Worte und Wunder - Ann-Sophie Kaiser - E-Book

Worte und Wunder E-Book

Ann-Sophie Kaiser

0,0
9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Wer braucht Bücher, wenn die Butter fehlt fürs Brot? Alle, die vom Aufbruch träumen … Es geht ums Überleben, aber die junge Ruth, Tochter einer Buchhändlerfamilie, weigert sich, nur an die Butter fürs Brot zu denken. Der Vater hat für die Literatur gelebt und tüchtig war er auch. Er wollte den Namen der Familie großmachen. Die Buchhandlung erweitern. Schlimm, dass er mit ansehen musste, wie der alterwührdige Laden am Rathaus Schöneberg ausbrannte. Das war, als würde das Feuer auch an ihm fressen. Friedrich war sein Hoffnungsträger, Ruths Ideen hat er nicht gehört. Aber jetzt ist sie am Zug. Sollen die anderen Kartoffelschalen abkochen. Berlin braucht Stimmen und Geschichten. Berlin braucht Fantasie. Die dunklen Jahre sind vorbei. Die Buchhandlung Klinger hat überlebt …

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 458

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Über das Buch

»In der Luft lag Trümmerstaub, aber auf den Straßen spielten Kinder und die Nachbarn standen schwatzend beieinander. Alle packten mit an. Rosa, Elisabeth und Ruth hatten sich freiwillig gemeldet und, wie viele andere auch, Schaufel um Schaufel Schutt beiseitegeschafft. Was für ein Anblick das gewesen war: Frauen in ihren Sonntagskleidern (schließlich hatte jede nur ihre schönste Garderobe aus dem Haus gerettet), in einer Kette, schwitzend, stöhnend, aber wild entschlossen …«

Der Blick zurück ist schmerzhaft, und nach vorn schauen erfordert Mut. Aber Ruth, Tochter einer Buchhändlerfamilie, ist keine, die sich wegduckt. Sie will die Buchhandlung Klinger wieder großmachen. Mehr als je zuvor brauchen die Menschen Stimmen und Geschichten, brauchen sie die Gnade der Fantasie. Schade nur, dass ihre Schwägerin Rosa ein so unpraktisches Ding ist. Und was sucht die junge Lore hier bei ihnen? Plötzlich stand sie vor der Tür, ganz auf sich allein gestellt und voller wildem Lebenswillen. Nur, wenn sie sich zusammentun, können Wunder geschehen …

 

 

 

 

Für meine Großeltern

Prolog

»Fette Kuh!« – Das hatten die Mädchen und die Jungen ihrer Klasse ihr nachgerufen, als sie jünger war. Und sie hatten sie während des Unterrichts gehänselt, immer wenn der Lehrer sich zur Tafel wandte. Die gemeinen Reden hatten Ruth nicht abgehalten. Genauso wenig wie die dummen abschätzigen Blicke ihres jüngeren Bruders Friedrich, wenn sie bis abends spät am Schreibtisch saß und las.

Nein, das war jetzt Vergangenheit. Den Abschluss hatte sie so gut wie in der Tasche, und ihr Kopf würde bald platzen, so viel Wissen, so viele Worte und Geschichten hatte sie darin gespeichert.

Ruth stand mit durchgedrücktem Rücken vor ihrem Vater und registrierte, wie seine dichten Augenbrauen sich zusammenzogen.

Der Vater war ganz ruhig, nur sein rechter Zeigefinger tippte auf den Bücherstapel vor ihm auf der Theke. Zuoberst lag Hitlers ›Mein Kampf‹.

Die Mutter mochte dieses Buch nicht, am liebsten hätte sie es aus dem Sortiment verbannt, das wusste Ruth genau. Und auch der Vater wusste das.

Freilich verlor niemand ein Wort darüber. Überhaupt wurde immer weniger gesagt in diesen Zeiten. Offen und redselig waren eigentlich nur noch die Bücher. Auch deshalb liebte Ruth sie so.

Jetzt gab sie sich einen Ruck.

»Ich wollte mir dir darüber sprechen, ob es wohl sinnvoller wäre, wenn ich im Herbst auf eine Handelsschule ginge.«

Zwischen den mächtigen Augenbrauen des Vaters war jetzt kein Fleckchen Haut mehr. Ruth dachte an eine geschlossene Gewitterdecke über einer kargen Landschaft.

»Ich könnte aber auch bei einem Verlag oder einer anderen Buchhandlung in die Lehre gehen«, schob sie unsicher hinterher.

»Eine Handelsschule? Ein Verlag?«

Einen Moment lang sah er aus wie sein eigener Vater, Ruths bereits verstorbener Großvater. Auch Ruths Großvater war Buchhändler gewesen. Und Ruth würde die Tradition fortführen. Darum zermarterte sie sich schließlich den Kopf darüber, was als Nächstes käme.

Ruth war mit dem Rascheln und Knacken der Bücher, der staubigen Luft und der Liebe zu Geschichten aufgewachsen. Und anders als ihre beiden jüngeren Brüder Friedrich und Georg, die sich nur selten im Buchladen blicken ließen, hatte sie sich immer redlich bemüht, das buchhändlerische Handwerk, das Organisationsgeschick mitzulernen, indem sie half, wo sie nur konnte.

»Ich will ja bestens vorbereitet sein und alles lernen, was es braucht, um Buchhändlerin zu werden«, sagte sie, etwas mutiger geworden.

Wovon sie im Geheimen träumte, würde sie nicht verraten, nicht einmal der Mutter. Eines Tages würde sie diese Buchhandlung führen.

Und ihr Vater würde es verstehen – schließlich waren sie sich ähnlich. Er hatte den ehemals kleinen Buchladen seines Vaters vergrößert und zu einem richtigen Palast der Bücher gemacht. Keine andere Buchhandlung in Berlin war so schön wie die der Klingers!

Nun, zumindest bevor die Buchauswahl so schmählich verkleinert worden war.

»Ach so.« Jetzt klärte sich der Gesichtsausdruck ihres Vaters. Er wirkte erleichtert, als hätte er endlich begriffen, was sie von ihm wollte. »Da brauchst du doch keine Handelsschule, du bist uns auch so schon eine große Hilfe. Ist es, weil Willi jetzt auf der Handelsschule ist? Ruth, lass dem Jungen etwas Freiraum.«

Ruth klappte empört den Mund auf. Willi, ihr Freund aus Kindertagen, spielte bei diesem Gespräch doch überhaupt keine Rolle! Für ihren Vater war es seit jeher eine ausgemachte Sache, dass sie eines Tages heiraten würden. Und Ruth mochte Willi wirklich gern. Aber heute ging es nur um sie.

»Oh, die Jungs kommen.« Ihr Vater hatte sich schon abgewandt.

Ruth schaute entsetzt nach draußen. Musste Friedrich ausgerechnet jetzt hier auftauchen? Aber tatsächlich: Vor dem Schaufenster ging ihr jüngerer Bruder in einem Pulk seiner Freunde. Die Jungen kicherten über irgendetwas und schubsten sich lachend den Gehweg entlang. Georg, Ruths anderer Bruder und Friedrichs Zwilling, hielt sich etwas abseits. Er sah wie immer so aus, als wüsste er nicht so recht, was er hier sollte. Wer konnte es ihm verdenken? Ruth konnte Friedrichs Freunde von der HJ nicht ausstehen – das waren grobschlächtige, dumme Kerle, die Friedrich aus unerfindlichen Gründen um sich geschart hatte. Außer dummen Sprüchen brachten sie wenig über die Lippen. Erst neulich hatte einer von ihnen Witze über Ruth gemacht, nur weil sie einen hebräischen Vornamen trug – dabei war Ruth einer der beliebtesten Vornamen in ihrem Jahrgang gewesen, und Ruth liebte ihn. Sie konnte beim besten Willen nicht verstehen, warum ihr Vater beim Anblick seines Sohnes Friedrich immer so ein Leuchten in den Augen bekam. Genau wie jetzt. Dabei waren sie doch gerade mitten in diesem wichtigen Gespräch gewesen!

Ruth versuchte die Aufmerksamkeit ihres Vaters wieder auf sich zu lenken, aber da verabschiedete sich ihr Bruder schon von seinen Freunden und kam in den Laden, Georg im Schlepptau.

Obwohl sie Zwillinge waren, war Georg um einiges größer als Friedrich. Alles an ihm wirkte zu groß, die schlaksigen Arme, die Beine, und seine Kleidung dementsprechend zu klein. Eigentlich wirkte die ganze Welt für Georg zu klein. Jetzt stand er unbehaglich in einer Ecke, die Arme verschränkt, und wippte von einem Bein aufs andere.

Aber genau wie Ruth für ihren Vater sofort vergessen war, wenn Friedrich auftauchte, ignorierte er auch seinen jüngeren Sohn.

»Komm her, Friedrich, gleich kriegen wir wichtigen Besuch, den ich dir vorstellen will«, sagte Ruths Vater.

»Aber ich wollte …«, hob Ruth an, doch ihr Vater ging rüde dazwischen. »Später, Ruth, geh lieber deiner Mutter helfen.«

Hilfesuchend wandte sie sich um. Von Georg war keine Unterstützung zu erwarten. Ruth suchte den Blick ihrer Mutter, die neben dem Tresen stand. Die aber schaute sie nur an, in ihren Augen stand eine Mischung aus Mitleid und Resignation. Ihre Mutter war eine fantastische Buchhändlerin – auch wenn sie natürlich nur den Titel einer Buchhandelsgehilfin trug –, sie kannte alle Bücher, wusste immer instinktiv, was ihre Kundinnen und Kunden wollten. Ruth bewunderte sie für ihre Eleganz und ihre Klugheit. Und trotzdem hatte sie schon lange beschlossen, sich niemals so wie sie abspeisen zu lassen. Niemals würde sie es nur stumm geschehen lassen, wenn jemand anderes über sie bestimmte.

»Es ist aber wichtig«, beharrte Ruth deswegen. Langsam wurde sie wütend. Sie hatte so auf dieses Gespräch hingefiebert, und dann das.

Doch da betrat ein Besucher den Laden und sofort kam Leben in ihren Vater. »Heinrich, komm herein!«

Ob das wohl Heinrich Trebner war? Ruth musterte den Mann. Ihr Vater hatte vor Kurzem erwähnt, dass ein neuer Verleger nach Schöneberg gezogen war, einer, der das Geschäft aufmischen könnte. Es war immer wichtig, die Kontakte zu den Verlegern, Kommissionären und Antiquaren in der Nähe zu halten. Hinter dem Mann huschte ein blondes Mädchen in den Laden, einige Jahre jünger als Ruth und mit geflochtenen blonden Haaren. Das Mädchen sah aus wie eine Puppe und schenkte Ruth ein künstliches Lächeln. Ruth lächelte schmallippig zurück. Dieser Verleger interessierte sie deutlich mehr. Wer weiß, vielleicht konnte sie ja auch bei ihm in die Lehre gehen?

»Darf ich dir Friedrich, meinen Ältesten, vorstellen?« Der Vater hatte seinen Sohn schon mit nach vorn gezogen und Ruth klappte den Mund auf, um zu protestieren. Sie war das älteste Kind der Familie! Und als zukünftige Buchhändlerin sollte doch lieber sie bei dem Treffen dabei sein. Friedrich interessierte sich kein bisschen für den Buchladen. Mit seinen fünfzehn Jahren hatte er nichts anderes als Mädchen im Kopf.

»Ach, wie schön. Der Nachfolger also. Meine Tochter Rosemarie.« Der Mann griff nach der Hand des Mädchens. Sie schenkte Ruths Bruder gleich einen lieblichen Augenaufschlag, was dieser mit einem charmanten Grinsen quittierte.

»Na, dann wollen wir mal, oder?« Ihr Vater hatte schon seinen Hut genommen und wandte sich an Ruth und ihre Mutter. »Ihr passt kurz auf den Laden auf, wenn ich mit unseren Geschäftspartnern einen Kaffee trinken gehe.«

Es war keine Frage. Ruth hatte das Gefühl, sie müsse gleich platzen vor Wut. Dahin war all die hoffnungsvolle Aufregung. Jetzt fühlte es sich an, als hätte sich eine große Faust um ihr wild schlagendes Herz geschlossen.

Der Vater hielt seinem Besucher schon die Tür auf. Aber Trebner drehte sich noch einmal um, als wäre ihm erst jetzt aufgefallen, dass sie auch noch da waren. »War mir ein Vergnügen, die Damen. Auf bald. Heil Hitler!«

Und schon fiel die Tür hinter den Männern ins Schloss.

Nur Georg blieb verloren neben dem Eingang stehen, schaute der Gruppe hinterher, als wüsste er nicht, was da gerade passiert war. Ruth wusste es schon. Und in ihren Augen brannten Tränen der Zurückweisung.

Kapitel 1

Mai 1948

Ruth drehte das Reichsmarkstück in der Hand. Die Ladenglocke war gerade verklungen und durch das kleine Fenster neben der Tür sah sie Herrn Hagenbrink noch die Straße hinaufhumpeln. Das kostbare Buch, das er – mürrisch wie immer – gerade gekauft hatte, unter den Arm geklemmt. Der Stock, auf den er sich stützte, machte klackernde Geräusche auf dem Asphalt. Brummend und ratternd fuhr ein Lastwagen der Amerikaner vorbei. Dann war es wieder still im Laden, wenn man einmal vom Rascheln der Seiten absah – Frau Saalmann saß in dem Plüschsessel am großen Fenster und blätterte in einer Ansichtsbestellung. Sie saß fast jeden Tag hier und las sich durch eines der Bücher. Anders als der griesgrämige Herr Hagenbrink, der wenigstens regelmäßig seine Spardose köpfte, um in der »Buchhandlung Klinger« eine neue Kostbarkeit zu erwerben – heute war es die deutsche Erstausgabe von Camus’ »Die Pest« gewesen –, kaufte Frau Saalmann nie etwas. Sie forderte bei Ruth immer nur ein Buch an, das sie, wie sie immer mit ernster Miene versicherte, diesmal ganz bestimmt kaufen wolle, und machte es sich dann stundenlang in dem einzigen Sessel bequem.

Normalerweise würde Ruth jetzt wieder den Kopf darüber schütteln und überlegen, wie sie Frau Saalmann unauffällig dazu bewegen könnte, den einzigen guten Platz im Laden am großen Fenster, das hinaus auf die Kufsteiner Straße zeigte, auch einmal einem anderen Kunden zu überlassen, am besten einem, der auch wirklich etwas kaufte. Und normalerweise würde ihre stets viel zu freundliche Schwägerin Rosa, die manchmal im Laden aushalf, sie davon abhalten und sich stattdessen auf ein Schwätzchen zu Frau Saalmann gesellen. Aber Rosa war heute nicht da. Und Ruth war ausnahmsweise gut gelaunt. Mal abgesehen davon, dass sowieso kaum weitere Kunden zu erwarten waren, gab Frau Saalmann, die da konzentriert vor sich hin blätterte, diesem kleinen, düsteren Laden zumindest etwas von dem Zauber wieder, den die Buchhandlung der Klingers einst besessen hatte.

Wie wenig war ansonsten von dem Laden übrig, den Ruth in ihrer Kindheit und Jugend gekannt hatte. Dabei war das noch gar nicht so lange her. Und doch lag dazwischen ein ganzes Leben.

Damals hatte in der großräumigen Buchhandlung am Fenster ein ganzes Sesselarrangement gestanden und immer hatten Kunden darauf gesessen und waren in die schönsten Bücher vertieft gewesen – und zwar nicht in diese sperrigen, durch das harte, holzhaltige Papier wenig eleganten Bücher von heute, sondern in herrliche leinengebundene Ausgaben. Die Luft war immer ein wenig staubig gewesen, weil sie gar nicht hinterhergekommen waren, das große Lager in den hinteren Räumen jeden Tag zu entstauben.

Aber das war, bevor der Krieg kam und alles in Schutt und Asche legte, auch den Laden der Klingers. Bevor Ruth ihren Vater in einem anderen Licht zu sehen begann, bevor ihre Mutter verstummte, bevor Ruth, statt ihre Ausbildung zu beenden, überstürzt heiratete, nur um dann ihren Mann Willi an den Krieg zu verlieren, genau wie ihren Bruder Friedrich und schließlich auch den Vater.

Mit aller Kraft wehrte sie sich gegen die Beklemmung, die sie jetzt überfiel.

Sie war nun kein Kind mehr, sondern eine erwachsene Frau von siebenundzwanzig Jahren, Mutter eines kleinen Jungen, und vor allem war sie keine Träumerin, die nur der Vergangenheit nachhing. Nein, Ruth träumte nicht, Ruth hatte Visionen und sie hatte schon längst begonnen, sie in die Wirklichkeit umzusetzen: Sie würde den Buchladen, den ihre Familie seit Generationen führte, wiederaufbauen. Ob sie die erste Wahl ihres Vaters dafür gewesen wäre und ob sie überhaupt über die erforderliche Ausbildung verfügte, würde dann keine Rolle mehr spielen. Wenn der Wirtschaftsaufschwung, der früher oder später einsetzen musste, erst in Gang kam, würde die Buchhandlung so erfolgreich sein wie nie zuvor.

Bis dahin allerdings war es ein langer Weg.

Noch einmal betrachtete Ruth die Reichsmark in ihrer Hand, dann öffnete sie die Registrierkasse, um sie zu den anderen ins Fach zu legen. Kaum zu glauben, dass all diese klimpernden Münzen und die zerfledderten Scheine schon bald nichts mehr wert sein würden. Dabei war genau das der Grund für Ruths Optimismus.

Auch wenn die Besatzungsmächte ihre Pläne natürlich streng geheim hielten, mehrten sich seit Wochen die Gerüchte, dass bald eine Währungsreform stattfinden würde, die die alte, unnütze Währung fortnehmen und ihnen mit einer neuen Währung neue Hoffnung und einen Wirtschaftsaufschwung bringen würde.

Natürlich, die derzeitige schwierige Situation der Wirtschaft und damit auch der Buchhandlung lag nicht nur an der alten Währung, die Leute benutzten sie ohnehin kaum. Lebensmittel wurden streng rationiert und nur gegen Lebensmittelmarken ausgegeben, da brachte einem ein ganzes Vermögen an glänzenden Reichsmark nichts. Und alles Weitere bekam man auf dem Schwarzmarkt – aber nicht gegen Geld, sondern gegen Zigaretten.

Nein, auch die Produktionsstätten waren nach dem Krieg zerstört worden, und das hatte den Buchmarkt weit zurückgeworfen. Über die Hälfte aller Druckereien und Buchbindereien waren verloren, das wichtige Buchhandelsviertel in Leipzig, Deutschlands Buchhandelsstadt, war nahezu dem Erdboden gleichgemacht worden. Das hatte sie auch hier in Berlin schwer getroffen. Dazu kamen die harten Reparationen und dass die Sowjets alle Maschinen und alles aus den Fabriken, was nicht niet- und nagelfest gewesen war, abtransportiert hatten.

Aber der Krieg war nun drei Jahre her und Ruth spürte ganz deutlich, dass ein Umschwung bevorstand. Das sagte ihr schon die Vernunft. Denn die Amerikaner, die auch hier in Berlin-Schöneberg das Sagen hatten, würden ja wohl mitnichten vorhaben, die Deutschen für immer durchzufüttern. Wiedergutmachung konnten sie schließlich nur leisten, wenn ihre Wirtschaft wieder prosperierte.

Und jetzt hatte ausgerechnet der sonst eher schweigsame Herr Hagenbrink ihr den entscheidenden Hinweis gegeben, dass sie mit ihren Vermutungen richtiglag: Er hatte von einem ehemaligen Arbeitskollegen, dessen Nichte mit einem Amerikaner verheiratet war, gehört, dass die Amerikaner bereits angefangen hätten, eine neue Währung, Tonnen voller Banknoten, nach Westdeutschland zu transportieren. Auf das Gerede des alten Mannes, das meist nur seinen Unmut verriet, gab Ruth normalerweise nichts, aber es waren noch mehr von solchen Informationen durchgesickert, und so viele Gerüchte konnten nicht lügen. Die Ergebnisse davon waren hier in Schöneberg überall sichtbar.

Unwillkürlich schaute Ruth aus dem Fenster, zum Gemischtwarenladen auf der anderen Seite der Kufsteiner Straße. Dort gab es schon seit Wochen kaum anderes als Karotten und Kartoffeln zu kaufen – selbstverständlich nur gegen Lebensmittelmarken. Für Ruth war es offensichtlich, dass die Müllers, die den Laden betrieben, auf die gleiche Strategie setzten wie Ruth selbst: Jetzt, wo die neue Währung schon in den Startlöchern stand, hielten sie alle kostbaren Stücke zurück, um dann, sobald die Menschen die neuen Scheine in den Händen hielten, ihre Auslage mit den erlesensten Waren füllen zu können. Frau Müller war schließlich eine genauso gerissene Geschäftsfrau wie Ruth. Vermutlich stapelten sich in ihrem Lager die Dosenpfirsiche. Genau wie in Ruths Lager die besten Bücher, die sie selbst am meisten liebte, auf jenen glorreichen Tag in der Zukunft warteten, an dem endlich alles besser werden würde.

Frau Saalmann blätterte geräuschvoll um und seufzte dabei leise. Und vor dem Fenster klappte Frau Müller die Kreidetafel zusammen, auf der immer das Tagesangebot stand – vermutlich war heute schon alles ausverkauft.

Zwei kleine Jungen stürmten die Straße entlang und rannten Frau Müller beinahe über den Haufen. Ruth schüttelte den Kopf. Sie hatte ihrem siebenjährigen Sohn Peter und seinem besten Freund Lutz eingebläut, dass sie Rücksicht nehmen sollten, wenn sie auf der Straße spielten. Ein paar Passanten mussten ihnen ausweichen, als die beiden, einer Blechdose hinterherjagend, über den Bürgersteig flitzten. Peters dunkles Haar wirbelte im Wind, seine Wangen waren vor Aufregung gerötet und Ruth sah, dass seine offenen Schnürsenkel ihm beim Rennen beinahe um die Waden schlugen. Lutz’ Hemd hing aus der Hose heraus und war dreckbeschmiert.

Aber was sollte sie machen, hier in der Buchhandlung konnte sie schlecht auf die beiden aufpassen. Ihr Sohn war ein echter Wirbelwind und sein Freund Lutz nicht besser. Zwar hätte Ruth es deutlich lieber gesehen, wenn Peter bei ihr im Laden geblieben wäre und Lesen geübt hätte – immerhin war er der Spross einer traditionsreichen Buchhändlerfamilie! –, aber wenn er so wenigstens seine gute Laune behielt, sollte ihr das recht sein. Der Krieg hatte schon für genug Entbehrungen gesorgt.

Peter war zum Glück ebenso zäh wie seine Mutter. Trotzdem hatte er eine bessere Kindheit verdient, und es machte Ruth traurig und wütend zugleich, dass sie ihm die nicht bieten konnte. Sie alle, ihre ganze Familie, die Mutter Elisabeth, Ruths aus dem Krieg zurückgekehrter Bruder Georg und sogar ihre nervtötende Schwägerin Rosa – die Frau von Ruths im Krieg gebliebenen Bruder Friedrich – hatten eine bessere Zeit verdient. Eine bessere Zukunft. Und Ruth würde dafür sorgen, dass sie sie erhielten.

Sie blickte nach unten, wo noch immer ein ungeöffnetes Paket von ihrem Zwischenhändler auf sie wartete. Sie hatte so viel bestellt, wie es nur irgend ging. Das war natürlich trotzdem nicht genug, die Papierbeschränkung war noch immer nicht aufgehoben und jede Buchhandlung erhielt nur ein bestimmtes Kontingent an Büchern. Aber sie wollte eben reichlich Vorrat haben, wenn die Leute endlich richtiges Geld in den Händen hielten. Die Bücher, die sie bekam, gab sie vorerst nur an Stammkunden heraus oder behielt sie für sich selbst.

Gerade wollte sie sich bücken, um die Buchkiste aufzuheben und nach hinten in das viel zu enge Lager zu bringen, das sie sich mit Rosas Vater Heinrich Trebner teilte – dem Verleger, der ihnen diese Räumlichkeiten nach der Zerstörung ihres alten Ladens überlassen hatte –, da klingelte das Glöckchen über der Tür.

Rosa hatte darauf bestanden, dass so ein Glöckchen die Atmosphäre im Laden viel geselliger mache und es außerdem viel praktischer sei, wenn man gleich merke, dass ein neuer Kunde eingetreten sei. Und ausnahmsweise musste Ruth ihr einmal zustimmen.

Frau Saalmann hob interessiert den Kopf und blinzelte zum Eingang.

Ingrid, Lutz’ Mutter, steckte ihren blonden Schopf zur Tür herein. »Hallo, Ruth! Na, wo treiben sich unsere kleenen Racker herum?«

Ruth schaute aus dem Fenster und musste mit einem kurz aufflackernden schlechten Gewissen feststellen, dass Peter und Lutz nirgendwo mehr zu sehen waren. Wahrscheinlich hüpften sie weiter oben die Straße entlang und spielten mit ein paar anderen Kindern Fangen. Oder sie kraxelten schon wieder in einer der vielen Trümmerruinen herum, die noch immer Berlins Straßen säumten. Das war gefährlich, schließlich brach nicht selten noch irgendwo eine Mauer ein, krachten lose Ziegel herunter. Wenn die beiden hier bei ihr spielten, sollte sie eigentlich ein Auge auf sie haben.

Aber Ingrid schien ihr zum Glück nicht übel zu nehmen, dass Ruth die Aufsicht über ihre Söhne mal wieder vernachlässigt hatte. Stattdessen kam sie in den Laden und lehnte sich an die Theke.

»Wo ist denn Rosa? Ick wollt mir bei ihr bedanken für den tollen Tipp mit dem Trockenei. Diese CARE-Pakete, die die Amerikaner schicken, sind ja schön und gut, aber bei manchen Sachen da drin weeß ick einfach nich weiter.«

Ruth bemühte sich, nicht die Augen zu verdrehen. Rosa gab den Leuten ständig Tipps für alles Mögliche, meistens ungefragt.

»Sie kommt heute nicht«, antwortete Ruth und stopfte das schwere Buch, das sie schon aus dem Paket herausgeholt hatte, wieder zurück. Ihre Schwägerin war zwar mitverantwortlich dafür, dass sie in diesem kleinen Laden ein neues Quartier gefunden hatten, aber von Büchern verstand sie nicht viel – und deswegen war Ruth ganz froh, dass sie nur jeden zweiten Tag im Laden mithalf oder vielmehr herumstand. Auch wenn die Leute Rosa zu lieben schienen.

Selbst Frau Saalmann, die ihnen interessiert zugehört hatte, machte ein enttäuschtes Gesicht. »Schade, dass Frau Klinger heute nicht kommt!«

Ruth zuckte wie immer, wenn jemand Rosa »Frau Klinger« nannte, leicht zusammen. Aber so war es eben, Rosa hatte in ihre Familie eingeheiratet und trug nun den Namen Klinger, während Ruth ihn bei ihrer Hochzeit schon vor Jahren abgelegt und Willis Nachnamen Hohmann angenommen hatte. Und dennoch fühlte sie sich als einzige Klinger, als diejenige, die das Familienerbe bewahrte, während Rosa ihr nicht dafür würdig erschien.

Kurz darauf ertönte ein Rascheln, weil Frau Saalmann wieder umgeblättert hatte.

Ingrid war zum Glück schon zum nächsten Thema übergegangen.

»Du, ick gloob, da braut sich was zusammen im Osten.« Sie stützte sich mit ihren Ellenbogen auf die Theke. »Ick muss jetzt immer extra zeitig los, weil die in der S-Bahn ständig die Ausweise kontrollieren«, sagte sie und runzelte die Stirn. »Dabei muss ick eh schon um fünfe in der Bäckerei sein!«

Ingrid, deren Mann im Krieg schwer verletzt worden war, musste allein für ihre Familie sorgen und hatte deshalb eine Stelle in einer kleinen Bäckerei in Friedrichshain angenommen, weil sie hier in Schöneberg nichts finden konnte. Solche Grenzgänger, die zwischen einem der Westsektoren der Stadt und dem Sowjetsektor hin- und herfuhren, hatten es immer schwerer.

»Meinste, det hat was mit der Währungsreform zu tun? Erst die angeblichen Betriebsausfälle in der Bahn, und dann das? Oh, und natürlich, dass die Sowjets einfach den Kontrollrat verlassen haben. Da brodelt es doch gewaltig!«

Ruth zuckte mit den Achseln. Ja, die Währungsreform war ein heikles Thema, das bei den Besatzungsmächten sicher für Spannungen sorgte. Und die Sowjets hatten in den letzten Monaten auch schon mit den Säbeln zu rasseln begonnen.

»Ach, die Amis werden uns sicher beschützen«, sagte Ingrid und strich über eine Hemingway-Ausgabe des Rowohlt Verlags. Diese sogenannten Rotationsromane – gedruckt wie eine Zeitung und auch auf entsprechendem Papier – hatte Ruth immer griffbereit an der Theke liegen. Die fünfzig Pfennig dafür konnte sich schließlich fast jeder leisten. Ruth hatte in den letzten Jahren vor allem solche Romane verkauft, so traurig es auch war, dass gute Literatur über Zeitungswalzen gezogen werden musste und nicht in edles Leinen gekleidet wurde.

»Ein Land, das so tolle Autoren hervorbringt, kann doch nur mutig und tapfer sein, denkste nicht?«, sagte Ingrid, einen schwärmerischen Ton in der Stimme.

Die meisten Leute standen den Besatzern, ob es nun Amerikaner oder Sowjets waren, noch immer äußerst misstrauisch gegenüber. Aber Ingrid schien in letzter Zeit geradezu für die Amerikaner zu schwärmen. Das war ein wenig naiv, wie Ruth fand. Nicht zuletzt hatten die Amerikaner die Papierzuteilungen für Verlage gleich nach dem Krieg so organisiert, dass vor allem diejenigen Verlage mit genügend Papier bedacht worden waren, die amerikanische Autoren veröffentlichten. Und zwar solche, die von den Amerikanern eigens ausgewählt wurden und ein gutes Licht auf ihr Land warfen. Außerdem war Literatur, so wichtig sie auch war, nicht alles.

»Deutschland hat auch schon viele tolle Autoren hervorgebracht. Und hat uns das geholfen?«, fragte Ruth trocken, und die Begeisterung in Ingrids Augen erlosch.

»Hast recht«, antwortete sie geknickt. »Na jut, dann such ick mal unsere beeden Flitzpiepen. Bis dann, Ruth!«

Und schneller, als Ruth gucken konnte, war Ingrid schon aus der Tür.

Einen Moment lang schalt Ruth sich selbst wegen ihrer ruppigen Art. Wäre Rosa hier gewesen, dann hätte Ingrid sicher noch eine Weile weitergeplauscht. Aber was sollte sie machen, so war Ruth eben nicht. Sie konnte gut mit Büchern umgehen, doch mit Menschen und emotionalen Dingen war es etwas schwieriger. Aber wer konnte ihr das verdenken, nach all diesen furchtbaren Jahren? Und Klatsch und Tratsch würde den Laden, wie er einst war, auch nicht wieder zurückbringen, dafür brauchte man schon Ruths Geschäftssinn.

Kaum dass Ingrid draußen vernehmlich nach Lutz rief, stand Frau Saalmann ächzend auf und trappelte auf ihren kurzen Beinen zur Theke.

»Ich glaube, das ist nichts für mich«, sagte sie wenig überraschend und legte den teuren Bildband über die Kunst der Renaissance auf den Tresen. »Vielleicht ja nächstes Mal.«

Ruth musste ein Seufzen unterdrücken. Aber sie hatte heute schon genug Leute vergrault, da wollte sie diese Frau nicht auch noch vor den Kopf stoßen.

»Kein Problem, Frau Saalmann. Bis bald!«

»Grüßen Sie mir Ihre liebe Schwägerin«, sagte Frau Saalmann und ging dann zur Tür.

»Werde ich ausrichten«, murmelte Ruth in sich hinein. Der Gedanke an Rosa versetzte sie in schlechte Laune, dabei war sie eigentlich so guter Dinge gewesen. Am besten, sie begann rasch mit der Buchhaltung für heute. Ach ja, und nach Peter sollte sie wohl auch schauen. Draußen zog sich der Himmel zu.

*

Rosa saß auf ihrem Bett und horchte auf die Geräusche in der Wohnung. Ein wenig langweilig war ihr schon. Ihre Lieblingszeitschrift, die Constanze, hatte sie bereits ausgelesen, sie lag jetzt zerfleddert neben ihr. Und mit dem Pullover, den sie aus einem alten Kleidungsstück von Friedrich für den kleinen Peter gestrickt hatte, war sie schon gestern Nacht fertig geworden. Jetzt besserte sie ihr Lieblingskleid aus. Eigentlich aber lauschte sie, ob sich vor ihrer Tür etwas tat. Und tatsächlich, kurz darauf rannte Peter durch den Flur. Es musste Peter sein, schließlich war der Sohn ihrer Schwägerin Ruth das einzige Kind in der Wohnung, und die Art, wie er die Arme beim Laufen immer gegen die Wände schlug, war typisch für den ungestümen Jungen.

Rosa lächelte. Darauf hatte sie gewartet, schließlich war Peter der Einzige im Haushalt der Klingers, der manchmal gern Zeit mit ihr verbrachte. So bitter es auch klang, und Rosa war kein bitterer Mensch, sondern einer, der immer nur das Gute sah. Sie fühlte sich selbst nach all den Jahren in der Wohnung der Klingers, im zweiten Stock des alten Berliner Mehrfamilienhauses, noch immer wie eine Fremde, ein Eindringling eigentlich.

Elisabeth Klinger, die Mutter des Hauses, war zwar recht freundlich zu ihr, aber die ältere Frau lebte zurückgezogen und hatte etwas ebenso Verschlossenes an sich wie Ruth. Ruth, deren Freundin Rosa so gern gewesen wäre. Hatte sie sich nicht immer eine Schwester gewünscht? Genau die hatte sie sich erhofft, als sie bei den Klingers eingezogen war, damals, mit blutjungen achtzehn Jahren und bis über beide Ohren in den charmanten Friedrich verliebt. Die Klingers, sie waren ihr immer wie eine Familie vorgekommen, die zusammenhielt wie Pech und Schwefel, und genau das hatte Rosa so angezogen. In ihrer eigenen Familie sprach man kaum miteinander, ihr Vater hatte sie und ihre Mutter nie wirklich für voll genommen, das war erst in den letzten Jahren besser geworden. Vater Klinger aber – Friedrich senior – hatte Ruth sogar von klein auf erlaubt, im Buchladen der Familie mitzuhelfen.

Rosa erinnerte sich noch gut an das erste Mal, als sie die Buchhandlung betreten hatte. Sie hatte ihren Vater begleitet, der den Klingers seinen Verlag vorstellen wollte. Sie hatte in seinem Schatten gestanden und versucht, über seine breite Schulter zu linsen. Da sah sie Ruth, wenige Jahre älter als sie und so viel erwachsener, die ganz geschäftig hinter der Verkaufstheke stand. Wie hatte Rosa sie beneidet! Ruth wirkte so selbstbewusst! Am selben Tag hatte Rosa auch Friedrich und seinen ungleichen Zwillingsbruder Georg kennengelernt.

Die ganze Familie Klinger war ihr wie eine Einheit vorgekommen – Vater und Mutter Klinger führten eine wunderbare Buchhandlung und ihre drei Kinder waren gemeinsam inmitten all dieser schönen Bücher groß geworden.

Rosa hatte sich nichts sehnlicher gewünscht, als dazuzugehören. Und nur wenige Jahre später gehörte sie dann tatsächlich dazu.

Doch das fröhliche Treiben dieser Familie hatte bald ein Ende genommen, denn ihr Oberhaupt, Friedrich Klinger senior, war beim Bombardement der Stadt gestorben, das so viele Berliner das Leben gekostet hatte. Auch Rosas Friedrich war vom Krieg verschluckt worden und sie lebte fortan hier bei seiner Familie, in der es still geworden war.

Nun, zumindest der kleine Peter war eine wahre Freude, und deshalb griff Rosa jetzt rasch den fertigen Pullover und öffnete ihre Tür. Sie wollte sehen, ob ihm ihr neuestes Werk auch so gut passte wie die Hose, die sie ihm neulich umgenäht hatte.

Aber Peter war im Flur nicht mehr zu sehen. Rosa warf einen Blick zu Elisabeths Zimmer, dessen Tür wie so oft geschlossen war, genau wie die Tür zu Ruths und Peters Reich. Ruth war wahrscheinlich schon im Laden. Ganz am Ende des Flurs befand sich Georgs Kammer. Seine Tür stand meistens offen, weil er fast nie zu Hause war. Anders als Rosas Mann Friedrich und Ruths Mann Willi war Georg aus dem Krieg zurückgekehrt, doch er war selten anwesend. Rosa hatte keine Ahnung, wo er sich den ganzen Tag lang herumtrieb. Dabei hätte sie auch mit ihm nur zu gern ein Band geknüpft. Schließlich war er der jüngere Zwilling ihres Mannes, ihre engste Verbindung zu Friedrich. Aber Georg mied Rosa, als hätte sie eine ansteckende Krankheit.

Rosa seufzte, dann hörte sie tatsächlich Peters Stimme, direkt aus der kleinen Küche rechts von Rosas Zimmer. Ein Glück, er war noch da! Gleich musste er los in die Schule, aber für ein kurzes Gespräch war vielleicht noch Zeit.

Wieder drang Peters Stimme in den Flur. Redete er mit jemandem? Rosa lauschte, dann hörte sie, eher gemurmelt zwar, aber trotzdem, eine Antwort. War das etwa Georg? So musste es sein, einen anderen Mann gab es in diesem Haushalt ja nicht. Rosa konnte es kaum fassen. Meistens kam Georg erst spätnachts zurück, woher auch immer, und verschwand schon früh.

Tatsächlich lümmelte Peter an dem großen Küchentisch, während sein Onkel direkt vor dem kleinen Fenster saß, das auf den Innenhof ging, und an dem Küchenradio herumdrehte.

Georg ignorierte Rosa, wie nicht anders zu erwarten, als sie das Zimmer betrat. Aber Peter hob sofort den Kopf.

»Onkel Georg repariert das Radio«, erklärte ihr der Junge und schaute dann wieder zu Georg, der konzentriert seinen Mund zusammengepresst hatte.

»Ich wusste nicht, dass es kaputt ist«, sagte Rosa und lehnte sich an den Herd. Hatte sie nicht erst gestern Nachmittag noch das RIAS-Programm gehört? Manchmal schaltete sie auch den amerikanischen Soldatensender AFN ein. Da gab es ziemlich aufregende Musik zu entdecken, mit Rhythmus, das gefiel Rosa.

»Ich hab es gestern Abend runtergeschmissen«, gab Peter kleinlaut zu.

»Ist nicht schlimm, Kleiner, ich hab’s gleich.«

Das war tatsächlich Georg gewesen. Rosa hatte ihn so selten sprechen hören, dass sie es fast nicht glauben konnte. Vor allem nicht in ihrer Anwesenheit. Auch wenn Georg und Friedrich sich äußerlich sehr ähnlich gewesen waren, ihre Stimmen klangen unterschiedlich. Zumindest soweit Rosa sich an Friedrichs Stimme erinnerte. Sie war tiefer und entschlossener gewesen. Georg klang, als wäre er sich keines Wortes, das er sagte, sicher, als testete er es immer erst kurz an, bevor er sich traute weiterzureden.

Vermutlich hatte auch der Krieg dazu geführt, dass Georg so eingeschüchtert und leise wirkte, er hatte, seit er zurückgekommen war, nicht darüber gesprochen. Aber Rosa erinnerte sich auch daran, dass er schon immer eher zurückhaltend gewesen war. Als Friedrich sie bei einem ihrer Besuche gefragt hatte, ob sie mit ihm ausgehen wolle, hatte Georg gedankenverloren hinter seinem Bruder gestanden, in dessen Schatten, und schien sie nicht einmal wahrzunehmen. Das war bis heute so geblieben.

»So, jetzt haben wir’s!«

Ein Rauschen erklang aus dem Radio und dann der Nachrichtensprecher: »Hier ist RIAS Berlin – Eine freie Stimme der freien Welt.«

»Siehst du, geht wieder.«

Georg warf Peter ein kleines Lächeln zu und stellte das Radio leiser. Das Lächeln erreichte seine Augen kaum, trotzdem veränderte es etwas in seinem Gesicht, das dadurch lebhafter wirkte, die Augenringe nicht ganz so dunkel. Er sah fast ein wenig aus wie Friedrich, der immer so gestrahlt hatte.

Rosa räusperte sich. Sie hatte plötzlich einen Kloß im Hals.

»Musst du nicht los zur Schule, Peter?«

»Oh ja, stimmt.«

Der Junge sprang hastig auf und begann, seine Sachen zusammenzusuchen, die überall verstreut lagen: sein Schal auf dem Küchenstuhl, seine Jacke quer über der Garderobe, und seine Schuhe standen an zwei verschiedenen Orten. Rosa musste schmunzeln. Sie liebte diesen kleinen Lausbuben mit seinen Sommersprossen und seiner wilden Art.

»Heute Abend mache ich uns Griesgrütze, ja?«

Peter schaute sie aus runden Augen an. Im Gegensatz zu den typischen blauen Klinger-Augen und dem kastanienbraunen Haar, das jedes Familienmitglied besaß, hatte er als Einziger braune Augen und eine fast schwarze Mähne. Vermutlich ein Erbe seines Vaters Willi, den Rosa nur flüchtig gekannt hatte. Das war einer der weiteren Gründe, die sie für Peter einnahmen – so fiel sie selbst nicht mehr als Einzige aus dieser Familie heraus.

Rosa überlegte, ihn noch rasch ihren Pullover anprobieren zu lassen, entschied sich aber dagegen. Dafür war später noch Zeit.

Peter nickte, dann war er auch schon zur Tür hinaus. Im Hausflur hörte man seine hastigen Schritte verhallen.

Unangenehme Stille breitete sich in der Küche aus, nur das Radio dudelte leise vor sich hin. Rosa war sich Georgs Anwesenheit nur allzu bewusst. Sicher würde er jede Sekunde aufspringen und schnell verschwinden, das tat er schließlich immer.

Aber nein, diesmal würde sie ihn nicht so leicht davonkommen lassen! Es konnte doch eigentlich nicht gut sein, dass er sich immer in sein Schneckenhaus zurückzog – egal, was er in den grausamen Zeiten des Krieges auch erlebt haben mochte.

Also drehte sie sich rasch um, griff nach dem kleinen Wasserkessel, stellte ihn auf den Herd und suchte den Gasanzünder.

»Möchtest du auch einen Muckefuck? Ich kann ihn so zubereiten, dass er gar nicht schlecht schmeckt«, sagte sie über die Schulter, wie beiläufig, und bemühte sich, nicht zu Georg zu schauen. Bloß nicht verschrecken, dachte sich Rosa. Sie hätte fast die Luft angehalten, als würde sie mit einem scheuen Tier reden.

Georg schwieg, dann räusperte er sich unbehaglich.

»Ich will bald los und du musst dir wegen mir keine Umstände machen«, sagte er schließlich.

»Ach was, ich würde mir sowieso einen kochen«, log Rosa.

Jetzt sah sie vorsichtig zu ihrem Schwager hinüber, und zum ersten Mal an diesem Tag trafen sich ihre Blicke.

Georg nickte. Ein größeres Zugeständnis würde sie von ihm wohl nicht bekommen.

Schnell füllte Rosa das Pulver, das sie schon vorbereitet hatte, in eine Kanne. Dieses Getränk hatte wirklich nichts mit einem echten, herrlich starken Kaffee gemein. Der Muckefuck schmeckte zwar auch etwas bitter, dazu aber ein wenig staubig, mehlig beinahe. Rosa hatte herausgefunden, dass er deutlich leckerer wurde, wenn sie das Pulver zuvor mit etwas Zucker anröstete. Zucker musste natürlich äußerst sparsam verwendet werden, aber es half schon ein kleines bisschen, den Kaffee-Ersatz schmackhafter zu machen.

Georg blieb tatsächlich sitzen, drehte allerdings das Radio noch etwas leiser und begann, mit einer Zeitung zu rascheln. Für einen Moment fühlte Rosa sich an alte Zeiten zurückerinnert. So sollte es doch eigentlich sein: ein gemütlicher Morgen in der Küche, frischer Kaffee und draußen vorsichtige Sonnenstrahlen, die auf das Fensterbrett und die Kräuter fielen, die Rosa dort zog.

Der Wasserkessel pfiff und Rosa goss den Kaffee auf. Der Geruch, der vom Muckefuck aufstieg, zerstörte ihre Illusion etwas, denn natürlich roch echter Kaffee anders, aber einen Moment lang erlaubte sie es sich dennoch, zu träumen. In ihrem Traum saß Friedrich hinter ihr, nicht Georg, und würde sie gleich liebevoll anschauen.

Rosa blinzelte. Sie dachte häufig an Friedrich, redete sogar mit ihm, schließlich, da hatte sie die Hoffnung noch nicht aufgegeben, würde er eines Tages zu ihr zurückkehren, und so konnten sie in Verbindung bleiben. Denn vielleicht merkte er ja, dass sie an ihn dachte, wo auch immer er war. Und trotzdem legte der Gedanke an ihn sich manchmal wie ein schwerer Stein auf ihre Brust. Während andere Frauen schon längst über das Rote Kreuz direkte Nachrichten von ihren Liebsten erhalten hatten, die in russischen Kriegsgefangenenlagern waren, oder zumindest über deren Verbleib informiert worden waren, hatten sie von Friedrich und auch von Ruths Mann Willi bisher nichts gehört. Doch während sich die Angelegenheit für Ruth anscheinend damit erledigt hatte – sie sprach nie von Willi, für sie schien er nach all den Jahren der Vergangenheit anzugehören –, konnte Rosa die Sache nicht einfach auf sich beruhen lassen. Es war keine Option für sie, ihre Träume aufzugeben.

Rosa drehte sich um, und natürlich war es nicht Friedrich, sondern Georg, der da saß und sie unruhig beobachtete, als wäre sie das scheue Tier und nicht er.

Rosa stellte eine Tasse vor ihn auf den Tisch.

»Danke«, sagte Georg und nahm einen vorsichtigen Schluck.

Gespannt beobachtete Rosa seinen Gesichtsausdruck.

»Etwas Milch dazu wäre gut, aber wir haben gerade keine«, sagte sie entschuldigend.

»Ich könnte mal schauen, ob ich welche auftreiben kann.« Georg sah sie noch immer mit diesem lauernden Blick an, ein wenig ängstlich. Aber er sah sie an, und das war doch schon etwas.

»Das … wäre toll«, sagte Rosa vorsichtig.

Und tatsächlich, jetzt schenkte er ihr sogar ein Lächeln.

Wenig später verschloss sich seine Miene wieder. »Ich gehe dann mal los.«

Er nahm noch einen kräftigen Schluck aus seiner Tasse, faltete die Zeitung zusammen und stand auf. Rosa erhaschte einen kurzen Blick auf die Titelseite.

»Du liest die Berliner Zeitung?«, fragte sie überrascht. »Ist die nicht verboten?« Soweit Rosa wusste, waren seit April alle Zeitungen aus der Sowjetzone in den Westsektoren zumindest nicht mehr gern gesehen.

»Die ist aus dem Osten«, antwortete Georg, schon im Stehen, und wieder lag ein kleines Lächeln auf seinen Lippen. Dann aber drehte er sich um und war aus der Küche verschwunden, noch bevor Rosa etwas erwidern konnte.

Rosa blieb am Herd stehen, die warme Tasse in den Händen. Sie fühlte sich ein wenig zittrig. Während die Anspannung von ihr abfiel, merkte sie erst, wie sehr es sie angestrengt hatte, hier mit Georg in der Küche zu sein. Sie hatte sich so sehr gewünscht, dass er mit ihr sprach! Jetzt, wo er es getan hatte, fühlte es sich an wie ein kleiner Triumph.

Und er hatte ihr einen Hinweis gegeben, wo er sich den ganzen Tag herumtrieb.

»Im Osten also«, murmelte Rosa vor sich hin. Das war interessant. Vielleicht konnte sie noch mehr herausfinden.

*

Lore saß auf ihrem kleinen Koffer und schloss für einen Moment die Augen, um sie herum herrschte geschäftiges Treiben. Sie war erschöpft vom vielen Laufen, nein, eigentlich war sie heute schon am Morgen erschöpft gewesen, als Renate Schmidt ihr die Hiobsbotschaft überbracht hatte. »Du kannst nicht mehr bei uns bleiben, Lore«, hatte sie gesagt und Lore dabei nicht einmal in die Augen geschaut, sondern nur auf ihre weiße Schürze hinunter, an der sie unablässig ihre sowieso schon sauberen Hände abgewischt hatte.

Lore hatte sprachlos in der Küche gesessen, das jüngste Kind der Schmidts, die kleine Hildegard, auf ihrem Schoß. Und während Hildegard stillvergnügt in ihrem Brei herummatschte, hatte Lore den Mund auf- und zugeklappt und dann genickt.

Denn was hätte sie auch dagegen einwenden können? Und eine Überraschung war es sowieso nicht. Die Schmidts hatten sie nur aufgenommen, weil sie das Gefühl hatten, es Lores Mutter schuldig zu sein – der alten Freundschaft wegen. Aber Freundschaft war nach dem Krieg auch nur eine Ware, die einen begrenzten Wert hatte. Das hatte Lore recht schnell feststellen müssen. Von Anfang an hatte sie gemerkt, dass Renate Schmidt sie nicht wirklich leiden konnte. Es war klar gewesen, dass sie die erstbeste Gelegenheit ergreifen würde, um Lore wieder loszuwerden. Dass sie so lange damit gewartet hatte, war erstaunlich und lag vermutlich nicht nur daran, dass die kleine Hildegard Lore vergötterte und ständig mit ihr spielen wollte, sondern vor allem an Lores Schwarzmarktkontakten. Ebenjene, die Frau Schmidt heute Morgen vorgeschoben hatte, um Lore hinauszuwerfen. Oder vielmehr dass Lore sich nicht nur aufs Handeln gut verstand, sondern auch wusste, wie man mit den Amerikanern umging. Das hatte zwar dazu geführt, dass Hildegard ihre Zähnchen gelegentlich in ein Stück Hershey’s Schokolade versenken konnte, aber eben auch dazu, dass in ihrer Straße im beschaulichen Steglitz ordentlich getuschelt wurde. Und Tuscheln konnte Renate Schmidt gar nicht leiden.

Ein Windhauch strich über den Platz und zerzauste Lores Haar. Sie öffnete die Augen. Hier, in der Nähe vom Bahnhof Zoo, strömten die Menschen nur so an ihr vorbei. Die Luft war angefüllt von aufgeregtem Geplauder, klackernden Absätzen, Kindergeschrei. Aber niemand beachtete sie. Und Lore war froh darüber. So warf ihr wenigstens nicht noch jemand Gemeinheiten an den Kopf.

»Veronika Dankeschön« – diese Beschimpfung wollte Renate Schmidt heute Morgen vor ihrer Jüngsten zwar nicht in den Mund nehmen, das hatte Lore gespürt, aber das hatten die Nachbarn der Schmidts ohnehin schon längst erledigt. Mehrmals hatten sie Lore als Ami-Flittchen bezeichnet. Einmal wurde sie auf der Straße sogar bespuckt! Und das alles nur weil sie, um zum Lebensunterhalt der Schmidts etwas beitragen zu können und ihnen ihre Freundlichkeit zu vergelten, eben getan hatte, was getan werden musste. Und damit war sie bei Weitem nicht die Einzige gewesen. So manche junge Dame machte sich mit den Amerikanern gut Freund, um über die Runden zu kommen, und ging dabei deutlich weiter als Lore. Und wenn sie es tatsächlich riskierten, sich eine VD einzufangen, eine venereal disease, wie die Amerikaner die gefürchteten Geschlechtskrankheiten nannten, von denen sich die Bezeichnung »Veronika Dankeschön« ableitete, interessierte das niemanden.

Jetzt, wo Lore einmal Pause gemacht und sich auf ihr Köfferchen mit ihrem wenigen Hab und Gut gesetzt hatte, merkte sie erst, wie wütend sie über den Rauswurf bei den Schmidts noch war, ob sie ihn schon geahnt hatte oder nicht. Dabei hatte sie sich, als sie sprachlos vor dem Wohnhaus der Schmidts gestanden und mit den Tränen gekämpft hatte, sofort geschworen, dass die Schmidts keine dieser Tränen wert waren. Es war doch ohnehin nur eine Frage der Zeit gewesen, bis sie von selbst weitergezogen wäre. Eigentlich konnte sie den Schmidts sogar dankbar sein! In den letzten Monaten, beinahe Jahren, hatte sie unwillkürlich das aufgegeben, weswegen sie überhaupt hierhergekommen war, zu sehr war sie damit beschäftigt gewesen, den Schmidts ein angenehmer Gast zu sein. Das konnte nun endlich anders werden!

Und doch war sie enttäuscht und vor allem erschöpft.

Sie würde sich auf die Suche nach einer neuen Bleibe machen müssen. Ein wenig Geld hatte sie noch, sie könnte also gut ein oder zwei Tage in einem Pensionszimmer unterkommen. Außerdem hatten viele Kneipen in Berlin die ganze Nacht lang auf und die Tage wurden wärmer. Sie würde sich schon zu helfen wissen, das hatte sie bis jetzt immer geschafft. Aber Zeit für eine kleine Verschnaufpause musste sein. Und da hatte sie sich heute den Bahnhof Zoo ausgesucht.

Lore ließ ihren Blick über den grauen Asphalt schweifen.

In der langen Zeit, die sie jetzt schon in Berlin lebte, hatte sie es sich, immer wenn sie den Kopf freibekommen musste, zur Gewohnheit gemacht, die Orte zu besuchen, die in ihren liebsten Büchern aus Berlin eine Rolle spielten. Das war eine schöne Art, die Stadt zu entdecken. Aber an diesem einen Ort aus ihrem Lieblingsbuch war sie noch nicht gewesen – als hätte sie geahnt, dass die wirklich schwierigen Zeiten erst noch kommen würden.

Hinter Lore ratterte es, vermutlich fuhr ein Zug ein, und eine Taube flatterte über ihren Kopf hinweg.

Hier, am Bahnhof Zoo, war es gewesen, wo Emil die Verfolgung des Diebs aufgenommen hatte. Emil war genau wie Lore neu in Berlin eingetroffen und hatte sich erst an die große Stadt gewöhnen müssen. Nur war von dem Bahnhof Zoo, den Erich Kästner in »Emil und die Detektive« beschrieben hatte, heute nicht mehr viel übrig. Das Gelände glich einer Kraterlandschaft, und dennoch wuselten die Menschen hier geschäftig herum, völlig unbeeindruckt von den vielen Trümmerbauten, die wie verdorrte Bäume um den Platz standen, oder von der riesigen Ruine der Gedächtniskirche, die sich in der Ferne schartig und kantig in den Himmel reckte.

Aber dass es hier in Berlin, an den Schauplätzen von Erich Kästners Büchern, die Lore schon immer geliebt hatte, so aussehen würde wie zu Kästners Zeiten, hatte sie sowieso nicht erwartet. Dafür hatte sie auf ihrer Reise hierher schon genug Schlimmes gesehen. Bald nach dem Kriegsende war sie von Magdeburg aus aufgebrochen, hatte ihren kleinen Koffer gepackt und versucht, einen Zug nach Berlin zu bekommen. Am Bahnhof drängten sich die Menschen. Ganz Deutschland war in Bewegung, fast niemand war nach dem Krieg da, wo er sein sollte oder wollte: Vertriebene, Ausgebombte, Kriegsheimkehrer, Witwen – und Waisen wie Lore. Die Züge waren so voll gewesen, dass sich einige Menschen auf das Dach setzen mussten. Immer wieder musste der Zug halten, weil Schienen fehlten, immer wieder musste Lore ihren Weg ein Stück zu Fuß fortsetzen. Bis sie irgendwann hier gelandet war, in einer Stadt, die schon längst nicht mehr Kästners Berlin war.

Aber auch Lores Welt war eine andere geworden. Seit ihre Mutter in den Kriegstagen von einem einstürzenden Haus begraben worden war, hatte sich alles verändert. Lore war beinahe noch ein Kind gewesen, sie hatte nie eine andere Familie besessen als ihre Mutter, und einen festen Wohnsitz hatten sie sowieso nicht gekannt. Ihre Mutter war ruhelos gewesen und ständig umgezogen.

Lore hatte in ihrem Leben so viel verloren. Aber genau wie Kästners Emil würde sie nicht aufgeben. Sie war nicht in Trauer versunken, hatte sich vom Krieg nicht aushöhlen lassen.

Lore stand auf. Die Zeit für eine Pause war vorbei! Entschlossen nahm sie ihr Köfferchen in die Hand. In den letzten Monaten war es bereits um einiges leichter geworden – das Silberbesteck ihrer Mutter hatte sie auf dem Schwarzmarkt eingetauscht, ebenso deren vergoldete Uhr. Bis auf die vier Bücher, die sie behalten hatte, besaß sie nun fast nichts mehr. Aber der Inhalt des Köfferchens war unendlich kostbar, zumindest für sie. Und was darin am schwersten wog, war der Grund, warum sie überhaupt nach Berlin gekommen war: Es war der Brief ihrer Mutter, den sie aus den Trümmern geborgen hatte und der bewies, dass sie Lore jahrelang angelogen hatte. Dieser Brief war Lores Antrieb.

So gesehen hatte der Krieg ihr also doch etwas gegeben – die Wahrheit. Hatte ihre Mutter nicht stets erzählt, sie wisse nicht, wer Lores Vater sei? Nun, ihr Brief, den sie nie abgeschickt hatte, bewies das Gegenteil. »Du hast eine Tochter und ich verlange, dass du angemessen für sie sorgst«, hatte ihre Mutter darin geschrieben.

Das waren die Worte, die Lores Leben eine entscheidende Wendung gegeben hatten. Denn seit sie diese Zeilen gelesen hatte, wusste sie: Irgendwo da draußen – oder vielmehr, irgendwo in Berlin – lebte ihr Vater. Zumindest vermutete Lore das. In diesem Brief erwähnte die Mutter nämlich ein Treffen in Berlin, bei dem Lore offenbar entstanden war. Leider nannte sie keine Adresse, nur einen Namen.

Und das war auch schon alles, was Lore über ihren geheimnisvollen Vater wusste, über diesen Mann, von dem sie sich das erhoffte, was sie sich ihr ganzes Leben lang gewünscht, aber nie bekommen hatte: eine echte Familie.

Lore war nicht naiv, schon lange nicht mehr, Berlin war riesig und sie wusste, dass sie mit lediglich einem Namen nicht weit kommen würde. Die Ämter und Behörden, die sie hier schon abgeklappert hatte, konnten ihr nicht weiterhelfen. Vieles war im Krieg zerstört worden, Unterlagen waren verbrannt, Melderegister verloren, und den meisten Menschen ging es nur um das nackte Überleben. Auch deswegen war Lore etwas von ihrer Mission abgekommen und hatte sich von den Schmidts vereinnahmen lassen. Ihr war klar geworden, wie wahnwitzig ihr Plan war, einen einzigen Mann in einer solchen Menge von Menschen aufzuspüren.

Aber jetzt war es Zeit, neuen Mut zu fassen und ihre Kräfte für das zu verwenden, was wirklich zählte. Auch wenn sie jeden einzelnen Berliner befragen musste!

Lore schaute sich um, blickte noch einmal zu der zerstörten Gedächtniskirche und zu den Tauben, die am Himmel flogen. Ein Gustav mit der Hupe, der Emil im Roman geholfen hatte, wäre jetzt nett. Aber sie würde es auch allein schaffen!

Lore griff den Henkel ihres Köfferchens fester.

Es war Zeit, diesen Friedrich Klinger endlich ausfindig zu machen.

*

Ruth schreckte aus dem Schlaf hoch. Ihr Herz raste, ihre Hände fühlten sich klamm an. Schon wieder ein Albtraum.

Mit zittrigen Fingern tastete sie neben sich. Da lag Peter, ihr kleiner Peter, und schlief ganz fest. Erleichtert setzte Ruth sich auf. Im schwachen Licht des Mondes, das durch das Fenster fiel, sah sie Peters geschlossene Augen, das dunkle Haar auf dem Kopfkissen. Ruth beugte sich über ihren Sohn, lauschte auf seinen Atem. Der Junge schien friedlich zu schlummern. Vorsichtig streckte sie ihre Hand aus, strich über Peters Kopf. Sein Haar war so weich, kitzelte ihr zwischen den Fingern. Peter murmelte etwas im Schlaf und drehte sich auf die andere Seite.

Langsam beruhigte sich Ruths Herzschlag. Das war nicht der erste Albtraum in dieser Woche gewesen. Jede Nacht lag sie schlaflos da, und wenn die Müdigkeit sie schließlich doch überwältigte, kamen die Träume und Erinnerungen an eine Vergangenheit, die Ruth verfolgte.

Worum war es im heutigen Traum gegangen? So richtig konnte Ruth es jetzt nicht mehr sagen, die Bilder vermischten sich, unterschiedliche Traumsequenzen verbanden sich miteinander.

Da waren Gitty und sie gewesen, wie fast jede Nacht, Gitty, ihre beste Freundin aus Kindertagen. Ruth und sie standen hinter der Theke und taten so, als würde der Buchladen der Klingers ihnen gehören. Gitty lachte, wenn die Registrierkasse auf- und zuschnappte. Gitty und Ruth lümmelten in den weichen Plüschsesseln am Fenster, bevor die Szene sich verdunkelte, Fratzen an den Scheiben auftauchten und mit roten Augen hereinstierten. Gitty rannte fort, aber Ruth konnte sich nicht bewegen. Nein, sie war einfach nicht von der Stelle gekommen, wie festgeklebt waren ihre Füße gewesen, während sich das Dunkel von draußen näherte. Und Rosa hatte hinter der Kasse gestanden und schallend gelacht.

Ruth öffnete die Augen, vertrieb die Geister. Sie war hier, sie lebte, der Krieg war vorbei und sie hatte eine Aufgabe. Sie durfte nicht schwach werden. Das brachte niemandem etwas.

Ruth strich noch einmal sanft über Peters Kopf. Wieder murmelte der Junge etwas im Schlaf.

Sie schob sich vorsichtig zum Bettrand. Sie würde das tun, was sie immer tat, wenn sie nicht schlafen konnte: sich in irgendeine Ecke verkriechen und lesen. Wozu hatten sie schließlich eine Buchhandlung und damit Zugriff zu beinahe dem Kostbarsten, das sie sich vorstellen konnte? Und wenn das nicht half, um die Geister zu vertreiben, blieb ihr ja immer noch die Buchhaltung.

Ruth schlüpfte in ihre Pantoffeln und schlich zur Tür, die wie immer unschön knarrte. Sie kniff die Lippen zusammen. Hoffentlich hörte sie keiner! Doch Peter schlief ungestört weiter und auch aus den Tiefen der Wohnung drang kein Laut zu ihr. Vorsichtig schloss sie die Tür hinter sich.

Die Küche lag im Dunkeln. Da das Fenster auf den Hof hinausging, spendete keine Straßenlaterne Licht und selbst der Mond war nicht mehr zu sehen. Ruth schaute auf die Küchenuhr. Tatsächlich, es war schon früher Morgen, die Sonne würde bald aufgehen.

Sie knipste das Licht an und stellte sich an den Herd. Sie würde sich einen Muckefuck zubereiten.

Die Gasflamme loderte auf und Ruth stellte mit einem leisen Klirren den Kessel auf den Rost. Dann hielt sie inne. Irgendwo in der Wohnung hatte sie ein Rumpeln gehört, kurz darauf leise Schritte. Ruth schloss resigniert die Augen. Das war es wohl mit ihrem gemütlichen Lesestündchen! Das konnte eigentlich nur Rosa sein, denn Ruths Mutter Elisabeth und ihr Bruder Georg kamen höchst selten um diese Zeit aus ihren Zimmern.

Doch wenig später betrat tatsächlich Elisabeth die Küche.

Die ältere Frau ließ sich wortlos auf einem Stuhl nieder und beobachtete Ruth mit ihren hellen blauen Augen, die denen ihrer Tochter so ähnlich waren. Ihr Blick hatte etwas Einschüchterndes.

»Willst du auch einen Kaffee?«, fragte Ruth und wartete die Antwort ihrer Mutter gar nicht ab. Elisabeth schwieg sowieso meistens, sie schwieg, seit Ruths Vater Friedrich bei einem Bombardement gestorben war und seit Friedrich Klinger junior, Ruths kleiner Bruder, nicht mehr aus dem Krieg zurückgekommen war. Nur mit ihrer Schwiegertochter Rosa redete Elisabeth gelegentlich, natürlich, mit wem sonst? Rosa liebten alle, ihr fiel es leicht, mit den Menschen ins Gespräch zu kommen, während Ruth hilflos danebenstand. Das war sogar bei ihrer eigenen Mutter nicht anders. Und es tat weh. Früher waren Ruth und Elisabeth einmal enger gewesen. Als Ruth noch jünger war, hatte sie ihre Mutter immer bewundert, sie hatte eine ebenso gute Buchhändlerin werden wollen wie sie. Schließlich hatte Elisabeth mit Leib und Seele für die »Buchhandlung Klinger« gelebt, sie war das Herz des Ladens gewesen, auch wenn Friedrich Klinger das Sagen gehabt hatte. Aber seit die Buchhandlung in den letzten Kriegstagen ausgebrannt war, hatte Elisabeth sich in sich selbst zurückgezogen. Den neuen Laden, den sie bezogen hatten, besuchte sie nie.

Ruth holte den letzten Laib Brot hervor und schnitt ihnen zwei Scheiben davon ab. Sie stellte die Teller auf den Tisch und setzte sich. Schweigend zog Elisabeth einen der Teller zu sich.

»Du siehst müde aus«, sagte sie und biss bedächtig in ihr Brot.

Ruth nickte.

»Es ist viel zu tun im Laden«, sagte sie.

Wieder breitete sich Schweigen aus. Nur das leise Kauen der beiden Frauen war zu hören.

Ruth überlegte, ob sie sich ein Buch holen sollte, denn in ihrer Familie galt das Lesen in Anwesenheit eines anderen nicht als unhöflich, und von ihrer Mutter schien keine weitere Konversation zu erwarten. Doch da räusperte sich Elisabeth.

»Peter macht sich gut«, sagte sie.

Vermutlich würde jetzt irgendein kritischer Kommentar zu Ruths Erziehung folgen, denn wenn Elisabeth etwas zu sagen hatte, dann waren es meist hingeworfene Anmerkungen zu Peter oder zu Ruths Art sich zu kleiden. Dass ihre Mutter heute ausnahmsweise einmal wohlwollend klang, war irritierend.

Ruth nickte knapp.

Aber ihre Mutter war noch nicht fertig. »Und der Laden … Ich denke oft an unsere Buchhandlung, wie sie früher war.«

Ruth schaute überrascht hoch. Es war selten, dass Elisabeth über ihre Gefühle sprach.

Doch dann hörte man plötzlich Rosas Stimme. »Darf ich hereinkommen?«

Mit perfekt onduliertem Haar und einem hübschen Kleid stand Rosa in der Tür und lächelte, als wäre es ein wundervoller sonniger Tag und nicht kühl und in aller Herrgottsfrühe. Dabei zog sich der Schein der Morgenröte tatsächlich langsam über die gegenüberliegenden Häuser und tauchte alles in ein sanftes rotes Licht.

»Ihr seid ja wach! Ich hoffe, ich störe nicht? Oh, fein, ihr frühstückt schon.« Rosa kam unbekümmert in die Küche und nahm sich eine Tasse und einen Teller.

Ruth verdrehte die Augen. Rosa störte tatsächlich. Es wäre interessant gewesen, sich endlich einmal über die berufliche Situation der Klingers mit der Mutter auszutauschen. Ruth könnte ihren Rat in so vielen Dingen gut gebrauchen. Doch Elisabeth und sie kamen selten dazu, sich in Ruhe zu unterhalten.

Rosa werkelte in der Küche herum, als wäre es ganz normal, dass sie sich alle zu einem frühen Frühstück hier versammelten.

»Du hast ja nur dein halbes Brot gegessen«, bemerkte sie und zeigte auf Elisabeths Teller.

Die ältere Frau zuckte die Schultern. »Ich habe heute keinen großen Hunger, und so kann Peter etwas mehr haben.«

»Ja, er hat gerade einen Wachstumsschub, scheint mir«, antwortete Rosa fröhlich. »Ich denke, ich lass ihm auch etwas von meiner Ration übrig.«