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Drei Frauen, ein Wunsch: Die Welt entdecken Berlin, 1907: Die junge Wissenschaftlerin Lise kommt nach ihrer Promotion an die Friedrich-Wilhelms-Universität Unter den Linden, um bei Max Planck zu forschen. Dass Frauen in Preußen offiziell noch nicht an Universitäten zugelassen sind, kann sie nicht aufhalten. Schon bald arbeitet sie neben Otto Hahn. Das Schicksal führt sie mit zwei Frauen zusammen: Hedwig musste die Unterschrift ihres Mannes fälschen, um die Uni besuchen zu können – denn ohne die Zustimmung des Ehemannes geht nichts. Anni arbeitet als Dienstmädchen beim berühmten Friedrich Althoff und liest sich heimlich durch dessen Bücherregal. Die drei unterschiedlichen Frauen werden zu engen Verbündeten, die gemeinsam um ihr Glück, die Liebe und das Recht auf Wissen und Bildung kämpfen. Denn die Widerstände in der männlichen dominierten Universitätswelt sind hoch. Die Figur Lise erinnert an Lise Meitner (1878–1968), eine der bekanntesten Physikerinnen des 20. Jahrhunderts. Sie war die erste deutsche Physik-Professorin und entdeckte die Kernspaltung.
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Unter den Linden 6
ANN-SOPHIE KAISER ist in Berlin geboren und lebt auch heute noch hier. Sie hat für ein kurzes Semester Physik an der Humboldt-Universität studiert, bevor sie erkannt hat, dass sie lieber etwas mit Schreiben machen möchte. Sie liebt es, in den Berliner Seen zu schwimmen und sich bei ausgedehnten Stadtspaziergänge durch die Kieze in das historische Berlin zurückzudenken. »Unter den Linden 6« ist ihr erster historischer Roman.
DREI FRAUEN, EIN WUNSCH:DIE WELT ENTDECKEN
Berlin, 1907: Die junge Wissenschaftlerin Lise kommt nach ihrer Promotion an die Friedrich-Wilhelms-Universität Unter den Linden, um bei Max Planck zu forschen. Frauen sind in Preußen offiziell noch nicht an Universitäten zugelassen, doch das kann sie nicht aufhalten. Schon bald arbeitet sie neben Otto Hahn. Das Schicksal führt sie mit Hedwig und Anni zusammen. Hedwig musste eine Unterschrift fälschen, um die Uni besuchen zu können: denn ohne die Zustimmung des Ehemannes geht nichts.Anni arbeitet als Dienstmädchen und liest sich heimlich durch das Bücherregal ihres Dienstherrn. Die drei unterschiedlichen Frauen werden zu engen Verbündeten, die gemeinsam um ihr Glück und für die Liebe kämpfen.
Ann-Sophie Kaiser
Roman
Ullstein
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ISBN: 978-3-8437-2298-8
1. Aufage 2020© 2020 by Ullstein Buchverlage GmbH, BerlinAlle Rechte vorbehaltenTitelgestaltung: Sabine KwaukaTitelmotive: © ullstein bild; Trevillion Images/Magdalena Russocka und Nic Skerten; shutterstockE-Book powered by pepyrus.com
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Titelei
Die Autorin / Das Buch
Titelseite
Impressum
Teil 1
Kapitel 1: Neuanfang in Berlin
Lise
Hedwig
Anni
Lise
Kapitel 2: Beharrlichkeit zahlt sich aus
Hedwig
Anni
Lise
Hedwig
Anni
Kapitel 3: Ein verlockendes Angebot
Lise
Hedwig
Anni
Lise
Kapitel 4: In der Holzwerkstatt
Hedwig
Anni
Lise
Hedwig
Anni
Lise
Kapitel 5: Dem Ziel so nah
Hedwig
Anni
Lise
Hedwig
Kapitel 6: Alles wird anders
Anni
Lise
Hedwig
Anni
Lise
Hedwig
Anni
Lise
Hedwig
Anni
Teil 2
Kapitel 1: Das deutsche Oxford
Lise
Anni
Hedwig
Lise
Kapitel 2: Viribus unitis
Anni
Hedwig
Lise
Anni
Kapitel 3: Die Erste
Lise
Hedwig
Anni
Lise
Hedwig
Anni
Kapitel 4: Alles haben
Lise
Hedwig
Anni
Lise
Hedwig
Kapitel 5: Verliebt und verraten
Anni
Lise
Hedwig
Anni
Lise
Kapitel 6: Das Ende einer Zeit
Hedwig
Anni
Lise
Hedwig
Anni
Lise
Kapitel 7: Getrennte Wege
Hedwig
Anni
Lise
Hedwig
Anni
Lise, Anni und Hedwig
Anhang
Drei starke Frauen zwischen Historie und Fiktion
Leseprobe: Bühlerhöhe
Social Media
Vorablesen.de
Cover
Titelseite
Inhalt
Teil 1
Ob Frauen studieren dürfen?Ob Frauen studieren können?Ob Frauen studieren sollen?Mir persönlich erscheinen diese Untersuchungen ebenso müßig, als wollte jemand fragen: Darf der Mensch seine Kräfte entwickeln? Soll er seine Beine zum Gehen gebrauchen?
Hedwig Dohm
1907
Der Zug schoss durch die Landschaft und blies Rauchschwaden in den diesigen Spätsommerhimmel, während links und rechts die Kiefern still Spalier standen. Es war schwül, obwohl es bereits Anfang September war, und im Waggon stank es noch nach dem Schweiß der langen, warmen Tage. Normalerweise wäre Lise jetzt lieber durch diese Wälder spaziert, als hier im stickigen Zug zu sitzen – ihre Kleidung juckte und klebte am Körper, und ihr Rücken schmerzte beträchtlich nach der fast zweitägigen Reise, die sie auf der harten Holzbank nun schon hinter sich hatte. Und trotzdem: Nicht um alles in der Welt wollte sie jetzt irgendwo anders sein. Und noch nie im Leben war sie so aufgeregt gewesen.
Immer wenn ihr Rücken zu sehr schmerzte oder die Übelkeit sie mit einer Welle zu überrollen drohte, dachte sie einfach an das, was vor ihr lag, und all die Strapazen schienen ihr mit einem Mal weniger beschwerlich. Was sie in Berlin alles erleben, was sie alles lernen würde! So weit weg von zu Hause – schon jetzt lag Wien viele, viele Kilometer hinter ihr. Ihre Familie, ihre Freundinnen, ihr altes Leben – all das rückte in immer weitere Ferne. Ob sie in Berlin das finden würde, was sie suchte?
Vor ihrem inneren Auge erschien das Bild ihres Papas, wie er in seinem alten Lehnsessel saß, die müden Beine hochgelegt. »Aber mein Liserl«, hatte er gesagt, als sie anfing, ihm mit ihrem Wunsch in den Ohren zu liegen. »Du weißt doch, die größten Reisen finden immer im Kopf statt.«
Natürlich wusste sie das! Wie oft hatte sie mit ihrem Vater darüber gelacht, dass ihre ganze Welt hauptsächlich im Kopf stattfand: in Büchern, in der Musik und in der geheimnisvollen Naturwissenschaft, in den allerkleinsten Atomen, die man sowieso nicht sehen konnte, die es nur in der Vorstellung gab. Sie war ein Kopfmensch, wie ihr Vater immer zu sagen pflegte. Und doch war ihr Kopf in Wien an seine Grenzen gestoßen. Es gab einfach so viel, was sie noch lernen, was sie verstehen und entdecken wollte – nein, musste. Auch ihr Vater wusste das, und hätte er die Mutter schließlich nicht doch überredet, Lise ziehen zu lassen und ihr eine ordentliche Summe mit auf den Weg zu geben, damit sie in Berlin erst einmal Fuß fassen konnte, sie säße heute nicht hier.
Trotz ihrer Vorfreude spürte Lise, wenn sie an ihr zu Hause dachte, ein dumpfes Ziehen im Herzen: Sie hatte jetzt schon Heimweh. Wie sehr sie jeden aus ihrer Familie vermissen würde, die Teenachmittage in der elterlichen Wohnung, sie und ihre Schwestern, wie sie auf dem Fleckerlteppich saßen und nähten oder musizierten. Aber nicht nur das: Ebenso vermisste sie auch jetzt schon den Herbst in Wien mit seinen blätterbedeckten Straßen, das Rattern der Droschken auf dem breiten Pflaster, die wöchentlichen Spaziergänge im Prater. Sogar das völlig heruntergekommene Physikinstitut in der Türkenstraße fehlte ihr bereits. Wie oft hatte sie gedacht, ihr letztes Stündlein habe geschlagen, wenn die morschen Balken im Vorlesungssaal knarrten. Oder wenn sie die ächzenden, mehr als maroden Treppenstufen zu ihrem Arbeitszimmer emporgestiegen war. Vielleicht brauchte es diese Wehmut bei aller Vorfreude, die einen das Alte sonst vergessen ließe.
Lise war so in Gedanken vertieft, dass sie gar nicht gemerkt hatte, wie der Zug immer langsamer geworden war. Jetzt kam er quietschend zum Stehen. Draußen zeigte sich ein karger, kleiner Bahnhof mit einem rostigen Schild, dessen Aufschrift kaum noch zu lesen war: Zossen. Der Schaffner pfiff, und Lise zuckte zusammen. Wie oft hatte sie dieses Pfeifen schon gehört? Vermutlich würde es ihr noch heute Nacht in den Ohren klingeln.
Die Abteiltür öffnete sich, und ein junges Mädchen spähte hinein.
»Ist hier noch frei?« Sie schaute sich zaghaft um, als hätte sie Angst, hinter den nur lose zusammengebundenen Vorhängen versteckte sich ein Bandit. Lise konnte das verstehen: Sie war zwar schon häufiger mit dem Zug gereist – mit ihrer Familie hatte sie zahlreiche Wanderungen im Wiener Umland gemacht –, aber der ruckelnde, schnelle Zug flößte ihr trotzdem Respekt ein.
Lise nickte, und das Mädchen ließ sich vorsichtig auf der Holzbank ihr gegenüber nieder. Sie war eigentlich ganz hübsch, fand Lise, obwohl sie bescheidener gekleidet war als sie selbst. Die Bluse des Mädchens war beinahe durchscheinend und wies einige Flecken auf. Auch ihr Koffer sah aus, als würde er jeden Moment auseinanderfallen. Die Augen des Mädchens waren groß und rot gerändert, als hätte sie lange geweint. Was ihr wohl widerfahren war? So, wie sie jetzt zitternd auf der Holzbank saß und nach draußen schaute, als drohte ein großes Unwetter, vermutlich nichts Gutes, dachte Lise.
Mit einem Ruck setzte der Zug sich wieder in Bewegung. Sofort schlug eine neue Welle der Übelkeit über Lise zusammen. Ob dieses Ruckeln nur in der dritten Klasse so schlimm war? In der zweiten Klasse gab es wenigstens nicht diese furchtbar harten Holzbänke. Aber sie hatte sich nur ein Dritte-Klasse-Billett leisten können, denn sie musste ihr Geld beisammenhalten, damit sie in Berlin nicht gleich in finanzielle Nöte geriet. Sie schloss einen Moment die Augen und dachte abermals daran, wofür sie das alles tat: für die Zukunft! Und für ihre große Leidenschaft, die Wissenschaft. Da würde sie das bisschen Übelkeit wohl aushalten können!
Ein Schluchzen riss sie aus ihren Gedanken. Das Mädchen gegenüber hatte angefangen bitterlich zu weinen. Einen Moment war Lise wie erstarrt, dann griff sie hastig nach ihrem Koffer und suchte nach einem Taschentuch. Da, eingeklemmt zwischen einem kleinen Gedichtband Goethes und Frau Jenny Treibel von Theodor Fontane, fand sie eines und reichte es dem Mädchen hinüber.
»Danke.« Das Mädchen griff schüchtern nach dem Taschentuch und putzte sich die Nase. Aber so richtig zu helfen schien es nicht. Kaum ließ sie es sinken, wurde ihr Körper abermals von Schluchzern geschüttelt.
Lise schaute dem Mädchen hilflos zu, wie es die bebenden Hände hob. Das konnte man ja nicht mit ansehen! Sollte sie sich zu ihr hinübersetzen oder wäre das unhöflich?
Die junge Frau putzte sich noch einmal die Nase und atmete dann zitternd aus. Immerhin schien sie sich jetzt zu beruhigen. »Entschuldigen Sie bitte«, schniefte sie schließlich und wischte sich ein paar blonde Strähnen aus dem Gesicht. »Ich verderbe Ihnen ja noch die schöne Reise.«
»Ach, machen Sie sich darüber keine Sorgen«, beeilte sich Lise zu sagen. »Und schön ist diese Reise sowieso nicht. Ehrlich gesagt ist mir ziemlich schlecht. Das kommt bei Ihnen auch noch, bei diesem Ruckeln vergisst man fast sein Heimweh.«
Das Mädchen nickte, und Lise merkte, dass sie richtig geraten hatte: Wo auch immer die junge Frau hinreiste, ganz offensichtlich vermisste sie den Ort ihrer Abfahrt schon jetzt. Wie gut Lise das verstehen konnte! Zum Glück aber kribbelte bei ihr die Vorfreude in der Magengrube. Bald würden sie in Berlin sein! Jetzt musste sie nicht mehr lange warten …
Sie griff nach ihrem Goethe und wollte ihn gerade wieder sorgfältig in der Tasche verstauen, als sie den Blick des Mädchens bemerkte.
»Ich glaube, diesen Gedichtband hatte ich auch schon mal in der Hand«, sagte diese nun.
»Ach ja?« Lise lächelte. Vielleicht konnte sie das Mädchen ja mit ein wenig Unterhaltung ablenken. »Ich mag eigentlich alle seine Gedichte«, sagte Lise, »der Werther hat mir aber auch ziemlich gut gefallen.«
»Werther?« In den Augen des Mädchens leuchtete ehrliches Interesse. »Das kenne ich leider nicht. Das stand nicht in der Bibliothek meines Dienstherrn. Zumindest habe ich es beim Stöbern nie entdeckt«, fügte das Mädchen hinzu, wurde aber sofort rot wie eine Tomate. »Das hätte ich jetzt gar nicht sagen dürfen!«
Lise wollte gerade nachhaken, was genau die junge Frau damit meinte, da wurde die Abteiltür abermals aufgeschoben.
»Die Fahrscheine bitte!« Ein Schaffner stand plötzlich mitten im Abteil. Sein Blick glitt kurz zu Lise, blieb dann aber sofort an dem Mädchen ihr gegenüber hängen. Lise merkte nur zu gut, dass er dabei immer wieder auf dessen üppigen Busen schaute. Das Mädchen schien es auch zu bemerken, sie wurde schon wieder rot, und ihre Hand zitterte, als sie ihm den Fahrschein reichte.
»Aha, Berlin«, sagte der Schaffner und musterte das Mädchen. »Was will denn so ein hübsches Fräulein da? So allein in der großen Stadt?«
»Ich …« Das Mädchen verstummte und schaute Hilfe suchend zu Lise.
Schnell hielt Lise dem Schaffner ihren eigenen Fahrschein unter die Nase. »Ich will auch nach Berlin. Sagen Sie, wie lange dauert das denn noch?«
»Anderthalb Stunden«, sagte der Schaffner, sichtlich verärgert über die Unterbrechung, und griff nach Lises Fahrschein.
»Vielen Dank«, sagte Lise betont freundlich und schaute den Schaffner abwartend an. Am liebsten hätte sie ihm ordentlich die Meinung gesagt, aber so mutig war sie dann doch nicht. Zum Glück schien ihr mahnender Blick aber auch zu wirken. Der Schaffner schaute noch einmal zu dem Mädchen. Das aber blickte starr aus dem Fenster. »Schöne Weiterfahrt noch«, brummte der Schaffner verdrossen und schloss die Abteiltür.
Das Mädchen atmete geräuschvoll aus. »Jetzt bin ich umso glücklicher, dass Sie mit mir im Abteil sitzen«, flüsterte es.
»Ich heiße Elise«, sagte Lise und reichte dem Mädchen ihre Hand. »Aber Sie können mich Lise nennen, das tut jeder.«
»Anni«, sagte das Mädchen und ergriff die Hand. »Und bitte, duzen Sie mich doch«, fügte sie errötend hinzu. »Ich bin nur ein Dienstmädchen, es ist nicht nötig, dass Sie mich siezen.«
»Dann musst du mich aber auch duzen«, befand Lise, und Anni lächelte zaghaft, als traute sie sich nicht so recht. Trotzdem wirkte sie gleich viel weniger verschreckt.
Das Rattern des Zuges mischte sich in ihr Schweigen.
»Lise«, sagte Anni schließlich. »Das ist ein schöner Spitzname.«
»Jedenfalls ist es der schönste, den ich habe.« Ein Lächeln stahl sich auf Lises Gesicht. »Mein Vater hat mich oft Wurtzerl genannt, weil ich so klein und schmächtig bin.«
Jetzt musste auch Anni lächeln. Wie hübsch sie das gleich machte, dachte Lise. Mit ihrer einnehmenden Art erinnerte Anni sie ein wenig an ihre Schwester. Bestimmt freute sich Lola, dass sie das Zimmer nun für sich allein hatte – nachdem Gisela und Gusti ausgezogen waren, hatten sich Lola und Lise ein Zimmer geteilt. Ob der kleine Walter, ihr Lieblingsbruder und Schützling, sie auch schon vermisste?
»Du kommst nicht aus Preußen, oder?« Anni musterte Lise neugierig. »Du hast so einen Klang, den hab ich noch nie gehört.«
»Nein, ich bin aus Wien«, sagte Lise.
»Das ist aber ziemlich weit weg, oder?«, fragte Anni vorsichtig. »Es war bestimmt eine lange Fahrt.«
Lise nickte. »Ich bin schon seit zwei Tagen unterwegs, aber immerhin mit Zwischenhalt. Ich bin wirklich froh, wenn wir die Fahrt hinter uns haben. Und was verschlägt dich nach Berlin?«
Sie hatte anscheinend das Falsche gesagt, denn Anni sah mit einem Mal wieder so aus, als würde sie gleich in Tränen ausbrechen.
»Ich trete eine neue Stelle als Dienstmädchen an«, erwiderte sie schließlich leise. »Und du?«
»Ich gehe an die Universität.« Lise spürte, wie bei ihren Worten die Aufregung erneut in ihrem Magen kribbelte. Würde sie all das lernen, was sie sich erhoffte? Wie wohl die Arbeitsräume an der Friedrich-Wilhelms-Universität aussehen würden? Und was der Professor Planck für ein Mann war? Sie hatte ihn erst einmal gesehen, als er in Wien zu Besuch gewesen war, und nur einen kurzen Blick auf ihn erhaschen können: ein schlicht, aber elegant gekleideter Mann mit Gehstock. Ob er die Arbeiten gelesen hatte, die sie ihm und Professor Rubens geschickt hatte?
»Die Universität?« Anni lehnte sich neugierig vor. »Da dürfen doch Frauen gar nicht hin!«
»Ach was«, sagte Lise. »In Wien ging es ja auch! Ich habe in Physik bereits einen Abschluss gemacht. Auch bei uns gab es ein paar Männer, die das nicht gern gesehen haben, und ich habe mir so manches sagen lassen müssen, aber alles in allem geht es ja um die Sache. Weißt du, das ist es nämlich, was ich an den Naturwissenschaften so liebe: Sie sind für jeden gleich. Die Geheimnisse der Natur gehören der Natur, der Mensch kann nur versuchen, sich ihnen zu nähern. Und die Natur macht keinen Unterschied, ob es nun eine Frau oder ein Mann ist, der das Elektroskop bedient. In meinem Gebiet, der Radioaktivität, hat unlängst sogar eine Frau die größten Fortschritte erzielt.«
»Ich wünschte, ich würde auch etwas davon verstehen!« Das Mädchen seufzte und sah ehrlich geknickt aus.
Lise überkam ein schlechtes Gewissen. Jetzt hatte sie Anni etwas vorgeschwärmt, dabei wusste sie, dass Bildung für ein Dienstmädchen unerreichbar war. Sie selbst hatte die Matura nur dank der großzügigen Unterstützung ihrer Eltern erhalten – als Mädchen durfte man kein Gymnasium besuchen und Privatlehrer kosteten sehr viel Geld. Und mit der Bildung in der Bürgerschule war es, wie Lise aus ihrer eigenen Zeit dort nur zu gut wusste, nicht weit her – für Mädchen schon gar nicht. Sie sollte also wohl besser nicht zu lange auf den tollen Erfolgen Marie Curies und ihrer eigenen Leidenschaft für die Naturwissenschaften herumreiten.
»Jedenfalls«, sagte Lise schnell, »denke ich, dass Berlin sicherlich eine tolle Stadt ist!«
»Ich weiß nichts über Berlin«, sagte Anni traurig. »Und ich wollte auch nie dorthin«, setzte sie leiser hinzu. »Aber so ist es nun. Ich darf mich nicht beklagen, immerhin habe ich eine Stelle bekommen.«
Nachdenklich schaute Anni aus dem Fenster. Lise fragte sich erneut, was dem jungen Mädchen wohl zugestoßen sein mochte, dass sie so traurig war. Draußen zogen noch immer dunkel und schön die grünen Nadelwälder vorbei.
Alles wirkte anders heute.
So zumindest kam es Hedwig vor, dabei war das Wetter genauso wie gestern. Und doch: Die Sonne schien strahlender, leuchtete in den Blättern vor dem Fenster, während unten freundlich klappernd Marktwagen und Droschken auf der Kantstraße entlangfuhren. Selbst die Luft war nicht mehr so drückend.
Hedwig summte vor sich hin, als sie Decke und Kissen aufschüttelte, die Vorhänge zur Seite schob und in die Küche eilte, um August Kaffee zu servieren – er hatte Mittagsruhe gehalten, jetzt brauchte er seinen Bohnentrank.
Nicht, dass sie sonst so darauf bedacht gewesen wäre, ihm eine treusorgende Ehefrau zu sein – die fleißige, sorgenvolle Hausfrau mimte sie nur, wenn Augusts Eltern zu Besuch waren. Und da war es auch bitter nötig, denn Augusts Vater beobachtete alles, was sie tat, mit Argusaugen. August Brügger senior, ein aufstrebender Unternehmer, hatte eine Miene, die stets Missbilligung ausdrückte für die Art, wie Hedwig sich um den Haushalt, das Essen oder um die Kleidung seines Sohnes kümmerte. Natürlich hätte es ihr eigentlich gleichgültig sein können, was Augusts Vater von ihr dachte – ein ums andere Mal sagte sie sich das, wenn wieder ein Besuch von Herr und Frau Brügger anstand –, und trotzdem verbat ihr ihre strenge Erziehung, unter seinem Blick irgendetwas anderes zu tun, als das würdevolle Musterbeispiel einer Ehefrau abzugeben.
Jetzt aber hatte sie ein echtes Interesse daran, dass August seinen Kaffee bekam. Und das hatte nichts mit dem bösen Blick ihres Schwiegervaters zu tun und auch nichts mit den wohlgemeinten, aber nervtötenden Ratschlägen ihrer Schwiegermutter, sondern mit ihrem ganz persönlichen Geheimnis. Ohne Kaffee wäre August nicht bereit für die Reise. Und seine Abreise war es, auf die sie seit Monaten hinfieberte. Dass es heute so weit sein würde, machte sie ganz nervös. Und doch fürchtete sie, die ganze Sache könnte kurz zuvor noch abgeblasen werden.
August nämlich hing wie so oft in letzter Zeit schlaff auf seinem Stuhl am Kopfe des Esstisches, direkt unter dem Porträt von Kaiser Wilhelm. Während Kaiser Wilhelm grimmig und voller Tatendrang in den Raum schaute, wirkte August, kreidebleich wie er war, ganz und gar kraftlos. Nicht einmal richtig angekleidet war er, und als sie ihm den frisch aufgebrühten Kaffee in seinem Lieblingsservice aus bemaltem Porzellan servierte, schaute er kaum hoch, nickte ihr nur schwach zu.
Hedwig überkam ein Anflug von Mitleid. Sie führten eine lieblose Ehe, aber das hieß nicht, dass sie wollte, dass es August schlecht ging. Eigentlich war er kein schlechter Ehemann. Er war zwar darauf bedacht, dass sie nach außen hin das perfekte Ehepaar abgaben, ansonsten aber ließ er ihr größtenteils ihren Frieden. Wenn sie zu ihren Treffen beim Frauensalon von Ottilie von Hansemann davonschlich, fragte er nur selten nach, wo sie gewesen war. Und das war ihr überaus wichtig, denn sie wollte keinen der Abende verpassen: Ihre Freundin Ida hatte sie vor einiger Zeit mitgenommen, und schnell zählten diese Abende zu den wenigen Momenten in ihrem Leben, wo sie das Gefühl hatte, Luft schnappen zu können und sie selbst zu sein.
Das erste Mal war Hedwig überwältigt gewesen von Ottilies prächtiger Wohnung in Tiergarten, von den lebhaften Diskussionen, bei denen sie sich klein und unwissend gefühlt hatte. Die Koryphäen der Frauenbewegung, die die alte Adelige um sich scharte, argumentierten messerscharf. Ja, anders als überall sonst, schrien sich die Frauen hier sogar an, bemühten sich nicht um sanfte Worte, wenn sie einmal nicht einer Meinung waren – und das geschah häufig, denn die Salons waren meist nichts anderes als Diskussionsabende. Wie anders das war als alles, was Hedwig mit ihrer sittsamen Erziehung, die sie schon immer als ein Korsett empfunden hatte, kannte.
Hedwig hatte sofort dazugehören und ebenso leicht in der Unterhaltung mitmischen wollen wie ihre Freundin Ida, die durch den Lehrerinnenverein auf die Gruppe gestoßen war. Und nun ging Hedwig schon seit zwei Jahren zu den Treffen, schlich sich abends davon und kam erst spätnachts zurück, angefüllt mit einem Hauch dieses Gefühls, das andere wohl Freiheit nannten. Und neuerdings auch mit jenem Plan, auf den sie alleine wohl nicht gekommen wäre.
August fragte nicht nach, was sie so trieb. Und wenn doch, akzeptierte er ihre offensichtlichen Lügen anstandslos. Wegen dieser Lügen hatte sie manchmal ein schlechtes Gewissen. Andererseits verschwieg er ihr seine gelegentlichen Besuche in gewissen Etablissements ja auch (Hedwig besaß eine gute Nase und konnte billiges Parfüm erkennen, wenn sie es roch). Ihr Mann war beileibe kein Verfechter der Frauenrechte und durfte auf keinen Fall erfahren, wo sie sich aufhielt. Überhaupt sollten die Abende so wenig Aufmerksamkeit erwecken wie möglich. Zwar fanden die Treffen unter dem Deckmantel eines Frauenvereins statt, aber man wollte nichts riskieren. Sonst stünden die Gendarmen mit ihren Pickelhauben vor der Tür und stellten fest, dass hier durchaus politisch diskutiert wurde. Etwas, das Frauen natürlich nicht erlaubt war.
Auch ihre Freundschaft mit Ida stellte August nicht infrage. Ida durfte sie sogar besuchen, dabei war sie unverheiratet und, zumindest wenn man Hedwigs Vater glaubte, ganz und gar kein guter Umgang für sie, deren einziges Lebensziel es doch sein sollte, August eine Schar von Erben zu schenken und sich ansonsten der Hausarbeit zu widmen. Dabei hasste sie Nähen und dergleichen!
August aber zwang sie nicht in die Rolle des Hausmütterchens. Und er ließ ihr finanziell großen Spielraum, was einerseits ein Segen war, weil Hedwig eine ausgesprochene Vorliebe für die leuchtenden Hallen des großen Wertheim-Warenhauses und des gerade erst eröffneten Kaufhauses des Westens hatte. Andererseits hatte sie auf diese Weise in den letzten Monaten, in denen ihr Plan immer konkreter geworden war, Geld beiseitelegen können, ohne dass es aufgefallen war. Und das würde sich jetzt hoffentlich auszahlen. Zumindest, wenn August auch wirklich abreiste.
Vor Hedwigs innerem Auge erschien sofort wieder das Bild dessen, wovon sie nun schon seit Wochen träumte – nicht nur tagsüber, wenn sie gelangweilt zu Hause saß, oder an den Abenden des Frauensalons, wo sie den Plan mit den anderen Frauen besprach. Mittlerweile träumte sie auch nachts von den Vorlesungssälen der Friedrich-Wilhelms-Universität in Berlin, von den Tausenden von Büchern, die dort auf sie warteten. Seit sie dem Frauensalon um Ottilie angehörte, hatte sie angefangen, sich nach mehr zu sehnen: nach mehr Wissen, der Freiheit des Geistes, nach der Möglichkeit, mehr über sich und die Welt zu erfahren. Sich das anzueignen, was sonst nur Männern vorbehalten war und was sich die Frauen, die sie von der Frauenbewegung kannte, alle mühevoll selbst angelesen hatten. Nur hatte sie nicht damit gerechnet, tatsächlich einmal über das einsame Studium von Büchern hinauszukommen. Aber nun lag ihr Traum durch puren Zufall zum Greifen nah vor ihr: die Universität, eine ganz eigene Welt, die Frauen normalerweise verschlossen blieb, die sie aber ungestört entdecken würde können, wenn August endlich weg war.
»Wir müssen uns beeilen«, ermahnte Hedwig jetzt deswegen August. »Du weißt, der Zug geht schon in zwei Stunden.«
August stieß nur ein Schnaufen aus, gefolgt von einem Hustenanfall. Wieder überkam Hedwig diese merkwürdige Gefühlsmischung aus Mitleid und Aufregung, gepaart mit einer ordentlichen Prise Unmut. Er sollte sich endlich aufraffen! Es war zwar schade, dass es August so schlecht gehen musste, damit es ihr gut gehen würde, hoffentlich – aber so war es eben. Und diese Ehe hatte sie sich schließlich auch nicht selbst ausgesucht.
Nur ungern dachte Hedwig an die Hochzeit zurück, überhaupt an alles, was sie damals, jung und dumm, hatte geschehen lassen, nur weil sie es nicht besser wusste. Und, zugegeben, auch nicht anders gekonnt hatte. Vier Jahre erst war es her und doch fühlte es sich an, als sei sie in dieser Ehe schon zur alten Frau geworden. August kannte sie schon, seit sie Kinder waren, denn ihre Väter waren befreundet: Hedwigs Vater war ein kleiner, aber aufstrebender Fabrikant für Gemüsekonserven, ein florierender Markt, und Augusts Vater hatte unlängst mit der Entwicklung eines schmackhaften Brühwürfels für Aufsehen gesorgt – auch wenn das Geschäft wegen diverser Konkurrenzmarken mittlerweile etwas einzubrechen drohte. Deswegen war August auch die Hoffnung seines Vaters – ein junger Mann, der vielleicht nicht nur die Brühwürfelfabrik übernehmen, sondern auch ins Geschäft seines Schwiegervaters einsteigen würde, schließlich war Hedwig das einzige Kind ihres Vaters. Hedwig jedenfalls hatte sich damals der von ihren Vätern arrangierten Hochzeit gefügt. Sie hatte geglaubt, mit August eine passable Partie gemacht zu haben. Schlecht sah er ja nicht aus, und er war immer höflich zu ihr, als Kinder waren sie sogar befreundet gewesen. Andere Möglichkeiten hatte sie damals einfach nicht gesehen – und Lehrerin (und damit ewige Jungfer, denn Lehrerinnen durften ja nicht heiraten) zu werden wie ihre Freundin Ida, hätte ihr Vater niemals toleriert. Auch wenn sich Hedwig in den letzten Jahren häufiger bei dem Gedanken ertappt hatte, dass sie es doch einfach hätte riskieren sollen. Wie anders dann wohl ihr Leben in den letzten vier Jahren verlaufen wäre?
Augusts erneuter Hustenanfall riss Hedwig aus ihren Gedanken. Ihr Ehemann klammerte sich mit der einen Hand an die feine Tischdecke – ein Geschenk ihrer Schwiegermutter –, während er mit der anderen sein Taschentuch an den Mund presste. August bekam die Ehe offensichtlich auch nicht gut. Der Druck so vieler Hoffnungen lastete schwer auf ihm, und seit einigen Monaten litt er an hartnäckiger Tuberkulose. Etwas, das jetzt dringend in einem Sanatorium auskuriert werden sollte. Schließlich war er bereits fünfundzwanzig Jahre alt und musste schnellstmöglich ins Geschäft einsteigen.
Hedwig trat einen Schritt zurück, als August sich nun endlich mit leidendem Gesichtsausdruck erhob. »Vergiss nicht, mein Rasierzeug einzupacken, Hedwig«, sagte er und stützte sich schwer auf seinen Stuhl. Sie war anscheinend nicht die Einzige, die das Gefühl hatte, in dieser Ehe älter zu sein, als sie war. Dabei waren sie doch eigentlich beide in ihren besten Jahren.
Eine knappe Stunde später stand August tatsächlich vollständig angekleidet vor der Haustür, den Hut in der Hand, und schaute auf seine Taschenuhr, ein teures Geschenk seines Vaters, als wäre es Hedwig, die auf sich warten ließ. Aber das war Hedwig egal, sie konnte ihr Glück kaum fassen, dass es nun endlich losgehen würde. Erst jetzt merkte sie, dass sie bis zuletzt eine nagende Angst begleitet hatte, ihr ganzer Plan würde doch nicht aufgehen – nun aber lag das Glück nur noch eine Fahrt mit der Droschke entfernt. Und die hatte sie wohlweislich schon gestern für diese Uhrzeit vor ihre Haustür bestellt.
Als sie jetzt endlich in die Kraftdroschke einstiegen, die bereits auf sie wartete, hüpfte ihr Herz. Wenn es nach ihr gegangen wäre, wären sie mit der Bahn gefahren – was gab es Aufregenderes, als mit der Hochbahn über den Savignyplatz zu fahren, am Bahnhof Zoo umzusteigen und am Potsdamer Platz direkt in den Trubel hineinzugeraten, wenn man sich von dort auf den Weg zum Anhalter Bahnhof machte? Aber das sollte Hedwig nun egal sein. Es ging endlich los, das war alles, was zählte!
Der Droschkenfahrer ließ den Motor an, und kurz darauf ratterten sie über das Pflaster der Kantstraße. August schloss die Augen und lehnte sich an Hedwig. Der Wind zischte ihnen um die Gesichter, denn die Kraftdroschke fuhr ohne Verdeck. Hedwig saugte begierig die Luft ein. Ja, es war ein wundervoller Tag!
Der Droschkenfahrer begann, über das Brummen des Motors hinweg vor sich hin zu pfeifen, und Hedwig wollte am liebsten einstimmen. Jeder Meter brachte sie näher zum Anhalter Bahnhof, wo August abreisen sollte. Und wo Hedwig endlich eine freie Frau werden würde.
Unaufhaltsam brauste der Zug seinem Ziel entgegen und hinterließ eine Spur aus grauem Dampf in der spätsommerlichen Berliner Luft. Wenigstens an das fürchterliche Rattern – als bräche gleich alles unter einem entzwei! – hatte Anni sich mittlerweile gewöhnt. Und doch wurde das Zittern, das sie die ganze Fahrt über begleitet hatte, nun wieder stärker. Dabei hatte sie sich zuletzt so gut unter Kontrolle gehabt, dem netten Fräulein sei Dank, das mit ihr das Abteil teilte. Erst hatte Anni sich nicht getraut, dann aber hatte sie die junge Frau doch noch etwas mehr über ihre Pläne an der Universität ausgefragt. Naturwissenschaften! Das war etwas, mit dem Anni sich überhaupt nicht auskannte. Und was sie dementsprechend umso mehr interessierte. Wenn Anni etwas ablenken konnte – das war schon in ihrer Kindheit, als ihre geliebte Großmutter noch gelebt hatte, so gewesen –, dann waren es Geschichten, fremde Welten, in denen andere Dinge möglich waren als in ihrem eigenen, kleinen Leben. Auch wenn sie weiß Gott kaum etwas verstanden hatte von dem, was Lise ihr erzählt hatte, so hatte es sie dennoch abgelenkt.
Aber jetzt war sie wieder zurück, die Angst, weil sich Berlin nun unaufhaltsam vor ihrem Zugfenster ausbreitete: große Häuser, die aus dem Boden wuchsen wie riesige Ungeheuer, die Menschen dagegen winzig wie Ameisen, die um die Häuser krabbelten. Und es gab so viel von allem!
Wie anders war es in dem Dorf ihrer Kindheit gewesen. Ein Gutshaus und reichlich Land bis zum nächsten, ein paar kleine Häuschen, dazwischen nichts als Felder und Wiesen. Mehr Vieh als Menschen. Sie hatte in ihrem Leben kaum etwas anderes gesehen als das Gut der von Hohensteins, bei denen sie gearbeitet hatte, seit sie dreizehn war. Berlin war das Gegenteil von alldem, und schon aus dem Fenster des Zuges betrachtet erschien es ihr furchtbar beängstigend. Dabei waren sie bisher nur hindurchgefahren! Gleich schon würden sie am Anhalter Bahnhof ankommen und aussteigen müssen – hinein in diese Stadt, von der Anni kaum etwas wusste. Nur, dass sie größer war als alles, was sie kannte. Allein schon, dass sie noch mit weiteren Bahnen fahren musste, bis sie überhaupt beim Haus ihres neuen Dienstherren Friedrich Althoff ankommen würde. Das nämlich lag außerhalb, am Rande von Berlin.
Lise hingegen, die ihr die ganze Zeit mit ernstem, aber wachem Blick gegenübergesessen hatte, schien voller Vorfreude zu sein. Ihre braunen Augen leuchteten und ein zartes Lächeln zeigte sich auf ihrem Gesicht, als sie nun in den Anhalter Bahnhof einfuhren. Wie schön es wäre, dachte Anni, auch etwas zu haben, worauf man sich freuen konnte. Auch eine Aufgabe zu haben wie Lise, die die Geheimnisse der Natur ergründen wollte – eine Aufgabe, die einen wirklich und im tiefsten Inneren erfüllte. Sie hingegen blickte nur ängstlich ins Ungewisse. Nein, sie wollte nicht nach Berlin! Sie wollte nicht fort von Margarete und ihren anderen Freundinnen. Aber sie musste. So war es eben. Das hatten ihr ihre Eltern bereits beigebracht, als sie klein war: die Dinge zu nehmen, wie sie sind. Menschen wie sie hatten keine Wahl: Es gab zu essen, was auf den Tisch kam – wenn es denn etwas gab –, es wurde angezogen, was da war, auch wenn man anschließend in der Dorfschule wegen der schlichten Holzpantinen ausgelacht wurde. (Immerhin hatten sie überhaupt welche gehabt, andere Bauerskinder mussten barfuß gehen.) Und man lernte, so gut und so viel man konnte, wenn man überhaupt zur Schule gehen durfte (dafür hatte ihre Großmutter gesorgt!), denn mit spätestens vierzehn war das sowieso vorbei, bei ihr sogar schon mit dreizehn, weil die Eltern sie nicht mehr mit durchfüttern hatten können. Auch damals schon hatte sie keine Wahl gehabt, hatte zu den von Hohensteins gehen müssen. Und jetzt konnte sie nur hoffen, dass ihr Leben bei den Althoffs nicht noch schlimmer werden würde als bei den von Hohensteins. Konnte nur hoffen, dass sie sich einigermaßen wohlfühlen würde.
Schon wieder kamen ihr die Tränen, aber sie drängte sie tapfer zurück.
Gerade rechtzeitig, denn der Zug kam zum Stillstand, und kurz darauf öffneten sich zischend die Türen und gaben den Blick auf die große Halle des Anhalter Bahnhofs frei. Der Zug war nicht allzu voll gewesen, trotzdem strömten jetzt aus allen Türen Menschen, stoben in verschiedene Richtungen davon, vermischten sich mit den Wartenden am Bahnhof. Wie ein großer Ameisenhaufen, dachte Anni erneut.
»Ach, schau, was für ein Gewurle!«, bemerkte auch Lise und deutete auf eine Gruppe adrett gekleideter junger Männer, die vor ihrem Zugfenster entlangliefen.
»Gewurle? Ist das wieder eines von deinen Wiener Wörtern?«
»Ja, stimmt«, antwortete Lise verlegen. »Das muss ich mir abgewöhnen.«
Lise hatte schon ihr Köfferchen in der Hand und schaute Anni erwartungsvoll an. Es war Zeit auszusteigen, aber Anni wollte sich am liebsten in einer Ecke verkriechen – die Fahrt war nun doch viel zu schnell vorübergegangen!
Lise legte ihr freundlich eine Hand auf den Arm. »Es wird bestimmt nicht so schlimm.«
Wie klein Lise war, sah Anni erst jetzt. Im Stehen überragte sie Lise um fast einen Kopf. Und trotzdem wirkte Lise so selbstbewusst, so aufrecht. Anni beschloss, sich ein Vorbild daran zu nehmen, und straffte nun auch selbst die Schultern.
Als sie schließlich einen Fuß auf den Steinboden des Bahnhofs setzte und von der lärmenden Geräuschkulisse überwältigt wurde, stellte das ihre neu gewonnene Stärke gleich auf eine harte Probe. Allein wie anders es hier roch! Die Luft war stickig, aber kein Hauch von Kuhdung war darin – stattdessen eine schwere, rauchige Note. Und nach Menschen roch es, nach vielen Menschen.
Aber das war jetzt nun einmal ihr neues Leben, sagte sich Anni, und sie würde sich fügen. Es musste so sein. Das Gut der von Hohensteins würde sie nicht wiedersehen. Nie wieder.
Lise folgte Anni mit kleinen Schritten, und kurz darauf standen sie beide inmitten der Menschenmenge auf dem Bahnhof. Hinter ihnen schlossen sich die Türen des Zuges.
»Wo musst du hin?«, fragte Lise und schaute sich neugierig um. Anni musste zugeben, dass die riesige Halle sehr beeindruckend war. Etwas Vergleichbares hatte sie noch nie gesehen – so majestätisch und gewaltig. Und wie die Stimmen hier hallten! »Anhalter Bahnhof« stand in großen Lettern auf einer Tafel. Einer von vielen Bahnhöfen in Berlin, wie Anni wusste. In ihrem Dorf hatte es keinen Bahnhof gegeben, sie hatte zu Fuß laufen müssen, bis sie nach Zossen kam. Aber an diesen Weg, den sie fast nur weinend zurückgelegt hatte, wollte sie jetzt nicht mehr denken. »Ich muss in die Promenadenstraße 9«, antwortete sie deswegen schnell. »Das ist in Groß-Lichterfelde – so heißt die Gegend. Sie liegt südlich von hier.« Sie musste nicht einmal auf den Zettel schauen, den sie sich zur Erinnerung mitgenommen hatte. Sie wusste die Adresse auswendig. »Und du?«
»Ich muss versuchen, eine möglichst günstige Pension zu finden«, sagte Lise und wirkte auf einmal doch etwas verunsichert. »Ich werde mich schon zurechtfinden. So anders als in Wien kann es hier ja nicht sein!«
»Ich wünsche dir viel Glück«, sagte Anni und zögerte. Sie hatte das dringende Bedürfnis, bei der neu gefundenen Freundin zu bleiben – wenn man sie denn als Freundin bezeichnen konnte. Sie kannten sich ja gerade erst zwei Stunden, und doch hatte sie Vertrauen zu der jungen Frau mit dem lustigen Dialekt gefasst. Eine echte Wienerin! Und was für spannende Geschichten ihr Lise erzählt hatte! Anni hatte noch nie jemanden getroffen, der sich so gut mit den Naturwissenschaften auskannte und darüber auf eine Art sprach, die zeigte, dass sich hinter »Physik« mehr verbarg als nur unverständliche Formeln – nämlich eine eigene kleine Welt voller Geheimnisse.
Durch Lise und ihre Geschichten hatte Anni etwas Mut gefasst. Ohne ihre Gesellschaft wäre sie auch jetzt noch das kleine Häufchen Elend, das sie seit dem Abschied vom Gutshaus gewesen war. Aber ihre Wege mussten sich hier trennen.
»Vielleicht laufen wir uns ja bald wieder über den Weg«, versuchte Lise, die Stimmung aufzuheitern, und reichte Anni ihre Hand. »Es hat mich jedenfalls sehr gefreut, dich kennenzulernen!«
Anni hielt Lises Hand einen Moment lang fest, die klein und schmal war. Trotzdem hatte sie einen festen Händedruck. Anni wollte noch etwas sagen, da wurden sie mit einem Ruck auseinandergerissen. Eine junge Frau war gegen Lise gestolpert und hatte sie zum Schwanken gebracht.
»Oh je, das tut mir leid«, rief die Frau, eine hübsche Brünette mit einem so extravaganten, riesigen Hut, wie Anni ihn nur von ihrer alten Dienstherrin kannte.
Lise war der Koffer aus der Hand gefallen und aufgeklappt, und die drei Frauen bückten sich nun rasch, um den Inhalt wieder einzusammeln: einige schlichte schwarze Kleider und Röcke mit weißen Blusen, eng beschriebenes Papier mit merkwürdigen Formeln darauf – zumindest glaubte Anni, dass es Formeln waren – und ein paar Bücher, viel mehr hatte Lise sowieso nicht dabei.
»Es tut mir so leid«, sagte die junge Frau, der ihr Hut vom Kopf zu rutschen drohte, während sie sich bückte. Sie hatte gerötete Wangen, als ob sie gerannt wäre, und wirkte ganz außer Atem. »Ich bin heute ein wenig durch den Wind!«
»Das macht doch nichts.« Lise lächelte freundlich zurück und schloss ihren Koffer. »Wir sind auch neu in Berlin und noch völlig überwältigt.«
Und wie überwältigt sie waren, dachte Anni. Gerade fuhr erneut ein Zug ab, und es zischte und pfiff so laut, dass ihr ganz schwindelig wurde.
»Oh nein, das ist es nicht«, sagte die junge Frau und lachte übermütig. »Ich habe nur meinen Mann zum Zug gebracht. Aber Ihnen ein Willkommen in Berlin. Sie werden es sicher lieben. So!« Sie richtete freudestrahlend ihren Hut und nickte ihnen beiden zu.
Seltsam, dachte Anni, dass sie so fröhlich wirkt, wo sie doch ihren Mann zum Zug gebracht hat. Aber sie freute sich trotzdem, dass die erste Berlinerin, die sie trafen, so nett war. Vielleicht war die Großstadt doch weniger beängstigend und fremd, als sie gedacht hatte – dass sie zumindest schon zwei nette Frauen getroffen hatte, konnte man doch als gutes Zeichen werten, oder? Ihre geliebte Großmutter zumindest hatte an die Kraft von guten Omen geglaubt – und ganz oft hatte sie damit auch richtig gelegen.
»Sagen Sie«, hielt Anni die Frau schüchtern auf, bevor diese wieder in der Menge verschwinden konnte. »Ich suche den Zug nach Groß-Lichterfelde Ost. Wissen Sie, wo ich da hinmuss?«
»Groß-Lichterfelde Ost?« Die junge Frau runzelte die Stirn. »Da fährt von hier nur eine Fernbahn hin. Für die Stadtbahn müssten Sie da sicherlich zum Potsdamer Bahnhof! Das ist aber nicht weit von hier. Ungefähr in die Richtung.« Sie zeigte einmal durch die Halle. Als sie Annis Blick sah, lachte sie. »Ich kann mir vorstellen, dass das am Anfang etwas überwältigend ist. Ich wohne ja auch nicht in Berlin, sondern in Charlottenburg, da ist es etwas ruhiger. Aber an den Trubel gewöhnt man sich schnell.«
»Wenn Sie meinen.« Anni versuchte, nicht allzu skeptisch zu klingen.
Die Brünette lachte wieder. »Ach, wissen Sie was, ich zeig’s Ihnen! Kommen Sie mit! Und Sie, brauchen Sie auch Hilfe?«
Die junge Frau richtete ihre strahlend blauen Augen auf Lise.
»Nein, danke, es wird schon gehen«, sagte Lise und umfasste fest ihre Tasche. Wie tapfer sie war, dachte Anni.
»Na dann, auf«, sagte die junge Frau. Anni blieb gerade Zeit, sich noch einmal von Lise zu verabschieden, dann folgte sie der ungestümen Frau, die sich mit beneidenswerter Geschicklichkeit einen Weg durch die Menschen bahnte. Ihr hübsches Kleid bauschte sich hinter ihr. Erst jetzt fiel Anni auf, wie fein sie gekleidet war. Mit dem kornblumenblauen Kleid aus Seide, das mit aufwendigen Stickereien versehen war, war sie in der überwiegend schlicht gekleideten Menge ein echter Farbklecks. Eine merkwürdige Frau, fand Anni. So sorglos, als könnte sie rein gar nichts niederdrücken. Ganz sicher eine feine Dame – allein die Spitzenhandschuhe, die sie trug, und der große Hut mit der Pfauenfeder zeugten davon – und trotzdem so herzlich, dass sie jemandem wie Anni den Weg zeigte.
Dafür war sie umso dankbarer, als sie aus dem Bahnhof heraustraten und sich auf den Weg zum Potsdamer Bahnhof machten – vorbei an Droschken mit Pferden und motorbetriebenen Kraftdroschken, die über das Pflaster rumpelten, vorbei an feinen Damen und Herren, die die breite Allee entlangflanierten. Lise hatte völlig recht: ein wahres Gewurle war das! Beinahe wäre Anni gegen einen Mann gestoßen, der ein Schild hielt, auf dem heiße Würstchen angepriesen wurden. Da war es gut, dass die junge Frau, die sich als Hedwig vorstellte, fröhlich vor sich hin plapperte und Anni damit von all den neuen Eindrücken ablenkte.
Es war schon Abend geworden, als Anni endlich in Groß-Lichterfelde Ost ankam. Der Bahnhof war zu Annis Erleichterung nicht mit dem Anhalter Bahnhof oder dem Potsdamer Bahnhof zu vergleichen. Ruhig und dörflich lag Groß-Lichterfelde in der Abenddämmerung vor ihr. Hier und da surrte leise eine Gaslaterne und spendete ein sanftes, gelbes Licht, ansonsten war es still und dunkel. Zum ersten Mal an diesem Tage konnte Anni richtig durchatmen. Sie hatte es so weit geschafft. Nun würde sie auch noch das letzte bisschen Weg bewältigen.
Sie ging ein paar Meter den Bahnhofsvorplatz entlang und schaute sich neugierig um. Aber vor sich sah sie nur dunkle Straßen, die allesamt gleich aussahen: schmale Alleen, umsäumt von dunkel wogenden Bäumen, aber ohne die Geräusche, die sie vom Land kannte. Kein Pferd wieherte, kein Hund bellte. Diese Stille war beängstigend. Als sei es tiefste Nacht, dabei war es erst Abend. Dann hörte sie ein leises »Tock, tock«, und kurz darauf sah sie einen älteren Herrn mit Gehstock, der ihr auf der Straße entgegenkam.
Anni nahm all ihren Mut zusammen und sprach ihn an: »Entschuldigen Sie, ich suche die Promenadenstraße 9. Könnten Sie mir sagen, wo ich da hinmuss?«
Der Mann musterte sie prüfend und lächelte dann. »Das neue Dienstmädchen vom Herrn Geheimrat Althoff, was?«
»Sie kennen ihn?«, fragte Anni überrascht. Bei einer so großen Stadt wie Berlin hätte sie erwartetet, dass sich hier niemand kannte. Sagte man nicht von Großstädtern, dass sie immer für sich blieben? Nun, sie waren ja hier etwas außerhalb von Berlin, vielleicht galt das da nicht mehr.
Der Mann lachte laut und polternd, dass es in der dunklen Straße widerhallte. Wäre er nicht schon so alt gewesen, hätte Anni es jetzt mit der Angst zu tun bekommen.
»Den Herrn Althoff kennt hier doch jeder! Sogar ein Platz in Steglitz ist nach ihm benannt! Und eine Straße!«
Ein eigener Platz? Und eine eigene Straße?
Anni wurde ganz schwindelig. Ihr war nicht bewusst gewesen, dass dieser Herr Althoff solch eine Persönlichkeit war. Eine Berühmtheit offenbar! Dabei war er doch nur Beamter in einem Ministerium in Berlin. Aber sie wusste ja ohnehin nicht viel. Diese Arbeit hatte ihr alter Dienstherr ihr verschafft, der sie dringend hatte loswerden wollen. Und genau deswegen hatte Anni auch bisher nur das Schlechteste von jenem mysteriösen Herrn Althoff gedacht.
»Jedenfalls müssen Sie da hinein, junges Fräulein«, sagte der Mann nun und wies ihr den Weg in eine der dunklen Straßen. »An der nächsten Ecke links, das ist dann schon die Promenadenstraße. Fünf Minuten laufen Sie dort entlang, dann sind Sie schon da. Das hübsche sandfarbene Haus auf der rechten Seite, Sie können es nicht verfehlen!«
»Danke schön.« Anni knickste schüchtern und beeilte sich dann, den gezeigten Weg einzuschlagen.
Und tatsächlich: Wenige Minuten später kam sie bei der Villa an. Sie fühlte sich, als wäre sie gerannt, aber es war nur ihr Herz, das so stürmisch in ihr holperte. Ihre Finger, die ihr weniges Hab und Gut umklammerten, fühlten sich ganz klamm an.
Eine Auffahrt führte zu dem Haus, das ein hübscher, kleiner Garten umgab, in dem ein paar Blumen blühten. Der Duft erinnerte Anni an ihr zu Hause – violette und rosafarbene Astern und hellblauer Lavendel. Es musste hier einen Gärtner geben, der so einen schönen Garten pflegte.
Anni ließ sich noch einen Moment Zeit, um durchzuatmen. Ihr Herz klopfte noch immer hektisch. Dann nahm sie sich zusammen. Auf ein Neues, dachte sie sich, schritt beherzt durch das schmiedeeiserne Tor auf das Haus zu und betätigte die Drehklingel aus Messing.
Drinnen blieb es ruhig. Dann hörte man eilige Schritte, und kurz darauf wurde die Tür aufgerissen. Eine magere, ältere Frau stand im Türrahmen, streng gekleidet in einem dunkelblauen Kleid, das sie bis oben hin zugeknöpft hatte. Auch die hellen Haare, durchzogen von grauen Strähnen, waren streng nach hinten gebunden. Sie musterte Anni mit unbewegtem Gesicht von Kopf bis Fuß.
»Du musst Anni sein«, sagte sie dann. Aus ihrer Miene ließ sich nicht schließen, ob sie zufrieden war mit dem, was sie sah, oder enttäuscht.
Anni knickste und versuchte, tapfer zu lächeln. »Ja, das bin ich, gnädige Frau.«
»Mein Name ist Marie Althoff, deine neue Dienstherrin, und du wirst mich Madame nennen.«
»Ja, Madame.«
Ein leichtes Lächeln spielte um die strengen Züge der neuen Hausherrin. »Nun steh nicht so herum, herein mit dir!«
Die Frau machte einen Schritt zur Seite, und Anni trat hastig in die Diele.
Der Eingangsraum war hell erleuchtet und behaglich eingerichtet. Alles war wesentlich kleiner als auf dem prächtigen Gut der von Hohensteins mit den Marmorsäulen, die die Eingangshalle zierten. Hier waren die Wände holzvertäfelt, Türen führten in weitere Zimmer, und eine Wendeltreppe wand sich bis in den ersten Stock.
»Du bist sicher müde von der Reise«, bemerkte Marie Althoff und musterte Anni erneut.
»Ja, Madame«, gab Anni zu. Es half ja auch nichts, es zu leugnen. Jetzt, wo endlich ein Teil der Anspannung von ihr abfiel, war sie so müde, dass sie hätte umfallen können.
»Du wirst dem Hausherrn vorgestellt, danach zeige ich dir deine Kammer«, befand Marie Althoff.
»Sehr gerne, Madame.«
Wieder lächelte ihre neue Hausherrin. Anni fand, dass sie, wenn sie lächelte, gar nicht mehr so furchteinflößend wirkte. Nur ein wenig streng vielleicht.
»Hier entlang.«
Marie Althoff zeigte ihr das Haus, die Zimmer im Erdgeschoss, die sie betreten durfte – das Wohnzimmer mit seinen großen Eichenmöbeln und der riesigen Vitrine voller Geschirr, die Küche mit dem Herd und einem kleinen Esstisch –, und führte sie dann ein Stockwerk höher.
»Hier ist das Arbeitszimmer meines Mannes.« Marie Althoff zeigte auf eine geschlossene lackierte Flügeltür. »Da darfst du nur hinein, wenn du gerufen wirst. Hast du das verstanden?«
»Ja, Madame«, brachte Anni heraus. Ihr Herz hatte wieder angefangen, wild zu schlagen, und erschwerte ihr das Sprechen. Wie würde Friedrich Althoff sein? Wenn er so war wie Alfred von Hohenstein, würde sie dann erneut eine furchtbare Zeit durchleben? Würde es ihr am Ende gar ergehen wie ihrer liebsten Freundin Margarete?
Aber daran wollte Anni jetzt nicht denken. Stattdessen nickte sie tapfer und schaute atemlos zu, wie ihre neue Herrin an die Tür klopfte und sie schließlich öffnete, als von drinnen ein polterndes »Herein« ertönte.
»Unser neues Dienstmädchen«, verkündete die Herrin und gab dann den Blick für Anni frei.
Der Raum war größer, als sie erwartet hatte: ein sehr geräumiges Arbeitszimmer, dessen Seiten mit wuchtigen Schränken zugestellt waren – bis oben hin voller Akten und Bücher. Mittendrin stand ein imposanter Schreibtisch, auf dem sich ebenfalls Bücher türmten, dahinter saß ein kräftiger Mann mit weißem Vollbart und runder Brille, der nur flüchtig nach oben schaute.
»Schön«, sagte er zerstreut, dabei hatte er sie gar nicht richtig angeschaut. Und jetzt vertiefte er sich sogleich wieder in seine Lektüre.
»Ist noch etwas?«, fragte er schließlich unwirsch, und Anni merkte, dass sie sich keinen Schritt von der Stelle bewegt hatte.
»Na, komm schon.« Ihre Hausherrin nahm sie am Arm und führte sie wieder zur Wendeltreppe. Die Flügeltüren zum Arbeitszimmer schloss sie sorgfältig. Anni musste ein erleichtertes Aufatmen unterdrücken.
»Er arbeitet sehr viel«, sagte Marie Althoff, als sie die Treppe wieder hinunterstiegen. »Und er braucht vor allem abends seine Ruhe. Alles Weitere werde ich dir morgen erklären.«
Sie standen nun wieder im Erdgeschoss, und Marie Althoff winkte sie in die Küche. Dahinter führte ein kleiner Flur zu zwei weiteren Zimmern. »Hier ist die Speisekammer und dahinter ist deine Kammer«, erklärte die Hausherrin. Sie öffnete eine Tür und zeigte Anni das Zimmer, das klein und zweckdienlich eingerichtet war: Es gab ein Bett, einen Waschtisch mit Schemel, sogar einen kleinen Schreibtisch, auch wenn Anni nicht wusste, wozu ein Dienstmädchen so etwas brauchen könnte. Auf einem Nachttisch stand eine Petroleumlampe, das Fenster zeigte direkt auf ein Asternbeet im Garten.
»Ruh dich aus. Morgen um 6.30 Uhr erwarte ich dich im Esszimmer.« Die Hausherrin drehte sich auf ihre steife Art um, wandte sich dann aber noch einmal an Anni. »Es ist gut, dass du da bist«, sagte sie, leise zwar, aber mit einem leichten Lächeln auf den schmalen Lippen. Und dann hatte Marie Althoff sie auch schon allein gelassen und die Tür hinter sich geschlossen. Ihre Schritte hallten im Flur nach, dann war es leise. Sehr leise.
Völlig erschöpft sank Anni auf dem Bett zusammen. Es war weicher, als es aussah, sogar ein Kissen gab es. Anni schloss die Augen und lauschte ihrem eigenen Herzschlag.
Obwohl sie so müde war, konnte sie nicht einschlafen.
Berlin begrüßte Lise am nächsten Tag mit Regen. Die Schwüle des gestrigen Tages hatte sich in der Nacht in einem heftigen Gewitter entladen. Die sturmgrauen Wolken hatten sich über den hohen Häusern bedrohlich zusammengebraut, dann waren solche Wassermassen auf den Boden geprasselt, als leerte ein wütender Gott ganze Kübel über der Stadt aus. Lise hatte sich das Spektakel durch das schmutzige Fenster ihrer Pension angeschaut. Die Fensterläden klapperten im Wind, und im Zimmer zog es. So hatte sie sowieso nicht schlafen können. Außerdem prangte an der Wand ein großer Schimmelfleck.
Jetzt aber brodelte die Aufregung wieder in ihrem Bauch und ließ sie ihre Müdigkeit und den leichten Nieselregen, der aus dem grauen Himmel auf sie herabtröpfelte, vergessen. Gewaltige Bauwerke säumten die vielbefahrene Friedrichstraße, während in den kleineren Straßen im Umfeld kaum jemand unterwegs war. Dafür hämmerte und krachte es an jeder Ecke. Als wäre Berlin eine einzige Baustelle! Und als sie nach einem kleinen Fußmarsch in der Straße »Unter den Linden« ankam, konnte sie gleich das prächtige Gebäude der Staatsoper bewundern. Ob sie sich jemals eine Eintrittskarte würde leisten können? Dann allerdings entdeckte Lise die Universität, und jede Sehnsucht nach musikalischer Zerstreuung war vergessen. Beinahe wäre sie unter die Räder geraten, weil sie es so eilig hatte, endlich zum Hauptgebäude der Universität zu gelangen.
Vor den Toren der Universität »Unter den Linden« wurde ihr nur zu bewusst, dass sie im Begriff war, den nächsten wichtigen Schritt ihres Lebens zu machen: einen weiteren Schritt in Richtung einer wissenschaftlichen Laufbahn. In Richtung ihrer großen Leidenschaft, der Physik. In Richtung einer noch völlig unbekannten Welt des Wissens, die es zu entdecken galt.
Lise durchschritt das von zwei großen Sockeln flankierte Tor und begutachtete dabei das Hauptgebäude der Universität. Prunk war sie aus Wien nur zu Genüge gewöhnt, aber ein so riesiges und dabei majestätisches Bauwerk, das allein der Wissenschaft gewidmet war, war noch einmal besonders beeindruckend. Lise wünschte, sie würde sich besser in Architektur auskennen, um auch wirklich ermessen zu können, wann und wie so etwas Schönes gebaut werden konnte und was für eine Arbeit darin steckte. So aber stand sie nur staunend da und bewunderte das Gebäude.
Es sah aus wie ein Schloss. Hohe Säulen schmückten das große Gebäude an der Front, und obendrauf prangten mehrere Statuen, die man von hier unten kaum erkennen konnte, aber sie schienen wissend in die Welt hinauszuschauen. Die Eingangstür stand offen, und ab und zu schritt ein Student beherzt von dort in den begrünten kleinen Vorgarten, der die Universität von der lauten und trubeligen Straße »Unter den Linden« trennte.
Lise nahm die kleine Stufe und fand sich kurz darauf in einer großen Eingangshalle wieder. Eine von Säulen umrahmte, mächtige Treppe, die sich auf der Mitte zu zwei Treppenläufen teilte, führte in den ersten Stock. Kronleuchter hingen von der Decke und malten Lichtreflexe auf den glänzenden Marmorboden.
Jetzt war es zunächst wichtig, alle Formalitäten zu klären, damit ihrem weiteren Studium nichts mehr im Wege stand. So etwas wie Formalitäten war nämlich genau das, was Lise gerne einmal vergaß. Als Erstes würde sie sich um die Immatrikulation kümmern. Wenn dann noch Zeit blieb, wollte sie dem Institut für Physik einen ersten Besuch abstatten – und danach musste sie sich wohl oder übel eine bessere Unterkunft suchen.
Die amtliche akademische Anlaufstelle, entnahm sie einer Informationstafel, war im Seitenflügel untergebracht, und Lise durchstreifte den ersten Korridor. Da noch vorlesungsfreie Zeit war, war die Universität recht leer, nur einige elegant gekleidete junge Männer durchschritten redend die Flure. Und tuschelten miteinander, wenn sie Lise sahen. Einer, das merkte sie genau, schaute ihr hinterher.
Ob die noch nie eine Frau gesehen hatten, fragte sie sich. Es war schon merkwürdig, dass sie bisher keiner einzigen anderen Frau begegnet war. Freilich hatte es auch in Wien eher wenige Frauen an der Universität gegeben, aber die Tendenz war steigend. Unter den Studentinnen hatte sie einige gute Freundinnen gefunden, und sie hoffte natürlich, dass es hier auch so sein würde. So manches Mal war sie gemeinsam mit ihrer Kommilitonin Selma die maroden Treppen des Physikinstituts hinaufgestiegen. Es war schön gewesen, nicht nur von jungen Männern umgeben zu sein. Allein schon, weil man dann nicht ständig so ungebührlich angestarrt wurde, wie zum Beispiel jetzt von den zwei Burschen mit gewaltigen Schnauzern, die ihr entgegenkamen.
Wenigstens hatte sie jetzt die akademische Anlaufstelle gefunden, wie ein Schild ihr verriet. Vor dem Raum warteten auch schon zwei junge Männer, denen sie freundlich zunickte.
Es dauerte eine Ewigkeit, die Lise auf einem unbequemen Stuhl warten musste, bis sie endlich an der Reihe war. Außer ihr wartete nun niemand mehr im Gang, und als die Tür geöffnet wurde und der schmächtige Student, der eben dahinter verschwunden war, wieder herauskam, stand sie sofort auf.
Der zuständige Beamte, ein hagerer Mann mit einem langen Gesicht, schaute sich im Gang um, als suchte er nach jemand anderem. Erst dann wanderte sein Blick zu Lise.
»Also gut«, grummelte er, als machte er ein großes Eingeständnis.
Er hielt Lise die Tür auf und schloss sie, kaum dass sie beide in dem kleinen Büro standen. Dann setzte er sich hinter seinen ordentlich sortierten Schreibtisch und schaute sie abwartend an. »Nun?«
»Ich möchte mich immatrikulieren«, sagte Lise und versuchte, ihrer Stimme einen möglichst selbstsicheren Klang zu geben.
Der Beamte runzelte die Stirn und schaute sie dann an, als hätte sie ihm gerade einen schlechten Witz erzählt. »Immatrikulieren? Sie wollen mich wohl veräppeln!«
»Ganz und gar nicht. Ich bin hier, um Physik zu studieren«, erwiderte Lise tapfer. Die zusammengezogenen Augenbrauen des Beamten verunsicherten sie. Jetzt runzelte der Beamte dazu noch einmal die Stirn und lehnte sich vor.
»Sagen Sie, Fräulein …?«
»Meitner«, sagte Lise. »Lise Meitner.«
»Sagen Sie, Fräulein Lise Meitner«, wiederholte der Beamte. »Kommen Sie vom Mond?«
»Nein«, stotterte Lise. Sie war irritiert, das lief nicht so, wie sie es erwartet hatte. »Aus Wien«, schob sie schnell hinterher. »Ich habe dort Physik studiert und möchte nun bei Professor Planck weiterstudieren. Er ist bereits über mein Kommen informiert.«
Das hoffte sie zumindest. Geschickt hatte sie ihm all ihre Aufsätze schon vor einigen Wochen – eine Antwort hatte sie allerdings nicht bekommen. Aber schließlich war der Professor ja auch sehr beschäftigt.
»Nun, Fräulein Meitner«, sagte der Beamte mit strenger Stimme. »Bei uns in Preußen läuft es so: Sie sind eine Frau, und Frauen können sich an dieser Universität nicht immatrikulieren. Wir sind eine Traditionsuniversität! Ob sie nun bereits Physik studiert haben oder nicht.«
»Oh.« Mehr brachte Lise nicht hervor.
»Sie können allerdings einen Antrag auf Gasthörerschaft stellen«, fuhr der Beamte nun etwas freundlicher fort. »Diesem wird unter Umständen stattgegeben. Es fallen die üblichen Gebühren an, zuzüglich der Gebühren für eventuelle Privatkurse, die Sie besuchen möchten. Jedenfalls müssen Sie den Antrag sowohl hier stellen als auch beim betreffenden Professor, bei dem Sie hospitieren möchten. Jeder Professor entscheidet selbst, ob er Frauen in seinen Vorlesungen duldet oder nicht. Außerdem müssen die Fakultät und das Kultusministerium zustimmen. Da Sie eine Frau sind, brauchen Sie die Zustimmung all dieser Institutionen, um eine Sondergenehmigung zu bekommen.«
Lises Herz fühlte sich an, als drückte es jemand kräftig zusammen. Wieso hatte sie sich nicht besser über die preußischen Gepflogenheiten informiert? Sie hätte erst einmal Erkundigungen einholen sollen, nicht nur Briefe an Professor Planck schreiben. Aber daran hatte sie mal wieder nicht gedacht, sich nicht für das Drumherum interessiert – genau wie ihre Schwestern immer sagten: »Wenn’s nicht im Physikbücherl steht, versteht das Liserl nichts davon.«
»Sie können direkt bei Herrn Professor Planck vorsprechen«, fuhr der Beamte fort. »Ich sage Ihnen aber gleich, dass das nicht leicht wird. Professor Planck ist Frauen in seinen Vorlesungen gegenüber zumeist negativ eingestellt.«
»Gut, dann«, Lise schwand der Mut, »danke.«
Der Beamte zögerte einen Moment, griff dann aber zu einem Stück Papier und kritzelte unleserlich etwas darauf. »Hier steht seine Raumnummer. Das Institut für theoretische Physik ist im Hauptgebäude untergebracht. Vergessen Sie nicht, das Anmeldeformular wieder hier abzugeben. Sollte er Sie akzeptieren und von Fakultät und Kultusministerium kein Widerspruch kommen, werden für die Einschreibung als Gasthörerin sechs Mark fällig, die Kolleggelder natürlich dann zuzüglich, je nachdem, was Sie für Veranstaltungen besuchen. Sie sollten wohl alles in allem nicht weniger als ein- bis zweihundert Mark einrechnen.«
Ein- bis zweihundert Mark? Und das für nur ein Semester? Lise rechnete im Kopf nach, wie viel sie noch zur Verfügung hatte. Das würde knapp werden. Aber sie hatte ja ohnehin vorgehabt, sich durch Privatstunden etwas dazuzuverdienen – das hatte in Wien jedenfalls gut geklappt. Auch wenn sie sicherlich pro Stunde nicht mehr als ein paar Mark würde nehmen können, wenn überhaupt.
»Danke«, brachte sie noch einmal hervor und verließ dann fluchtartig den engen Raum. Sie wollte auf keinen Fall, dass der Beamte sah, wie erschrocken sie über diese strengen Vorgaben war. Dabei hatte sie sich das alles so viel leichter vorgestellt. Was war sie nur wieder naiv gewesen!
Draußen im Flur saßen nun zwei weitere junge Männer und zu Lises Überraschung auch eine junge Frau mit einem auffälligen Hut, die ihr merkwürdig bekannt vorkam. Die junge Frau schaute hoch. Als sie Lise entdeckte, breitete sich sogleich ein Lächeln auf ihrem Gesicht aus.
»Na, so was, Sie sind doch die Frau vom Anhalter Bahnhof gestern«, rief sie laut, ungeachtet dessen, dass sie ja gar nicht alleine im Gang waren und der Beamte gerade schon mit verdrießlicher Miene den nächsten Burschen zu sich ins Büro rief.
Jetzt erinnerte sich auch Lise: Die junge Frau hatte sie am Bahnhof angerempelt, und daraufhin hatte sich Lises ganzes Hab und Gut auf dem Bahnhofsboden verteilt.
»Sie sehen aber gar nicht glücklich aus«, bemerkte sie. »Ist es da drinnen sehr schlimm?«
»Das kommt wohl darauf an, was man erwartet«, erwiderte Lise, »ich wollte mich immatrikulieren, aber mir wurde gesagt, das sei für Frauen gar nicht möglich. Nur Gasthörerschaft und dazu ein Haufen Formalitäten!«
»Das stimmt«, bekräftigte die andere Frau, »es ist eine Schande! Aber keine Sorge, wenn Sie zu den wenigen glücklichen Frauen gehören, die überhaupt ein Abitur haben, wird so ein Gasthörerantrag oft angenommen. Also zumindest, wenn Sie keinen Diebstahl oder dergleichen begangen haben und Ihr Mann zustimmt – das wird nämlich alles geprüft, sogar ein Leumundszeugnis können die anfordern. Unglaublich, oder?« Die Frau verzog das Gesicht. »Aber ich sollte mich wohl lieber nicht zu laut darüber aufregen, sonst wird mir das noch als politisch angekreidet, und ich kann meinen eigenen Gasthörerantrag vergessen. Frauen dürfen ja auch keine Politik machen. Nur Kulturelles! Pff!«
Die Frau rümpfte die Nase, und Lise dachte, dass sie dafür, dass Frauen hier anscheinend noch weniger durften als in Wien, recht unbefangen an einem öffentlichen Ort solche Reden schwang. Der junge Mann, der noch mit ihnen wartete, schaute misstrauisch zu ihnen herüber.
»Nun gucken Sie nicht so erschrocken! So schnell wird man nun auch wieder nicht verhaftet. Glauben Sie mir, ich kenn mich da aus.« Die andere Frau lachte, als sie Lises Gesichtsausdruck sah. »Mein Name ist übrigens Hedwig.« Sie hielt Lise die Hand hin. »Ich freue mich, dass wir bald Kommilitoninnen sein werden. Was werden Sie denn für Fächer wählen? Ach ja, und sag doch Du, bitte.«
»Lise«, erwiderte Lise und ergriff die Hand der anderen. »Und Physik.«
»Physik? Also, mich interessieren ja mehr die Geschichtswissenschaften, Literatur vielleicht, und Psychologie.«