie es gestern getan hatte und genauso wie sie es morgen tun würde. Sie ging den vertrauten Weg zur Station der Küstenwache hinunter, so wie sie es jeden Morgen in den letzten sechs Jahren getan hatte. Und wie sie es wahrscheinlich weitere sechs, weitere zehn Jahre tun würde.
Bis in alle Ewigkeit.
Evie holte tief Luft und rief sich, wieder einmal, ins Gedächtnis, dass dies ihre eigene Entscheidung gewesen war. Sie hatte sich entschieden, auf der Insel Ocracoke nicht nur halb, sondern ganz zu Hause zu sein. Sie hatte sich dazu entschieden, ihre anderen Beziehungen auf Besuche und Urlaube zu beschränken.
Warum also hatte sie dann in letzter Zeit das Gefühl, so viel zu vermissen?
Was für eine dumme Frage! Wie sollte es anders sein? Der größte Teil ihres Herzens war einen Ozean weit entfernt.
„Guten Morgen, Miss Evie.“ Evie ließ den Blick weiter schweifen, bis hin zu der Stelle, an der ihre nächste Nachbarin auf ihrer Veranda stand, selbst einen Becher Kaffee in der Hand. Evie runzelte die Stirn. So früh war Miss Marge sonst nicht draußen. „Morgen, Miss Marge. Wie haben Sie geschlafen? Macht der Rücken Ihnen noch zu schaffen?“
Schon bei der Erwähnung rieb sich die alte Frau den unteren Rücken und stieß einen Seufzer aus, den vermutlich selbst die Tauben auf den neu gezogenen Stromleitungen hörten. „Ach, ich habe aufgegeben – mit mir ist nicht mehr viel los. Ich dachte, ich setze mich ein bisschen hier auf die Veranda und lege mich dann aufs Sofa. Haben Sie den Lärm letzte Nacht gehört?“
Evie verlangsamte ihre Schritte nicht, aber sie änderte ihre Richtung und ging auf die Verandatreppe zu, während sie den Kaffee auf ihren bereits beladenen Arm verlagerte, um eine Hand frei zu haben. Seit Mr Mack letztes Jahr gestorben war, hörte Miss Marge immerzu Geräusche und sie weigerte sich zu glauben, dass sie allesamt von der Kolonie wilder Katzen in der Nähe stammten. „Nichts Ungewöhnliches.“ Evie griff in den Korb und zog eines der Zimtbrötchen heraus, bestrichen mit klebrigem Zuckerguss.
Dieser Zuckerguss an ihren Fingern war etwas, das sich tatsächlich ändern würde, und zwar schon bald. Im Radiobericht am Abend zuvor war verkündet worden, dass sie Zucker bald rationieren würden. Was sollte Evie den Jungs auf der Wache dann bringen? Sie würde sich etwas einfallen lassen müssen. Oder ihnen stattdessen etwas Herzhaftes backen. Von den Hühnern und Schweinen auf der Insel hatte sie reichlich Eier und Speck. Und in ihrem Garten würde sie bald Gemüse ernten können. Evies Mundwinkel zuckten, als sie sich vorstellte, was die Männer sagen würden, wenn sie mit einer herrlichen französischen Quiche erschien anstatt mit Kuchen.
„Hier, Miss Marge. Etwas, das Sie zu Ihrem Kaffee genießen können.“ Lächelnd übergab sie das süße Brötchen.
Miss Marges Augen leuchteten auf und Evie schalt sich, weil sie seit ihrem letzten, mit Gebäck beladenen Besuch drei Tage hatte verstreichen lassen. Die alte Dame war nicht mehr so gut zu Fuß, als dass sie lange in der Küche hätte stehen können. „Oh, vielen Dank, meine liebe Evie. Ihr Damen von der Pension seid die besten Bäckerinnen auf der Insel.“ Sie schloss die Augen und hielt sich das Brötchen unter die Nase, um den Duft tief einzuatmen. Dann schlug sie die Lider wieder auf und ihre trüben Augen waren voller Besorgnis. „Aber passen Sie auf sich auf, hier ganz allein auf dem Weg. Unter den Bäumen ist es noch nicht mal richtig hell und in diesen Wäldern gibt es Deutsche. Ein hübsches junges Ding wie Sie kann gar nicht vorsichtig genug sein.“
Evie runzelte die Stirn und streckte die Hand aus, um eine fedrige graue Locke, die entwischt war, wieder unter das Kopftuch ihrer betagten Nachbarin zu schieben. Letzten Monat war angeblich ein entlaufener Rotluchs durch den Wald gestreift, der von … irgendwoher zur Insel geschwommen war, wie man vermutete.
Es hatte keinen Sinn, Miss Marge zu widersprechen – oder ihr zu erklären, dass es hier unmöglich Deutsche geben konnte. Es hatte keinen Sinn, sie daran zu erinnern, dass Ocracoke wahrscheinlich der sicherste Ort der Welt war – und dass Evie nun wirklich kein „junges Ding“ mehr war. Auch wenn es noch drei Jahre dauerte, bis sie 30 wurde, hatte sie genug gelebt, um sich so uralt vorzukommen wie die Lebenseiche an der Ecke, die sich knorrig in den Himmel reckte.
Unsinnig, etwas von alldem zu sagen. Aber Evie würde ein zusätzliches Gebet für die liebe Marge sprechen, wenn sie weiterging. „Ich werde vorsichtig sein. Und später komme ich noch mal vorbei, ja? Versuchen Sie, nach dem Frühstück noch ein bisschen zu schlafen.“
Miss Marge nickte ihr zu. Zufrieden stieg Evie von der Veranda und kehrte auf die Straße zurück, wo sie ihre Schritte jetzt beschleunigte, um den Umweg wiedergutzumachen. Sie versuchte immer, zum Schichtwechsel bei der Küstenwache einzutreffen, damit beide Mannschaften da waren.
Ein Summen stieg in ihrer Kehle auf, während sie lief: Sunrise Serenadeschien eine passende musikalische Untermalung, jetzt, wo das Tageslicht etwas heller geworden war. Evie begrüßte noch ein paar andere Frühaufsteher mit ihrem Kaffeebecher, wobei die Grüße, die sie sonst immer später am Tag riefen, aus Rücksicht auf die Langschläfer um sie herum noch ausblieben. Ein paar Fischer, die spät dran waren, eilten zum Hafen, der Silver Lake umkränzte. Einige Hausfrauen streuten ihren Hühnern Futter hin. Aber im Großen und Ganzen konnte Evie ihren Spaziergang allein für sich genießen.
Die heutige To-do-Liste wollte sich in ihre Gedanken drängen – all die Dinge, die Evie für die Pension erledigen musste: die Reservierungen überprüfen, Erinnerungen verschicken, vielleicht ein paar Anzeigen in Zeitschriften auf dem Festland schalten, um mehr Gäste zu bekommen, so wie Stanley Wahab es für sein neues Hotel tat. Dann musste sie noch weitere Beutel mit Yaupon-Tee füllen, damit die beiden Gäste, die heute abreisten, sie mit nach Hause nehmen konnten. Anschließend noch die Mansarde für die Jägergruppe nächste Woche lüften – wenn sie denn kam. Hoffentlich würde es danach noch reichen, um etwas Zeit in ihrem Atelier zu verbringen.
Aber all diese Gedanken konnten warten. Jetzt wollte sie die Zeit für ihre geliebten stillen Morgengebete nutzen. Das Singen der Vögel genießen, das beständige Klatschen der Wellen ans Ufer. Das … entfernte Donnergrollen?
Evie blieb stehen und blickte zum Horizont, aber sie konnte nur vereinzelte weiße Wolken entdecken, so weit sie sehen konnte. Das bedeutete natürlich nicht, dass hinter dem Horizont nicht doch ein Unwetter lauerte, aber die Meteorologen hatten heute einen wolkenlosen Himmel vorhergesagt. Und das bedeutete, dass es sich vielleicht nicht um Donner handelte. Es konnte etwas weitaus Ernsteres sein – etwas, das plötzlich immer vertrauter wurde.
Während ihre Gebete sich überschlugen, fiel Evie von ihrem gemütlichen Tempo in einen Laufschritt. Der feste Untergrund der Straße, auf dem sie rannte, verwandelte sich bald in losen Sand und wenige Minuten später eilte sie die wettergegerbte Holztreppe hinauf und in die Station der Küstenwache. Sie stellte ihren jetzt leeren Becher auf das Geländer der Veranda und blieb keuchend im Inneren der Wache stehen, wo sie die Männer wie erwartet in wohlgeordneter Geschäftigkeit vorfand.
Evie berührte einen der Beamten am Arm. „Herb! War das eine Explosion?“
„Hi, Evie.“ Anstatt stehen zu bleiben, nahm Herbert O’Neal sie an der Hand und zog sie hinter sich her. „Muss wohl. Torpedo Junction macht seinem Namen alle Ehre. Wir bereiten uns auf einen Such- und Rettungseinsatz vor.“
Evies Magen zog sich zu einem festen Knoten zusammen. Sie schluckte die Worte hinunter, die ihr in den Sinn kamen – Seid vorsichtig! Da draußen sind deutsche U-Boote unterwegs! Diese Worte waren überflüssig und wenn Evie sie ausspräche, würde sie wie Miss Marge klingen. Diese Männer waren dazu ausgebildet, vorsichtig zu sein … und sie wussten genau, dass diese U-Boote auf den Schifffahrtswegen hier verheerende Schäden anrichteten. In letzter Zeit schienen die Inselbewohner mindestens einmal die Woche diese Art von Donnern zu hören und manchmal sahen sie auch Rauchschwaden vom Meer aufsteigen.
Wer war diesmal gestorben? War das Schiff verloren? Eines von ihren? Oder hatte eines der Schiffe, die England geschickt hatte, um Amerika beim Schutz seiner verletzlichen Ostküste zu helfen, diesmal einen Schlag gegen die Krautfresser gelandet?
Und wie viele Crewmitglieder würden von diesem Einsatz zurückkehren? Bis jetzt hatten die U-Boote die Schiffe der Küstenwache nicht angegriffen, aber konnte man wirklich davon ausgehen, dass sie es niemals tun würden? Die Arbeit dieser Männer war schon in besseren Zeiten gefährlich. Das wusste niemand besser als Evie.
Und in diesen Zeiten …
Herb warf einen interessierten Blick auf Evies Korb, also hob sie den Deckel an, damit er ein Brötchen stibitzen konnte. Er gehörte zur Tagschicht, also würde er auf dem Boot sein, das in See stach, um die Explosion zu untersuchen. Das hieß, er konnte gut eine Stärkung gebrauchen.
Sie zwang sich, nicht Pass auf dich auf! zu sagen. Aber sie lächelte tapfer und sagte: „Geh mit Gott, Herb.“
Er nickte. „Immer. Und du bete, Mädchen.“
„Immer.“ Auch wenn es nicht zu helfen schien. Gott war immer bei diesen Männern, das wusste sie – aber er brachte sie nicht immer heil nach Hause. Manchmal holte er sie stattdessen heim zu sich.
Evie versuchte, daran zu denken, dass es für sie besser war. Dass ihr Tod einen Sinn hatte. Sie versuchte, sich an die Stimme ihrer Urgroßmutter zu erinnern, die mit den Perlen in der Hand ihre eigenen Gebete geflüstert und Evie versichert hatte, dass der Tod nur ein Schleier zwischen Himmel und Erde war. Ein Vorhang. Ganz dünn und zart. Nichts, was man fürchten musste, denn das Leben danach war genauso echt wie das Leben jetzt – noch echter sogar.
Es gab Zeiten, in denen war es einfacher, sich an diese Worte zu klammern. Heute wollte sie einfach Gewissheit haben, dass all diese Männer, die für sie Freunde und Brüder und Väter und Großväter waren, morgen immer noch hier sein und lautstark nach ihrem Frühstück verlangen würden.
Sie schob ihren Korb wie sonst auch auf den Tisch und trat dann zurück, als die Horde hungriger Küstenwächter sich darüber hermachte. Alle murmelten mit vollem Mund ihren Dank, bevor sie sich wieder an ihre jeweiligen Arbeiten begaben.
Evie wanderte zum diensthabenden Beamten hinüber, der mit silbernem Haar und stets kerzengeradem Rücken durch sein erhobenes Fernglas aus dem großen Fenster blickte. „Irgendeine Ahnung, was da los ist, Liam?“
Der Erste Offizier Liam Bryan sah nicht zu ihr. „Morgen, Evie. Schwer zu sagen.“ Als sie seufzte, ließ er das Fernglas sinken und stimmte in ihren Seufzer ein. „Wir haben keine Notrufe empfangen. Es muss zu schnell gegangen sein. Diese verfluchten U-Boote.“
Evie kreuzte die Arme vor ihrem Bauch und hielt sich die Ellbogen mit den Händen. Die Wärme ihrer Handfläche zu spüren, die eben noch den heißen Kaffeebecher gehalten hatte, machte ihr noch mal mehr bewusst, welch kaltes Wasser auf jeden wartete, der über Bord ging. Zwar nicht so eiskalt wie im Winter, aber eindeutig nicht mehr spätsommerwarm. „Wenn ich irgendwas tun kann, sagt Bescheid.“
Liam warf ihr ein schiefes Grinsen zu. „Na klar. Du hast einflussreiche Freunde, oder? Frag sie mal, ob sie Hitler in seine Schranken verweisen können.“
Evie prustete und ließ die Hände sinken. „Mensch, warum ist mir das nicht eingefallen?“
„Du warst schon immer ein gedankenloses kleines Ding.“ Er fügte ein Zwinkern hinzu und streckte die Hand aus, um ihr die Nase langzuziehen, wie er es tat, seit sie ein Kleinkind gewesen war. „Ich werde nie vergessen, wie deine Mama dich das erste Mal hierher mitgebracht hat. Dein Bruder war ja schon leicht zu begeistern, aber du … Du bist einfach auf Johnsons Schoß geklettert und hast dich an ihn gekuschelt, als wäre er kein Angst einflößender Bär, der uns alle im Griff hatte.“
Evies Mundwinkel wanderten nach oben. „Höchstens ein Teddybär.“
„Bei dir vielleicht.“ Liam lachte und schüttelte den Kopf, bevor er wieder seufzte. „Im Moment wünsche ich mir diese Tage zurück. Als wir uns nur über das Wetter und die Strömung und die Fischschwärme Gedanken machen mussten. Hin und wieder über kleinere Unfälle. Aber nicht das hier.“
Damals war auch Krieg gewesen. Aber der hatte sie hier auf Ocracoke nicht betroffen, so wie es diesmal der Fall war. Jedenfalls die meisten von ihnen nicht.
Evie fröstelte. Nicht jeder Inselbewohner war dem Großen Krieg heil entronnen. Sie selbst war zu jung, als dass sie sich an viel erinnern würde, aber die Geschichten spukten noch immer in der Pension herum wie der angebliche Geist der Howard Street bei den Howards.
Sie trat einen Schritt zurück. „Ich lasse euch jetzt besser in Ruhe und geh zur Pension zurück. Die Gäste werden bald aufstehen und ihr Frühstück wollen.“
Liam nickte. „Gestern Abend nach der Ankündigung der Rationierung haben wir uns miteinander besprochen. Die meisten von uns haben kaum Verwendung für die Zuckerrationen. Da geben wir sie lieber dir, damit du sie in Form von Gebäck zurückbringst.“
„Ach tatsächlich?“ Evie grinste ihn an und salutierte dann in vollendeter Form. „Dann haben wir eine Abmachung, Sir.“
Als sie eine Minute später ihren Kaffeebecher wieder vom Geländer nahm, jetzt mit einem leeren Korb am Arm, war es bereits hell, das magische Gold der Dämmerung verblasst. Jeden Tag staunte Evie darüber, wie schnell das normale Licht des Tages Regenbogen- und Feuertöne am Horizont vertrieb.
Noch eine Metapher für das Leben, oder? Evie hatte auch ihren Feuer-und-Gold-Moment gehabt, aber das war lange her. Jetzt war Tag. Ein Inseltag mit Wolken und Sonne – und schließlich mit Dämmerung und Nacht. Nichts Ungewöhnliches, so prächtig der Tagesanbruch auch angemutet hatte.
Das war in Ordnung. Mehr als in Ordnung – es war das, wofür sie sich entschieden hatte. Ein ganz normales Leben. Ein Inselleben. Ein Leben, in dem Evie für ihre Nachbarn und ihre Familie so hell leuchten würde, wie sie nur konnte. Sie würde ihre Muscheln und ihr Strandglas sammeln. Und ihre Gebete würden diese Meerschätze dabei in einzigartige Dekoration und Schmuck verwandeln. Sie würde ihr Bestes geben, um den Menschen um sich herum das Leben ein bisschen zu versüßen. Sie würde leben – bis sie es irgendwann nicht mehr tat.
Evie berührte mit einer Hand die Halskette, die sie immer trug. Das blaugrüne Glas, die silbernen Wirbel, den Kreis aus Weißgold. Die Erinnerung an ihren Feuerschein. An ihr Gestern.
Als sie wenige Minuten später wieder in den Weg zum Ocracoke Inn einbog, legte sich ein Schatten über sie und sie spürte einen Druck auf ihrer Brust, so schwer, dass Evie stehen blieb. Sie ließ den Blick umherschweifen, um zu sehen, was den Schatten geworfen hatte, aber sie konnte weder eine Wolke noch einen Baum ausmachen.
Es war nichts Physisches.
Evie hatte Mühe, ihre Lunge mit Luft zu füllen, und rieb mit einer Hand über ihren Brustkorb, während sie den Blick ins Leere gleiten ließ. Es war Jahre her – Jahre –, seit sie dieses Gefühl gehabt hatte, jedenfalls in solch einer intensiven Form. Diese Dringlichkeit, diese Dunkelheit. Diese Warnung! Als Kind hatte sie es oft erlebt, aber mit zunehmendem Alter und den Zweifeln und der Vernunft, die damit einhergingen, war es seltener geworden. Schwächer.
Evie kniff die Augen zusammen. Mehr war nicht nötig, um sie wieder in die Arme ihrer Urgroßmutter zu versetzen und ihre geflüsterten Gebete zu hören, in denen sie um Bewahrung für Evie bat. Um die Sorge in Mamas Augen zu sehen, während Evie wegen etwas weinte, das niemand sonst sehen konnte. Um die warme Geborgenheit zu spüren, während sich die Hand ihres Bruders um ihre legte.
„Herr Jesus …“ Ein Aufschrei, ein Ruf, der auf ihren Lippen verharrte – eine ganze Weile konnte sie nichts Weiteres sagen. Dann brachte sie heraus: „Was willst du mir sagen?“
Sie öffnete die Augen wieder und fuhr herum. Die Veranda bei Miss Marge war verlassen, genau wie die Stromleitung über ihr. Keine Menschen, keine Tauben, nicht einmal eine wilde Katze, die etwas von ihr erbettelte. Es gab nur die Lebenseichen, die knarrenden Zedern und die wilden Olivenbäume, den Sand und die Binsen und … eine untrügliche Gewissheit.
Etwas stimmte nicht. Und es war etwas Größeres als der Krieg, der dabei war, die Erde zu verschlingen. Etwas, das eine Gefahr für die Menschen bedeutete, die Evie liebte.
Sie atmete tief die salzige Luft ein, straffte den Rücken und hob das Kinn. Dann eilte sie zur Pension zurück. Sie würde sich mit Gebeten bewaffnen, wie es all die Frauen in ihrem Leben sie gelehrt hatten.
Aber Daddys Lektionen würde sie auch nicht vergessen.
Feuer.
Überall war Feuer – über ihm, unter ihm, um ihn herum, in ihm. Es fraß ihn von innen auf. Sterling Bertrand tauchte in das aufgewühlte Wasser, aber selbst jetzt war es, als könnte er den Fängen der Hölle nicht entkommen. Noch immer brüllte das Feuer, bahnte sich aufstoßend einen Weg an die Wasseroberfläche, um das, was einmal ein Schiff gewesen war, als Waffe zu benutzen.
Prustend kam Sterling wieder nach oben. Was er sah, ergab keinen Sinn. „Tommie! Tommie!“ Er versuchte erneut, die Wellen mit den Armen zu zerteilen, wie er es schon so oft getan hatte, aber seine linke Seite gehorchte ihm nicht. Und das Wasser wirbelte um ihn herum, sodass er nicht mehr wusste, wohin. Wo oben oder unten oder rechts oder links war. Wo in diesem Haufen aus Flammen und knirschendem Metall, der früher einmal die HMT Bedfordshire gewesen war, sein Freund sein könnte.
Sterling tauchte noch einmal unter, aber sein Arm spielte immer noch nicht mit und selbst unter Wasser brannte seine Haut. Er konnte nichts sehen, nichts hören, so dröhnte es in seinen Ohren. Wo war die Crew? Die Männer, mit denen er noch am Abend zuvor gegessen und herumgealbert hatte? Sie mussten hier irgendwo sein, aber Sterling kam nicht nah genug heran, um sie zu erkennen.
Er stieß wieder durch die Wasseroberfläche und die Erkenntnis traf ihn wie ein blitzartiger Schlag: Wenn er jetzt nicht in sein Rettungsboot stieg, würde er selbst auch sterben, genau wie sein Freund. Wie Tommies Crew. Hätte er nicht in dem kleinen Motorschlauchboot gesessen, um heimlich an Land zu gehen, wäre er bereits tot. Und bald würde seine Kraft ihn verlassen. Wenn er das Boot wegtreiben ließ, würde er in den letzten Minuten seines Lebens vergeblich versuchen, es zu erreichen.
Nein. Seine Seele wehrte sich gegen diese Wahrheit. Er konnte Tommie und seine Männer nicht dem Tod überlassen. Er konnte sich nicht um seine eigenen Angelegenheiten kümmern. Konnte sie nicht im Stich lassen, um sein Leben zu retten – wie sollte er das tun? Es war seine Schuld. Seine Schuld, dass die Bedfordshire in diesem Augenblick an diesem Ort gewesen war. Und damit war es auch seine Schuld, dass sie jetzt ein Feuerball war, der im Meer versank.
Eine Welle hob Sterling hoch und zog ihn von dem Schiffswrack fort, bis sein Schlauchboot nur noch eine Armlänge entfernt war. Als wäre diese Welle die Hand Gottes, der ihm deutlich sagte, was er tun sollte. Trotzdem entwich Sterling ein erstickter Schrei. Worte kamen nicht heraus, aber der ganze Kummer in seinem Herzen.
So sollte es nicht sein. Schließlich war er doch derjenige, der mit seinem „verrückten Plan“, wie Tommie es genannt hatte, ein idiotisches Risiko eingegangen war. Sich von der Bedfordshire so weit draußen vor den Outer Banks von North Carolina aussetzen zu lassen, nur in einem Schlauchboot, in der Hoffnung, einen deutschen Spion ausfindig zu machen, der nach allen Regeln der Logik unmöglich dort sein konnte, selbst wenn die Gerüchte und Sterlings Bauchgefühl ihm rieten, der Sache auf den Grund zu gehen.
„So leichtsinnig wie eh und je“, hatte Tommie neulich in Norfolk gesagt, wo Sterling seinen alten Kumpel gefunden und um diesen Gefallen gebeten hatte. Er hatte lange in sein Glas geschaut, den letzten Schluck Bier hinuntergekippt und gelacht. „Ich nehme an, wenn ich dir nicht helfe, wirst du jemand anders bezirzen. Also gut. Ich setze dich im Atlantik aus – und bete, dass du es bis zu den Inseln schaffst.“
Sterling wickelte eines der Schlauchbootseile um den Arm, der nicht vor Schmerzen brüllte, und zog sich daran ins Boot hinein. Es kostete ihn seine allerletzte Kraft. Dann lag er keuchend und japsend dort und starrte eine halbe Ewigkeit in den Himmel hinauf. Blau – bis auf die Stelle, an der die Rauchsäule schwarz wie die Sünde in die Luft stieg.
Erst gestern hatte er seinen Freund wegen der Bedfordshire aufgezogen. Das Ding war nicht mehr als ein Fischdampfer. Nie für Kriegseinsätze gedacht gewesen. Es war einfach von Seiner Majestät eingezogen worden, genau wie viel zu viele Männer – aber ein vornehmes HMT vor den Namen des Kutters zu setzen, machte ihn ebenso wenig kriegstüchtig wie die Kanonen, die man auf Deck festgeschweißt hatte. Die Bedfordshire hatte Amerikas Schwachstellen schützen sollen, aber die traurige Wahrheit war, dass sie den Torpedos eines U-Boots nicht gewachsen war.
Und genau so ein Torpedo hatte die Welt vor fünf – zehn, zwanzig? – Minuten in Stücke gerissen. Sterling hatte gerade von seinem Kompass aufgeblickt, um seinem Kumpel ein Zeichen zu geben, damit der die Treidelleine zwischen Schlauchboot und Fischdampfer kappte, als er die Furcht einflößende Linie im Wasser gesehen hatte.
Er hatte sich ruckartig zu dem Schiff umgedreht. Hatte den Mund aufgerissen, um einen Warnschrei auszustoßen. Einmal noch hatte er Tommies typisches Grinsen gesehen. Und dann war alles explodiert.
Seine Schuld. Alles seine Schuld.
Sterling vergrub sein Gesicht in dem unverletzten Arm, bereute es aber sofort, weil es so wehtat. Was sollte er zu Barb sagen? Barb, die kurz vor Tommies Einsatz erfahren hatte, dass sie in anderen Umständen war. Möge der Himmel ihnen beistehen! Was würde aus dem Kind werden, das seinen Vater nie kennenlernen würde? Wie sollte er dem Sohn oder der Tochter seines Freundes jemals unter die Augen treten und zugeben, dass er gesehen hatte, wie ihr Vater starb? Und es nicht hatte verhindern können? Dass er sogar der Grund dafür gewesen war, dass die Bedfordshire diesem U-Boot überhaupt in die Quere gekommen war?
Dann wurde ihm noch etwas schlagartig klar: Er konnte es nicht. Denn er durfte niemandem sagen, dass er auf der Bedfordshire gewesen war. Wie immer befand sich seine eigene Marineuniform zu Hause in London. Rang und Abzeichen geheim. Sein ganzes Leben geheim. Niemand durfte je erfahren, dass er überhaupt auf amerikanischem Grund und Boden gewesen war, geschweige denn, sich von seinem alten Kumpel die Küste hatte entlangziehen lassen. Offiziell hatte er diesen Torpedo nicht gesehen, nicht die Explosion und nicht, wie Lieutenant Thomas Cunningham in Flammen und Rauch aufgegangen war.
Als Sterling die Augen wieder aufschlug, schien die Sonne auf ihn herunter und wärmte ihn, verbrannte ihn sogar. Er setzte sich auf, stöhnend vor Schmerzen, und sah sich voller Panik um. Kein Wrack. Kein Rauch. Keine Flammen.
Nichts, was die Wahrheit verriet, außer seiner eigenen Seelenqual.
Wo war er? Er suchte im ganzen Schlauchboot nach seinem Kompass, seiner Karte, seinem Sextanten, fand jedoch nichts. Nichts. Er trieb auf hoher See und wusste nicht einmal, ob es Vormittag oder Nachmittag war, der Sonne nach zu urteilen.
„Denk nach, Mann! Du musst nachdenken!“ Sterling fuhr sich mit der Hand übers Gesicht und wagte einen Blick auf seine linke Körperhälfte.
Sein Hemd war weggebrannt, bis auf ein paar verkohlte Stofffetzen, die an rot entzündetem Fleisch klebten – trotz der Zeit, die er im Wasser verbracht hatte. Das verhieß nichts Gutes. Sterling biss die Zähne zusammen und versuchte, an dem größten Stoffrest zu ziehen, aber die Schmerzen trübten seinen Blick.
Das sollte er besser lassen, damit er nicht wieder ohnmächtig wurde. Er brauchte einen wachen Verstand. Tommie und die anderen von der Crew konnte er nicht retten, aber er musste dafür sorgen, dass ihr Tod nicht umsonst gewesen war. Er durfte seine Mission nicht aufgeben. Er musste an Land. Musste Gustav Mansfeld finden. Ihn aufhalten.
Denn wenn einer der führenden SS-Offiziere Hitlers sich wirklich in den Wäldern der Outer Banks versteckte, konnte das den Untergang jedes Schiffes vor der Ostküste bedeuten, so wie es bei der Bedfordshire gewesen war. Der Mann konnte entscheidende Informationen sammeln. Er konnte U-Booten vor der Küste zu vereinbarten Zeiten Zeichen geben. Er konnte Englands stärksten Verbündeten unterlaufen, bevor dieser überhaupt die Zeit hatte, eine eigene Flotte zusammenzustellen.
Genau, Sterling! Konzentriere dich auf die Mission! Du musst dich konzentrieren!
Er brauchte nicht lange, um eine improvisierte Sonnenuhr zu basteln, und es dauerte nur wenige Minuten, die Bewegung des Schattens zu verfolgen und damit die Uhrzeit und Ost und West zu bestimmen. So hatte er wenigstens eine Richtung, in die er sein Boot lenken konnte. Den Motor dazu zu überreden, dass er wieder ansprang, war mühsamer – das Ding sah aus, als hätte es Schrapnelle abbekommen. Außerdem hatte dieselbe Welle, die Sterling über Bord gespült und all seine Gerätschaften auf den Meeresgrund befördert hatte, zweifellos auch den Motor geflutet. Trotzdem sprang er schließlich hustend an.
Sterling lenkte das Schlauchboot in westliche Richtung. Sollte er ein bisschen nach Norden drehen? Ursprünglich hatte er Hatteras Island angesteuert. Nach seinen Recherchen müsste Mansfeld sich dort aufhalten, wenn er tatsächlich Zutritt zu der Inselkette erlangt hatte. Aber der Torpedo hatte zugeschlagen, bevor sie auf der Höhe von Hatteras gewesen waren. Zwar hatte Sterling das Zeichen geben wollen, ihn loszumachen, aber nur deshalb, weil niemand von der Besatzung wissen sollte, wohin er unterwegs war. Sterling wollte nach Westen fahren und sich dann nach Norden wenden, sobald die Bedfordshire nicht mehr zu sehen war.
Theoretisch konnte und sollte er das immer noch tun. Praktisch war er allerdings nicht sicher, ob sein stotternder Motor so lange halten würde.
Dann also Westen. Einfach nach Westen. Er würde auf die erste Küste zusteuern, die er sah. Und beten, dass die Bewohner nicht sofort auf ihn schossen.
Solange der Motor ihn, wenn auch keuchend und zischend, über das Wasser beförderte, konnte er sich darauf und auf sein Ziel konzentrieren, anstatt auf die Tatsache, dass seine Seite immer noch brannte. Die Flammen mochten unsichtbar sein, aber Sterling fühlte, wie sie sich an ihm weideten. Er konnte spüren, wie die Dunkelheit ihn wieder zu überwältigen drohte. Er blinzelte, um sie zu verscheuchen, und schüttelte den Kopf. Konzentrier dich! Du musst dich konzentrieren!
Und dann, als gerade ein Stück Land aus dem Meer auftauchte, seufzte der Motor ein letztes Mal auf und erstarb.
Die Stille schien das Feuer anzufachen. Denn in dem Augenblick, als das Motorengeräusch verstummte, bröckelte auch Sterlings Widerstand und die Flammen schlugen wieder über ihm zusammen. Mit ihnen stürzte alles andere auf ihn ein; alles, was ihn hierhergeführt hatte.
Er sah seine Mutter, wie er sie zuletzt gesehen hatte, so müde von den mühevollen Jahren, in denen sie für Ruby und ihn gesorgt und die Rente aufgebessert hatte, die sie bezogen, seit Vater im letzten Krieg gefallen war. Müde, aber stolz auf ihn. Stolz auf ihn, aber voller Angst. Angst, dass er, wie der Vater, an den er sich kaum erinnern konnte, ihr genommen wurde.
Sterling versuchte, die Benommenheit fortzublinzeln. Versuchte, mit trockenen Lippen ein Gebet zu sprechen. Nicht um seiner selbst willen – sondern für Mum. Sie hatte etwas Besseres verdient als das hier. Wenigstens ein Telegramm, aus dem sie erfuhr, wenn er starb. Sie verdiente wenigstens, die leeren Worte zu hören, dass er als Held gestorben war, im Kampf gegen Hitler.
Aber dieses Telegramm würde sie nicht erhalten, denn es würde Monate dauern, bevor jemand versuchte, ihn zu finden. Monate, bevor sie überhaupt merkten, dass er verschwunden war. Und selbst dann würden da die Fragen sein – war er tot oder war er untergetaucht?
Man hatte ihn vor diesem Risiko der Geheimdienstarbeit gewarnt. Er hatte trotzdem angeheuert. Denn damals hatte er sich eingeredet, seine Mutter würde es verstehen. Dass es sich lohnte. Er hatte mitgemacht, weil er das Leuchten in Rubys Augen sehen wollte, wenn er ihr zuflüsterte, was er streng genommen niemandem sagen durfte.
Und wie sie geleuchtet hatten! Einen Moment lang hatte er fast geglaubt, sie würde aus ihrem Rollstuhl springen und erklären, dass sie mitkommen wollte. Als würde er das zulassen – und als könnte sie jemals wieder springen. Aber irgendwie rechnete er trotzdem immer damit. Ein Verstand, der so beweglich war wie ihrer, konnte doch unmöglich für immer von diesen gelähmten Beinen zurückgehalten werden.
Sterling hatte seinen Vorgesetzten während der Rekrutierungsphase erklärt, er sei seinen Angehörigen gegenüber zu nichts verpflichtet, hätte keine Bedenken, sie zurückzulassen. Sie würden ihn niemals von seiner Mission ablenken.
Wahrheit und Lüge zugleich. Sie würden ihn nicht ablenken, sie lenkten ihn niemals ab. Sie halfen ihm, sich zu konzentrieren. Seine Liebe zu ihnen, sein Wunsch, sie wiederzusehen, trieben ihn vielmehr an, sein Bestes zu geben. Aber seine Liebe zu ihnen und der Wunsch, dafür zu sorgen, dass sie sicher und gesund in einem Land lebten, das frei von Hitlers Tyrannei war, bedeuteten, dass er sein Leben opfern würde, wenn es nötig war, um ihres zu retten.
Jetzt konnte Sterling sie nur noch in Gottes Hände legen. Sich selbst Gott überlassen. Der Herr war ihm immer fern erschienen, außer Reichweite, aber jetzt nicht. Jetzt war ihm allzu bewusst, wie nah Gott war. Dass es den Himmel gab, jenseits seines getrübten Blicks.
Er versuchte, sich seine Sünden ins Gedächtnis zu rufen und um Vergebung dafür zu bitten, aber auch sie waren ganz verschwommen. Sein geistiges Auge wollte sich nur auf die leuchtenden Dinge richten. Mum. Ruby. Die Art, wie Mrs Higgins ihm jedes Jahr an Karfreitag eines der warmen Rosinenbrötchen mit dem Kreuz darauf in die Hand gedrückt und ihn daran erinnert hatte, was es bedeutete. Wie die Stimmen seiner Banknachbarn sich beim Singen am Sonntagmorgen in etwas unerhört Schönes verwandelten.
Vergib mir die Schmutzflecken, Herr, ich flehe dich an. Aber war es wirklich so schlimm, sich stattdessen auf die hellen, leuchtenden Dinge zu konzentrieren? Hoffentlich nicht. Denn mehr gelang ihm nicht, als er auf dem Gummiboden seines Bootes zusammensank und sich der Strömung überließ. Mum. Ruby. Grandma.
Und dann noch ein Stich ins Herz. Barb und das Baby. Immerhin würde sie bald die Nachricht erhalten. Jemand würde feststellen, dass der Fischdampfer vermisst wurde, und eins und eins zusammenzählen. Jemand würde an Barbs Tür klopfen, den entsetzlichen Brief in der Hand, und dann würde sie die Hand vor den Mund schlagen, während ihr Tränen aus den Augen quollen. Sie würde ihren Rosenkranz umklammern, wie sie es immer tat, wenn sie von Gefühlen überwältigt wurde. Sie würde eine Hand auf ihren gewölbten Bauch legen und beweinen, dass ihr Kind niemals den Mann kennenlernen würde, den sie so liebte.
Aber Barb war stark. Sie würde weitermachen, für das Baby. Sie würde für das Kleine lächeln und ihm von Tommie erzählen, während die Jahre vergingen. So wie Sterlings eigene Mutter es bei ihm und Ruby getan hatte.
Vater. Bald würde er ihn wiedersehen, nach all den Jahren. Dieses Feuer würde Sterling zu Asche verbrennen und Gott würde die Schmutzflecken von seiner Seele wischen und er würde die Engel singen hören, noch schöner als seine Nachbarn in der Kirche.
Wenn er die Ohren spitzte, konnte er sie sogar jetzt schon hören. Sie klangen wie Vögel und Meereswellen. Er ließ sich von ihnen ein Ständchen bringen, während seine Sicht sich gänzlich trübte; legte den Kopf schief, während diese Begleitmusik eine andere Tonhöhe annahm. Es war nicht nur das Wasser, das gegen sein Schlauchboot schlug, sondern Wasser, das gegen etwas anderes schlug. Etwas Größeres. Und der Wind, der Wind stimmte mit ein, zusammen mit einem merkwürdigen Rascheln, wie wehendes Gras.
Aber es musste einer der Himmelsbäume sein, denn es gab auch einen Engel. Ein Gesicht mit vollkommener Schönheit, das niemand auf der Erde jemals erlangen konnte, mit einem goldenen Heiligenschein aus Locken und Wellen, die auf die Schultern dieser Kreatur fielen. Augen, so blau wie der Himmel – obwohl sie nicht gerade erfreut dreinblickten. Hatte das Feuer ihn noch nicht genug geläutert?
Sterling versuchte, sich über die Lippen zu lecken und sie zu benetzen, aber seine Zunge fühlte sich ebenso trocken an wie seine Lippen. „Im … Himmel?“
Der Engel zog goldene Augenbrauen hoch und ein neuer Klang drängte sich in Sterlings friedvolle Welt. Ein Klicken, das er nur zu gut kannte. Als er blinzelte, befand sich der Lauf einer Waffe zwischen ihm und dem vollkommenen Gesicht. „Nein – im Ocracoke Inn. Und die meisten Gäste nehmen die Straße.“
Konzentrier dich! Diesmal musste er sich nicht bewusst erinnern – es überfiel ihn mit all dem Schmerz und dem Schrecken und der Last seiner Mission. Er hob die Hände, obwohl sein linker Arm lautstark protestierte. „Ich bin Engländer. Ein Verbündeter. Ein Marinesoldat.“
Aber er war in Zivil, wie immer. Oder war es jedenfalls gewesen, bevor das Feuer seine Kleidung in Asche verwandelt hatte. Zum ersten Mal in seiner Laufbahn wünschte er sich seine Uniform herbei, die seinen Rang ordentlich zur Schau stellte. Vielleicht hätte der Engel sich dann erweichen lassen.
So wirkte sie nicht besonders beeindruckt und ihr Lächeln war ein merkwürdiger Kontrast zu der Pistole, die sie auf Sterlings Gesicht gerichtet hielt. „Wunderbar. Wir haben hier eine lange Geschichte mit englischen Soldaten.“
Komischerweise klang das ganz und gar nicht einladend.
Gestern
11. Mai 1914 Ocracoke Island, North Carolina
Louisa Adair lehnte sich mit dem Rücken an die raue Rinde der Lebenseiche und hielt die Postkarte beinahe schon mit Ehrfurcht, während sie mit einem eingerissenen Fingernagel über das Bild fuhr. Von unten, wo die Füße des Eiffelturms sich mitten in die Stadt pflanzten, den ganzen Weg hinauf bis zum Himmel, wo die Spitze des Turms die Wolken zu küssen schien. Louisa hatte noch nie etwas gesehen, das so hoch war – nicht einmal die Berge. Das Größte auf Ocracoke waren die Zedern, und selbst als sie mit Mama nach Elizabeth City gefahren war, waren die höchsten Gebäude dort kaum höher gewesen als diese Bäume. Sie konnte es sich nicht einmal vorstellen.
Der Eiffelturm. Paris, Frankreich. Einer der Orte, von denen Celeste und sie immer gemeinsam geträumt hatten. Sie hatten sich ausgemalt, dass sie Arm in Arm durch die Straßen schlenderten und auf Französisch plauderten, wie Louisas Grann es ihnen beigebracht hatte – auch wenn sie eher die kreolische Variante kannten als die in Paris, würde es bestimmt funktionieren –, und so taten, als gehörten sie dorthin. Sie würden in einer hübschen kleinen Bäckerei Baguettes kaufen. Café au Lait trinken. Louisa würde so lange quengeln, bis Celeste sie in die Museen begleitete, obwohl Celeste sich nicht die Bohne für solche Dinge interessierte. Dafür würde Celeste sie dazu bringen, all die schicken Boutiquen zu besuchen, obwohl hübsche Kleider noch nie weit oben auf Louisas Wunschliste gestanden hatten.
Beste Freundinnen, Schwestern, Reisegefährtinnen. So hatte es sein sollen.
Ein Lächeln huschte über Louisas Gesicht, sodass ihre Mundwinkel zuckten. Wenigstens eine von ihnen lebte diesen Traum. Im Moment sah es nicht so aus, als würde Louisa Ocracoke jemals verlassen. Ihre Hoffnung, aufs College zu gehen und als Lehrerin hierher zurückzukommen, um der nächsten Generation beim Lernen zu helfen, schien ebenso unerreichbar wie Paris. Sie hatte ihrer Familie noch nicht einmal davon erzählt – sie traute sich einfach nicht. Sie wusste genau, dass Mama, Grann und sogar Onkel Linc Himmel und Erde in Bewegung setzen würden, um ihr ihre Träume zu erfüllen, wenn Louisa sie auch nur äußerte.
Aber wie konnte sie das von ihnen verlangen? Sie kannte die Geschäftsbücher, sie wusste, wie viel die Pension abwarf, und das reichte nur ganz knapp. Sie hatten gerade genug, dass sie davon leben konnten. Nicht genug, um sie zum Studium zu schicken. Und Louisa konnte die anderen nicht bitten, ihre Träume zu finanzieren, wo sie doch schon so viel geopfert hatten.
Also würde sie sich ihre Ausbildung selbst ermöglichen müssen, indem sie sparte. So dauerte es vermutlich viel länger, aber Träume waren ein Opfer wert. Das hatte Garret ihr beigebracht. Schließlich hatte er viele Jahre lang gespart und verzichtet. Und jetzt war er an einer Universität eingeschrieben und studierte, um Arzt zu werden. Wenn er das konnte, dann musste es Louisa doch möglich sein, Lehrerin zu werden.
Sie drehte die Postkarte erst um, nachdem sie sich jedes Detail der Fotografie genau eingeprägt hatte. Celestes vertraute Handschrift entlockte ihr jetzt ein breiteres Lächeln, noch bevor sie die Worte las. Mit winziger, gedrängter Schrift hatte ihre Freundin versucht, den knappen Platz so gut wie möglich zu nutzen, wie sie es bei jeder Postkarte getan hatte, die sie in den letzten drei Jahren geschickt hatte, seit ihre Mutter wieder geheiratet hatte und Celeste mit Miss Maddie und ihrem neuen Stiefvater nach Europa gezogen war.
Lulu,
ich wünschte so, Du könntest hier sein! Aber ich tu einfach so, als wärest Du es. Wann immer ich mit Mama oder Pierre eine Straße entlanggehe, stelle ich mir vor, dass Du bei mir bist, und sehe sie mit Deinen Augen. Ich wollte Dir eine Ansichtskarte schicken, damit Du zumindest ein bisschen davon siehst, aber ein langer, dicker Brief mit allen Beschreibungen kommt bald! Und vielleicht ein Paket mit einem der schicken Kleider, die Du nicht haben willst. Hörst Du mein wahnsinniges Lachen? Das ist nur gerecht – Pierre hat mich (und im Geiste auch Dich)gestern durch den Louvre gezerrt.
Celeste
PS: Sag der alten Bohnenstange einen Gruß von mir, wenn er mal wieder nach Hause kommt.
Der Louvre! Louisa berührte auch dieses Wort mit dem Finger, in der Hoffnung, dass etwas von dem Zauber jenes Ortes durch ihre Fingerspitze in ihren Verstand sickern würde. Celeste und sie hatten einen ganzen Sommer lang vergeblich versucht, gegenseitig ihre Gedanken zu lesen. Sie hatten an Wörter und Bilder gedacht und die jeweils andere hatte versucht, sie zu erspüren.
Es war natürlich ein völlig hoffnungsloses Unterfangen gewesen, aber sie hatten viel gelacht. Und eigentlich brauchten sie auch gar keine Hellseherei. Meist konnten sie auch so den Satz vervollständigen, den die andere anfing. Und Louisa wusste, dass Celeste selbst auch den Finger auf dieses Wort gedrückt hatte, um ihre Eindrücke hineinzulegen. Jetzt konnte sie nicht widerstehen und versuchte, einige dieser Eindrücke vor ihrem eigenen geistigen Auge entstehen zu lassen.
Was hätte sie sich alles angesehen? Die Mona Lisa natürlich! Sie hatte gelesen, dass jemand sie 1911 gestohlen hatte und sie erst im letzten Jahr gefunden und ins Museum zurückgebracht worden war. Und ihre Lieblingsskulptur, die Venus von Milo. Louisa hatte diese Kunstwerke bisher nur in Büchern betrachtet, aber sie konnte sie sich an den Wänden oder in den Galerien vorstellen. Und sie stellte sich vor, wie Celeste sagte: Irgendwann. Irgendwann wirst du sie mit eigenen Augen sehen.
Im Moment war das nicht mehr als ein Traum. Louisa konnte von Glück sagen, wenn sie es jemals bis aufs Festland schaffte, um etwas anderes zu tun, als Vorräte für die Pension zu kaufen.
„Wieder eine Postkarte von dem Scarborough-Mädchen?“
Louisa richtete sich auf, als sie die kurz angebundene Stimme hörte. Sie konnte einfach nicht anders. Marge Williams war ihr halbes Leben lang Lehrerin gewesen – aber sie war es nicht, die Louisa dazu inspiriert hatte, selbst Lehrerin werden zu wollen … es sei denn, „damit sonst niemand unter ihr leiden muss“ zählte als Inspiration. Nicht, dass die Frau zu jemand anderem so gemein gewesen wäre.
Aber niemand anderes auf der Insel sah aus wie Louisa.
Louisa setzte ein unterwürfiges Lächeln auf und hielt das Bild vom Eiffelturm hoch. „Ja, Ma’am. Celeste und Miss Maddie und Mr Pierre sind in Paris.“
Mrs Williams schüttelte den Kopf und schnalzte mit der Zunge, als wäre diese Nachricht eine Tragödie und kein in Erfüllung gegangener Traum. „Wenn Jack Scarborough seine Frau und seine Tochter sehen könnte, wie sie sich für etwas Besseres halten …“
Louisa spürte, wie um Celestes willen Wut in ihr aufstieg. Jack Scarborough war ein Trinker gewesen – und ein gewalttätiger noch dazu – und niemand hatte ihn vermisst, seit sein Boot vor fünf Jahren gekentert und er ertrunken war. Eine Mischung aus Erleichterung und schlechtem Gewissen deswegen hatte Celeste bei der Nachricht in Tränen ausbrechen lassen und Louisa hatte sie in den Arm genommen und sich gefragt, ob es eine Sünde war, Gott für die Gnade seines Todes zu danken.
Keine blauen Flecke mehr, die Celeste verbergen musste. Kein nächtliches Fliehen aus dem Haus und Zur-Pension-Laufen, völlig verängstigt von den Schreien und dem Flehen ihrer Mutter, weil sie nicht wusste, wie sie es verhindern sollte, und nichts anderes tun zu können, als den Anweisungen zu folgen, die ihre Mama ihr schon vor Jahren gegeben hatte: „Wenn du ihn kommen hörst, rennst du los, Mädchen. Du läufst zu Lulu und bleibst die Nacht über bei ihr, hörst du?“
Unzählige Male war Louisa in ihrem Bett im Dachgeschoss mit einem Gebet für Celestes Sicherheit auf den Lippen eingeschlafen und hatte dann am nächsten Morgen sie und ihre Lieblingspuppe neben sich zusammengerollt gefunden. Wie die Schwester, die sie im Grunde ihres Herzens war.
Louisa musste all ihre guten Manieren zusammennehmen, um nicht zu erwidern, dass es gerade gut war, wenn es Jack Scarborough nicht gefallen würde. Es geschah ihm recht!
Obwohl selbst der Gedanke ihr ein schlechtes Gewissen machte. Onkel Linc – der schon ihr Leben lang Louisas Pastor war – würde sagen, dass Christus, der aus ihr leuchten sollte, niemals einem Menschen etwas Böses wünschen würde. Und Grann – die so katholisch war wie Linc methodistisch – würde sie auf Französisch schelten und ihr sagen, sie solle für Jacks Seele beten.
Grann hatte das seit seinem Tod bestimmt hundertmal gesagt. Und nicht ein einziges Mal hatte Louisa gehorcht, obwohl sie normalerweise tat, was ihre Mammy – das Kindermädchen – sagte, ohne es zu hinterfragen. Nicht, weil sie Angst vor ihr hatte – weshalb sie Marge Williams immer gehorcht hatte –, sondern weil sie diese Frau so sehr liebte.
Jetzt beschloss sie, dass die beste Antwort für ihre ehemalige Lehrerin Schweigen war.
Mrs Williams rümpfte die Nase und deutete mit einem Nicken in Richtung Ufer. „Solltest du dich nicht besser um die Gäste deiner Mutter kümmern, Mädchen?“
Louisas Lächeln wäre ihr beinahe abhandengekommen, aber sie beherrschte sich und verstärkte es sogar noch etwas. Wie diese Frau das Wort Mädchen gesagt hatte … Louisa blickte auf ihre Hand hinunter und auf die Haut, die nicht ganz so hell war, dass sie Mrs Williams’ kritischem Blick standhielt, obwohl die Lehrerin im Sommer genauso dunkel wurde. Das spielte jedoch anscheinend keine Rolle. Entscheidend war, dass Louisas Haut im Winter braun blieb und nicht genau den gleichen Ton hatte. Als gäbe das irgendjemandem das Recht, sie abschätzig zu behandeln. Als wäre die Frage, wer ihr Daddy gewesen war, so wichtig, dass ihr Dasein nicht die geringste Anerkennung verdiente, bis diese Frage beantwortet war.
Als könnte sie diese Frage überhaupt beantworten. Nein, sie hatte schon vor langer Zeit gelernt, dass es Dinge gab, die sie ihre Mutter besser nicht fragte. Und alles, was mit Daddy zu tun hatte, gehörte dazu. Das Äußerste der Gefühle, was Louisa zu diesem Thema zu hören bekam, war ein gelegentliches „Das hätte ihm gefallen“ oder „Du bist ganz die Tochter deines Vaters – ich wünschte, er könnte dich jetzt sehen.“
Louisa räusperte sich und blickte zum Postschiff hinüber. „Ich habe ihnen nur Zeit gelassen, ihr Gepäck zu holen.“
Und während die Männer die Koffer und Kisten an Land schleppten, war Louisa dem Gesang der Sirenen gefolgt und zum anderen Ende des Bootes gegangen, wo sie lächelnd den Stapel Post für die Pension in Empfang genommen hatte.
Wer konnte ihr schon verübeln, dass sie sich einen Augenblick stahl, um ihre Postkarte zu lesen?
Marge Williams, wie es schien. Aber Louisa würde die Gelegenheit nutzen und ihr jetzt entfliehen. Sie ging zu ihrem Ponywagen zurück und schob die Post unter den Kutschsitz – alles außer ihrer kostbaren Postkarte, die sie noch einen Moment länger in der Hand hielt. Ocracoke Inn – dieser Schablonenschriftzug prangte auf beiden Seiten des Wagens, die Farbe frisch erneuert und leuchtend für die kommende Saison. Louisa musste lächeln, als ihr Blick auf die Details fiel, die sie in diesem Jahr hinzugefügt hatte – die Umrisse und die feinen Streifen –, während sie über Jingles Nase strich. Das Pony drückte den Kopf gegen Louisas Hand und schnupperte an der Postkarte zwischen ihren Fingern. Zweifellos war Jingle auf ein Stück Zucker aus. Louisa lachte und holte einen Würfel aus ihrer Tasche, den sie ihm auf der Handfläche hinhielt, bevor er beschloss, stattdessen die Postkarte zu probieren. „Hier, mein Süßer.“
Als er den Zucker gefressen hatte, warf er den Kopf zurück, als wollte er jeden daran erinnern, dass er immer noch seinen Stolz hatte und nicht immer ein „Süßer“ gewesen war. Schließlich war er als wildes Banker Pony geboren worden, das mit der restlichen Herde über die Insel galoppiert war. Und er war ein Unruhestifter gewesen, bevor Louisa ihn gefangen und davon überzeugt hatte, dass Zucker und eimerweise Wasser allemal besser waren, als seinen Durst mühsam mit den Pfützen im Seegras zu stillen. Die Dorfbewohner hatten Seufzer der Erleichterung ausgestoßen, als Louisa ihm endlich Zaumzeug angelegt und ihn daran gehindert hatte, ihre Gärten umzugraben und gegen ihre Wassertanks zu treten.
„Da müssen Sie wohl mich meinen.“
Die Stimme klang nach Norden – dem Teil des Nordens, der sich als kultiviert bezeichnete. Jung, reich und eingebildet. Louisa erstarrte instinktiv, als sie den Kopf umwandte, um einen der beiden Cousins anzusehen, die den Sommer in ihrer Pension verbringen würden. Dabei konnte sie Mamas Stimme hören.
„Lächele, Louisa, aber nicht zu strahlend. Zeig ihnen, dass es deine Aufgabe ist, sie zu bedienen, aber nur bis zu einem gewissen Punkt. Diese Männer sehen auf den ersten Blick vielleicht nur dein hübsches Gesicht. Es liegt an dir, ihnen dein Rückgrat zu zeigen.“
Ihre Mutter hatte ihr diesen Vortrag nicht nur gehalten, als aus dem Mädchen eine junge Frau geworden war, sondern seitdem bestimmt noch hundertmal. Vor allem dann, wenn sie Louisa losschickte, um die neuen Gäste vom Boot abzuholen.
Louisa sah dem jungen Mann in die Augen, der ein, zwei Meter entfernt stand und selbstgefällig grinste. Sein heller Leinenanzug war hier genauso praktisch wie Mr Wahabs schicker Hudson es im letzten Monat auf den hiesigen Sandstraßen gewesen war. Der neue Gast war vermutlich Mitte 20. Aus Maryland, wenn sie sich richtig erinnerte. In der Nähe von Washington, D. C. Wahrscheinlich hielt er sich für attraktiv, aber angesichts der Arroganz, die ihn wie Melasse überzog, hätte Louisa am liebsten die Nase gerümpft.
Sie lächelte, aber nicht zu strahlend, und achtete darauf, dass Jingle zwischen ihnen stand. Die Flirterei des jungen Mannes ließ sie am besten unkommentiert. „Guten Tag, Sir. Sie müssen Mr Culbreth oder Mr Grenshaw sein.“
Er zog sich den Strohhut vom Kopf und verneigte sich. „Edgar Grenshaw, zu Ihren Diensten, Miss …“
„Adair.“ Selbst das hätte sie ihm lieber nicht verraten, aber das war albern. Natürlich kannte er ihren Nachnamen von der Buchung des Zimmers in der Pension. „Sie haben mit meiner Mutter korrespondiert.“
„Ach ja. Mrs Adair hat außerdem ein äußerst verlockendes Bild von Ihrer entzückenden kleinen Insel gezeichnet.“ Er ließ den Blick über Louisa schweifen, sodass sie ihr Rückgrat noch gerader hielt. Wenn er so weitermachte, würde er feststellen, dass es aus Stahl war. „Obwohl sie vergessen hat, eine der erstaunlichsten Naturschönheiten zu erwähnen.“
Louisa wünschte mit einem Mal, sie wäre in der alten, fleckigen Hose und dem übergroßen Hemd erschienen, das sie bei ihrer Arbeit in der Pension trug, anstatt in ihrem weißen Kleid herumzustolzieren, auf dem Mama immer bestand, wenn Louisa losfuhr, um die Gäste abzuholen. Sie strich wieder über Jingles Nase. „Unsere wilden Ponys meinen Sie? Den meisten Leuten vom Festland fällt auf, wie klein sie sind – wenigstens, bis man sie durch die Dünen rennen sieht, denn dann kann man sich ihrer Majestät gar nicht entziehen.“ Louisa sah bewusst an dem jungen Mann vorbei zu dem alten Doxee, der darauf wartete, die Koffer der Herren auf den Wagen zu laden. Und die Unterhaltung natürlich mit Adleraugen beobachtete.
Louisa konnte sich darauf verlassen, dass Doxee eingreifen würde, wenn ein Gast zu vorlaut wurde. Sie schenkte dem alten Mann ein Lächeln, das deutlich herzlicher ausfiel als das für Mr Grenshaw. „Jing und ich sind bereit, Dox.“
Ihr Nachbar nickte, rückte seine Zeitungsjungenmütze zurecht und gab seinen Söhnen ein Zeichen, die Koffer zu bringen.
Während sie den Wagen beluden, hielt Louisa Jingle fest, damit er nicht auf die Idee kam, in die Wildnis zurückzukehren und ihren Wagen mitzunehmen. Dabei achtete sie darauf, Mr Grenshaw nicht noch einmal anzusehen und auch keinerlei Neugier zu zeigen, was seinen Cousin betraf und die Frage, ob dieser genauso unausstehlich war. Sie würde im Laufe des Sommers noch genügend Zeit haben, die beiden kennenzulernen, ob sie wollte oder nicht.
Sei froh darüber, dass sie hier sind, Louisa. Sie strich wieder über Jingles Nase und erinnerte sich an Mamas Dankbarkeit, als die Buchung hereingekommen war – drei ganze Monate lang waren zwei Zimmer garantiert belegt! Grann hatte sich bekreuzigt und so schnell ein lateinisches Gebet gesprochen, dass Louisa nicht folgen konnte. Auch wenn sie sich wenig aus reichen Touristen machte, die nur hierherkamen, um zu flirten und die Enten zu jagen, die Louisa viel lieber frei über sich hinwegziehen oder auf Teichen schwimmen sah, konnte sie praktisch denken. Reiche Herren bedeuteten ein verlässliches Einkommen. Sie bezahlten nicht nur für ihre Zimmer, sie bezahlten auch für Mahlzeiten, sie bezahlten für Transport, sie bezahlten für Besorgungen und Dienstleistungen.
Solange sie nicht auf dumme Gedanken kamen, was für Dienstleistungen sie von Louisa erwarteten, würden sie hervorragend miteinander auskommen.
Louisa warf noch einen Blick auf die Postkarte in ihrer Hand und auf den eleganten Turm, der den Himmel berührte. Ihre Sommergäste würden sie Paris kein Stück näher bringen, aber sie und die anderen Touristen, die im Sommer die Pension bevölkerten, bedeuteten, dass wieder ein Jahr lang die Rechnungen bezahlt werden konnten und sie genügend zu essen hatten – und vielleicht sogar, dass sie ein paar Dollar fürs College zurücklegen konnte. Sie brauchte Europa nicht. Sie brauchte nur eine Ausbildung. Das war ihr einziger Herzenswunsch.
Doxee klopfte Jingle aufs Hinterteil und lächelte Louisa zu. „Alles klar, Isa. Und sag deiner Mama Danke für den Kuchen, den sie geschickt hat, ja? Der war gut.“
Louisa grinste und ließ Jingles Zaumzeug los. Der einzige Mensch, der es in der Küche mit Mama aufnehmen konnte, war Elsie Neal, Celestes Großmutter. „Sie wird sich freuen, dass er geschmeckt hat.“
„Hast du in letzter Zeit was von Gar gehört? Kommt er über den Sommer nach Hause?“
Louisa beantwortete beide Fragen mit einem Nicken. „In zwei Wochen. Ich beneide ihn wirklich nicht um seine Abschlussprüfungen.“ Aber Louisa freute sich darauf, dass er nach Hause kam. Garret – die „alte Bohnenstange“, von der Celeste immer sprach und die Louisa von ihr grüßen sollte, aber der sie aus irgendeinem Grund niemals selbst zu schreiben schien – war immer ihr einziger anderer Freund gewesen. Und jetzt, wo Celeste nicht mehr da war und Gar studierte … da war es im Winter schon ziemlich einsam. Aber Garret würde bald zwei Monate zu Hause sein und von Celeste bekam sie regelmäßig Post, die ihr das Leben versüßte.
Jetzt war es an der Zeit, sich wieder um ihre Gäste zu kümmern und ihnen die Hiobsbotschaft zu überbringen, dass der Ponywagen nur für ihr Gepäck gedacht war und sie zur Pension laufen mussten, wenn sie nicht einen anderen Wagen mieten oder darauf warten wollten, dass Louisa zurückkam, nachdem die Koffer abgeladen waren. Als Louisa sich umdrehte, um sich an Mr Grenshaw zu wenden, wäre sie beinahe mit dem Mann selbst kollidiert, der aus irgendeinem Grund direkt vor ihr stand.
„Oh!“ Wenigstens quiekte sie nicht wie ein dummes Huhn. Allerdings beging sie den Fehler, zurückzuweichen, um auf Abstand zu ihm zu gehen, sodass sie gegen Jingle stieß.
Jingle mochte spontane Stöße nicht besonders. Er wich ebenfalls zurück und schnaubte und tänzelte, als wollte er scheuen oder sich aufbäumen – nicht, dass er das wirklich tun würde, schon gar nicht, wenn er vor den Wagen gespannt war, aber es dauerte immer einen Augenblick, bis er sich daran erinnerte, dass man ihm diese Reflexe abtrainiert hatte.
Grenshaw konnte von Jingles Training jedoch nichts wissen. Vielleicht riss er deshalb in Panik die Augen auf und packte Louisa am Ellbogen, um sie von ihrem Pferd wegzureißen.
Louisa wusste nicht genau, wie es geschah. Vermutlich war sie selbst nicht ganz unschuldig daran. Ja, Grenshaw hatte sie gezogen, und zwar so fest, dass sie gegen seine Brust gestolpert war. Aber es war ihr eigener Instinkt, mit dem sie die Hände hob, um sich von ihm abzustützen, anstatt wie eine Maid, die in Ohnmacht fiel, an seine Brust zu sinken. Und ihre eigenen dummen Finger waren es, die sich spreizten und dabei die Postkarte losließen.
Den Rest übernahm der Wind. Nah am Wasser wehte er immer und war so launisch wie Jingle an einem schlechten Tag, und so packte er Celestes Worte und wirbelte sie in die Luft.
„Nein!“ Louisa stieß Grenshaw fort und versuchte, die flüchtige Postkarte zu greifen, weil sie wusste, dass Doxee sich um Jingle kümmern würde.
Die Karte entzog sich jedoch ihren Fingern und segelte mit dem nächsten Windstoß davon. Louisa machte Anstalten, hinterherzulaufen, während sie betete, dass die Postkarte nicht ins Wasser flog, aber jemand anders war schneller. Noch eine in Leinen gekleidete Gestalt. Der Mann ließ die Tasche fallen, die er in der Hand gehalten hatte, und rannte hinter der Karte her, und mit einem Sprung, der eines Olympioniken würdig gewesen wäre, entriss er die Postkarte den Fingern des Windes.
Dieser junge Mann war blond, im Gegensatz zu seinem brünetten Cousin, und er sah sich nicht einmal nach dem Hut um, den er bei seinem Einsatz verloren hatte. Er drehte sich nur um und streckte ihr die Postkarte mit einem so herzlichen und bescheidenen Lächeln entgegen, dass Louisa unwillkürlich zurücklächelte. „Bitte schön. Ist alles in Ordnung?“
Der hier war nicht aus Maryland. Oder wenigstens redete er nicht so. Aus England vielleicht? Sie hatte noch nicht genug von seinem Akzent gehört, um sicher zu sein. Aber als er sie musterte, wusste sie genau, dass er um ihr Wohl besorgt war und nicht ihre Rundungen katalogisierte. Gleich darauf wanderte sein Blick zu Louisas Augen und er wirkte erleichtert, als sie nickte.
„Mir geht es gut. Und vielen Dank.“ Sie nahm die Postkarte an sich, wissend, dass diese nun noch kostbarer sein würde, nachdem sie das Schriftstück beinahe verloren hätte.
Er – es musste Mr Culbreth sein – lächelte wieder. „Gern geschehen. Wenn diese Post aus dem fernen Frankreich kam, ist sie wirklich sehr wertvoll.“
Er sprach ganz anders als die Leute auf Ocracoke und Louisas Lächeln verwandelte sich in ein Grinsen. „Das ist sie. Meine beste Freundin reist im Moment durch Europa.“
Seine Augen leuchteten auf. Sie waren blaugrün, wie die Farbe des Atlantiks im September, wenn die Sonne die Untiefen erhellte. „Wirklich? Wo war sie denn schon überall?“
Wieder fiel ihr auf, wie anders die Vokale klangen, wenn er sprach. Louisa steckte die Postkarte in ihre Tasche. „Sie waren sechs Monate in Genf, wo ihr Stiefvater geschäftlich zu tun hatte, und danach in Schweden, Österreich und Deutschland. Bald werden sie sich in den Ardennen niederlassen.“
Grenshaw erschien jetzt neben seinem Cousin und trampelte wie ein Elefant im Porzellanladen durch ihre Unterhaltung, indem er einen Arm um Mr Culbreths Hals schlang und ihn zu sich herunterzog. „Fangen Sie bloß nicht an, mit diesem Kerl über die Reize Europas zu reden, Miss Adair, sonst hört er gar nicht wieder auf.“
Mr Culbreth entzog sich dem Schwitzkasten mit einer Leichtigkeit, die von ausgiebiger Übung zeugte. „Ich entschuldige mich für meinen Cousin, Miss, da er offenbar nicht den Anstand hatte, es selbst zu tun. Wahrscheinlich wollte er nur helfen.“
Mr Grenshaw breitete die Arme aus und sah Louisa mit ebenso weit aufgerissenen Augen an. „Ich wollte gerade eine Entschuldigung vorbringen!“
„Und zweifellos einige Schmeicheleien.“ Mr Culbreth hielt sich eine Hand vor den Mund, sodass sein Cousin es nicht sehen konnte, und sagte im übertriebenen Flüsterton: „Ignorieren Sie ihn einfach.“
Oh, diesen jungen Mann mochte Louisa. Ihr Grinsen war vermutlich ein wenig schelmisch. „Das hatte ich sowieso vor.“
Sein Cousin griff sich mit einer dramatischen Geste ans Herz, als wäre er zutiefst getroffen. „Solche Kälte. Als wäre irgendetwas von dem, was ich über Ihre Schönheit oder Anmut sagen könnte, eine Schmeichelei. Dafür müsste es ja unwahr sein und –“
Doxee rammte ein kleines Gepäckstück in Grenshaws Bauch und schnitt ihm damit wirkungsvoll das Wort ab. „Das hat sie alles schon gehört, Yankee. Tun Sie sich einen Gefallen und sparen Sie sich Ihre Worte.“ Als er sich zu Louisa umwandte, zwinkerte er. „Und willkommen auf O’coke. Wenn Sie einen Führer für die Jagd brauchen oder ein Boot zum Angeln mieten wollen, kommen Sie gerne wieder in die Stadt. Ansonsten werden die Damen Adair sich gut um Sie kümmern.“