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Der neue Roman vom Autor des internationalen Überraschungserfolgs »Ich hasse dieses Internet« New York City, 1986: Als die wohlhabende Kunststudentin Adeline in einem besetzten Haus im East Village auf Baby trifft, der mit nicht mehr als ein paar Dollar in der großen Stadt gestrandet ist, nimmt sie ihn bei sich auf. Sie zeigt ihm die Bars, die Drinks, die Kunst, das Leben. Nächtelang ziehen die beiden durch die Clubs von Downtown Manhattan, gehen feiern, getragen von der energetischen Lebenswut der Stadt. Ein euphorischer Roman über eine Freundschaft, die alles übersteht, selbst das Erwachsenwerden – weise, schnell, heiter.
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Seitenzahl: 716
Jarett Kobek
Unsere wunderbar kurze Zukunft
Roman
Aus dem Amerikanischen von Eva Kemper
FISCHER E-Books
Für e.j., wo immer sie sein mag auf diesem amerikanischen Kontinent
Babys Eltern bringen sich um, worauf Baby nach New York geht
Ich zog nach New York, kurz nachdem meine Mutter meinen Vater getötet hatte, oder hatte mein Vater meine Mutter umgebracht? Jedenfalls hatte einer den anderen in einem roten Nebelschleier aus Blut und gebrochenen Knochen abgemurkst. Es dauerte Wochen, den Papierkram auszufüllen und das Blut wegzuwischen.
Nachdem diese unschönen Aufgaben erledigt waren, ließ ich meine Geschwister im Stich und stieg auf dem Parkplatz eines Eckladens in der Peripherie meiner piesligen Kleinstadt in Wisconsin in einen Greyhoundbus. Sechsunddreißig Stunden später war ich in der Stadt.
Als ich den Port Authority Busbahnhof, der mir eine Scheißangst einjagte, verließ, konnte ich das Empire State Building nicht sehen, also fragte ich einen Polizisten, wie ich zum Fluss käme. Er sah mich an und brüllte vor Lachen, weil ich so ein Bauerntrottel war, und zeigte mir, wo Westen war.
Ich lief am helllichten Tag die 42nd Street entlang. Und wurde nicht überfallen. Am Ende der Straße überquerte ich den Highway und kam auf einen Pier. Ich sah mir den Hudson River an. Ich sah mir New Jersey an. Ich beobachtete Schiffe auf dem Fluss. In der Ferne sah ich die Freiheitsstatue und glaubte ihrer protzigen Symbolik.
Niemand in New York würde sich meine pieslige Kleinstadt in Wisconsin je vorstellen können. Das war schlicht eine Frage der Größe. Selbst in Kuhkaffington, Ohio, oder Hinterwalding, Pennsylvania, gab es Wohnviertel und Straßen und ein paar tausend Einwohner. In meiner piesligen Kleinstadt lebten siebenhundert Menschen, vor allem Farmer.
Wenn man in solchen Orten etwas unternehmen will, sich die Zeit vertreiben will, fährt man herum, Tag für Tag für Tag. Man tuckert in seinem Auto die drei Häuserblocks der Main Street rauf und runter, sieht Jungs, die man von der Schule kennt, und tut so, als wollte man die Mädchen vögeln.
Als sich dann New York City als Option auftat, sagte ich o ja, bitte. Ich gehöre dir. Erobere mich. Ich unterwerfe mich deinem unterirdischen Geflecht der Seele. Bring mich zur 241. Street und der White Plains Road. Bring mich nach Coney Island. Bring mich nach Midtown. Nach Morningside Heights. Nach Flushing, nach Gowanus, zur Wall Street. Ich gehöre dir. Ich gehöre dir. Befreie mich von der Tyrannei des Automobils!
Ich konnte laufen, endlich konnte ich laufen. Zu Hause in Wisconsin fuhr man drei volle Stunden, wenn man eine Platte oder ein Buch oder eine Hose oder irgendwas anderes kaufen wollte. Und dann war man erst in einem Kaff mit vielleicht zehntausend Einwohnern, das nur bei den Leuten zu Hause als Stadt durchging.
O Menschen, o die Menschen, o New York, o deine wunderbaren Menschen. Deine Puerto Ricaner, deine Hebräer, deine Muslime, deine Chinesen, dein Eurotrash, dieser fette kleine Wichser Norman Mailer, deine reiche Schickeria aus dem nördlichen Manhattan, dein Abschaum im Südteil der Insel, deine schwarzen Amerikaner, deine Koreaner, deine Haitianer, deine Jamaikaner, deine Italiener, deine Iren aus Hell’s Kitchen, Julian Schnabel, deine weißen Prolls aus Far Rockaway und Staten Island. O New York, ich habe deine Menschen geliebt. Sie waren alle so hinreißend! Viele sahen grässlich aus, richtig hässlich mit scheußlichen Zähnen, aber sogar die Hässlichen waren hinreißend! O, ich war im Himmel.
Und deine Schwulen, New York, o Gott, deine Schwulen. Meine ganze Hoffnung war, dass sie mich lieben würden.
Ich war schwul bis über beide Ohren, nur hatte Wisconsin mir Landei kaum Gelegenheiten zur erotischen Liebe eröffnet, wie sollte ich also auch nur eine gemeinsame Sprache mit den Vielvöglern und Lederjungs finden?
In der neunten Klasse beging ich einmal den Fehler, meinem besten Freund Abraham einen zu blasen. Ich traute mich nicht, Abe in meinem Mund kommen zu lassen, also brachte ich ihn bis kurz davor und ließ ihn dann in seine Decke zucken. Als Strafe wollte er sich nicht revanchieren, was mich echt runterzog, aber immerhin machte er es mir mit der Hand, und das war auch nicht schlecht.
Ich ging nach Hause und dachte darüber nach. Ich beschloss, dass ich meinem besten Freund erlauben würde, in meinem Mund zu kommen.
Als ich am nächsten Tag den ersten Blowjob meines Lebens bekam, platzte seine Mutter ins Zimmer. Sie sah alles. Ihren nackten Sohn, mich, ebenfalls nackt, meinen Schwanz in seinem Mund, meine Hände auf dem sanften Flaum auf seinem Bauch. Ich rannte hinaus und fuhr nach Hause. Weder Abe noch seine Mutter sagten je etwas dazu, aber unsere Freundschaft zerbrach darüber, und während meiner letzten Jahre an der Highschool lebte ich in Angst, ich müsste unsere Stadt in Schimpf und Schande verlassen.
Danach lief mit niemandem mehr was, abgesehen von den paar Mädchen, mit denen ich rumknutschte, um den Schein zu wahren. Ihre Zungen in meinem Mund waren wie weiche Roboter, sie weckten vages Interesse, aber keine sexuellen Gelüste, keine Sehnsucht, kein Verlangen.
Und dann kamst du, New York, wie eine schwule Homecoming Queen hast du vor mir gestanden, die Hände in die Hüften gestemmt, und mich schüchternes Mauerblümchen gemustert. Mit deinem Meatpacking District, deinen Piers im West Village und Fire Island. Ich gehörte dir und rief: Oh, nimm mich, nimm mich, nimm mich! Aber bevor irgendwas passieren konnte, brauchte ich erst mal eine Bleibe.
Ein Typ aus meiner piesligen Kleinstadt wohnte schon in New York. Dieser Typ aus meiner piesligen Kleinstadt war etwa drei Jahre älter als ich. Ich bat den Bruder des Typen um die Telefonnummer des Typen.
— Überleg es dir, sagte sein Bruder, wir reden nicht viel mit ihm, und ich habe gehört, er soll ziemlich verkommen leben.
Verkommen klang großartig. Und weil ich Wisconsin verlassen wollte, war mir die Telefonrechnung egal, also rief ich in New York an. Er hieß David.
Ein Mädchen hob ab. Ich fragte nach David.
— Okay, Alter, sagte sie, warte mal.
Ich wartete etwa zehn Minuten. Als er ans Telefon kam, sprach er mit hoher, nasaler Stimme.
— He, winselte er, ist da El Gato?
— Ich bin’s, sagte ich, wir kennen uns, erinnerst du dich?
Er erinnerte sich nicht.
— Ich bin der Typ, sagte ich, der in der Schule am gleichen Tag den Rekord für die fünfzig und die hundert Meter gebrochen hat, weißt du noch?
— Ach ja, sagte er, der Typ. Warum rufst du an?
Ich bettelte und buckelte, bis er sagte, wenn ich wirklich an die Ostküste käme, könnte ich bei ihm wohnen, und mir seine Adresse in der 12th Street gab. David erklärte mir die groben Navigationshilfen für ein Leben in New York. Er sagte, ich solle das Empire State Building suchen und darauf zulaufen. Einmal an diesem Riesen vorbei, könnte ich Norden und Süden erkennen, wenn ich nach den Zwillingstürmen Ausschau hielt, deren relative Lage dann auch Osten und Westen anzeigen würde. Diese Methode half nur weiter, solange man nicht oberhalb der 30th Street war, aber mal ehrlich, sagte David, wer ging denn weiter als bis zur 30th Street? Höchstens irgendwelche Arschlöcher wegen Drogen.
Ich lief vom Highway zum Times Square. Dort war es unglaublich. Das kennen Sie ja alles. Wer kennt es nicht? Den Sex und den Schmodder in ihrer Schmetterlingsmetamorphose zur Touristenfalle, zu einem Walt-Disney-Wunderland. Ich konnte der Verwandlung zusehen, das heißt, ich war in der Stadt, während sie geschah, denn ehrlich gesagt spielte sich das alles oberhalb der 30th Street ab. Und wer ging schon zum Times Square? Höchstens zum Club USA. Aber sonst?
Auf dem Weg den Broadway hinunter sah ich mir die Läden und Häuser an. Weil ich ein Landei war, schaffte ich es nicht, auf Abstand zu bleiben. Mit erschreckender Regelmäßigkeit rempelte ich Leute an. Die meisten liefen weiter, ohne sich umzusehen. Ein paar beschimpften mich aufs Übelste.
Ich erreichte den Union Square. Er war eine Ruine, ein Park, umringt von Huren und Zuhältern und selbst voller Drogendealer. Ich verstand nicht, warum immer wieder Männer fragten: Besteck, Besteck, brauchste Besteck?
— Nein, danke, ich habe gar nichts zu essen dabei.
— Bist du bescheuert oder was?
Ich hielt die Klappe und lief weiter bis zur 12th Street. Danach ging es durch das East Village und Alphabet City. David hatte gesagt, er würde in einem alten Brownstone zwischen der B und der C wohnen. Ich fand das Haus nicht sofort, weil die Adresse nicht auf dem Gebäude stand. Ich klopfte lange, aber niemand machte auf. Ich versuchte, die Tür zu öffnen. Der Knauf ließ sich drehen. Ich ging hinein.
Das Haus war ausgebrannt und verdreckt, es hatte die Farbe von verkohltem Holz, überall Müll, die Wände voller Graffiti. Stromkabel, Wasserrohre, Dämmstoffe, alles lag offen. Niemand war zu sehen.
— Hallo, David?
Ich ging weiter ins Haus hinein und rief noch einmal. Hinter der Treppe kam ein Typ hervor, der nach Punkrocker aussah. Abgesehen von Albumcovern und dem Fernsehen und Zeitschriftenbildern hatte ich noch nie einen Punkrocker gesehen.
— Was willst du?, fragte der Typ, der nach Punkrocker aussah.
— Ich suche David?
— Wer zum Teufel ist David?
— David, er kommt aus der gleichen Stadt wie ich. In Wisconsin? Ich habe ihn letzte Woche angerufen, er hat mir diese Adresse gegeben.
— Versuch’s mal oben, sagte der Typ, der nach Punkrocker aussah, aber klau nichts.
Ich ging nach oben in den ersten Stock. Irgendwelches Zeug knirschte und zerbrach unter meinen Füßen. Ich spähte in eines der Schlafzimmer. Ich konnte überhaupt nichts sehen. Ich legte einen Lichtschalter um. Es gab keinen Strom.
— David, David, wo bist du, David?
Dann hörte ich eine schwache Stimme.
— Hierher, sagte die Stimme auf der anderen Seite des Flurs. Ich ging hinüber.
— David?, fragte ich in die Dunkelheit.
— Hier drüben, sagte jemand.
Ich ging auf die Stimme zu. Ein junger Mann lag auf einem Haufen alter Klamotten.
Zu Hause war er schön gewesen. Ich erinnerte mich noch an seine Haut mit ihrem Geflecht blauer Adern. Jetzt dunkelten mehrere zusammengepresste Schmutzschichten seine von Akne übersäte Haut ab und trübten seine finsteren Tätowierungen. Seine braunen Haare waren schmierig verfilzt.
— Wer bist du?, fragte er.
— David, ich bin’s, weißt du noch? Der Junge, der die Rekorde für den 50- und den 100-Meter-Lauf gebrochen hat?
— He, Mann, du bist in New York?
Ich setzte mich neben David auf einen zweiten Klamottenberg. Ich redete nicht viel. So weit hatte ich nicht vorausgedacht. Selbst wenn er nicht heruntergekommen leben würde, worüber hätten wir reden sollen? Über David wusste ich nur, wie verknallt ich in der zehnten Klasse in ihn gewesen war. Zwei volle Wochen lang hatte ich mir beim Masturbieren seinen Schwanz in meinem Mund vorgestellt. Es hatte eine Flut von Samen gegeben, sowohl von echtem als auch vorgestelltem.
David sackte zusammen, das Kinn sank ihm auf die Brust. Weil ich noch nie einen Junkie gesehen hatte, dachte ich, er wäre müde. Zwanzig Minuten verstrichen. Dann hielt ich es nicht mehr aus.
— David, sagte ich. David, wach auf.
— O Mann, du bist noch hier? Wie bist du hergekommen?
— Weißt du noch, als wir telefoniert haben?
— Nein?
— Du hast gesagt, ich könnte bei dir wohnen.
— Echt?
— Ja.
— Kostet fünfzig Dollar Miete pro Woche.
— Fünfzig Dollar pro Woche?
— Die Stadt ist teuer. Jeder zahlt was. Du gibst es mir, ich geb’s dem Boss.
— Am Telefon hast du nichts von Miete gesagt.
Aber ich konnte mir meine Worte sparen. Er war wieder eingeschlafen.
Ich suchte eine Stelle, an der ich meine Tasche sicher verstauen konnte. Die Einrichtung des Zimmers bestand vor allem aus zwei getrennten Matratzenstapeln, um die mehrere kaputte Tische verteilt waren.
Jemand hatte die Fenster mit schwarzem Tonpapier zugeklebt. Schmutzige Kleidung und Essensverpackungen aus Plastik. Ich schob ein paar Klamotten in der hintersten Ecke zusammen und stopfte meine Tasche unter den Stapeln. Obendrauf verteilte ich ein paar Verpackungen von Minikuchen.
Auf dem Flur dröhnte eine Stimme durch die Holzdielen des zweiten Stocks herunter. Auf dem Weg ins Erdgeschoss blieb ich stehen, weil sich die Schatten bewegten.
— Dir ist schon klar, dass du ihm nicht wirklich Geld geben musst, oder? David quillt der Schwachsinn schon aus den Ohren. Hier gibt es keine Miete. Und auch keinen Vermieter. Das Haus hier ist besetzt, Schätzchen.
Die Schatten kamen näher. Ein Mädchen, vielleicht ein Jahr älter als ich, neunzehn oder zwanzig, in einem karierten grauen Rock mit hässlichen gelben Turnschuhen und einer zerrissenen schwarzen Strumpfhose. Ihre roten Haare standen in wilden Spitzen vom Kopf ab. Ein paar Strähnen hatte sie schwarz gefärbt.
— In dieser verrufenen Bleibe zahlt keine Menschenseele Miete, sagte sie. David will sich Stoff besorgen. Du wirkst wie ein leichtes Opfer.
Ich wurde rot. Ein leichtes Opfer?
— Ich heiße Adeline, sagte sie. Manchmal übernachte ich hier.
Erst wollte ich ihr meinen richtigen Namen sagen, aber dann überlegte ich, warum ihn hier überhaupt jemand kennen sollte. Ich war aus den gleichen Gründen wie alle anderen nach New York gekommen. Um vor mir selbst zu fliehen, vor der Vergangenheit, vor allem früheren Wissen.
— Nenn mich Baby Baby Baby, sagte ich.
— Darf ich dich einfach Baby nennen?
Ich dachte kurz nach.
— Okay, sagte ich, aber nur als Spitzname.
— Dann also Baby.
Unten erklangen Schritte, sie näherten sich der Haustür. Ein Pärchen, ein Junge und ein Mädchen, beide sturzbetrunken, stolperten durch den Flur unter uns. Ihre Gesichter konnten wir nicht sehen. Der Junge grölte:
BROOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOKLLLLLLLLLYNNNNNNNN. BROOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOKLLLLLLLLLYNNNNNNNN. BROOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOKLLLLLLLLLYNNNNNNNN. BROOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOKLLLLLLLLLYNNNNNNNN. BROOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOKLLLLLLLLLYNNNNNNNN.
BROOOOoooOOOOOOOoookklyn.
— Ich will gerade gehen, sagte ich zu Adeline. Ich bin erst seit ein paar Stunden in der Stadt.
— Geh zur Avenue A und dann zwei Blocks Richtung Süden. Den Tompkins Square musst du dir einfach ansehen. Er ist eines der acht Weltwunder, Schätzchen.
— Hoffentlich bis später mal, sagte ich.
— Möglich, sagte Adeline. Du weißt, wo ich zu finden bin.
Zu Hause in Wisconsin hatte ich mir Stadtpläne von Manhattan genau angesehen. Ich wusste, dass von der Avenue C aus der Fluss die östliche Grenze bildete und man sich damit leicht zurechtfinden konnte. Nur bekam ich Panik und vergaß, was ich mir eingeprägt hatte. Weil weder das Empire State Building noch die Zwillingstürme zu sehen waren, verlief ich mich.
Auf dem Hinweg hatte ich nicht aufgepasst, nicht mit meinem Tunnelblick. Jetzt lief ich gefühlt in alle Richtungen und nahm die Gegend erst richtig wahr, und, mein Gott, das war nicht das New York meiner Träume. Davids Stadtteil erinnerte eher an Nachrichtenbilder aus Beirut. Etwa ein Viertel der Gebäude war abgerissen worden, auf den leeren Grundstücken lag Schutt, das Gras wuchs hoch. Ein weiteres Viertel stand leer, die Häuser waren zugenagelt oder zugemauert und verfielen langsam. Selbst der Straßenbelag war rissig und kaputt, die Gehwege zerbröckelten. Überall lag Hundescheiße.
Auf einem Grundstück sah es aus wie nach einer Explosion, bei der die Wände und Decken komplett zerstört wurden, ohne den Inhalt des Hauses zu beschädigen. Berge von Türen und Möbeln und Badewannen und verstreuter Plastikkram aus dem Alltag der Menschen, komplett ineinander verkeilter Müll. Es gab keinen Zaun und keine Absperrung zwischen der Straße und den Überresten.
Meine Familie war arm gewesen, aber erwerbsarm, wir hatten noch unser Land gehabt, von dem wir leben konnten. Die Bewohner von Alphabet City standen noch tiefer, sie lebten auf der Straße, in verlassenen Häusern, auf leeren Grundstücken, in ausgebrannten Autos. Die Gegend erinnerte an eine Geisterstadt, auch wenn es heute kaum zu glauben ist, weil jeder einzelne Block Tag und Nacht von Hunderten Menschen wimmelt. Damals waren die Straßen leer. Und die wenigen Menschen, die doch dort waren? Nun ja.
Ich rang mir einen neutralen Gesichtsausdruck ab, um nicht zu verraten, wie entsetzt ich war, und ließ mir die Haare ins Gesicht fallen. Die Obdachlosen würden mir keine Angst machen. Die Punks würden mir keine Angst machen. Auch nicht die Leute, die meine Verwandten als Spanier bezeichnet hätten. Oder die Schwarzen. Mit meinem weißen Gesicht und den blauen Augen sah ich einfach nur geradeaus und hoffte, ich würde niemandem auffallen.
Nachdem ich eine Stunde lang herumgelaufen war, kam ich zum Tompkins Square. Wenigstens nahm ich das an, er war zumindest quadratisch. Und welchen Park sollte es in dieser Gegend noch geben? Ich sah nach den Schildern, und tatsächlich, es war der Tompkins Square. Der Park war eine Stadt der Obdachlosigkeit, ein Meer von Zelten und notdürftigen Unterkünften, mit ebenso vielen Bewohnern wie meine pieslige Kleinstadt.
Die Menschen hatten sich bis zu den Zäunen ausgebreitet, sie schliefen auf Bänken und dem armseligen Rasen. Eine große Gruppe hatte sich in einem wuchtigen offenen Betonkasten am Rand zur 7th Street hin eingerichtet. An der Seite des Baus prangte ein Wandgemälde von einer Frau in Rot inmitten von geheimnisvollen Symbolen, aber ich verstand ihre Bedeutung nicht. Monate später erklärte mir jemand, der Kasten sei eine Konzertmuschel. Das Wandgemälde, sagte er, hieß »Billie Holiday und Familienplanung«.
Ein Mädchen im Teenageralter, ziemlich stämmig, ungewaschene Haare, Jeansklamotten voller Flicken, ging direkt vor mir vorbei. An einem kahlen Baum blieb sie stehen, hockte sich hin und pinkelte.
Das war kein dezentes Urinieren, nicht wie mein maßvoller Strahl oder das sanfte Pieseln, das einer Dame vom Patriarchat vielleicht zugeschrieben wurde, sondern eine Flut, ein Schwall, der sich aus ihrem Körper ergoss wie Bomben aus der Luke eines B-29-Bombers über einer namenlosen deutschen Stadt.
Als ich in ihre leeren Augen sah, das feuchte Plätschern in den Ohren, begriff ich, dass ich endlich dem amerikanischen Mittleren Westen entkommen war.
Auf dem Rückweg zu Davids Unterkunft zitterte ich auf wackligen Beinen, erschlagen von dem unfassbaren Gefühl der Freiheit, von absoluter und unkontrollierter Ungebundenheit. Nicht der verlogenen Gründungsprinzipien Amerikas, sondern einer ursprünglicheren Freiheit, der Freiheit, außerhalb der Grenzen zu leben. Ein kräftiger Ruck, der den Schorf abreißt. Das Blut fließt und enthüllt den Alltag als Ansammlung von Lügen, enthüllt das verletzte, blutende Fleisch, die Bedeutungslosigkeit menschlichen Strebens. Man könnte sterben, und das wäre schade, aber der eigene Tod wird nichts bedeuten. Nichts bedeutet etwas. Niemals. Man hat keinerlei Chance, irgendetwas Relevantes zu erreichen. Niemand, den man kennt, wird jemals etwas Relevantes tun. Die eigene Familie ist so bedeutungslos wie Luft. Und man selbst auch. Das ist Freiheit. Das ist ein junges Mädchen in verschlissenen Jeanssachen, das neben einem Baum hockt und strullert wie eine Giraffe.
Die Sonne ging in blauem Licht unter. Kälte stieg auf. Die Leute eilten warm eingepackt die Straße entlang. Waschlappen! Feiglinge!, dachte ich. Lernt erst mal den Wind kennen, der an einem Januarmorgen vom Lake Superior herüberpfeift, die Eiseskälte im ganzen Körper, wenn man um sechs Uhr früh das Vieh versorgt.
Bei David war die Haustür immer noch nicht abgeschlossen. Ich ging nach oben. Der Strom war wieder eingeschaltet, wodurch ein paar nackte Glühbirnen Licht spendeten.
Davids Zimmer sah noch so aus wie vorher, nur konnte ich jetzt die Flecken erkennen. Der Klamottenhaufen, den ich auf meine Tasche geschoben hatte, war verrutscht und hatte jede Form verloren. Die Kuchenverpackungen waren verschwunden. Ich durchwühlte die Klamotten und versuchte dabei, sie nicht zu riechen. Meine Tasche war weg. David auch.
Ich wartete.
Jedes Detail dieser trübsinnigen Stunden brannte sich in meinen Verstand ein. Leute kamen und gingen. Einige brüllten, einige weinten, einige stürmten wütend durchs Haus. Ein Mädchen schlenderte singend herein. Ihre gelallten Worte blieben bei mir hängen, ihren Klang habe ich immer noch im Ohr: Something told me it was over / when I saw you and her talking / something deep down in my soul said cry girl cry / when I saw you and her walking by.
Lachen, ein krankes Lachen, schallte von oben herunter. Ich überlegte nachzusehen, wer da lachte und warum, aber ich wollte David nicht verpassen. Ein Mädchen streckte den Kopf ins Zimmer.
— Bobby?, fragte sie, bevor sie mich entdeckte und wieder ging.
Ich habe keine Ahnung, wie lange es dauerte, bis David zurückkam. Als er dann kam, sagte mir sein Torkeln alles. Ich war nicht wütend, nicht besonders, weil ich so schlau gewesen war, mein Geld am Körper zu tragen. Aber in der Tasche war eine Menge guter Klamotten gewesen. Und die Tasche selbst hatte mir meine Mutter geschenkt.
— Wo ist meine Tasche?, fragte ich.
— Wer bist du?, fragte David.
— Du weißt genau, wer ich bin, du mieser diebischer Hurensohn, sagte ich. Ich komme aus der gleichen piesligen Kleinstadt wie du. Ich habe die Rekorde für die fünfzig und die hundert Meter an unserer Schule gebrochen.
— Ach ja, stimmt, sagte er. Du bist das. Seit wann biste hier?
— Wo ist meine Tasche, David?
— Welche Tasche?, fragte er.
David ließ sich auf einen der Matratzenstapel fallen. Die Federn quietschten, was so fiepsig klang wie gefangene Mäuse in der Wand.
— Ich will meine Tasche, sagte ich.
— Welche Tasche?, fragte er.
— Du weißt genau, welche verdammte Tasche.
Er drehte sich auf die Seite und stützte den Kopf in die Hand. Seine wässrigen Augen schimmerten im Licht der 40-Watt-Birne.
— Pass auf, Mann, sagte er, scheiß auf deine Tasche. Wenn sie nicht hier ist, ist sie nicht hier. Jammere nicht wegen was rum, das weg ist. Das bringt dich echt nicht weiter.
Ich ging zum Bett. Seine Hose klebte ihm an den abgezehrten, dürren Beinen. Winzige Schorfstellen sprenkelten die Haut zwischen seinen Fingern.
— In der Tasche war eine Menge guter Klamotten, sagte ich.
— Ja, sagte er, na ja, die sind weg. Wenn du Klamotten brauchst, hier liegen genug.
Ich ballte die Fäuste. Ich war kurz davor, ihn zu schlagen.
Ein Klicken. Ich senkte den Blick. David hielt ein kleines Messer in der Hand, die Klinge auf mich gerichtet. Er wollte mich bedrohen, aber seine Motorik war so fahrig, dass die Waffe auf und ab wippte wie Brotkrumen auf dem Wasser. Ich hätte sie ihm abnehmen können, aber warum sollte ich mir die Mühe machen?
Ich ging auf den Flur und streckte den Kopf in die anderen Zimmer, wohl auf der Suche nach Streit. Die Leute saßen herum, niemand sagte etwas, manche tranken Bier. Aus dem zweiten Stock drang wieder Lachen herunter. Lach, lach. He he ha ha ho ho ha ha hi he he ha ha hi hi ho ho ha ha hi hi. Dieses gottverdammte Lachen.
Zwischen den beiden Etagen lagen vielleicht zehn Stufen. Ich hatte etwa die Hälfte geschafft, als Adeline mich anrempelte. Wir fielen hin, aber immerhin nicht die Treppe hinunter.
— Pass doch auf, du Trampel, sagte sie.
— Adeline, sagte ich. Ich bin’s. Baby.
— Oh, Baby, sagte sie. Baby, ich gehe. Und ich komme nicht zurück.
— Wer lacht da oben im zweiten Stock?
— Frag nie nach dem zweiten Stock.
Wir standen auf. Sie hielt sich an meinem Arm fest, und ich spürte dabei, wie zart ihr Körper war, wie leicht, wie wenig sie auf den Knochen hatte.
— Weinst du?, fragte sie.
— David hat meine Sachen verkauft, sagte ich. Ich habe nur noch, was ich gerade am Leib trage.
— Dieses Haus war für uns beide kein guter Ort, sagte sie.
Sie lief die Treppe hinunter. Ich sah ihr nach und überlegte, ob ich etwas sagen sollte. Ich wusste nur nicht, was. Geh nicht! Lass mich nicht allein! Bitte! Nicht mit den fremden Leuten hier!
Adeline drehte sich um. Ich sog scharf Luft ein.
— Woher kommst du?, fragte sie.
— Ich bin aus Wisconsin. Ich atmete aus. Nimm es mir nicht übel.
— Wisconsin. Wo ist dein Akzent geblieben, Baby?
— Habe ich mir abtrainiert, sagte ich, damit ich kultivierter klinge.
Ich hatte mir die trockene, tonlose Redeweise des Fernsehens zugelegt, aber ich war nie sicher, ob mir die List gelang. Zur Bewertung konnte ich mich nur an die Kommentare von den Leuten an meiner Schule halten. Aber das waren Hinterwäldler. Auf die Meinung von Hinterwäldlern kann man nichts geben.
— Bist du ganz allein hier?, fragte Adeline.
— In Wisconsin hat es kein gutes Ende genommen, sagte ich.
Sie trug weder Schuhe noch Strümpfe. Ihre Füße waren nackt. Ich schauderte bei der Vorstellung, wie sich ihre Zehen in den Schutt gruben.
— Was ist mit deinen gelben Schuhen?
— Vergiss sie, sagte sie. Willst du nicht mitkommen?
— Wohin?
— In mein Wohnheim, sagte sie. Ich habe ein Einzelzimmer, aber mit einem zweiten Bett. Komm mit und wohne eine Weile bei mir.
— Okay, sagte ich, aber wo sind deine Schuhe?
Manchmal hat man eine Intuition, einen flüchtigen Eindruck der Wahrheit, der regelrecht inspiriert ist. Ich wusste genau, dass ihre Schuhe im zweiten Stock waren.
— Sie sind oben. Ich habe sie bei Bobby gelassen.
— Wer ist Bobby?, fragte ich.
— Bobby ist, oder besser gesagt: Ich habe gedacht, er wäre mein Freund. Jetzt gerade vögelt er da oben ein anderes Mädchen. Er hat direkt vor meiner Nase angefangen, Baby. Mit dem Vögeln. Ich habe die Schuhe oben gelassen.
— Warte hier, sagte ich.
Ich wollte wieder nach oben gehen. Adeline hielt mich am Arm fest.
— Das ist es nicht wert, sagte sie. Er wird dich umbringen.
Ich gab ein spöttisches Geräusch von mir, ein filmreifes Lachen.
— Ich habe bei meinem Vater auf der Farm gearbeitet, sagte ich. Dem Tod bin ich öfter begegnet, als du zählen kannst.
— Bitte, sagte sie. Mein liebes Mütterlein ist steinreich. Sie schwimmt im Geld. Ich kann mir neue Schuhe leisten.
Ich schüttelte sie ab und ging in den zweiten Stock. Er hatte den gleichen Grundriss wie der erste. Die gleichen Zimmer. Der gleiche Müll und Verfall. Ich fand Bobby durch die laute Vögelei, das nervige, schrille Fiepen einer Frau, unterlegt von männlichem Gestöhne. Ich ging in das Zimmer und machte das Licht an, und tatsächlich lag da ein Mädchen auf einem Typen.
— Bist du Bobby?
— Hast du sie noch alle? Verpiss dich hier.
Das Mädchen sprang herunter. Es war das gleiche Mädchen, das den Kopf in Davids Zimmer gesteckt hatte. Im ersten Moment lag Bobby nur da, flach auf dem Rücken, splitternackt, der Schwanz noch hart und feucht schimmernd. Er war dürr und dreckig wie David, aber alt. Bestimmt schon dreißig. Gesellschaftlich stand er eindeutig weit unter Adeline.
— Ich will Adelines Schuhe holen.
— Bist du besoffen, oder was?
Ich bückte mich und hob die Schuhe auf. Bobby stand vom Bett auf.
— Halt dich von Adeline fern, sagte ich.
— Und wenn nicht?, fragte er.
— Wird dir nicht gefallen, was dann passiert.
— Ich sage dir jetzt mal, was gleich passiert, Alter, meinte er. Ich werde jetzt die Ische hier zu Ende ficken, und morgen gehe ich zu Adeline und ficke sie auch. Und da macht so eine beschissene Guter-Samariter-Schwuchtel aus Westchester gar nichts gegen.
Eine neue Vision. Unter dem Dreck und den Drogen sah ich Bobby als schmächtigen Zehntklässler vor mir, mit einem schwarzen T-Shirt, auf dem SUGARLOAF stand, wie er betete, dass er den größeren, gemeineren Jugendlichen nicht auffiel, und nur darauf wartete, dass er die Schule schmeißen und von seiner Familie wegkommen konnte. Ich hätte weiß Gott mit ihm fühlen müssen, mir hätte es genauso gehen müssen, dass ich mich als schwuler Junge vor lauter Angst kleinmachte. Aber ich hatte den Schulrekord über die fünfzig und hundert Meter gebrochen. Ich war der geborene Sportler. Die Leute mochten mich. Ich war beliebt. Bobby war schon zu lange in der Stadt, entrückt in seinen kleinen egalitären Heroinhimmel. An die Highschool konnte er sich nicht mehr erinnern. Er hatte vergessen, dass es im Leben von Natur aus eine Hackordnung gab. Mich hatte noch nie jemand eine Schwuchtel genannt.
Seine Falten zogen sich durch sein flaches Gesicht wie eine Karte meiner Schande. Wisconsin, meine Familie, mein Vater, meine Mutter, meine Heimatstadt, mein bester Freund von der Highschool, seine Mutter, dieses scheußliche besetzte Haus, die Sehnsucht nach den Jungs, die nicht einmal wussten, dass es mich gab, die Mädchen, die es wussten und die ich unabsichtlich verletzte, David, meine gestohlene Tasche, meine große Einsamkeit, das Gefühl, niemand könne mich je lieben.
Ich schlug auf Bobby ein, bis meine Hände anschwollen. Dann trat ich ihn.
Er wälzte sich auf dem Boden herum, gurgelnd vor Blut und Spucke. Das Mädchen sah zu. Gerade noch hatte sie es ihm besorgt, jetzt lag er in seiner ganzen Arroganz am Boden.
— Komm ruhig morgen zu Adeline, sagte ich. Dann weißt du, was dich erwartet.
Ich nahm die gelben Schuhe und schob dabei die Finger meiner linken Hand tief unter die Zungen. Auf den geschwollenen Knöcheln, wo die Haut geplatzt war, zeichneten sich Spuren meines eigenen Bluts ab.
Adeline wartete am Fuß der Treppe in verrenkter Haltung auf mich, das linke Bein um das rechte gelegt, die gebeugten Arme umeinandergeschlungen.
— Ich habe deine Schuhe, sagte ich.
Sie nahm sie mir ab. Ihre Augen wurden groß. Sie ließ die Schuhe fallen und nahm meine Hände.
— Hat Bobby dir das angetan?, fragte sie.
— Ich habe das Bobby angetan.
Adeline setzte sich auf die unterste Stufe und schnürte sich die Schuhe zu. Ich dachte daran, wie seltsam es war, dass es Schuhe überhaupt gab, dass wir in einer Welt mit Schuhen lebten und dass ihre beiden Aufgaben Mode und Schutz oft so gegensätzlich waren.
— Komm mit, sagte Adeline.
Sie lief eilig ins Erdgeschoss. An der Haustür warf ich noch einen Blick auf dieses Fleckchen Hölle auf dem Planeten Erde. Ich hatte mehrere Wisconsinwochen mit dem Traum verschwendet, es könne mein Zuhause werden.
— Viel Glück, ihr Schwachköpfe, rief ich in den leeren Flur hinein. Vergesst nicht, mir eine Postkarte zu schicken, ihr bescheuerten Idioten!
— Baby, sagte Adeline, du musst nicht theatralisch werden.
Zurück in der 12th Street brannten die Laternen nicht. Durch die vielen leeren Grundstücke und verlassenen Gebäude lernte ich eine neue Art von Dunkelheit kennen, eine städtische Dunkelheit. Ein Obdachloser stand neben einer Mülltonne aus Draht. Er füllte sie mit Schutt, den er eingesammelt hatte, aus einer Tasche kippte er Abfall in das offene Maul der Tonne.
— He, sprach ich ihn an, woher hast du die Tasche?
— Leck mich, sagte er.
— Kann ich sie kaufen?, fragte ich.
— Für dich fünf Mäuse, Dracula.
Ich drehte ihm den Rücken zu und zählte die Geldscheine ab. Adeline war weitergegangen, sie hatte nicht gemerkt, dass ich stehen geblieben war. Als ihr auffiel, dass ich nicht mehr neben ihr lief, kam sie zurück. Ein paar Schritte entfernt blieb sie stehen. Ich suchte die fünf Dollar zusammen und streckte sie ihm entgegen.
— Du zuerst, sagte ich. Keine Angst, ich ziehe dich nicht ab. Ich bin ein leichtes Opfer.
— Hier, nimm, sagte er.
Er warf mir die Tasche zu und riss mir das Geld aus der Hand.
— Wo hast du sie gefunden?, fragte ich.
— Mülleimer in der C, sagte er.
Von meinen Klamotten war nichts mehr in der Tasche, natürlich nicht. Frische Flecken zierten die Innen- und Außenseite, abgerundet von einem durchdringenden Uringeruch.
— Was zum Henker?, fragte Adeline. Was willst du mit diesem Ding?
— Meine Mutter hat mir die Tasche geschenkt, antwortete ich. Hast du eine Waschmaschine?
— Im dritten Stock steht eine Maschine für die Allgemeinheit, sagte sie.
Wir folgten dem Weg zurück, den ich zu David genommen hatte. An der Ecke der Second Avenue stand ein Theater. Auf dem Vordach las man: HAVE I GOT A GIRL FOR YOU! DAS FRANKENSTEIN-MUSICAL.
— Hast du das Stück gesehen?, fragte ich Adeline.
— Warum, schnaubte sie, sollte ich mir das wohl ansehen? Es ist vulgär, Baby. Aber weißt du was, ein Freund von einem Freund wohnt über dem Theater. Der Künstler David Wojnarowicz. Kennst du seine Arbeiten?
— Nein.
— Sie sind très düster, sagte sie.
Wir überquerten die Second Avenue. Auf dem nächsten Straßenabschnitt standen erstaunlich viele Frauen, einzeln, grell geschminkt und in unerhörten Kleidern. Einige von ihnen sprachen mit Männern, scheußlichen älteren Typen mit buschigen Augenbrauen.
— Wir haben gerade den Schleier einer Prostitutionszone durchquert, sagte Adeline. Die NYU baut an der Third Avenue ein Wohnheim. Die Bauarbeiten haben die Huren vertrieben. Auch eine Art Trickle-Down, Schätzchen.
Die Prostituierten hatten nichts Glamouröses an sich, und viele sahen sehr traurig aus, aber das hier entsprach schon eher dem New York meiner Träume. Dreckig und verwahrlost, aber nicht ganz so verzweifelt, so leer, so grausam wie Alphabet City. Prostituierte! Huren! Ich konnte es nicht fassen. Die funkelnden Pailletten an ihren Kleidern munterten mich auf, sie verliehen meinen Schritten neue Energie.
— Ist es noch weit?, fragte ich.
— Nicht mehr besonders, sagte sie.
— Adeline, fragte ich, hast du zu Hause etwas zu essen? Soll ich auf dem Weg was kaufen? Ich bin am Verhungern.
— Meine Mitbewohnerinnen bewahren immer ein paar Reste im Kühlschrank auf, sagte sie.
Wir kamen auf den Union Square. Ich wusste noch nicht, wie er hieß. Auf der Abkürzung durch den Park kamen wir an einer Reiterstatue von George Washington vorbei. Dem ersten Präsidenten fehlte sein Schwert. Und auch die Zügel. Seine geschlossene linke Hand war leer. Schwarze Sprühfarbe verunzierte den Sockel, zwei große, ballonartige Buchstaben: SD.
— Siehst du das Haus?, fragte Adeline. Sie zeigte auf das schmalste, höchste Gebäude an der westlichen Seite des Parks. Grünes Kupfer fasste das Dach ein. In jeder Etage gingen drei Fenster zum Park.
— Das ist mein Wohnheim, sagte Adeline. Nicht das ganze Ding. Der Parsons gehören nur der dritte bis siebte Stock. Ich wohne im fünften.
Am Haus angekommen, las ich die Worte, die in den marmornen Säulenvorbau gemeißelt waren. BANK OF THE METROPOLIS. Die Adresse lautete 31 Union Square West, direkt neben der 33, dem Gebäude, in dem Valerie Solanas Patronen Kaliber .32 in Andy Warhols exploding plastic inevitable-Oberkörper gefeuert hatte. Aber ich wusste nichts über Andy. Noch nicht.
Adeline ging durch die erste Tür und blieb im Vorraum stehen. Hinter einer Glasscheibe saß ein müder alter Mann an einem provisorischen Schreibtisch. Er tat nichts und sagte auch nichts. Er seufzte nur, drückte uns die zweite Tür auf, winkte Adeline herein und wandte sich dann wieder seinem Schwarzweißfernseher zu.
Die Eingangshalle war schmal und führte zu einer Treppe. Es gab zwei Fahrstühle. Wir nahmen den linken.
— Ich bin das erste Mal in einem Fahrstuhl, gestand ich.
— Wie findest du es, Baby?
— Im Fernsehen ist es schneller.
Ihre Wohnungstür führte in ein großes, angestaubtes Zimmer, halb Wohnzimmer, halb Küche. Der Herd war dreckig, verkrustet von jahrelangem achtlosem Braten und Kochen. Von einem kleinen Flur gingen das Badezimmer und zwei getrennte Schlafzimmer ab. Alle Wände waren kalkweiß gestrichen.
Adelines Zimmer war das erste im Flur. Das zweite Zimmer weiter hinten teilten sich zwei Mädchen aus Südkorea, Sun-Yoon und Jae-Hwa. Sie hatten sich amerikanische Namen zugelegt. Sally beziehungsweise Jane. Jane war die Aufgabe zugefallen, alles sauber zu halten, aber manche Wohnungen sind einfach zu alt. Sogar der Teppich schimmelte vor sich hin. Wie sollte ein Mädchen gegen Jahrzehnte städtischen Verfalls ankommen?
— Willkommen in 6B, sagte Adeline.
Wir betraten ihr winziges Zimmer. Der Boden bestand aus nacktem Linoleum. Die Wände hatte Adeline mit Bildern und Fotos vollgehängt. Promis, Modeaufnahmen, billige Drucke. Die Einkleidung der Braut von Max Ernst als Poster. Ich erkannte das Bild nicht. Ein anderes Poster kündigte Auftritte von Siouxsie and the Banshees im Hollywood Palladium am 6. und 7. Juni an. Um das Fenster war eine Weihnachtslichterkette getackert, die sanftes Licht verströmte.
Mitten im Zimmer ragte eine Leiter gute drei Meter in die Höhe, bevor sie in einem dunklen, länglichen Rechteck verschwand. Ich kletterte hinauf und streckte den Kopf durch das Loch. Die Decke hing knapp einen Meter über mir. Zu beiden Seiten waren Einzelmatratzen ohne Untergestell in grobe Holzrahmen gebettet.
Es gab Menschen, die so lebten, die drei Meter über dem Boden schliefen.
— Stell deine Tasche ab, sagte Adeline. Wir suchen etwas zu essen für dich.
Ich pflanzte mich auf das marode Sofa im Gemeinschaftsbereich und sah ihr zu, während sie Aufschnitt auf äußerst fragwürdiges Brot klatschte. Mir fielen die rissigen Ränder ihrer Zehennägel und der abgesplitterte schwarze Nagellack auf.
Sun-Yoon kam aus ihrem Zimmer.
— Sally, sagte Adeline, das ist mein Freund Baby.
— Hallo, sagte ich.
Sun-Yoon antwortete nicht. Die Senfflasche furzte feucht.
— Baby wird ein kleines Weilchen bei uns wohnen, bis er auf eigenen Füßen steht. Er ist heute aus Wisconsin hier angekommen.
— Hallo, sagte Sun-Yoon. Sie schloss die Badezimmertür hinter sich und drehte die Dusche an.
— Sun-Yoons Essen ist das einzig heilige Gut in dieser Wohnung, sagte Adeline. Sie und Jane beklagen sich ständig bei der Wohnheimleitung über meine Beutezüge.
Als ich auf den Kissen in Adelines Zimmer saß und mich vollstopfte, fiel mir auf, dass ich seit der Busfahrt noch nichts gegessen hatte. Adeline gab mir eine Tasse.
— Was ist das?, fragte ich.
— Das ist Schnaps, Baby, was sonst?
Ich stürzte ihn herunter wie Coca-Cola, und er brannte mir in der Kehle. Alkohol fängt schnell an zu wirken, aber ich weiß nie, wann er richtig zuschlägt. Ich konnte gar nicht fassen, wie winzig ihr Zimmer war. Weil es keine Regale für die Kleidung gab, hatte die Parsons eine Hängegarderobe zur Verfügung gestellt. Zusammen mit dem schäbigen Schreibtisch belegte sie das halbe Zimmer mit Beschlag.
Die Garderobe ließ mich schaudern.
Wir redeten und redeten und redeten.
Adeline erzählte, sie sei aus Pasadena, einer Stadt in der Nähe von Los Angeles. Ich fragte, ob ihre Familie im Filmgeschäft sei. Sie schnaubte abfällig und sagte nein, ihr Vater sei ein angesehener Zahnarzt und Kieferchirurg gewesen. Er hatte kräftig und auch klug in Immobilien investiert. Einige seiner Patienten seien berühmt gewesen. Mit einem leisen Kreischen fragte ich, wen er behandelt habe, aber Adeline fiel nur noch ein, dass ihr Vater einmal dem zweifachen Oscarpreisträger Jason Robards den linken unteren Schneidezahn überkront hatte. Daran erinnerte sie sich, weil ihr Vater ein paar Tage später in seiner Praxis tot umgefallen war, als Opfer eines geplatzten Herzens, und Adeline mit ihrer Mutter allein zurückgelassen hatte.
— Letzten Monat bin ich Mr Robards über den Weg gelaufen, sagte Adeline. Er lebt auf dem Land in Connecticut. Er hatte keinen Schimmer, wer ich war, aber ich habe ihm von Daddy erzählt. Es tat ihm so leid, dass er mich im Serendipity zu einem Eis eingeladen hat. Es war wirklich kitschig.
Nach dem Tod ihres Mannes hatte Adelines Mutter ihre Trauer durch eine wilde Phase voller Ausschweifungen sublimiert. Ich drängte auf Details, weil ich neugierig darauf war, welch dekadenten Dingen eine Frau in mittleren Jahren wohl frönen würde, aber Adeline sträubte sich und meinte, das sei Schnee von gestern. Erst vor kurzem sei ihre Mutter zur Ruhe gekommen und habe sich in einer Phase des tröstlichen, benebelten Alkoholismus eingerichtet.
— Mutter ist eine ganz umgängliche Schnapsdrossel geworden, sagte Adeline, ganz ähnlich wie Myrna Loy im Dünnen Mann. Nur ist Mutter viel älter als Myrna, als Myrna mit William Powell um die Häuser gezogen ist. Es ist ein wenig armselig.
— Warum teilst du dir das Zimmer nicht mit jemandem?
— Mutter und ich haben uns verschworen, sagte sie. Ich habe Dr. Jacobs besucht. Mutters Analytiker. Ich habe Dr. Jacobs gesagt, ich würde völlig wahnsinnig werden, wenn ich mir das Zimmer teilen müsste. Der gute Doktor hat mir eine Bescheinigung ausgestellt, ich würde an nicht näher beschriebenen psychischen Problemen leiden und müsse unbedingt allein wohnen.
Weil ich mich schämte, dass ich selbst keine guten Geschichten vorzuweisen hatte, keine wilden Exzesse, erzählte ich vom Land. Vom tristen Leben im Herzen des amerikanischen Kontinents. Adeline machte auf mich den Eindruck, dass sie nur Kalifornien und New York kannte, dass sie das weite Nichts Amerikas immer übersprungen und noch nie in die stupiden, offenen Gesichter der Menschen dieses Landes geblickt hatte.
Durch ihr Fenster erhaschte ich meinen ersten Blick auf eine New Yorker Morgendämmerung, wenn der Himmel heller wird und der Erde alle Farbe entzieht. Adeline zog das billige Kunststoffrollo herunter, nur noch die unzeitgemäße Weihnachtsbeleuchtung schimmerte.
— Und jetzt ab ins Bett, sagte sie.
— Adeline, fragte ich, warum hast du mich zu dir eingeladen?
— Weil du ein Seemann ohne Anlaufhafen bist.
— Aber du erwartest nichts, oder?
— Was sollte ich erwarten?
— Du weißt schon, sagte ich.
Sie beugte sich vor. Ich erstarrte vor lauter Angst, sie könnte das als Anmache aufgefasst haben. Ich wollte nicht rausgeworfen werden, nicht jetzt, nicht, nachdem sie so nett gewesen war.
— Baby, fragte sie, bevorzugst du nicht Männer?
Meine Tasche stand noch auf dem Linoleumboden neben ihren gelben Schuhen. Eine Menge guter Klamotten in dieser Tasche.
— Ja, sagte ich.
Zum ersten Mal hatte ich es laut ausgesprochen.
— Warum sollte ich dann etwas erwarten?
— Aber woher weißt du das?
— Du verstellst dich ganz gut, sagte Adeline, aber hier kannst du dich nicht verstecken. Diese Stadt ist schwuler als ein Regenbogenflokati. Nimm das Gästebett, und morgen schneiden wir dir die Haare und suchen dir annehmbare Kleidung.
— Was ist mit meinen Haaren nicht in Ordnung?, fragte ich, aber Adeline stieg die Leiter hinauf, ohne zu antworten.
Baby lernt das eine oder andere über das Leben in New York
Am nächsten Morgen zog Adeline das Rollo hoch, und ich sah auf das Mays und die anderen Läden am südlichen Rand des Parks. Die Zeckendorf Towers wuchsen in die Höhe.
Übrigens bekam ich wirklich einen neuen Haarschnitt. Adeline schwang höchstpersönlich die Schere. Jahrelang hatte ich mich unter einem Topfschnitt versteckt und den anständigen Jungen aus der Pampa gegeben. Adeline schnippelte die blonde Matte ab und beförderte meinen Knochenbau und überhaupt meine Kopfform zutage.
Für meine Kleidung pilgerten wir durch das Haus und nahmen die Almosen der Modestudenten an. Diese Spenden brachten mich durch die ersten Tage, bis Adeline am folgenden Montag mit mehreren großen Tüten in die Wohnung rauschte und behauptete, sie sei bei der Heilsarmee in der Fourth Avenue gewesen. Ich sah die zu sauberen Hemden und Hosen durch und bemerkte stumm, dass jemand vergessen hatte, die Preisschilder von Macy’s und Saks zu entfernen.
Vor sechs Tagen war ich noch ein langbeiniger Hinterwäldler gewesen, ein Landei, frisch von der Farm. Jetzt sah ich mich im Spiegel mit neuen Klamotten und einem knackigen Haarschnitt. Ich war umwerfend sexy. Und ganz eindeutig schwul. Das sah ich schon an meinen Lippen und dem Haaransatz, an den straffen Gesichtsmuskeln. Gott, wieso hatte ich gedacht, ich könnte mich verstecken? Ich war der totale Homo.
Wir sprachen nicht mehr über den Jungen, den Adeline aus einem besetzten Haus in Alphabet City gerettet hatte, den Kleinen, der zur persona non grata verblasst war, es fiel kein weiteres Wort über ihn, wie bei einem geistig zurückgebliebenen Cousin, den man in viktorianischen Zeiten in einer Anstalt auf dem Lande versteckt hatte.
Wochen verstrichen. Ich lief durch New York, und seine fieberhafte Energie drang mir bis in die Knochen. Der Gehweg vibrierte, Milliarden von Schritten hallten nach, von Jahrhunderten, in denen die Menschen die Straßen entlanggegangen waren, die Stadt pulsierte durch den unregelmäßigen Herzschlag von Millionen Autos und Lieferwagen, durch ihre laut rufenden Fußgänger, die Verkäufer und Betrüger. Der Lärm und Tumult infizierten mein Blut, veränderten meinen Gang. Das Schwerfällige war verschwunden, jetzt bewegte ich mich geschmeidig und schnell wie ein Schatten.
Ich ging immer mit, wenn Adeline mich fragte. Ich sagte nie nein. Vernissagen, Kinos, manchmal Museen. Ich erinnere mich noch an einen Film, den wir zusammen gesehen haben, Peggy Sue hat geheiratet im Quad Cinema, ein schmalziger Fantasyfilm von Francis Ford Coppola über eine Frau, die das fünfundzwanzigjährige Klassentreffen ihrer Highschool besucht.
Wie es dann immer so ist, wird Peggy Sue zur Königin der Veranstaltung gewählt. Bei ihrer Krönung bekommt sie einen Panikanfall, wird ohnmächtig und gleitet in die Dunkelheit ab. Als Peggy Sue wieder zu Bewusstsein kommt, findet sie sich in ihrer eigenen Vergangenheit wieder, gefangen in der Highschool und dazu verdammt, die Miseren ihrer Jugend noch einmal zu durchleben.
Am Anfang des Films ist Peggy Sue mit einiger Verspätung erwachsen geworden und beschließt, ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen und sich von ihrem untreuen Mann scheiden zu lassen. Bis zum Abspann hat sie sich den Demütigungen der Teenagerzeit unterworfen, weil der Scharfsinn einer erwachsenen Frau nicht vor den bescheuerten Fehlern der Jugend schützt. Peggy Sue fällt in ihre alte mädchenhafte Rolle zurück, wacht in der Gegenwart auf und hält ihrem Mann weiter die Stange. Adeline fand die Auflösung fürchterlich, sie meinte, sie sei antifeministisch, aber für mich war die Grundidee der eigentliche Horror, diese Vorstellung, das Universum könnte einem das Leben einfach so wegnehmen und einen in die Vergangenheit zurückzwingen.
Außerdem sahen wir uns Der Pate im Film Forum an der Ecke Watts Street und Sixth Ave. an, eine langschweifige Lederphantasie von dem gleichen Regisseur. Die Handlung ist ziemlich schlicht. Marlon Brando, der Urtyp des Biker-Sahneteilchens, herrscht über die Corleones, eine Familie von Klemmbrüdern. Marlons böse Jungs unterstehen dem Ältesten, dem ultramaskulinen und haarigen James Caan, der es auf dem ganzen Familienanwesen wie ein brünstiger Bulle treibt. Al Pacino geht bei diesem Lifestyle einer ab, nachdem ihm ein angegrauter Polizeichef Respekt vor der Peitsche beibringt. Al dreht völlig ab und macht jede Schlampe fertig, die ihm vor die Nase kommt. Der Film ist um Längen besser als Peggy Sue hat geheiratet.
Adeline kannte jeden und wurde zu zahllosen Partys eingeladen. Im East Village, im West Village, in Greenwich Village, Alphabet City, SoHo, der Upper East Side, Battery Park, sogar in den Randgebieten von New York. Wir besuchten alle.
Die einzigen Partys, die mir nicht gefielen, waren die von Leuten an der Parsons. Adeline konnte sich nicht zurückhalten. Sobald sie einen schwulen Kommilitonen traf, steckte sie uns zusammen.
— Aber, Baby, ihr beide habt so viele Gemeinsamkeiten. Überleg nur, worüber ihr reden könnt!
Ja, haben wir, dachte ich dann, aber ich konnte nicht, nicht so richtig, wenigstens damals nicht. Außerdem – bei einer Party? Wer will denn mit jemandem schlafen, den er bei einer Party kennengelernt hat?
Die Frage konnte ich mir sparen, Adeline lieferte die Antwort auch so. Unsere Partybesuche begründete Adeline unweigerlich mit ihrem Wunsch nach geeigneten Bettgenossen. In Wahrheit flirtete und tanzte sie stundenlang, schlief aber kaum mal mit jemandem. Was mich über den Unterschied zwischen der Vorstellung, die man von sich selbst hat, und dem, wie man wirklich ist, nachdenken ließ, über die große Kluft zwischen den Zielen der Menschen und den tiefen Macken in ihrer Persönlichkeit, die sich nicht glatthobeln lassen.
Wenige Glückliche nahmen alle Hürden und bekamen die Chance, sich in die Mysterien von Adelines Körperöffnungen zu versenken. Ich landete dann auf dem Sofa im Gemeinschaftszimmer.
Als Überlebensstrategie freundete ich mich mit Sally und Jane an. Jedenfalls versuchte ich es. Jane wurde nie mit mir warm, auch wenn sie meine vergeblichen Versuche zu schätzen wusste, mit ihr die Wohnung auf Vordermann zu bringen. Sally und ich verstanden uns trotz der Sprachbarriere gut, und sie gab mir oft etwas zu essen. Keine von beiden beschwerte sich bei der Wohnheimverwaltung.
Der ausdauerndste von Adelines jungen Männern behauptete, er käme aus Santiago, und sprach mit einem dicken Akzent, aber einmal lief ich mit ihm durch den Park zu einem Deli, um Limo zu kaufen. An der Kasse arbeitete ein junger Mexikaner. Er versuchte, sich mit dem Typen aus Santiago zu unterhalten. En Español. Und es kam nichts, nicht mal eine Antwort, der Typ aus Santiago bekam nur einen glasigen Blick, er erkannte die Sprache nicht.
Auf dem Rückweg plapperte Adelines Lustknabe in einem fort über Baseball, über die Mets, die er seit der World Series liebte, über Bill Buckner, das himmlische Geschenk von Tío Dios. Ich überlegte, Adeline etwas zu sagen, aber wozu der Ärger? In ein paar Wochen würde er sowieso verschwunden sein.
Ich selbst war zu spießig, zu rückschrittlich für echte Promiskuität. Ich nahm an, das würde noch kommen, irgendwie, wahrscheinlich, aber ich hatte meinen Wunsch nach anderen Männern und ihren Körpern gerade erst zugegeben. Vor meinem geistigen Auge ragten Jahrzehnte erigierter Schwänze auf. Noch genoss ich einfache Freuden. Ich war Adelines linkischer Freund, der stille Typ, der neben ihr stand, während sie vor ihren Kommilitonen Jeff Koons verriss. Es genügte mir, ihre prächtigen Körper zu betrachten, ihren banalen Gesprächen zuzuhören, all das Wunderbare zu genießen.
Ich labte mich an der Menschheit, an den einzelnen Menschen.
Etwa an dem Mann im zehnten Stock. Allein mit diesem herrlichen Wesen können wir New York City im Jahre des Herrn 1986 beschreiben.
Seine Erscheinung? Stattlich, nicht dick. Groß, graumelierter Kinnbart. War oft mit einem albernen Fedora zu sehen. Gelegentlich erspähte ich ihn, meist im Fahrstuhl, aber ich maß ihm nie übermäßige Bedeutung bei. Er wirkte wie einer der vielen Erwachsenen, die sich mit dem unglückseligen Umstand herumschlugen, dass vier Etagen ihres Apartmenthauses von einer Invasion zugedröhnter, liederlicher Collegestudenten belegt waren.
Und dann zeigte Adeline eines Tages auf ihn, als er unter dem Säulenvorbau hervorkam. Sie flüsterte:
— Siehst du den Mann da? Das ist Thomas M. Disch. Seine Bücher wirst du nicht kennen. Soweit ich es verstanden habe, schreibt er Science-Fiction. Was ziemlich schauderhaftes Zeug ist, meinst du nicht auch? Roboter und Raumschiffe.
Science-Fiction.
Zu den vielen Fehlern meines Vaters hatte seine lebenslange Hingabe zu diesem Genre gehört. Stapelweise vergammelnde Taschenbücher in der Scheune, vergilbte Bände, die ich lesen sollte. Ich weigerte mich. Das höchste der Gefühle war für mich Der Herr der Ringe. Was ihm, ehrlich gesagt, das Herz brach, weil der alte Mann ein Hardliner war und die Genres strikt trennte.
In einem Jahr ließ er seine Familie sitzen und fuhr zur MiniCon, einer Science-Fiction-Convention in Minneapolis. Ein Autor namens Spider Robinson war dort Ehrengast. Mein Vater liebte Robinsons Bücher, die, soweit ich wusste, alle in einem lasterhaften Saloon irgendwo im Weltall spielten. Als der alte Mann wieder zu Hause war, erzählte er bis zum Erbrechen, was er erlebt hatte. Von den Autoren, die er getroffen hatte, den Büchern, die sie signiert hatten, den Podiumsgesprächen, die er besucht hatte. Es kam uns zu den Ohren raus. Spider Robinson ist ein völlig bescheuerter Name.
Ich begann, bei einsamen Wachen Ausschau nach Thomas M. Disch zu halten, nur weil ich mir einbildete, ich hätte seine Bücher in der Sammlung meines Vaters gesehen. Aber das war sicher Wunschdenken, und ich verwechselte sie mit Bänden von Gordon R. Dickson, weil ich auf eine Art von Verbindung zu meinem fernen, toten Vater hoffte.
Ich sah Thomas M. Disch drei- oder vier-, vielleicht auch fünfmal. Bei einer dieser Gelegenheiten schrien er und ein anderer Mann sich heftig an. Den anderen Mann hatte ich häufiger als Thomas M. Disch in unserem Haus gesehen. Ihren Stimmen und ihrer Körperhaltung entnahm ich, dass sie sich auf die gleiche verwickelte Art stritten wie meine Eltern an den öden Abenden, wenn das Fernsehprogramm nichts hergab und ihre Aufmerksamkeit auch sonst kein anderes Ventil fand.
Ein Streit unter Liebenden. So war das also. Ein schwuler Science-Fiction-Autor, der direkt am Union Square wohnte. Mit einem festen Freund. Jetzt wollte ich wirklich mit Thomas M. Disch reden, jetzt ging es weit über meinen Vater hinaus. Ich hätte Thomas M. Disch am liebsten im Fahrstuhl aufgelauert und ihn gefragt: Wie? Wie? WIE? WIE?
Wie leben Sie so, wie haben Sie das gelernt, wie sind Sie ein schwuler Mann geworden, der über Roboter schreibt? Wie schaffen Sie das mit Ihrem Geliebten?
Aber ich war zu schüchtern.
Ich tat das Nächstbeste und ging zur Ecke 12th Street und Broadway, zu dem Buchladen, den ich an meinem ersten Abend in der Stadt gesehen hatte. Über den Schaufenstern hingen lange, rechteckige rote Schilder mit weißen Blockbuchstaben: STRAND BOOK STORE. 13 KILOMETER BÜCHER. Auf diesen Schildern waren kleinere weiße Felder mit schwarzer Schrift: ANKAUF GANZER BIBLIOTHEKEN und GEBRAUCHT SELTEN NEU.
Als ich auf der anderen Straßenseite stand und den Laden betrachtete, fuhr ein kleiner Mann auf seinem dreckigen Fahrrad vorbei, mit einem Ghettoblaster in dem Drahtkorb am Lenker. Blecherne Musik übertönte den Autolärm: Yeah, heard about your Polaroids / that’s what I call obscene / tricks with fruit / it’s kind of cute / I bet you keep the pussy clean.
Ich habe eine komplexe Theorie darüber entwickelt, dass der Strand auf eine unerklärliche Art als Mikrokosmos das größere gesellschaftliche Miteinander der Stadt widerspiegelt. In den letzten Jahren wurde der Laden renoviert, er ist so penibel sauber wie das Zimmer eines Kleinkinds und hat eine zweite Etage dazubekommen. Im Vergleich dazu ist Patti Smith in den Siebzigern hier verhungert.
86 war der Laden eine ausgemachte Katastrophe, chaotisch, ramponiert und insgesamt am Arsch. Wenn man durch die einzige Tür hereinkam, musste man gleich rechts seine Tasche abgeben. Dort saß an einem schäbigen Schreibtisch, umgeben von stümperhaft gearbeiteten Holzfächern, der unfreundlichste Mensch im ganzen Haus. Hatte man es an diesem modernen Zerberus vorbeigeschafft, konnte man sich im vollgestopften Erdgeschoss verlieren, unter grünen Neonlampen umherwandern, sich Bücher ansehen, die in Regale aus Holz und grauem Metall gestopft waren, willkürlich unterschieden nach »Romane« und »Literatur«. Der Keller war ein Labyrinth aus gebundenen Leseexemplaren zum halben Preis und dem ganzen anderen seltsamen Zeug, das nicht mehr ins Erdgeschoss passte.
Ganz hinten im Erdgeschoss, zwischen Romanen und Soziologie, steckte eine magere Science-Fiction-Abteilung. Größtenteils Taschenbücher ohne ersichtliche Ordnung, überflüssiger Müll, den man nur für den Fall angeschafft hatte, dass doch mal irgendein Versager auf der Suche nach einer Dröhnung schwuler Elfen und Weltraumoper hereinspazierte.
So wie ich. Ich war dieser Versager.
Zwischen Mercedes Lackey und Ted Sturgeon gequetscht fand ich eine Neuauflage von Thomas M. Dischs Camp Concentration aus den frühen Siebzigern. Unter dem Titel und dem Werbespruch DER AM MEISTEN GEFEIERTE SCIENCE-FICTION-ROMAN DER LETZTEN JAHRE war mit grobem Strich der nackte Oberkörper eines Mannes gemalt, der sich mit den eigenen Händen den Bauch aufzog.
Der Preis war mit Bleistift auf die Innenseite des Deckels geschrieben. 2 $. Ich schlängelte mich an Yuppies vorbei, die an den Büchertischen herumlungerten, und ging mit dem Roman zur Kasse, einer langen Theke parallel zum Broadway.
— Nächster!, rief ein Mädchen mit roten Haaren.
Ich gab ihr das Buch, sie warf einen Blick darauf und lachte.
— Sieht ja sagenhaft aus, sagte sie.
— Das ist für einen Freund, sagte ich. Ich lese lieber Hemingway.
— Ja, sicher, sagte sie. Das macht zwei Dollar siebzehn.
Adeline unterweist Baby in Sachen Marihuana, dem weltlichen Sakrament Kaliforniens
In Wisconsin behaupteten alle ständig, sie würden kiffen, aber dass jemand Gras hatte, hatte ich höchstens bei Fahrten zu Laufwettkämpfen mit Übernachtung gesehen. Ich war schon mal high gewesen, bevor ich nach New York gekommen war, aber nie richtig breit, ich hatte nie erlebt, wie sich die Zeit dehnt und zusammenzieht, wenn man mehrere Wochen lang Gras raucht.
Adeline dagegen kam aus Kalifornien. Sie war mit Marihuana als weltlichem Sakrament aufgewachsen. In Pasadena, in Los Angeles, im ganzen Golden State gehörte Gras beinahe zum guten Ton. Adeline hatte an ihrer lächerlichen privaten Highschool vier bekiffte Jahre verbracht. Am College hatte sie nicht viel geraucht. Sie sagte, Gras sei keine besonders interessante Droge, sie bevorzuge Halluzinogene und Stimulanzien.
Doch dann irgendwann, zu guter Letzt und ohne Hilfe in Sicht war Adeline bei einer Hausarbeit mit ihrem Latein am Ende.
— Es ist scheußlich, Baby. Ich langweile mich. Bei diesem Unsinn geht es um die französische Theorie.
Sie verschwendete Stunden damit, auf ihr leeres Blatt zu starren und mit ihren Kohlestiften zu spielen, aber sie brachte nicht eine Linie aufs Blatt, nicht einmal einen Schmierfleck. Dann riss sie die Hände hoch und verkündete ihren Plan. Sie würde kiffen und zeichnen, was immer ihr einfiel. Selbst, wenn sie in benebeltem Zustand nur schlechte Qualität zustande brachte, wäre das immer noch besser, als mit leeren Händen hinzugehen.
— Diese Frau würde es nicht wagen, eine fertige Arbeit mit mangelhaft zu bewerten, sagte Adeline. Sie ging und kam zwanzig Minuten später wieder.
— Hast du es?, fragte ich. Mir war peinlich, wie aufgeregt ich klang.
— Was glaubst du, was ich gemacht habe?
— Kann ich es sehen?
Sie holte zwei Unzen hervor. Skunk, aber das wusste ich nicht.
— Sollen wir?, fragte sie.
Ich nickte.
— Ich habe im Deli ZigZag-Blättchen geholt, sagte sie. Ist es nicht schrecklich, dass wir beim ersten Anzeichen von Problemen in unsere Kindheit zurückfallen?
Sie leitete mich an, als ich inhalierte, redete mir gut zu, als der Rauch meine Lungen erreichte und ich husten musste, und sorgte für einen sanften Einstieg. Wir rollten uns lachend auf dem dreckigen Teppich herum. Meine Haut kribbelte, als würden Tausende Q-Tips aus Metall in meinem nachgiebigen Fleisch vor und zurück federn.
— Musst du nicht noch arbeiten?
— Ach, das. Ha ha ha ha. Na, na. Ach, das. Ha ha! Ich zeichne ein paar Porträts von Bela Lugosi.
— Wer ist Bela Lugosi?
— Oh, Baby, er ist Dracula. Umhang und spitze Zähne? 1931? Universal Pictures? Mit Tod Browning als Regisseur? Trinkt keinen Wein? Du bist so unwissend, Schätzchen, dass du ein wahrer Banause bist!
— Ist das die Aufgabe?
— Scheiß auf meine Dozentin und scheiß auf die Aufgabe.
Ihre Hand fuhr über das Papier und hinterließ dunkle, verschmierte Flecken und schroffe Linien.
— Einige Buchhandlungen am Hollywood Boulevard sind ganz auf Cineasten zugeschnitten. Larry Edmunds, Pickwick, Book City. Da findest du zahllose Publikationen über das Kino. In Pasadena habe ich eine ansehnliche Bibliothek. Das Goldene Zeitalter des Films ist in Los Angeles immer noch zu finden, auch unter all dem Unrat, man muss nur wissen, wo man suchen muss.
Ich konnte in Adelines Zeichnungen keine Formen erkennen, aber unwillkürlich starrte ich auf sie und durch sie hindurch und ließ meine Gedanken frei schwingen.
— Warum redest du so?, fragte ich.
— Was meinst du bloß?
— Du redest wie jemand aus der Vergangenheit. Aber du kannst die Vergangenheit nicht wiederholen.
— Man kann die Vergangenheit nicht wiederholen? Natürlich kann man das. Ach, Baby, ich bin durch und durch eine Schwindlerin. Mein Akzent ist ebenso antrainiert wie deiner. Das ist reine Unsicherheit, Schätzchen.
Sally kam aus ihrem Zimmer. Wir brachen in lautes Lachen aus.
— War er wirklich aus Santiago?
— Zumindest hat er es behauptet.
— An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen.
— Was soll das bedeuten?, fragte Adeline.
— Das hat mal jemand gesagt, antwortete ich.
Adeline fertigte zehn Zeichnungen von Bela Lugosi an. Ich schlief halbverhungert ein, zu high, um die Leiter hinunterzuklettern. Am nächsten Morgen war Adeline zu ihrem Seminar verschwunden. Ich hockte nur im Zimmer. Mir ging mit Riesenschritten das Geld aus, und bald würde ich mir einen Job suchen müssen. Schon bei der Vorstellung wurde mir übel.
Nachmittags gegen drei marschierte Adeline siegesstolz herein.
— Die Belas sind hervorragend angekommen, sagte sie. Ich vermute, dass sie mir die beste Note des Semesters bescheren.