Unter dem Polarlicht - Elisabeth Büchle - E-Book
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Unter dem Polarlicht E-Book

Elisabeth Büchle

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Beschreibung

Chiara verliert ausgerechnet zu Beginn der Adventszeit ihren Job. Entsprechend froh ist sie über den Auftrag, für einen berühmten Autor, der sich beide Hände gebrochen hat, sein neuestes Manuskript zu tippen. Hals über Kopf reist sie in die kanadischen Rocky Mountains, wo Florian Forster in einer einsamen Berghütte lebt. Dieser entpuppt sich als wortkarger Eigenbrötler. Die lebenslustige Chiara lässt sich durch seine schroffe Art nicht beeindrucken, sondern fordert ihn heraus, sich dem Leben zu stellen. Bald ist sie nicht nur von den Polarlichtern, der verschneiten Märchenlandschaft und dem Geheimnis der weißroten Zuckerstangen verzaubert ... Doch dann stoßen Chiaras Freunde aus Deutschland auf ein dunkles Geheimnis aus Florians Vergangenheit. Schwebt sie etwa in großer Gefahr?

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Seitenzahl: 265

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Über die Autorin

Elisabeth Büchle hat zahlreiche Bücher veröffentlicht und wurde für ihre Arbeit schon mehrfach ausgezeichnet. Ihr Markenzeichen ist die fesselnde Mischung aus gründlich recherchiertem historischem Hintergrund, abwechslungsreicher Handlung und einem guten Schuss Romantik – zuletzt wieder in dem spannenden Ägypten-Roman „Skarabäus und Schmetterling“. Mit ihrem Mann und fünf Kindern lebt sie im süddeutschen Raum.

www.elisabeth-buechle.de

© 2015 by Gerth Medien GmbH, Dillerberg 1, 35614 Asslar1. Auflage 2015ISBN 978-3-96122-017-5Umschlaggestaltung: Daniel EschnerUmschlagfoto: ShutterstockSatz: DTP Verlagsservice Apel, Wietzegerth.de

1. Kapitel

Die künstliche Beleuchtung des Büros im Bankgebäude surrte leise vor sich hin, während Chiara Kilians Finger der Tastatur ein schnelles Stakkato an Klackgeräuschen abverlangte. Die Frau auf dem Stuhl gegenüber rutschte unruhig umher. Sie hatte ihr Anliegen geschäftsmäßig und detailliert vorgetragen, doch nun verriet ihre Körpersprache ihre innere Aufregung.

Chiara lächelte die Eingabemaske mehr traurig als fröhlich an. Sie fand Noa Schochs Idee von einem Blumen-Geschenk-Bücher-Café in einem reinen Wohngebiet in Freiburg interessant, ahnte jedoch, dass die Finanzierung durch die Bank, bei der Chiara morgen genau ein halbes Jahr angestellt war, nicht zustande kommen würde. Mit ihren 22 Jahren war Noa noch ein Jahr jünger als Chiara und hatte bis auf eine gut durchdachte und bezaubernde Geschäftsidee keine Sicherheiten vorzuweisen.

Sie wollte der hübschen Rothaarigen gerade mitteilen, wie gering ihre Chancen waren, als es an der Tür klopfte. Einer der neuen Auszubildenden – ihr Namensgedächtnis verweigerte wieder einmal seinen Dienst – kam herein und sagte, ohne die Kundin zu beachten: „Frau Kilian, Sie werden von Herrn Meier erwartet.“

„Zwei Minuten, bitte“, erwiderte Chiara freundlich und warf Noa einen entschuldigenden Blick zu.

„Er sagte aber sofort!“, widersprach der Jugendliche und trat neben sie, als plane er, ihr den Drehstuhl unter dem Hintern wegzuziehen. „Ich kümmere mich so lange um …?“

„Frau Schoch“, brummte Chiara und stand auf. Dieser junge Mann würde es weit bringen, dessen war sie sich gewiss. „Entschuldigen Sie mich bitte. Ich bin gleich wieder für Sie da.“

Irritiert hastete sie die mit dunkelblauem Teppich belegte Metalltreppe in den zweiten Stock hinauf. Immerhin war es Thomas Meier gewesen, der bei ihrem Einstellungsgespräch mehrmals darauf hingewiesen hatte, dass die Kundschaft immer vorging, selbst wenn sie ihr Anliegen ablehnen mussten. Chiara klopfte kräftig an die Tür des Geschäftsführers.

„Ja!“, klang es zu ihr heraus, und sie trat ein.

„Herr Meier?“

„Setzen Sie sich.“

Chiara ließ sich gegenüber dem selbstbewussten Vierzigjährigen nieder, dessen schwarzes Haar an den Schläfen bereits ergraut war.

„Wir möchten Ihnen eine Erweiterung Ihres Horizonts ermöglichen“, begann der Mann und blätterte eine Mappe durch, auf der Chiaras Name stand. Erleichtert lehnte sie sich zurück. Vor zwei Wochen hatte sie sich für eine zusätzliche Qualifizierung beworben, und erfreulicherweise bekam sie diese nun wohl gewährt.

„Eine berufliche Neuorientierung, sozusagen“, sagte er, mehr wie zu sich selbst.

Chiara runzelte die Stirn. Das wiederum hörte sich weitaus weniger verlockend an. „Wie bitte?“, hakte sie nach. Nun war sie es, die unruhig auf dem Metallstuhl mit der viel zu dünnen Polsterung umherrutschte.

„Wir müssen leider einige Einsparungen vornehmen, Frau Kilian. Sie verstehen sicher, dass wir uns leichter von Neuzugängen trennen als von altgedienten Mitarbeitern höheren Alters und mit Familie, die auf dem Arbeitsmarkt wesentlich schlechter zu vermitteln sind. Sie mit Ihrem Ehrgeiz, den guten Referenzen und Ihrer jugendlichen Frische haben es da wesentlich leichter!“

Chiara zwang sich, ihre blauen Augen nicht vom Gesicht des Mannes hinter dem wuchtigen und eigentümlich leeren Schreibtisch abzuwenden. Nein, sie würde weder ihr Entsetzen zeigen noch einen Anflug von Tränen, wenngleich diese schon gefährlich nahe unter der Oberfläche lauerten. Sie ballte die Hände zu Fäusten, bohrte die Fingernägel in ihre Handflächen und hob die Augenbrauen. Natürlich verstand sie die Vorgehensweise, ebenso wie die Tatsache, dass ein langgedienter Angestellter vermutlich einen hohen Ausgleichsanspruch besaß. Sie hingegen war bis morgen Abend um 18:00 Uhr noch in der Probezeit.

„Wir entlassen Sie mit sofortiger Wirkung aus der Probezeit.“

„Gerade noch rechtzeitig vor der Zielgeraden!“, konterte Chiara mit beherrschter Stimme.

„Nun …“

Chiara erhob sich und streckte Meier, der durch ein Blinzeln seine Verunsicherung zeigte, die Hand entgegen, die er leicht perplex ergriff.

„Ich wünsche Ihnen eine gute Adventszeit und schöne Weihnachten“, sagte sie mit einem Lächeln, entzog ihm ihre Hand, drehte sich um und verließ aufrecht und mit festem Schritt das Büro. Wie in Trance schwebte sie die Stufen hinunter und betrat ihren Büroraum.

„Danke, wie auch immer Sie heißen!“, brummte sie den Lehrling an, der den Mund öffnete, unter ihrem Blick wieder schloss und das Weite suchte.

„Frau … Schoch, es tut mir leid, doch ich arbeite hier nicht länger.“

„Meine Güte!“ Noa sprang auf und presste bestürzt beide Hände auf ihren Mund. „Das … das tut mir aber sehr leid.“

„Ich weiß noch nicht, ob es mir leidtut“, erwiderte Chiara und warf einige persönliche Gegenstände in ihre überdimensional große Lederhandtasche. Sie unterbrach ihr eiliges Tun und wandte sich an die verwirrt an der Tür stehende jungen Frau: „Ich hätte Ihr Anliegen ohnehin ablehnen müssen. Zu meinem Bedauern übrigens, denn mir gefällt Ihre wunderschöne Idee. Ich hoffe, Sie finden eine Bank, die Ihnen einen Kredit gewährt, empfehle Ihnen jedoch, sich einen Verwandten als Bürgen zu suchen. Irgendjemand, der in einem finanziellen Engpass für Sie einstehen würde, denn sonst sieht es schlecht aus.“

„Ja, gut. Danke für den Tipp.“

Chiara nickte, zerrte den grauen Kurzmantel vom Bügel und ging auf die Tür zu. Noa ergriff sie am Unterarm. „Eine Entlassung so kurz vor Weihnachten ist schrecklich. Ach was, das ist immer schrecklich! Es tut mir sehr leid. Wenn ich Ihnen irgendwie helfen kann …?“

„Das ist lieb von Ihnen, aber ich fürchte, im Moment kann mir niemand helfen. Vielleicht ist es auch besser, wenn mir heute erst einmal alle Menschen aus dem Weg gehen.“

„Sie sind wütend? Das kann ich verstehen. Ich wünsche Ihnen alles Gute!“

„Danke, Ihnen auch! Begraben Sie bitte Ihre tolle Idee nicht vorschnell!“

„Das werde ich nicht!“

Chiara stürmte aus ihrem Büro und die Treppe hinunter. Wenig später verließ sie die Schalterhalle durch den Kundeneingang. Dröhnender Verkehrslärm, Abgasgestank, Nieselregen und eine unangenehme Kälte schlugen ihr entgegen. Eilig schlüpfte sie in den Mantel, knöpfte ihn aber nicht zu, sondern rannte blindlings weiter. Über Kreuzungen und vorbei an Geschäften, an denen bereits die ersten Weihnachtsdekorationen angebracht worden waren. Sie passierte eine der Brücken über die Dreisam und blieb schließlich vor dem Schaufenster eines Spielzeugladens stehen.

Wut, Scham und Entsetzen wechselten sich in wildem Spiel miteinander ab, begruben alles, was vielleicht Positives an der Sache zu finden sein könnte. Aufgewühlt betrachtete Chiara ihr leicht verzerrtes Spiegelbild. Ihr kurzes, fransig geschnittenes Haar war von der hohen Luftfeuchtigkeit eigentümlich platt an den Kopf gepresst, ihr offener Mantel konnte das Zuviel an Rundungen nicht verbergen, die vor allem da saßen, wo Frauen sie ungern sahen.

„Ganz prima, Pummelchen!“, sagte sie zu sich selbst.

„Unverschämtheit!“, fauchte eine Passantin sie an, die im gleichen Augenblick hinter ihr vorbeiging.

Chiara unterließ eine berichtigende Erklärung, war die Frau mit dem pinken Hütchen doch bereits einige Schritte entfernt.

Prüfend sah sie sich um und stellte wenig verwundert fest, dass sie unbewusst den Weg zur Wohnung ihrer besten Freundin eingeschlagen hatte. Ein Seufzen entrang sich ihrer Kehle: Mia lebte nicht mehr. Sie hatte im Januar einen Autounfall gehabt und war an den Folgen ihrer Verletzungen gestorben. Zurückgelassen hatte sie Patrick, ihren völlig am Boden zerstörten Ehemann, und Leo, den vierjährigen Sohn.

Chiara trottete weiter zwischen hoch aufragenden Wohnblocks hindurch und stand kurz darauf vor einer stabilen Holztür im kahlen und unfreundlichen Treppenhaus eines Mehrfamilienhauses. Zögernd trat sie von einem Bein auf das andere.

Durfte sie Patrick mit ihren Problemen belasten? Aber sie brauchte dringend jemanden, der ihr zuhörte, ohne sie gleich umarmen zu wollen, denn dann würden alle Dämme brechen, die sie in der vergangenen halben Stunde mühsam um ihre Seele aufgebaut hatte.

Irritiert schüttelte sie den Kopf. War es wirklich erst 30 Minuten her, seit der George Clooney-Verschnitt ihr auf äußerst bescheuerte Weise mitgeteilt hatte, dass sie entlassen war? „Berufliche Neuorientierung? Erweiterung des Horizonts“? Wieder ballte sie die Hände zu Fäusten.

Im gleichen Moment sprang die Wohnungstür vor ihr auf. Ein blonder Lockenkopf schaute sie mit großen braunen Augen an. Mias Augen, Mias blondes Haar. Lediglich die Locken hatte der Junge von seinem Vater.

„Leo? Du sollst doch nicht an die Tür gehen.“ Patricks Stimme klang wie von weit her.

„Du hast gesagt, ich darf nicht hingehen, wenn es klingelt. Es hat nicht geklingelt“, verkündete die Piepsstimme erstaunlich redegewandt und schlagfertig.

„Ich bin’s nur, Chiara!“, rief sie über Leo hinweg, ging dann in die Hocke und nahm den Jungen in die Arme. Für ihre mühsam aufrechterhaltene Selbstbeherrschung war dies jedoch die falsche Entscheidung, denn Leo schlang seine kindlich-runden Ärmchen um ihren Nacken und presste vertrauensvoll sein weiches Gesicht an ihre kalte Wange. Die Tränen drohten zu kullern, also ließ sie Leo schnell los, richtete sich auf und brauchte sehr lange dafür, die Tür ins Schloss zu drücken.

„Ich bin im Arbeitszimmer“, drang Patricks Stimme zur Wohnungstür vor.

Leo packte Chiara an der Hand und zog sie mit sich, als müsste er ihr den Weg zeigen. „Papa muss einen Adventskalender machen. Für einen Verlag. Aber das klappt nicht“, informierte der Kleine sie.

„Heute ist wohl der Tag des ‚Nichtklappens‘“, murmelte Chiara und brachte Leo damit zum Kichern. Sie lächelte. Jetzt gab es wenigstens einen Menschen, der etwas von ihrem und dem Frust seines Vaters hatte!

Patrick erschien im Türrahmen. Obwohl Chiara mit ihren 1,76 Metern nicht eben klein war, überragte er sie um einen ganzen Kopf und war dabei bemerkenswert schlank. Seine braunen Locken sahen wilder aus als gewöhnlich, der Dreitagebart und die dunklen Ringe unter den grünen Augen verdeutlichten, dass das Computer-Problem den selbstständigen Mediengestalter und Werbegrafiker nicht erst seit heute beschäftigte.

„Hi, Chiara.“

„Hallo, Patrick.“ Sie ließ zu, dass er sie flüchtig auf die Wange küsste, dabei versperrte er ihr den Weg in die Küche.

Entschlossen schob sie ihn beiseite. „Ich kenne das Schlachtfeld bereits, schon vergessen?“, fragte sie und verzog das Gesicht. „Okay, bis jetzt waren deine Computer-Probleme wohl nie älter als vierundzwanzig Stunden!?“

„Diese Website stammt nicht von mir. Der Verlag hat mich vor einer Woche angefragt, weil es Schwierigkeiten mit meinem Vorgänger gab.“

Energisch stellte Chiara ihre Tasche auf einen mit Kleidungsstücken und Zeitungen überladenen Küchenstuhl und streifte sich den Mantel ab, den Patrick ihr abnahm und an die Garderobe im Flur hängte.

„Ich kümmere mich darum. Wann hattet ihr zuletzt eine warme Mahlzeit?“, erkundigte sie sich über die Schulter hinweg und öffnete die Spülmaschine, auf der sich Berge von schmutzigen Gläsern, Plastikbechern und Tellern häuften, allerdings – bis auf einige Messer – kein Besteck.

Patricks Seufzen klang abgrundtief verzweifelt, sodass Chiara ihm ein aufmunterndes Lächeln schenkte. „Es bringt Leo nicht um, wenn er mal ein oder zwei Tage keine warme Mahlzeit zu sich nimmt.“

„Gestern hatten wir Pizza!“, erklärte der Knirps und ließ sich von Chiara einen Stapel sauberer Plastikbecher in die Hände drücken. Bereitwillig räumte er sie in den bodennahen Schrank. „Und heute Bebab.“

„Kebab“, verbesserte Patrick automatisch, während sein Blick sehnsüchtig zum Arbeitszimmer schweifte.

„Lecker!“, meinte Chiara und nickte dem großen Mann zu, dass er verschwinden solle.

„Du bist ein Engel.“

„Ein ziemlich ramponierter“, murmelte sie und zog den zweiten Spülmaschinenwagen heraus. Da sie nicht damit gerechnet hatte, dass Patrick ihre Worte verstanden hatte, schrak sie zusammen, als er fragte: „Ramponiert? Weshalb?“

Ohne den Blick von dem sauberen Geschirr abzuwenden, erzählte sie in knappen Worten, was geschehen war.

„Schei …“ Mit einem Blick auf seinen Sohn verschluckte Patrick den Rest. „Du kannst gern hier als Haushaltshilfe anfangen“, sagte er mit einem schiefen Lächeln.

„Wenn du nicht gerade einen extrem blöden Auftrag hast, bist du ein wesentlich gründlicherer Hausmann, als ich je eine Hausfee sein könnte. Bei dir würde ich die Probezeit nicht einmal eine Woche überstehen.“

„Chiara?“

„Hm?“

„Schau mich an.“

„Muss ich?“

„Ja.“

„Und wenn ich dann in Tränen ausbreche?“, fragte sie mit unsicherer Stimme.

„Nass aufwischen wäre auch mal wieder dran.“

„Blödmann!“ Chiara drehte sich um. Im Augenblick überwogen der Frust und die Wut ihre Niedergeschlagenheit.

„Ich kann nicht mehr so viele Aufträge annehmen wie … vor Mias Tod. Doch wenn ich dir irgendwie unter die Arme greifen soll – sag es!“

„Danke, aber ich besitze einige Rücklagen. Ich muss nur dem Schreiner absagen, den ich gebeten hatte, meine alte Bude auf Vordermann zu bringen.“

„Du hattest so große Pläne mit der Villa …“

„Die müssen jetzt eben warten.“

Patricks traurige grüne Augen sahen sie lange nachdenklich an. Dann wandte er sich ab und verschwand im Arbeitszimmer, wo kurz darauf das Klackern der Tastatur erklang. Genau das Geräusch, das Chiara gehört hatte, bevor ihre kleine Welt zusammengebrochen war.

Leo schmiegte sich an Chiara und atmete regelmäßig und tief. Er war noch während der Abendmahlzeit eingeschlafen. Liebevoll strich sie ihm mit dem Zeigefinger durch die vom Toben feuchten Locken.

Patrick, der eine Portion Spaghetti mit Lachs-Sahne-Soße nach der anderen verschlungen hatte, lehnte sich auf der knarrenden Küchenbank zurück und klopfte sich zufrieden den nicht vorhandenen Bauch.

Chiara verzog den Mund. Warum war das mit dem Gewicht so ungerecht verteilt? Sie nahm allein vom bloßen Anschauen der Sahnesoße schon zu, Patrick verdrückte sie literweise und nichts blieb als Pölsterchen irgendwo hängen.

Sie atmete tief durch. Weshalb machte ihr ihre aus den Fugen geratene Figur heute nur solche Probleme? Weil sie entlassen worden war? Verbrüderten sich in ihrem Kopf gerade diese zwei bedrohlichen Monster, um sie gemeinsam anzugreifen? So empfindlich hatte sie lange nicht mehr reagiert!

„Danke fürs Aufräumen und Durchputzen, fürs Kochen und für deine Gesellschaft. Leo immerzu wegschicken und vertrösten zu müssen tut mir weh.“

„Womöglich macht es dir mehr zu schaffen als ihm?“

„Normalerweise habe ich Zeit für ihn, wenn er aus dem Kindergarten kommt. Aber gestern und heute …“

„Deine jetzige Situation ist doch kein Dauerzustand. Sobald du das Problem gelöst hast, wirst du wieder mehr Zeit für ihn erübrigen können.“

Patrick nickte, aber Chiara sah ihm an, dass seine Sorgen nicht gelindert waren.

„Wir sind so ein Gespann“, brummte sie. „Ertrinken beide in unseren Selbstvorwürfen und dem negativen Bild, das wir von uns zeichnen.“

Patrick streckte sich und stand dann auf. „Komm, wir packen den Knirps ins Auto, und ich fahre dich nach Hause.“

„Ich kann zu Fuß gehen, nachdem ich Leo zu Bett gebracht habe.“

„Du musst nicht …“

„Ich will aber, Dickschädel!“

„Manchmal frage ich mich, wie eine so handfeste, praktische Frau wie du und eine so sanfte Fee wie …“ Patrick brach ab, drehte sich abrupt um und floh zu den gefühllosen Computern, die ihn von dem Schmerz ablenkten, der noch beinahe so heftig in ihm brannte wie am Tage von Mias Beerdigung.

„Eines Tages …“, flüsterte Chiara und hoffte und betete, dass Patrick irgendwann den Verlust überwinden und sich vielleicht sogar wieder für eine andere Frau öffnen würde.

Sie weckte den völlig verschlafenen und verschmusten Leo, unterzog ihn einer Katzenwäsche und sorgte dafür, dass er zumindest einmal an der Zahnpasta gelutscht hatte, ehe sie ihn in sein handgeschreinertes Piratenschiffbett verfrachtete. Ohne sich von Patrick zu verabschieden, verließ sie leise die Wohnung. Sie wollte ihn weder stören noch sollte er sich verpflichtet fühlen, sie trotz des schlafenden Sohnes nach Hause zu fahren.

Draußen erwartete sie kalte Luft, ein schwarzer Himmel voll golden blitzender Sterne und ein mehrere Kilometer weiter Fußmarsch, bis sie schließlich die alte Vorstadtvilla betrat. Das Erbe ihrer Großmutter.

Sie eilte durch den riesigen Flur im Erdgeschoss, stapfte die Treppe in den ersten Stock hinauf und drehte die Heizkörper im oberen Wohnzimmer, von ihrer Großmutter immer als „Salon“ bezeichnet, und im Schlafzimmer auf. Dabei horchte sie auf die unter ihren Schritten knarrenden Dielenbretter und das lautstarke Knacken des Holzes, als es allmählich wärmer wurde. Mit einem Blick auf die alte Küchenuhr nahm sie das Telefon zur Hand und suchte im Display die Nummer des Schreiners, den ihr Patrick empfohlen hatte. Die beiden waren Schulfreunde gewesen; von dem Handwerker stammte auch das von Leo heißgeliebte Piratenschiffbett.

Wieder einmal lauschte sie erstaunt auf die unheimlich tief klingende Stimme, die dieselben Vibrationen in ihrer Bauchgegend auslöste wie der dröhnende Bass bei einem Konzert.

„Jonas Kelberg.“

„Chiara Kilian hier. Entschuldigen Sie bitte, dass ich so spät anrufe.“

„Kein Problem. Was gibt es denn? Noch irgendwelche Änderungswünsche?“

„Leider muss ich den Auftrag stornieren.“

Am anderen Ende der Leitung blieb es still. Schließlich folgte ein Räuspern, ehe der tiefste Bass, den Chiara jemals gehört hatte, fragte: „Soll ich einige Kürzungen vornehmen oder …“

„Nein, stopp!“, unterbrach Chiara ihn energisch. „Es liegt nicht an Ihnen oder Ihren Preisen. Die sind perfekt. Ich habe heute meinen Job verloren. Und ich glaube nicht, dass Sie auf eine Kundin scharf sind, die Sie für Ihre Arbeit nicht bezahlt!“

„Das tut mir ehrlich leid.“

„Wir verschieben den Auftrag, okay?“

„Ich hebe die Pläne auf, und Sie melden sich einfach zur gegebenen Zeit wieder.“

„Das mache ich, vielen Dank.“

„Ich hoffe, Sie finden schnell einen neuen Job. Ich weiß, wie schwierig es sein kann, das zu kriegen, was einem vorschwebt.“

Chiara murmelte erneut einen Dank. Bestimmt war es für Jonas ein Risiko gewesen, sich von einer Firma zu lösen, die fast ausschließlich Küchen einbaute, um seinem Traum vom „Handgemachten“ nachzugehen.

„Entschuldigen Sie bitte, dass Sie jetzt diesen Ausfall haben.“

„Sie können ja nichts dafür. Ich wünsche Ihnen dennoch gesegnete Weihnachten. Und einen guten Job im neuen Jahr!“

Chiara beendete das Gespräch, legte das Telefon auf den winzigen Küchentisch und begann einen unruhigen Rundgang durch das alte Haus. Schließlich trat sie in das geräumige, nahezu leere Wohnzimmer im Erdgeschoss mit seinen zwei Eck-Erkern, den Stuckbändern an der Decke und über den hohen Fenstern und dem weitläufigen Wintergarten. Der Raum wirkte trostlos und leer. Kein Wunder, denn Chiara war erst vor einem halben Jahr nach Freiburg zurückgekehrt. Sie hatte bisher lediglich das Nötigste ausgepackt, mit dem Hintergedanken, die Villa durch einen Profi renovieren zu lassen. Ihre Zeit und Energie hatte sie in den neuen Job und in die Versorgung von Patrick und Leo gesteckt, nun, da sie endlich nah genug lebte, um praktische Hilfe zu leisten.

Jetzt waren alle ihre Pläne pulverisiert; von einer Minute auf die andere, ohne dass sie auch nur irgendetwas dafür konnte.

„Klar! Die zwei anderen Frauen, die mit dir angefangen haben, wurden vermutlich nicht entlassen, Pummelchen. Aber die sind schließlich gertenschlank und sehen in einem Kostüm nicht aus wie ein verkleideter Dudelsack!“

Wütend zog sie die teure Kostümjacke aus und pfefferte sie quer durch das Zimmer, wo sie auf dem dunklen Parkett ein Stück weiterrutschte und wie ein Häuflein Elend an der Wand liegenblieb.

„So ein Mist!“, knurrte sie. Die Deckenlampe flackerte, als wolle sie ihr zustimmen, dann versagte sie den Dienst. Im Dunkeln sackte Chiara in sich zusammen, schlang die Arme um ihre Knie und weinte bitterlich.

Das Läuten ihres Telefons drang von oben herunter, doch es war ihr gleichgültig. Sie zerfloss gerade in Selbstmitleid – etwas, das sie hasste und von dem sie geglaubt hatte, es längst abgelegt zu haben. Als es jedoch nach einer kurzen Pause erneut penetrant zu klingeln begann, raffte sie sich auf, eilte in die Küche und sah mit einem Blick auf das erleuchtete Display, dass Patrick anrief. Sie zog eine betretene Grimasse. Vermutlich wäre es verantwortungsbewusst gewesen, ihm zumindest kurz mitzuteilen, dass sie gut zu Hause angekommen war.

„Ich bin da, Patrick. Alles gut!“, sagte sie, ohne sich zu melden.

„Ich hab einen Job für dich!“

„Was?“ Chiara lachte verwirrt, rieb sich mit der freien Hand die Tränen aus dem Gesicht und ließ sich unsanft auf einen Küchenstuhl aus robuster dunkler Eiche plumpsen. „Du machst Witze!“

„Nein. Gut, es ist kein Job bei einer Bank, und er ist befristet, aber respektabel bezahlt, und du kannst das Ganze gleich mit einem Urlaub verknüpfen.“

„Job mit Urlaub. Was muss ich dafür tun? Wen muss ich umbringen?“

„Chiara, bitte. Beruhige dich. Hast du geweint?“

„Das kannst du durchs Telefon aber nicht sehen?“

„Ich kenne dich ein bisschen. Du bist außen robust wie Hartkaramell, doch innendrin zart wie Nougat.“

„Das …“

„Das hat Mia immer über dich gesagt. Entschuldige bitte.“

Beinahe hatte sie den Eindruck gehabt, Patrick versuche mit ihr zu flirten. Aber selbstverständlich wollte er sie nur aufrichten. „Also, was für ein Job ist das?“

„Der Verlag …“

„Der mit dem nicht funktionierenden Adventskalender für ihre Kunden?“

„Genau der. Sie haben einen recht bekannten Autor unter Vertrag, der dringend sein nächstes Manuskript abgeben sollte – aber jetzt hat er sich beide Hände gebrochen.“

„Autsch.“

„Genau! Sie suchen jetzt jemanden, der für ihn tippt.“

„Was ist mit einem Spracherkennungsprogramm.“

„Er kommt damit nicht klar. Liegt vielleicht daran, dass er Schweizer ist.“

„Die modernen Programme sollen doch ziemlich gut sein.“

„Ich weiß nur, was die Lektorin mir am Telefon gesagt hat. Dieser Forster kommt mit den Programmen nicht zurecht. Das Buch sei bereits in der Werbung, der Erscheinungstermin könne nicht verschoben werden.“

„Nochmal autsch.“

„Du kannst superschnell tippen, das habe ich gesehen. Na, wie wär’s?“

„Klingt … hm …“

„Der Verlag zahlt dir den Flug. Du kriegst vom Autor einen guten Stundensatz bezahlt. Allerdings arbeitet der Mann immer in seinem Ferienhaus.“

„Deshalb kamst du auf Urlaub?“

„Ja. Es liegt offenbar recht idyllisch an einem Fluss … oder See, der jetzt aber vermutlich zugefroren ist. Dort ist es lausig kalt.“

„Das Ferienhaus wird ja wohl über eine Heizung verfügen?“

„Sicher.“

„Und wann würde es losgehen?“

„So schnell wie du nur kannst. Ich schicke dir per Mail die Kontaktdaten der Lektorin. Sie wird dir durchs Telefon die Füße küssen, wenn du annimmst. Sie klang ziemlich verzweifelt.“

„Dann geh ich mal schnell noch unter die Dusche“, witzelte Chiara.

„So gefällst du mir wieder besser, Mädchen.“

„Gut, ich überlege es mir.“

„Alles klar. Melde dich, sobald du dich entschieden hast.“

„Danke, Patrick.“

„Gerne doch. Schlaf gut.“

„Gute Nacht!“

Chiara lehnte sich zurück und drehte das kleine schwarze Gerät in ihren Händen. Das war ja ein ungewöhnliches Angebot. Ihr Gehirn arbeitete auf Hochtouren, wog das Für und Wider ab. Einige Tage in einer Ferienhütte in der Schweiz zu verbringen hörte sich toll an – doch gemeinsam mit einem wildfremden Mann? Der hatte sich allerdings irgendetwas an beiden Händen gebrochen, würde also halbwegs hilflos sein. Wie alt er wohl war? Sicher schon älter … Sie konnte sich nicht vorstellen, wer außer einem älteren Herrn so ungeschickt stürzen könnte, dass er sich dabei gleich beide Hände verletzte. Hieß das aber nicht, dass er bei mehr als nur dem Schreiben ihre Hilfe benötigen würde? Chiara schüttelte den Kopf. Wahrscheinlich übernahmen die anderen Aufgaben irgendwelche Freunde, die Nachbarschaftshilfe oder gar ein Pflegedienst – wer auch immer. Sie musste einfach auf klare Absprachen bestehen; am besten vertraglich geregelt.

Chiara ging in ihr Schlafzimmer, schaltete das Notebook ein und suchte erst einmal einen Autor des Namens Forster, wurde jedoch nicht fündig. Sie zuckte mit den Schultern. Vermutlich schrieb der Mann unter einem Pseudonym.

Patrick hatte die Mail geschickt. Hinter dem Kommentar: Lektorin erwartet Tag und Nacht dringend deinen Anruf stand eine Handy-Nummer. Offenbar brannte in dem Verlag mehr als nur der nicht funktionierende Kunden-Adventskalender.

Sie wählte und erreichte eine zutiefst dankbare Frau, die alle ihre Bedingungen notierte und ihr versprach, gleich morgen einen vom Autor unterzeichneten Vertrag für ein sechswöchiges Arbeitsverhältnis zu mailen. Diese Zeit sollte ausreichen, um die restlichen Seiten des Manuskripts fertigzustellen.

Eine Stunde später kuschelte sich Chiara in ihr Bett und starrte den lindgrünen Betthimmel über sich an. Die Kündigung tat ihr noch immer weh, aber zumindest konnte sie die Zeit während der neuerlichen Bewerbungsphase mit einer interessanten Tätigkeit überbrücken, die zudem erfreulich viel Geld einbrachte. Wie es aussah, erwartete der Verlag von dem Mann mit den beiden Gipshänden einen Bestseller.

2. Kapitel

Chiara schloss den Reißverschluss ihres schwarzen Trolleys und wandte sich dem Umschlag mit den Flugtickets zu, der von einem Express-Kurier gebracht worden war. Sie hatte nicht nachgefragt, wo genau in der Schweiz dieses Schreibdomizil lag, allerdings hätte sie von Freiburg aus gut mit dem eigenen Auto fahren können. Auf den Gedanken war sie bei all ihren Forderungen gar nicht gekommen.

Sie schlug den Umschlagdeckel auf und zog das Hinflugticket heraus. Abflug Frankfurt. Irritiert runzelte sie die Stirn, gleich darauf entglitt ihr vor Schreck das Papier und segelte in einem überraschend weiten Schwung zu Boden.

„Calgary?“, stieß sie hervor. Völlig perplex starrte sie das Ticket auf dem Parkettboden an. Man sollte doch meinen, dass es direktere Flugstrecken in die Schweiz gab als über Kanada!

Chiara ging in die Hocke und griff so vorsichtig nach dem Flugschein, als befürchte sie, er könne sie in die Hand beißen. Erneut warf sie einen Blick auf ihren Zielflughafen, doch es war wie zuvor: Ihr Ziel heiß Calgary, Alberta, Kanada.

„Das … muss ein Irrtum sein!“ Mehr als ein Flüstern brachte sie nicht zuwege. Ohne die Augen vom Flugticket abzuwenden tastete sie auf ihrem dunkelgrünen Bettüberwurf herum, bis sie das Telefon fand. Sie wählte Patricks Nummer und war froh, als er beim zweiten Klingeln dranging.

„Hi, schon auf dem Weg zum Flughafen?“

„Calgary?“, keuchte sie und schüttelte über sich selbst den Kopf. Sie sollte ja wohl in der Lage sein, mehr als ein Wort hervorzubringen.

„Ja?“, fragte er gedehnt.

„Du sagtest etwas von der Schweiz. Jetzt ist mein Flugticket auf Calgary ausgestellt. Ich besitze ein mieses Namensgedächtnis, doch in Erdkunde bin ich halbwegs fit. Und Calgary liegt definitiv nicht in der beschaulichen Schweiz.“

„Mist!“, entfuhr es Patrick.

„Was ist los?“

„Forster lebt in der Schweiz. Aber sein Ferienhaus steht in Kanada. Hatte ich das nicht erwähnt?“

„Weder du noch die Frau Lektorin.“

„Du besitzt hoffentlich einen gültigen Reisepass?“

„Ist das dein einziges Problem?“

Am anderen Ende der Leitung hörte sie Patrick kurz auflachen. Eigentlich sollte sie sich über den Heiterkeitsausbruch freuen, der seit Mias Tod ein rares Ereignis darstellte. Jedoch war sie dafür im Augenblick viel zu aufgewühlt.

„Also, ich würde Kanada jederzeit der Schweiz vorziehen“, meinte Patrick.

„Dann flieg du doch!“

„Der Roman soll doch nachher aus Worten bestehen, nicht aus für einen Leser schwer dechiffrierbaren Zeichenfolgen oder aus Zeichnungen. Wenngleich es Menschen gibt, die ein Comic einem Buch vorziehen.“

„Dann wird es eben ein Krimi über eine vergessliche Lektorin, einen verpeilten Mediengestalter und eine Psychopatin, die soeben ihren Job verloren hat.“

„Chiara, wo ist das Problem? Es ist wie besprochen ein Ferienhaus in den verschneiten Bergen an einem Gewässer, du tippst das, was der Autor dir diktiert, du bekommst den vereinbarten Stundensatz und den Flug bezahlt – das Einzige, was sich ändert, ist die Dauer des Fluges! Die Komplikation besteht lediglich in deinem Kopf.“

„Das ist nicht das einzige Problem, das in meinem Kopf Einzug gehalten hat“, murmelte Chiara.

„Du hast einen Vertrag unterzeichnet.“

„Ist ja gut“, seufzte Chiara. Sie wusste nur zu gut, dass Patrick recht hatte. „Jedenfalls sind die Flugkosten nach Kanada deutlich höher als-“

„Da siehst du mal, wie wertgeschätzt …“

„Moment! Spar dir das! Ich bin nur die kleine Tippse! Der, der da betüddelt wird, ist der Starautor. Wer das Ergebnis um jeden Preis in den Händen halten will, ist der Verlag.“

„Na und? Dafür fliegst du für sechs Wochen ins verschneite Kanada!“

„Ich muss los!“, lachte Chiara.

„Pass auf dich auf! Viel Spaß!“

„Danke. Knuddel den Knirps von mir durch.“

Chiara griff nach dem Trolley und dem Handgepäck, ließ beides aber zunächst nochmal stehen. Für den langen Flug brauchte sie Lesestoff. Sie trat im nebenan liegenden Salon an das uralte eichene Bücherregal, in dem sich seit Monaten ungelesene Bücher stapelten, die sie auf Empfehlungen irgendwelcher Bekannten gekauft hatte. Ihr Blick fiel auf einen Thriller in weinroter Aufmachung. Sie meinte sich trübe daran zu erinnern, dass darin der Geschäftsführer einer großen Bank das Opfer war.

„Perfekt!“, sagte sie, zog den dicken Wälzer heraus, stopfte ihn in ihre riesige Handtasche und verließ endlich das Haus.

Gleißender Sonnenschein an einem tiefblauen Himmel, der von vereinzelten Schleierwolken geschmückt war, begrüßte Chiara und ließ sie eilig nach ihrer Sonnenbrille kramen. Der Schnee an den Straßenrändern, auf den Hausdächern und den gepflegten Plätzen lag gut einen halben Meter hoch und leuchtete strahlend weiß, zumindest da, wo er nicht mit motorisierten Fahrzeugen in Kontakt gekommen war. Das Hupen zweier Busse und vielfältiger Motorenlärm rissen sie aus ihrer staunenden Bewunderung und riefen ihr in Erinnerung, dass sie sich nicht im Märchenland, sondern am Flughafen befand.

Sie griff nach ihrem Trolley und zog ihn über den penibel freigeräumten Gehweg zu einem Taxi. Mit klammen Fingern öffnete sie die Beifahrertür. Ein junger blonder Kerl, vermutlich ein Student, lächelte sie an.

„Wo soll es hingehen?“, fragte er kaum verständlich, und Chiara hoffte, dass das nicht an ihrem eingeschlafenen Englisch lag, sondern an dem überdimensionalen Kaugummi, den der Taxifahrer in seinem Mund bearbeitete.

„Ich möchte nach Banff.“

„Nicht ganz zwei Stunden Fahrt, sofern uns kein Schneesturm und keine Grizzlys aufhalten.“

Chiara warf einen Blick auf den blauen Himmel und die Schneeberge und beschloss, dass sie es mit einem Witzbold zu tun hatte.

„Ich wage es“, sagte sie.

„Fein!“ Der junge Mann stieg aus, ging um den Ford herum und lud ihr Gepäck in den Kofferraum, ehe er an die Beifahrertür trat und zumindest so tat, als würde er sie ihr galant öffnen.

Im Inneren des Wagens war es warm, sodass Chiara dem Fahrer nicht nur ihre riesige Handtasche, sondern auch die eisblaue Daunenjacke in den Arm drückte, bevor sie einstieg. Er verstaute beides auf dem Rücksitz und klemmte sich hinter das Steuer.

„Ich bin Marc“, stellte er sich vor.

„Chiara.“

Der Wagen sprang hustend an, als wolle er sich ebenfalls namentlich vorstellen.

„Du kommst aus Deutschland?“

„Richtig.“

„Meine Eltern haben mich als Kind mal an den Titisee geschleppt.“

„Ich stamme aus Freiburg, das liegt ganz in der Nähe des Sees.“

„Ich glaube, da waren wir auch.“ Marc fädelte den Ford geschickt in den fließenden Verkehr ein. Es dauerte nicht lange, bis sie von hohen Bergen und weitläufigen verschneiten Wäldern umgeben waren.

„Willst du ins Fairmont Banff Springs Hotel? Bist du zum Skifahren hier?“

„Nein, ich komme zum Arbeiten. Moment …“ Sie kramte den Notizzettel mit der Adresse, die die Lektorin ihr durchgegeben hatte, aus ihrer Hosentasche und reichte ihn Marc.

„Zu Rose?“, fragte er, nach einem flüchtigen Blick auf das Papier. „Sie vermietet aber keine Zimmer.“

„Man sagte mir, sie würde mich zum Haus eines Mr Forster bringen.“

„Aha!“ Marc warf ihr einen Seitenblick zu. Seine gerunzelte Stirn verunsicherte sie mehr als die Tatsache, dass er sekundenlang die Fahrbahn aus den Augen verlor. Die aufgetürmten Schneeberge links und rechts würden ohnehin verhindern, dass er von der Straße abkam. Was jedoch versteckte sich hinter seinem bedeutungsvollen „Aha“ und dem nicht minder vielsagenden Blick?

„Du kennst Mr Forster?“

„Ich bin im Nachbarhaus von Rose und ihrer Familie aufgewachsen. Ja, ich kenne den Schweizer.“

Die Frage, wie Forster denn so war, lag ihr auf der Zunge, doch sie schluckte sie hinunter. Es war immer das Beste, sich selbst ein Bild von einer Person zu machen, zudem wollte sie Marc nicht zum Tratschen verleiten.

„Und du fährst beruflich zu ihm?“, erkundigte sich der junge Mann nach einiger Zeit des Schweigens.

„Ich darf ihm bei seinem nächsten Buchprojekt helfen.“

„Darfst?“ Marc grinste sie an. „Du musst. Ich habe seine geschienten Hände gesehen.“

Chiara zog lediglich die Schultern hoch. Offenbar fehlte es ihrem Chauffeur ein wenig an Feingefühl. Es war nicht eben freundlich, über die vermutlich mit Schmerzen verbundene Notlage eines älteren Herrn zu spotten.

Knapp zwei Stunden nach ihrer Abfahrt verließen sie den Highway 1, gleich darauf deutete Marc nach vorn. „Das da ist Banff.“

Sie passierten bereits die ersten verstreut liegenden Häuser des fast 1.400 Meter hoch gelegenen Ortes. Chiara drückte ihre Stirn gegen die kalte Seitenscheibe. Schneebedeckte Berge wuchsen vor ihr in die Höhe, Schnee lag auch auf den Dächern der Flachbauten, der Häuser mit verwinkelten Erkern und Spitzdächern, den Backstein-, Holz- und Fachwerkhäusern. Die weiße Masse türmte sich entlang des breiten Boulevards, und plötzlich eröffnete sich ihr der Blick auf einen mächtigen Berg, der wie ein Wächter über der Ortschaft aufragte.