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Eine intensive Kurzgeschichte von Lena Gorelik: Jahrelang haben sich Franziska und Matze nicht gesehen. Als Nachbarskinder waren sie eng befreundet. Doch dann passierte etwas mit Matzes Bruder, der krank war und im Rollstuhl saß, etwas, an dem Franziska und Matze schuld waren. Nie haben sie darüber gesprochen, die Freundschaft ging danach zu Ende. Und jetzt treffen die beiden sich wieder, am elterlichen Gartenzaun, wie früher immer. Sie wissen erst nicht, was sie sagen sollen, und kommen dann doch ins Reden …
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Seitenzahl: 30
Lena Gorelik
Unter dem Baumhaus
Erzählung
Ihr Verlagsname
Eine intensive Kurzgeschichte von Lena Gorelik: Jahrelang haben sich Franziska und Matze nicht gesehen. Als Nachbarskinder waren sie eng befreundet. Doch dann passierte etwas mit Matzes Bruder, der krank war und im Rollstuhl saß, etwas, an dem Franziska und Matze schuld waren.
Nach Jahren des Nichtsehens sahen sie sich an dem Tag zwischen den beiden Beerdigungen wieder. Am Zaun war es, sie standen sich gegenüber und mussten beide grinsen, und hätte man sie oder ihn in den Jahren des Nichtsehens gefragt, wo sie sich wiederzusehen gedachten, so hätten beide gleichermaßen erwidert: am Zaun, wo denn sonst. Ein grüner Maschendrahtzaun, dessen Farbe schon lange abblätterte, und unter den sie vor viel zu vielen Jahren an einer Stelle eine tiefe Grube gegraben hatten: Man legte sich auf der einen Seite hinein, rollte sich einmal und stand auf der anderen Seite auf.
Es war einer jener Sommertage, an dem die Menschen im Allgemeinen mehr lächeln als sonst, der Himmel in diesem faulen, verblichen hellen Blau, ein einziges Wölkchen, die Luft warm, nicht zu heiß, Blumen, die ihre Blüten aus dem in der Sonne grün glitzernden Gras nach oben streckten. Man wollte, musste barfuß sein an einem solchen Tag. Franziska war fest entschlossen, den Sommertag als Sommertag zu nehmen und sich an diesem zu freuen, obwohl oder gerade deshalb, weil gestern war, was gestern war. Ihr Bruder Robert war gestern zu Grabe getragen worden, wie sie sagten, und sein Körper, so nahm sie an und versuchte sich diesen Vorgang vor Augen zu führen, hatte wahrscheinlich bereits zu verwesen begonnen. Sie stellte sich Gliedmaßen vor, die sich zu verändern begannen, Haut, die sich grünlich verfärbte, Venen und Adern, die immer dunkler wurden. Risse und Maden, die sich hinein und wieder nach außen fraßen. Diese Vorstellung übte eine ungemein beruhigende Wirkung auf Franziska aus, eine Feststellung, die sie immer für sich behalten sollte. Franziska hatte einen mit eierschalenfarbenem Leinen bespannten Liegestuhl in die Mitte des Gartens gezogen und sich die Zeitung ihres Vaters geholt. Zuvor hatte sie von einer alten Jeans, die sie im Schrank in ihrem Kinderzimmer gefunden hatte, die Hosenbeine so weit oben wie möglich abgeschnitten, weil sie in der Aufbruchseile keine kurze Hose eingepackt hatte. Während sie die Jeans mit der Küchenschere kürzte, überlegte sie, ob sie nicht ein T-Shirt von Robert anziehen sollte, das schwarze Doors-Shirt beispielsweise, das sie über dem Stuhl in seinem Zimmer hatte hängen sehen. Aber ihre Mutter saß an diesem Sommertag im Wintergarten, die Hände im Schoß gefaltet wie die Mona Lisa, aß nicht, trank kaum und sprach nicht, und Franziska hatte dem T-Shirt widerstanden, was irgendwie ein Liebesbeweis war. Nun lag sie, von einer Sonnenbrille beschirmt, im Licht.