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"Amity Gaige ist eine begnadete Erzählerin. Sie ergründet unsere Gegenwart, öffnet dem Leser die Augen und schenkt Geborgenheit." JONATHAN FRANZEN
Die Havarie einer Ehe, ein Segeltörn in der Karibik. Mit großem erzählerischem Geschick entfaltet Amity Gaige ein nautisches und menschliches Drama.
Juliet arbeitet an ihrer Dissertation und lebt mit den beiden Kindern und ihrem Mann Michael ein Vorstadtleben. Michael gelingt es, sie für seinen großen Traum zu begeistern: ein Jahr auf hoher See auf einer Segelyacht zu verbringen. Atemlos steuern wir mit der vierköpfigen Familie in der Karibik dem dramatischen Finale entgegen.
"Viel mehr als nur eine packende Story auf hoher See. Gaige ist unfassbar begabt und ihr Roman fesselt." JENNIFER EGAN
"'Unter uns das Meer' erweckt nicht nur die Gefahren auf hoher See auf brillante Weise zum Leben, sondern auch die versteckten Unwägbarkeiten von Familienleben, Mutterschaft und Ehe. Was für ein schlauer, eleganter und aufregender Roman." LAUREN GROFF
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 454
Cover
Über das Buch
Über die Autorin
Titel
Impressum
Widmung
I
II
III
IV
V
VI
VII
VIII
IX
X
Bruchstücke für ein Ganzes
Danksagung
Verwendete Übersetzungen
Juliet lebt mit ihrem Mann Michael und den beiden Kindern ein unauffälliges Vorstadtleben. Die Ehe kriselt, Juliet leidet unter den Erwartungen von allen Seiten. Michael schlägt eine unkonventionelle Lösung vor und überzeugt Juliet von seinem großen Traum: mit einer Segelyacht in See zu stechen und gemeinsam ein ganzes Jahr auf dem Meer zu verbringen. Sie ahnen nicht, dass diese Reise ihrer aller Leben für immer verändern wird. Und wir Leser steuern gemeinsam mit der Familie atemlos dem dramatischen Finale in der Karibik entgegen.
Ein umwerfender Roman über das, was eine Familie im Innersten zusammenhalten, aber auch trennen kann.
AMITY GAIGE lebt mit ihrer Familie in Connecticut. Ihr letzter Roman Schroders Schweigen erschien 2013 und war für den Folio Prize nominiert. Es war eines der besten Bücher des Jahres für u.a. die New York Times Book Review, Huffington Post, Washington Post und das Wall Street Journal. Amity Gaige ist eine Fulbright und Guggenheim Fellow.
AMITY GAIGE
UNTERUNSDASMEER
ROMAN
Aus dem amerikanischen Englisch von André Mumot
Vollständige eBook-Ausgabe
des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Dieser Titel ist auch als Hörbuch erschienen
Eichborn Verlag in der Bastei Lübbe AG
Die Originalausgabe erschien 2020 unter dem Titel »Sea Wife« bei Knopf, New York.
Für die Originalausgabe:
Copyright © 2020 by Amity Gaige
Für die deutschsprachige Ausgabe:
Copyright © 2020 by Bastei Lübbe AG, Köln
Textredaktion: Dr. Werner Irro, Hamburg
Umschlaggestaltung: ZERO Werbeagentur, München unter Verwendung eines Motivs von © Tatiana Liubimova / shutterstock.com
eBook-Erstellung: Jilzov Digital Publishing, Düsseldorf
ISBN 978-3-7325-9502-0
www.eichborn.de
www.be-ebooks.de
www.lesejury.de
Für Tim
Wo genau nimmt ein Fehler seinen Anfang? In letzter Zeit finde ich es schwer, diese einfache Frage zu beantworten. Unmöglich im Grunde. Ein Fehler hat seine Wurzeln an einem bestimmten Ort und zu einem bestimmten Zeitpunkt – wo hat man sich befunden und was hat man sich im entscheidenden Moment gedacht? Irgendwo im Schnittpunkt dieser beiden Faktoren lässt sich der Fehler finden – nautisch ausgedrückt: seine Koordinaten.
Beginnt mein Fehler beim Boot? Oder schon bei meiner Ehe? Ich glaube nicht. Seine Wurzeln muss mein Fehler in einer unschuldigen Erfahrung haben, der nachzugehen ich vergessen habe, in einem Rätsel, das mein Leben seitdem stillschweigend beherrscht hat. Zum Beispiel erinnere ich mich daran, wie ich mit zwölf Jahren neben einem blendend blauen Howard-Johnson’s-Motel-Pool gestanden und beobachtet habe, wie sich ein Paar hinter einem halb offenen Vorhang gegenseitig ausgezogen hat, während sich mein mir bereits fremd gewordener Vater in der Lobby über die Rechnung beschwerte. Hätte ich wegschauen sollen? Oder bin ich schon früher vom Weg abgekommen, als ich auf dem grob gestrickten Teppich im hellen Kindergartensonnenschein saß, mich zu dem Jungen neben mir lehnte und bereit war, mir sein aufgeregtes Flüstern anzuhören? Seinen Speichel spüre ich immer noch wie Tau in meinem Ohr.
Und jetzt sitze ich in einem Schrank.
In Michaels Schrank.
Ich sollte das erklären.
Ich bin vor ein paar Tagen eingezogen. Eigentlich habe ich etwas von ihm gesucht, aber dann ist mir aufgefallen, wie flauschig der Teppich hier drin ist. Die Klapptüren mit den Lamellen filtern das Sonnenlicht auf wunderschöne Weise. Ich komme zur Ruhe hier drin.
Sich in Schränken zu verstecken, ist eine Kinderangewohnheit, ich weiß. Als Kind habe ich mich immer im Schrank meiner Mutter verkrochen. Darin befanden sich Seidenkleider und Wollsachen, die sie nie angezogen hat. Ich habe es geliebt, mit diesen Stoffen über meine Haut zu streichen, in ihre High Heels zu steigen wie auf ein Podium und meine Zukunft zu proben. Geschämt habe ich mich dafür nie.
Ganz bestimmt gibt es einen Zusammenhang zwischen der Tatsache, dass ich früher im Kleiderschrank meiner Mutter Zuflucht gesucht habe, und der Tatsache, dass ich mich jetzt in Michaels Schrank verstecke. Aber das hilft mir auch nicht weiter.
Manchmal schreibt einem das Leben winzige, schreckliche Gedichte.
Ich bin mir nicht sicher, ob ich es schaffe, diesen Tag zu überleben.
Ich meine, ob ich es will.
Das Haus zu verlassen, rauszugehen, erfordert Vorbereitung und Selbstüberwindung. Würde ich tatsächlich vor die Tür treten, wieder durch die Gegend laufen, Menschen treffen und Einkäufe erledigen, würde ich all das wirklich schaffen, käme zwangsläufig jemand auf mich zu, um mich zu fragen: Wünschst du dir, du wärst nie gefahren? Und man wird erwarten, dass ich antworte: Ja, unsere Reise war ein Fehler.
Vielleicht würden die Leute hoffen, dass ich das sage.
Doch meine Zustimmung zum Boot war mein klarstes Bekenntnis zu meinem Ehemann. Ich kann mir nicht leisten, das zu bereuen.
Würde ich es tun, würden mir nur die vielen Male bleiben, in denen ich nicht loyal gewesen bin.
17. Januar. 10:15 Uhr. LOGBUCH DER YACHT JULIET.
Von Provenir nach Cayos Limones. 09° 33.5′ N 078° 59.98′ W. NW-Wind 10 Knoten. Wassertiefe 2–4 Fuß. NOTIZEN UND ANMERKUNGEN: Wir sind 102 Seemeilen in ost-nordöstlicher Richtung von Panama-Stadt entfernt und lassen uns von den vorherrschenden Winden in die autonome Region der San-Blas-Inseln treiben. Der Umriss der Küste ist hinter uns noch immer sichtbar, vor uns aber liegt nur Wasser. Nichts als Wasser. Erst jetzt wird mir bewusst, dass es nur einen einzigen Ozean gibt. Eine große Mutter Ozean. Natürlich gibt es Buchten & Meere & Meerengen. Aber das sind bloß Worte, künstliche Unterteilungen. Ist man erst einmal hier draußen, erkennt man, dass bloß dieses eine ungeteilte Land des Wassers existiert.
So würde man sich an Land niemals fühlen.
(Nicht bei uns in Amerika.)
Was für ein Gefühl. Generationen von Seefahrern haben es nicht geschafft, es zu beschreiben, wie sollte ausgerechnet ich es hinbekommen? Ich, Michael Partlow. Michael Partlow, der nicht mal den Titel eines einzigen Gedichts nennen könnte. Aber dafür gibt’s ja meine Frau. Ihr Kopf ist voll mit Gedichten.
Als ich ihn damals kennenlernte, habe ich gedacht: So einen Typen würde ich im Leben nicht heiraten. Zu überkorrekt. Zu konventionell. Keinen Sinn für Humor! Aber ich habe mich getäuscht. Die Ehe und die Kinder und die ganze Plackerei haben bei Michael einen morbiden Sinn für Humor entstehen lassen. Er wurde witziger und witziger, während ich, die früher witzig gewesen war, es immer weniger wurde.
Es gab ein Muskelshirt, an dem er auf geradezu abergläubische Weise hing, als wir auf dem Boot lebten. Bei der Erinnerung an dieses Shirt muss ich laut lachen. Wenn man in heißem Klima segelt, fängt man an, so wenig Kleidung wie möglich zu tragen. Kinder kleiden sich auf einer Langfahrt ohnehin wie Patienten in der Irrenanstalt – sie tragen Grasröcke und Flamenco-Kleider zusammen mit Gummistiefeln und Mützenschirmen und Muschelketten – allesamt Erinnerungsstücke an die Orte, an denen sie gewesen sind. Ich habe keine Ahnung, wo Michael das Muskelshirt aufgetrieben hatte. In Panama-Stadt? Es war weiß mit riesigen Aussparungen für die Arme. Wenn er am Strand stand, strahlend, mit seinem jungenhaften Gesicht und seinen ungewaschenen Haaren, sah er aus wie ein Prep-School-Schüler, der sich vor zwanzig Jahren auf einer Wanderung verlaufen und bis heute nicht zurückgefunden hatte.
Die Crew unseres Bootes ist fit und guter Stimmung. Leichtmatrosin Sybil Partlow (7 Jahre alt) sitzt auf dem Schoß des Ersten Maates Juliet Partlow im Cockpit. Bootsjunge George »Doodle« Partlow (2 ½ Jahre alt) tut sein Bestes, um bei dem leichten Wellengang aufrecht zu stehen. Er trägt keine Hose und wartet darauf, dass der Erste Maat ihn über die Reling pinkeln lässt. Sein leicht zurückgebliebener Wortschatz ist vollkommen maritim: »Da Boot, da Fisch.« Gerade erst haben wir Besuch von einer sehr großen Meeresschildkröte bekommen! Tauchte plötzlich mit ihrem periskopartigen Kopf an Backbord auf. Sybil meint, sie sei ein Spion. Immer wenn Sybil etwas Witziges sagt, befiehlt sie mir, es aufzuschreiben. Die Schildkröte ist ein Spion, schreib das in dein Buch, Daddy.
Wie bitte, sage ich. Redest du mit mir? Wie nennst du mich, während wir auf Fahrt sind, Bootsmann?
Sie lacht. Okay, schreib das in dein Buch, Captain.
Das mit dem Muskelshirt war deshalb so komisch, weil er für gewöhnlich wahnsinnig pingelig ist, ein Dandy, ein notorischer Zurechtzupfer. Er braucht fast keinen Schlaf. Seine Mutter behauptet, er sei schon immer so gewesen. Hier im Haus hat er immer bis spät nachts gearbeitet, hat noch Mails verschickt und Berichte fertig geschrieben, vor allem aber mit Männerbasteleien angefangen. Hat sich mit Elektronik vertraut gemacht, indem er irgendein Gerät auseinandernahm oder kleine Spielzeuge für die Kinder baute. Manchmal ging er sogar spät noch hinaus, bis auf die andere Seite des Bachs, wo er eine Feuergrube ausgehoben hatte, und dann schliefen wir mit dem ländlichen Geruch von Holzrauch in der Nase.
Morgens fuhr er trotzdem putzmunter zur Arbeit. In seinem Wagen, mit dem er pendelte, ließ er die Kinder nicht essen: Käsecracker und Knäckebrotkrümel – verboten. Das Familienauto dagegen, mein Wagen? Gesetzloses Gebiet. Unter den Sitzen rottete stets eine Schicht aus undefinierbarem organischen Material vor sich hin. Und immer knallten irgendwelche mysteriösen Gegenstände gegen die Radkästen, sobald ich eine scharfe Kurve nahm.
Jetzt sitze ich hier und verstehe es. Ich verstehe, wie schön es für ihn gewesen sein muss, einen kleinen Bereich für sich zu haben – einen Schrank, wo Schuhe in Paaren nebeneinander stehen, wo die Welt draußen bleiben muss und man seine eigenen Entscheidungen treffen kann.
Mein Schrank, gleich da drüben, auf der anderen Seite unseres Schlafzimmers, ist dagegen das reinste Chaos. Ich habe aufgegeben, ihn aufzuräumen, als Sybil klein war. Monatelang hatte ich die Blusen, die sie von den Bügeln grapschte, immer wieder aufgehängt, aber irgendwann ließ ich sie einfach auf dem Boden liegen. Und dann kam Sybil in meinen Schuhen aus dem Schrank geschlurft, torkelnd wie eine Betrunkene, und ließ auch die Schuhe irgendwo liegen, wo ich sie nie wiederfinden würde.
Aber ich bin eine Mutter. Nach und nach habe ich sie alle aufgegeben, meine ganzen Räume, einen nach dem anderen, bis zum allerletzten Schrank.
17. Januar. 18:00 Uhr. LOGBUCH DER YACHT JULIET. Cayos Limones. 09° 32.7′ N 078° 54.0′ W. NOTIZEN UND ANMERKUNGEN: Haben es problemlos bis Cayos Limones geschafft & ankern vor einer kleinen Insel mit gutem Liegeplatz. Sybil springt vom Heckspiegel, während ihre Mom Doodle aus seinem Schwimmshirt herauspult.
Lächle doch mal, hat man früher zu missmutigen Mädchen wie mir gesagt. Dann kam der Feminismus auf und verkündete: Scheiß aufs Lächeln, einen Jungen würde man nie zum Lächeln zwingen. Aber wie sich rausstellte – und aktuelle Studien belegen es –, erhöht der physische Akt des Lächelns tatsächlich das Wohlbefinden.
Deshalb übe ich manchmal.
Ich sitze hier in meinem Schrank und verziehe das Gesicht.
18. Januar. 02:00 Uhr. LOGBUCH DER YACHT JULIET. Cayos Limones. NOTIZEN UND ANMERKUNGEN: Wir bewegen uns Millimeter um Millimeter vorwärts ins Nirgendwo. Limones ist ein unberührter Archipel, eine Reihe abgelegener Inseln, die von Riffen & klarem Wasser umgeben sind. Nicht eine einzige vom Menschen geschaffene Struktur. Nur das Geräusch der Brandung, die gegen das dem Wind ausgesetzte Riff kracht. Es ist mitten in der Nacht & ich kann nicht schlafen. Habe gerade alle korrodierten Verbindungen in der Batterie gereinigt. Mehr Gesellschaft hier als mir lieb ist, wegen der Nähe zum Festland. Leute aus der ganzen Welt. Immerhin haben die Kinder Spielkameraden & Juliet hat andere Frauen, sodass sie sich bei warmem Weißwein gegenseitig bedauern können.
Ich weiß: Das, was wir hier tun, wirkt radikal. Aber in Wahrheit sind so viele Leute hier draußen. Verstreut über die ganze Hydrosphäre. Segelboote, Schaluppen, Katamarane, Nachbauten berühmter Schoner, wohlhabende Paranoiker, Rentner, Leute, die mit ihren Katzen reisen, andere, die Eidechsen dabeihaben, Leute, die es satt haben, ein Viertel ihres Einkommens an die Regierung abzutreten, Freigeister, Scharlatane und, ja, Kinder. Tausende Kinder segeln in diesem Augenblick um die Welt, und manche von ihnen haben noch nie an Land gelebt.
Angeblich wollen wir unserer Kinder doch so erziehen, dass sie lebensfroh /nicht-materialistisch / belastbar werden. Und genau so sind segelnde Kinder. Sie klettern an Masten hoch und können problemlos obskure pflanzliche Lebensformen identifizieren. Es ist ihnen egal, wie jemand aussieht, wenn sie ihn zum ersten Mal treffen. Oder sie sprechen nicht mal dieselbe Sprache, schaffen es aber irgendwie doch, sich miteinander zu unterhalten. Sie setzen sich nicht hin und stellen einzelne Lebensweisen über andere. 71 % der Erde nimmt der Ozean ein. Diese Kinder können nicht glauben, dass sie der Nabel der Welt sind. Denn wo genau sollte der liegen? Der Horizont, an dem sie ihre Tage bemessen, ist unvoreingenommenen & endlos.
Erst einmal muss ich wohl feststellen, dass die Absicht, eine Yacht zu kaufen, die absurdeste Idee war, die ich in meinem ganzen Leben gehört hatte. Ich hatte noch nie ein Schiff bestiegen, außer einer Fähre, und Michael war seit seiner Zeit im College nicht mehr gesegelt.
Du nimmst mich doch auf den Arm, habe ich zu ihm gesagt. Du willst, dass ich und deine zwei kleinen Kinder mit dir zusammen auf einem Boot leben, und das auf hoher See?
Bloß für ein Jahr, sagte er.
Ich kann nicht mal segeln, Michael!
Du musst nicht segeln können, sagte er. Du musst lediglich wissen, in welche Richtung du das Boot ausrichtest. Den Rest kann ich dir unterwegs beibringen.
Du bist wahnsinnig, sagte ich.
Juliet war schwer zu überzeugen. Wie macht man seiner Frau glaubhaft, dass es von Vorteil sein könnte, derartige Risiken auf sich zu nehmen? Schließlich heiraten die meisten Frauen, weil sie sich Stabilität in ihrem Leben wünschen.
Um Juliet so weit zu bringen, dem Kauf des Bootes zuzustimmen, musste ich den großen Meisterverkäufer in mir zum Leben erwecken, den sich den Mund fusselig redenden Überredungskünstler, Scherzkeks, Geizkragen – meinen Dad, Glenn Partlow. Nichts machte Dad glücklicher, als mit seiner alten Westsail 32 auf dem Eriesee unterwegs zu sein. Er hatte sie aus einer Laune heraus einem Typen bei der Arbeit abgekauft, der sie schnell loswerden wollte. Offenbar konnte sich damals sogar ein einfacher Ingenieur im General-Motors-Werk ein solches Boot leisten. Er fand in einem Yachthafen einen Liegeplatz, etwa eine halbe Stunde Autofahrt von unserem Haus entfernt. Bei unseren ersten Touren begleitete uns noch meine Schwester Therese, aber dann wurde sie seekrank. Ab da blieben nur noch Dad & ich übrig, auf einem Boot, das keiner von uns zu segeln verdient hatte.
Das Boot trug den Namen Odille. War wahrscheinlich die alte Flamme eines früheren Besitzers gewesen. Meine Mutter wollte mit dem Boot nichts zu tun haben. Ihr Leben war völlig damit in Beschlag genommen, uns großzuziehen, was nicht heißen soll, dass das für sie oder für uns gut gewesen wäre. Es war damals einfach normal für Mütter in Ashtabula, Ohio. Sie fuhr uns in der Gegend herum, drückte uns den Trompetenkasten oder die Papiertüte mit unserem Lunch in die Hand. Sie beschwerte sich nicht, wenn Dad & ich auf der Odille segelten, zumindest nicht bei mir.
Wir können unmöglich häufiger als 2 Dutzend Mal auf dem Boot gewesen sein, aber diese Ausflüge haben sich tief in mein Gedächtnis eingebrannt. Ich erinnere mich an die meerglasgrüne Oberfläche des windigen Sees, an das wilde Schlagen der Wellen. Wenn ich meinen 13. Geburtstag erleben wollte, musste ich schnell lernen. Welche Schot ich dichtholen musste und welche auffieren, wie ich für Dad die Leinen parat halten musste, wann ich Fragen stellen und oder die Klappe halten musste. Ich wollte ihm nicht auf die Nerven gehen. Er sah so wichtig aus am Steuerruder.
Als ich in der 10. Klasse war, bot General Motors Dad eine Versetzung an – von Parma, Ohio, nach Pittsburgh. Aus Gründen, nach denen ich mich nie erkundigt habe, nahm er das Angebot an & verkaufte die Westsail.
Er zog mit uns in ein bescheidenes Backsteinhaus an einem Hügel in der Stadt der Brücken, deren steile Straßen keinen Halt boten, wenn sie mit Eis überzogen waren.
Und dieser Umstand änderte mein Leben vollständig.
Natürlich habe ich Nein gesagt. Meine erste Reaktion war ein Schock. Ich dachte, er hätte den Verstand verloren. Die Kinder und ich sollten auf ein Boot ziehen? Ebenso gut hätte Michael sagen können: Lasst uns von heute an kopfüber leben und an der Zimmerdecke laufen.
Juliet führte so ziemlich jeden Grund an, warum wir es nicht tun sollten. So ist sie. Juliet ist eine Skeptikerin. Jede Ehe braucht einen Skeptiker. Aber keine Ehe verträgt zwei.
Mehr als einmal erinnerte sie mich daran, dass mein Vater das Zeitliche gesegnet hatte, als er ein Jahr älter war, als ich es jetzt bin. Dass es also gut sein könnte, dass ich einfach ein Damoklesschwert über mir spürte – mit anderen Worten: mein baldiges Ableben. Sie könne verstehen, wie schaurig sich das anfühlen müsse, aber ob sich dieses spezielle Psychodrama nicht doch mit einer etwas weniger dramatischen Aktion lösen lasse – mit einem Triathlon zum Beispiel?
Michael und ich waren uns beide darüber im Klaren, dass wir Probleme hatten, nur wie wir sie lösen konnten, da waren wir uns nicht einig. Ich glaube, mir ging es bei der ganzen Diskussion nicht bloß um den unmöglichen Plan, unser Haus und die Schule der Kinder und Michaels Job aufzugeben, ganz gleich wie sicher wir davon ausgehen konnten, all dies wieder zurückzubekommen. Ich fragte mich, wie wir unsere Beziehung retten konnten, unabhängig davon, ob wir fortgingen oder blieben.
Du glaubst, das wird all unsere Probleme lösen, wie vonZauberhand, Michael. So stellen Kinder sich das vor.
Sie vermied es hartnäckig, die andere Sache anzusprechen. Auch ich durfte nicht offen darüber reden, also begnügte ich mich mit Andeutungen. Zum Beispiel wagte ich zu fragen, ob sie wisse, dass die alten Römer geglaubt hatten, Seereisen könnten Depressionen heilen.
Sie legte ihr Buch ab und funkelte mich an.
Ja, sagte sie. Die hielten es aber auch für ratsam, die Gehirne von Baby-Widdern zu essen.
Und las weiter.
Ich dachte: Was hab ich schon zu verlieren? Also senkte ich behutsam mit den Fingern ihr Buch.
Juliet, sagte ich. Siehst du das denn nicht? Du steckst fest. Es ist Jahre her, seit ich dich das letzte Mal glücklich gesehen habe. Du willst hier in Connecticut bleiben und depressiv sein und deine Dissertation nicht zu Ende schreiben? Das ist dein letzter Schritt? Vielleicht wäre diese Reise gut für dich.
Ich bin nicht »depressiv«, sagte sie. Außerdem hasse ich das Wort.
Okay, wie sollen wir es dann nennen?
Verärgert schüttelte sie das Kissen in ihrem Rücken auf.
Ich bin sehr treu, wenn es um meine Probleme geht.
Es stimmt: Ich wollte nicht fahren. Nicht, weil ich glücklich mit meinem Leben gewesen wäre. Nicht, weil ich geglaubt hätte, so eine lange Fahrt auf einer Segelyacht wäre gefährlich oder unklug. Nicht einmal, weil ich davon ausgegangen wäre, es würde unsere Ehe belasten, denn, na ja – es war eh zu spät.
Ich wollte nicht fahren, weil ich bereits einen Kampf auszufechten hatte mit meinem Mangel an »Selbstwertgefühl« – noch so ein Wort, das ich nicht mag. Nachdem das zweite Kind zur Welt gekommen war, hatte ich einige harte Jahre gehabt. Man könnte noch sehr viel mehr darüber sagen. Ich hatte auch gerade erst meine Dissertation abgebrochen. Die Wahrheit ist: Ich hatte Angst, eine schreckliche Seglerin zu sein.
Mich völlig zu blamieren.
23. Januar. 10:15 Uhr. LOGBUCH DER YACHT JULIET. Cayos Limones. Morgendlicher Regen gefolgt von klarem Himmel. NOTIZEN UND ANMERKUNGEN: Die Leute hier draußen haben ihre eigene Definition des Langfahrtensegelns: Es bedeutet, sein Boot an exotischen Orten reparieren zu müssen. Als ich das zum ersten Mal gehört habe, habe ich noch gelacht. Jetzt finde ich das nicht mehr ganz so lustig. Heute Morgen habe ich den Schaltkasten geöffnet, weil einige unserer Lampen immerzu an und aus gingen, & musste feststellen, dass sich die Hälfte der Kabel gelöst hatte. Ein Wunder, dass wir überhaupt noch Licht haben. Ich habe hier meinen Elektrik-auf-Yachten-Ratgeber & meinen Schrumpfschlauch & während die Seevögel über den wolkenlosen Himmel ziehen, gebe ich mir meinen eigenen Kurs in der Kunst des Kabelcrimpens.
Doodle sitzt neben mir und sieht sehr nachdenklich aus.
Crimpzange, sage ich.
Er reicht mir einen Legostein.
»Schlauch«, sage ich.
Er reicht mir einen Buntstift.
Aber immer wenn man anfängt, sein Boot zu hassen, passiert etwas unerwartet Schönes. Das Wasser neben uns kräuselt sich, und eine Schule von Stachelrochen reibt ihre Flügel an unserem Lee.
Ich kenne tatsächlich viele Gedichte, von all den Stunden in meiner Arbeitsnische in der Uni-Bibliothek in Boston, wo ich, vor unserem Aufbruch ins Land der festgefahrenen Gewohnheiten, versucht habe, meine Dissertation zu schreiben.
Ironischerweise war einer der Gründe dafür, dass ich mit dem Lyrikstudium aufgehört habe, dass es mir so unfassbar lebensfern erschien im Vergleich zu den Dringlichkeiten, die zwei Kinder mit sich brachten. Aber heute, hier im Inneren des Kleiderschranks, ist die Lyrik für mich so real wie eine Axt. Ich brauche sie dringender als Nahrung.
Einzelne Verse kommen und gehen in meinem Kopf. Ich weiß nicht einmal mehr, wer sie geschrieben hat.
Schlachten werden in demselben Geiste verloren, in dem sie gewonnen werden.
Ich nehme nur sehr wenig zu mir, in der Regel esse ich bloß mit den Kindern zu Abend, und wenn ich Durst bekomme, trinke ich direkt aus dem Hahn im Badezimmer. Während des Tages, wenn ich den Schrank verlassen muss, drücke ich die Klapptür auf und überquere unser mit Teppich ausgelegtes Schlafzimmer auf Socken. Der Körper ächzt. Die Blase drängt. Ich vermeide den Blick in den Badezimmerspiegel. Wenn ich in unser Schlafzimmer zurückkehre, bleibe ich manchmal kurz bei den Fenstern zur Straße stehen, wo Vögel unseren verdorrten Apfelbaum belagern. Ich spioniere sie aus, wie der zufällig vorbeikommende neugierige Nachbar mich ausspioniert. Unser schlicht weißes Haus ist jetzt Ziel des allgemeinen Interesses. Es war in den Nachrichten. Ich sehe, wie die Leute beim Vorbeigehen langsamer werden und wie sie, wenn sie abends paarweise unterwegs sind, einander einen trauervollen Blick zuwerfen.
Vivat denen, die unterlagen!Und deren Kriegsschiffe sanken in See!Und denen, die selber sanken in See!
Es stimmt – Geschichte wird von den Siegern geschrieben. Deswegen brauchen wir Dichter.
Um von den Niederlagen zu singen.
25. Januar. 23:00 Uhr. LOGBUCH DER YACHT JULIET. Cayos Limones. Frische nordöstliche Winde. Klares Wetter. NOTIZEN UND ANMERKUNGEN: In zwei Tagen segeln wir ostwärts. Kommen vielleicht endlich von den ausgetretenen Pfaden ab. Der Himmel ist unfassbar heute Nacht. Eine Schale voller Sterne. Ich liebe es, nachts an Deck zu sein. Manchmal, nachdem Juliet schon eingeschlafen ist, komme ich hier rauf & krieche in die Segelabdeckung. Man braucht nicht mal eine Stirnlampe, um zu schreiben, so hell ist der Mond. Wie ein Scheinwerfer. Wie die Sonne einer schwarzweißen Welt. Man kann jeden einzelnen Wedel jeder Palme auf der Insel sehen, wie sie in den Passatwinden hin und her schlagen. Der Sand hell wie Schnee. Die Brandung rollt auf den Strand und wieder hinab.
Wenn es nach mir ginge, würden wir den ganzen Globus umsegeln. Wäre ich allein, wäre ich schon auf halbem Weg zu den Marquesas-Inseln. 3 Wochen ohne Land in Sicht. Dann hätte ich mal eine richtige Nachtwache!! Stattdessen haben wir, damit Juliet beruhigt ist, einen Kurs ausgearbeitet, der sich immer an der Küste von Mittel- & Südamerika entlanghangelt. Panama-Stadt, Cartagena, Caracas. Wenn wir so weit gekommen sind, hoffe ich, dass sie einer Überfahrt zustimmt. Über diesen riesigen Ozean hinweg könnten wir überallhin gelangen.
Monserrat? Punta Cana? Havanna?
Aber bisher bin hier nur ich, mein Kapitänslogbuch & ein paar Hokkos, die ich sehen kann, wenn sich der Baum, auf dem sie ihr Nest gebaut haben, im Wind in die richtige Richtung biegt. Jemand hat auf dem Boot nebenan vergessen, das Fall zu sichern. Am liebsten würde ich rüberschwimmen & das in Ordnung bringen. Schon komisch: Je einsamer man hier draußen wird, desto mehr sehnt man sich nach dem Alleinsein. Man ist immer auf der Suche nach einem Liegeplatz, wo sich niemand sonst befindet. Nur du und die Sterne, Sterne, Sterne. Sterne bringen dich zum Nachdenken.
Wir sind bloß ein Bindestrich zwischen unseren Eltern und unseren Kindern. Das ist es, was man lernt, wenn man die vierzig erreicht hat. In der Regel kann man als erwachsener Mensch durchaus damit leben. Aber immer mal wieder möchte man doch eine Leuchtrakete in die Luft schießen. Und sagen: Ich bin auch hier! Doch das Verständnis deiner Mitmenschen hört sofort auf, wenn du versuchst, deine unbedeutende Existenz interessant zu machen. Dann heißt es bloß noch: Was stimmt denn nicht mit dir? Hältst du dich für was Besonderes?
Man lernt eine Menge über Menschen, wenn man ihnen erzählt, dass man vorhat, mit den eigenen Kindern auf einer Yacht zu leben. Etwa 10 % sagen: Hey, das ist ja toll – gute Reise! Die anderen 90 % aber zögern nicht, dir zu erklären, warum das ein Ding der Unmöglichkeit ist. Und dann wollen sie, dass du ihnen ein paar Stunden lang auseinandersetzt, wie das funktionieren soll, wie man Lebensmittel bekommt, wie man duscht oder erfährt, was in der Welt los ist.
Sobald wir erzählten, dass wir als Familie diese Seereise unternehmen würden, haben sich die Leute auf die unterschiedlichsten Dinge eingeschossen. Einige fragten, ob es Juliets und meiner Ehe guttun würde. Ob das nicht hart sein müsse, rund um die Uhr jeden Tag gemeinsam auf einer 14 Meter langen, schwimmenden Kapsel zu verbringen?
(Eine berechtigte Frage, über die ich selbst immer noch nachdenke.)
Aber wirklich alle machten sich Sorgen um die Kinder. Wie könnt ihr so was mit kleinen Kindern in Angriff nehmen?, fragten sie. Habt ihr keine Angst um ihre Sicherheit? Was, wenn sie über Bord fallen? Was, wenn sie ihr Zuhause vermissen? Warum nicht warten, bis sie 18 sind? Warum nicht warten, bis ihr in Rente geht?
Erstens (hätte ich gern geantwortet, hab’s aber nicht getan) lassen einige von euch ihre Kinder nicht mal auf einen Baum klettern, ohne vorher einen Kletterkurs besucht zu haben & ihnen mehrere Sicherheitsgurte umzuschnallen. Deshalb interessiert es mich kein bisschen, was ihr denkt.
Zweitens finde ich die Vorstellung grundsätzlich fragwürdig, dass es vernünftig sein soll, deinen bescheidenen Lebenstraum um mehrere Jahrzehnte aufzuschieben. Was sind wir? Gestalten in einem griechischen Mythos? Die bereitwillig auf den Adler warten, der jeden Tag unsere Leber verspeist, weil das in einem griechischen Mythos eben ganz normal ist?
Ich wusste, meine Mom und meine Schwester würden uns vermissen. Das verstehe ich. Für die beiden ist das wirklich viel verlangt. Aber es gab auch andere Leute, die uns kaum kannten, Fremde, die uns überhaupt nicht vermissen würden und es doch als persönlichen Angriff zu empfinden schienen, dass wir versuchen wollten, auf offener See zu leben. Als würden sie denken: Was ist denn so verkehrt an Highways & Parkplätzen & Ellbogenschonern & Weihnachtsliedersingen? Was ist denn so verkehrt an uns?
Auf Michaels Seite vom Bett: ein gerahmtes Foto von Sybil. Drei Jahre alt, schiefe Zöpfe, göttlich. Selbst in meinen finstersten Tagen, während meiner schlimmsten Tiefpunkte, habe ich es geliebt, das Gesicht meiner Tochter zu betrachten. Auch jetzt werde ich nicht müde, es anzustarren. Schaut euch diese Nase an, denke ich oft – so verdammt süß, so winzig. Sybils Gesicht ist herzförmig, breit an den Schläfen, mit einem schmalen, emphatischen Kinn. Die Wahrheit ist: Es ist das Gesicht ihres Vaters. Im weitesten Sinne finnisch, ein Midwestern-Gesicht, sehr offen und freundlich. Man ahnt die Baseballfelder, die viele Cola und die Squaredances, die nötig waren, um so ein Gesicht zustande zu bringen.
Ich dagegen bin das graubraunäugige Kind, das Upstate New York, ein schmuckloses Einfamilienhaus und eine unschöne Scheidung zu dem gemacht haben, was es ist – zusammen mit einigen anderen Dingen, über die ich nicht sprechen möchte. Die Familie meines Vaters – ein Stamm abgebrühter irischer Depressiver – dezimierte ihre Zahl durch passioniertes lebenslängliches Zigarettenrauchen. Die Mutter meiner Mutter wiederum war eine tyrannische Frau aus San Juan, die mir die paar Male, als ich ihr begegnete, große Ehrfurcht einflößte. Meine Mutter sagte immer, sie sei als Kind wie eine menschliche Wäscheklammer behandelt worden: Stell dich da hin, halt das.
Mit anderen Worten: Als Sybil zur Welt kam, war ich erleichtert, dass sie nach Michaels Seite der Familie kam. Ich war erleichtert, dass sie nicht aussah wie ich.
Es ist natürlich traurig, erleichtert darüber zu sein, dass dein Kind nicht aussieht wie du. Ist mir klar.
Aber manchmal weiß ich einfach nicht, ob etwas »traurig« ist oder nicht. Ich meine, traurige Gedichte oder Songs sorgen dafür, dass ich mich besser fühle. Ich denke dann: Ja, ganz genau so fühle ich mich. Und dann geht’s mir besser.
Andere dagegen scheinen von traurigen Gedichten demoralisiert zu werden.
Früher habe ich mich deshalb immer bei Michael erkundigt, um sicherzugehen. War das ein »trauriger« Film?, fragte ich, wenn wir aus dem Kino kamen. Ist das ein »trauriger« Song? Ich meine – für dich?
Ja, sagte er dann und lachte. Für jeden.
Wenn es jemals eine gute Methode gegeben hat, seine Träume mit der Realität abzugleichen, dann ist es der Kauf eines Bootes. Besonders wenn es ein Boot ist, das man noch nie gesehen hat! Die Juliet ist eine CSY 44 Walkover von 1988. Zentrales Cockpit, zwei Kajüten & ein Aufenthaltsraum. Ein Bett in der achtern gelegenen Master-Kajüte (größer als King Size). Unterm Bug eine perfekt aufgeteilte Kajüte für die Kinder. Riesiger Kühlschrank, Ofen mit drei Herdplatten. Sehr geräumig. Hauptsächlich Fiberglas. Kein Holzlaminat, nur an den Schotten und der Inneneinrichtung wurde Holz verbaut. Ein dem Horizont zugewandter Bugspriet für mich, Holzschnitzereien in den Schotten für meine Lyrik liebende Frau. Wir mussten das Boot kaufen, ohne es vorher gesehen zu haben. Natürlich hätten wir lieber eins in der Nähe gekauft. Aber die Tatsache, dass es sich in Panama befand, machte es um 20 Tausend günstiger. Ich hatte bereits alle Yachthäfen von Westpoint bis Larchmont durchforstet. Aber das Geld hatten wir einfach nicht. 60 Tausend hab ich für die Juliet auf den Tisch gelegt. Das, was von Dads Lebensversicherung ausgezahlt wurde. Unser Notgroschen. (Apropos Lyrik.) Okay, wenn man es genau nimmt, hatte ich nicht den vollen Betrag zur Verfügung. Aber das Problem habe ich mit ein bisschen Kreativität gelöst.
Wir sind im September hier angekommen, aber nach 2 Wochen in Bocas del Toro war das Boot immer noch nicht im Wasser. Der Rumpf musste abgeschliffen werden, gefolgt von 3 frischen Schichten Farbe. Juliet verbrachte ganze Tage damit, vor dem Super-Mini frittierte Yucca zu essen und auf eine Gelegenheit zu warten, mit jemandem ihr Spanisch zu üben. Irgendwann hatte sie keine Lust mehr, setzte sich an die Marina-Bar & ließ die Kinder becherweise Eis in sich hineinstopfen.
Ich konnte sie von der Bootswerft aus sehen. Ich hatte das Vergnügen, dabei zuzuschauen, wie eine ganze UN aus Seeleuten mit meiner Frau flirtete – Jamaikaner, Australier, Panamaer, die sich an die Bar lehnten und kaltes Stag-Bier tranken. Das Kleinkind auf ihrem Schoß schien ihnen nichts auszumachen & ihr selbst übrigens auch nicht. Juliet hat eine sehr spezielle Art zu lachen, und man konnte sie deutlich über die ganze Werft hinweg hören.
Mit Depressiven verhält es sich so: Wenn sie sich mal ein bisschen besser fühlen, neigen sie zu ausladenden, großzügigen Gesten, denen sie später nicht gerecht werden können.
Monatelang, einen ganzen Winter über, haben wir endlos über Michaels Vorschlag gestritten. Es ist erstaunlich, wie viele gute Gründe mir einfielen, um nicht mit den Kindern ein Leben auf einer Segelyacht zu führen, und wie zugleich keiner dieser Gründe der eigentliche war. Ich konnte mir einfach kein weiteres Scheitern erlauben. Ich hatte »meine Crew« schon einmal im Stich gelassen. Ich wusste, wie sich das anfühlte.
Eines Abends, im Frühling, saßen wir im Bett. Es war schon spät. Wir hatten es uns angewöhnt, nachts zu streiten. Ich hatte eine Schale Popcorn in meinem Schoß. Popcorn ist ein guter Snack zum Streiten. Außerdem ist es im Dunkeln leicht zu sehen. In den Streitpausen waren wir Freunde, und immer wieder fütterte ich ihn damit.
Er sprach, unter anderem, über sein Gefühl, vom Meer »gerufen« zu werden. Er wollte vom Meer lernen. Er wollte »Selbstvertrauen im Angesicht des Risikos« erfahren. Er meinte, das sei Teil seines amerikanischen Erbes. Tapferkeit hat unsere Nation geformt, sagte er. Ich nickte, hörte aber nur halb hin.
Ich möchte das so sehr, dass ich es bis in meine Lenden spüre, sagte er.
Wo genau sind diese »Lenden« eigentlich?, fragte ich träge und leckte mir Salz von den Fingern. Ich meine, sind die ein richtiges Körperteil? Das habe ich mich schon immer gefragt.
Michael seufzte und rollte sich auf den Rücken, die Hand über den Augen. Machte sich bereit für eine weitere meiner aus seiner Sicht absurden Abschweifungen.
Plötzlich tat er mir schrecklich leid.
Ich habe ihn geliebt.
Ich weiß nicht, was Lenden sind, Juliet, sagte er schließlich.
Ich starrte aus dem Fenster, in den dunklen, von Ästen durchkreuzten Nachthimmel.
Na ja, ganz gleich, was sie sind, sie klingen köstlich. Ich wette, wenn wir auf See irgendwelchen Kannibalen begegnen, essen die unsere Lenden als Erstes.
Michael nahm die Hände von den Augen und schaute zu mir herüber. Die Augen eines Ehemanns sehen so leuchtend und emotional aus im Dunkeln.
Er warf die Decke von sich und rannte zu meiner Bettseite herüber. Er kniete sich hin und umschloss meine Hand.
Juliet, sagte er. Ist das ein Ja?
Wie konnte ich mich beschweren?
Dieser ganze verdammte Mist war meine Idee.
Wir kamen mitten in der Regenzeit in Panama an. So einen Regen hatte ich noch nie erlebt. Etwa einmal pro Stunde wurde die Luft ganz ruhig, die Straßen leerten sich und dann, ohne jede weitere Vorwarnung, bekam der Himmel einen Tobsuchtsanfall. Der Regen hämmerte derart laut gegen das Wellblechdach unseres kleinen Apartments über der Werft, dass man schreien musste, um sich verständlich zu machen. Draußen verlieh der Regen der Erde mit hagelkorngroßen Tropfen Pockennarben und machte aus den Straßen Meeresarme, während er blasenschlagend in die Pfützen fuhr, sie in Geysire verwandelte und so der Eindruck entstand, er käme nicht nur von oben, sondern gleichzeitig von unten. Wir waren dermaßen ahnungslos, dass wir unsere Wäsche oft auf der Leine ließen, bis uns auffiel, dass niemand versuchte, während der Regenzeit draußen Wäsche zu trocknen.
In Sachen Leidenschaft konnten es nur meine eigenen dummen Tränen mit dem Regen aufnehmen. In diesen ersten Wochen in Bocas del Toro habe ich jede Nacht geweint – und damit meine ich ganze Stunden voller dumpfer, dehydrierender Heulkrämpfe, während Michael mir manchmal den Rücken streichelte und mir manchmal in den Nacken schnarchte.
Dann aber sagte ich eines Tages zu mir: Hör mit deiner verdammten Heulerei auf, Juliet. Es ist hier wirklich schon nass genug.
Die Küche in unserem Apartment in Bocas war so klein, dass man sich gerade so einmal umdrehen konnte, und sie wurde von großen, schlecht gelegten Fliesenbrocken und altem Fugenkitt zusammengehalten. Ein bedruckter Vorhang hing von der Arbeitsfläche neben einem dieser uralten Herde mit zwei Gasplatten, die man mit einem Streichholz anzünden musste. Den Kindern machte das nichts aus. Die Kinder hielten die ganze Sache für eine einzige große Party. Jemand hatte George einen kleinen Fifa-Fußball geschenkt, und mehr brauchte er nicht zum Glücklichsein. Er trug ihn mit sich herum wie ein Haustier. Im Super-Mini auf der gegenüberliegenden Straßenseite gab es Duro-Wassereis, dicker, frisch gepresster Saft, der in Plastikbechern gefroren wurde, und dort saßen wir nun und leckten daran wie Rehe am Salz. Sybil mochte das Hupen des öffentlichen Busses, ein Geräusch wie aus einer Zeichentrickserie, und sie liebte es, vor dem Super-Mini zu sitzen und an ihrem Duro zu lecken. Immer wenn ein Bus ankam, stürzte sich eine neue Welle von Leuten auf sie und fuhr ihr durchs Haar, als hätte sie jede Stunde einmal Geburtstag.
Das Lustige war, nach dem Monat in Bocas war es gar nicht so schwer, sich an das Leben auf dem Boot zu gewöhnen. Ich fand die Enge an Bord sofort beruhigend, als würde man in eine Zwangsjacke gezurrt. Keine überdimensionierten Ethan-Allen-Couchgarnituren, keine Ottomanen, keine Flachbildschirm-Fernseher, keine Hanteln, keine Ganzkörper-Spiegel, keine Dampfbügeleisen für die Wäsche, Bügelbretter oder Staubsauger, keine sprechenden lebensgroßen Minnie-Mäuse oder Barbie-Häuser mit Fahrstühlen, keine Plastiklaufställe oder Kinderwagen, keine Tortenständer, Auflaufgerichte, Waffeleisen, Dekantierflaschen, keine Familienerbstücke, Antiquitäten und Deko-Schnickschnack, keine gerahmten Zertifikate, keine Acht-mal-zehn-Fotos, keine Coffee-Table-Bücher, kein Essen vom Lieferdienst oder Papierkram aus dem letzten Jahrtausend, kein Glas, keine Vasen oder Wertgegenstände, keine Kunst, nichts, was zerbrechen oder zerschellen oder einen zum Weinen bringen konnte, wenn man es verlor, was natürlich nach und nach meine Beziehung zu Gegenständen veränderte, ja, sie im Grunde auflöste.
Als wir das Boot schließlich zu Wasser gelassen hatten, stießen wir auf eine Reihe von weiteren notwendigen Reparaturen, kleineren & größeren. Nach einer trägen Regenzeit in den Tropen roch die Yacht wie ein benutztes Fitnessstudio-Handtuch. Die Polsterung war ein Witz, ebenso die verschimmelten Schwimmwesten. Ihre Batterien waren tot. Die Toilettenpumpe funktionierte nicht. Ich überlegte hin und her, ob ich ein neues Großsegel kaufen sollte. Nach einer Testfahrt, die ich im Oktober allein absolvierte und bei der ich sah, wie sie krängte, wenn alle Segel gesetzt waren, legte ich das Geld für ein neues Großsegel auf den Tisch. Der Motor funktionierte perfekt. Das aufblasbare Beiboot war ein robustes Gefährt mit einem 8-PS-Außenbordmotor. Sybil taufte es Ölfleck. Immer wenn Juliet Zeit für sich brauchte, stiegen die Kinder und ich in die Ölfleck, umkreisten die Marina von Bocas und winkten Juliets sämtlichen Verehrern zu. Ich brachte Sybil sogar bei, wie man das Dingi steuert, woraufhin alle Typen am Strand ihr den Kopf tätschelten und ihr sagten, was für eine großartige Seefahrerin sie sei.
Aus 3 Wochen wurden 4, aus 4 wurden 5.
Wenn man schließlich feststellt, wie stark man sein Budget überzogen hat, ist man bereits rettungslos verliebt. Ich weiß noch, wie ich sie das erste Mal sah: Sie lag aufgebockt in der Werft und offenbarte ihren dreckigen Kiel, während sich die Werftarbeiter mit Wasserschläuchen an ihr zu schaffen machten. Ich brauchte ein paar Stunden, um zu begreifen, dass sie wirklich real war & wir es tatsächlich getan hatten, nach so vielen Zweifeln & so viel Hin & Her. Dass wir es einfach hatten geschehen lassen.
Am nächsten Tag machten sie sich daran, das Boot mit zwei ziegelsteinroten Schichten Bewuchsschutz zu streichen. Ich spürte eine stechende Eifersucht, während ich die Männer dabei beobachtete, wie sie auf der Werft ihren Rumpf bemalten. Es kam mir irgendwie intim vor. Okay, ich müsste lügen, wenn ich abstreiten wollte, dass ich vage romantische Gefühle für das Boot hegte, eine Art keusche, zugleich gierige Liebe, die sich kaum von der Anziehung unterschied, die ich für Juliet empfunden hatte, als sie in ihrem dritten Trimester war, mit ihren großen, übermütigen und herrlich ausladenden Brüsten.
(Bitte, lieber Gott, lass Juliet niemals dieses Logbuch finden.)
Die beiden Juliets, das war meine Idee.
Bevor die Jungs in der Werft sie zu Wasser ließen, kratzten wir noch die Schrift vom Heckspiegel und gaben ihr einen neuen Namen.
Bei den Buchstaben gingen wir eher in die kitschige Richtung, wählten eine geschwungene, romantische Schrift.
Und schließlich war sie genau so, wie ich sie mir vorgestellt hatte.
Juliet.
Sobald wir ganz an Bord gingen, wurden unsere Unterschiede offenkundig. Michael war ständig mit irgendetwas beschäftigt. Immer wenn wir vor Anker lagen, wenn die See ruhig war oder die Kinder schliefen, konnte man ihn mit einem Messer oder einem durchgescheuerten Tau antreffen, oder man sah, wie er mit finsterer Miene einen kaputten Schäkel anstarrte.
In Connecticut hatte ich niemals gesehen, dass er eine Tischdecke glatt gestrichen oder ein Kissen aufgeschüttelt hätte. Unser Zuhause, die Kinder – das war meine Sphäre. Ob ich auf diesem Gebiet nun besonders begabt war oder nicht, war unerheblich gewesen. Unbewusst trennten wir alles nach Geschlechtergrenzen auf, von denen ich geglaubt hatte, sie wären längst auf dem Müllhaufen der Geschichte gelandet. Für eine Poetin besaß ich bedauernswert wenig Fantasie, wenn es um meinen Alltag ging – ich verlor mich mitten im Wäschemachen und ließ mich von irgendwelchen faszinierenden Kleinigkeiten ablenken. Was für eine Art Dad Michael war, zeigte sich wiederum, sobald man ihm auch nur einmal die Verantwortung für die Kinder überließ. Sofort schickte er aufgeregte SMS und stellte Fragen, die man bereits am Tag zuvor beantwortet hatte, ohne dass einem zugehört worden war. Die Hälfte der Zeit, die ich außer Haus verbrachte, ging damit drauf, ihm aus der Ferne Hilfestellung zu leisten, wie die Crew-Chefin bei einem NASCAR-Rennen.
Wer sagt eigentlich, Lächeln wäre für Männer nicht wichtig? Wenn er mich um einen Gefallen bat, dann stets mit erbarmungslos guter Laune. Er war immer selbstbewusst, wenn es um das ging, was er tat, ob es nun richtig war oder nicht. Wenn Sybil von einem Fuß auf den anderen hüpfte, weil sie aufs Klo musste, beschäftigte sich Michael geschlagene fünfundvierzig Minuten damit, einen frisch gefällten Weihnachtsbaum auf dem Fahrradträger des Autos zu befestigen, als würden wir auf der Landebahn des Bradley-Flughafens nach Hause fahren.
An Bord aber überlappten sich unsere Sphären, nahmen uns unser Geschlecht. Denn das Boot war nicht bloß ein Boot, es war unser Zuhause. Also verstand er, was es bedeutete, sich darum zu kümmern. An Deck legte er die Leinen in perfekten Formen zusammen. Er polierte mit Vorliebe die Wantenbeschläge und ölte die Winschen. Ich wiederum musste lernen, wie man Fischinnereien über Bord wirft und wie man einen vollgelaufenen Außenbordmotor anschmeißt; es war vollkommen lächerlich, darauf zu warten, dass jemand anderes das erledigen würde.
Anfangs wurden meine Ängste bestätigt – ich war ein ziemlich inkompetentes Crewmitglied. Jeden Tag stieß ich mir an denselben Stellen den Kopf, am Niedergang, an den Regalen über den Kojen der Kinder. Ich lernte es einfach nicht. Ich war ein Erster Maat mit zwei linken Händen, eine Hausfrau auf der Flucht, eine Poetin, der die Verse ausgegangen waren. Ich hatte meinen Abschluss, aber nicht den Doktortitel. Irgendwann, da war ich mir sicher, würde mich wegen meiner Unaufmerksamkeit der Baum treffen und über Bord schleudern, und das Beste am Ertrinken würde sein, dass ich die verdammte Toilette nicht mehr auspumpen müsste. Der Kolben steckte fest. Man musste ihn alle paar Tage mit Olivenöl einschmieren.
Alles auf See kostete Anstrengung. Besonders in den Tropen, wo die Ausrüstung austrocknete und steif wurde oder verrostete oder nach einem Regenguss verklebte und jede Ritze mit Salz verstopfte.
Ich wusste nicht, dass ich eine Seglerin wurde.
Ich wusste nicht, was die See von mir verlangen würde.
Schwarzseher? Wie sich rausstellt, läuft man denen wirklich überall über den Weg.
In der Werft in Bocas gab es einen Typen, der mir so richtig auf die Nerven ging.
Sie geben dem Boot einen neuen Namen?, fragte er.
Er war nicht mal der Vorarbeiter, bloß ein Typ, zu dem die anderen aufzuschauen schienen und der sich selbst für einen großen Macker hielt. Er hatte einen dicken Bauch & dürre Beine und trug amerikanische Arbeiterstiefel, die sonst niemand anhatte. Sogar ich rannte in den Flip-Flops aus dem Super-Mini in der Gegend herum. Während die anderen Männer arbeiteten, hörte dieser Typ nicht auf zu reden. Buchstäblich ohne Pause, und keiner seiner Kollegen unterbrach ihn je dabei. Es war, als würde er sie hypnotisieren mit seinem endlosen Monolog, der nur manchmal vom lauten Dröhnen der Maschinen unterbrochen wurde.
Bringt Unglück, den Namen zu ändern, hatte er zu mir gesagt und den Kopf geschüttelt.
Meinen Sie?, fragte ich und versuchte, freundlich zu bleiben. Hab ich schon mal gehört.
Wir schauten zur Juliet in ihrer Wiege auf, ihr Rumpf rot wie die Brust eines Rotkehlchens.
Bringt Unglück, wiederholte er und schüttelte immer noch den Kopf.
Na ja, wissen Sie, sagte ich, die Leute geben ihren Booten doch ständig neue Namen.
Und wissen Sie auch, was mit diesen Booten passiert, mein Freund? Er tippte mir auf den Arm, obwohl ich direkt neben ihm stand. Haben Sie sich mal erkundigt, wie es mit diesen Booten ausgegangen ist?
Ich spürte, wie die Wut in meiner Brust rumorte. Nett von Ihnen, dass Sie sich Sorgen machen, Mann, sagte ich.
Kein Problem.
Ich spüre, Sie meinen’s echt gut, vielen Dank.
Kein Problem, sagte er kühl.
Ich ließ ihn stehen, und er schaute mir nach. Dann fing er wieder mit seinem Gerede an.
Während ich den Pfad hinaufging, hörte ich einen Chor aus Gelächter in meinem Rücken.
Hombre muerto, murmelte jemand.
Wir arbeiteten so hart daran, die Juliet seetüchtig zu machen, Proviant einzukaufen und den Kurs zu planen, dass wir jedes Zeitgefühl verloren. Nicht einmal an Thanksgiving dachten wir. Andere Segler in Bocas hatten uns gesagt, wir würden wissen, wenn wir bereit wären.
Und plötzlich waren wir es.
Eines Tages war es da, dieses greifbare Gefühl. Der Ozean wartete auf uns wie eine Straße.
Sofort unternahmen wir unseren ersten Über-Nacht-Törn. Zwei Tage über den Golfo de los Mosquitos zur Kolonialstadt Portobelo. Michael ließ das Steuerrad keinen Augenblick los, und wir erreichten unser Ziel mit einem euphorisierten und leicht manischen Kapitän. Anschließend beschlossen wir, in Portobelo zu bleiben und ein ordentliches Weihnachten zu feiern.
Tage verrannen, und Blütenblätter fielen aufs Wasser.
Erst im Januar machten wir unseren Vorstoß zu den San- Blas-Inseln mit einem ersten Halt in Cayos Limones.
San Blas ist der spanische Name. Eigentlich heißt es Kuna Yala. Beinahe vierhundert winzige Inseln, die halbautonome Heimat der Kuna.
Die Kuna gestatten keinerlei Handel, nichts dürfen sie verkaufen, nichts kaufen. Je weiter man in das Gebiet vordrang, desto weniger menschliche Spuren waren auszumachen. Die normalen Touristen blieben fort. Hier gab es nur das Meer. Das Meer und kleine Atolle aus Sand und Palmen. Man fragte sich, ob man, wenn man weitersegelte, irgendwann selbst verschwinden würde. Keine unangenehme Vorstellung.
Ich habe eine sehr klare Erinnerung: Wir waren auf unserem Kurs von Limones in östlicher Richtung auf dem Weg ins Herz der Kuna Yala. Auf halbem Weg über den Mayflower Kanal. Ich saß mit dem Rücken zum Mast, träumte vor mich hin.
Der Horizont hatte diese Wirkung auf mich. Die ungebrochene Grenze von Wasser und Himmel leerte meinen Kopf. Es blieben nur einzelne Gedanken, die ich mühelos, wie Tücher aus dem Hut des Zauberers, hervorziehen konnte. Dazu muss man wissen: Wir waren nie an einem Punkt, wo wir das Land nicht mehr sehen konnten, nicht bis zu unserer letzten Überfahrt. So ließ sich die Angst, wenn sie denn aufkam, damit beruhigen, dass man die Küstenlinie fand, immer.
Sagen wir’s, wie es ist: Ich war lausig als Ausguck. Die Perspektivwechsel versetzten mich in Trance. Die verschiedenen Winde ebenfalls, und ich versuchte ständig, ihnen Namen zu geben: fragender Wind, zärtlicher Wind, triumphaler Wind. Wenn ich als Ausguck eingeteilt war, hatte ich nur ein vages Bewusstsein davon, was in der Nähe oder auf dem Boot selbst passierte.
Plötzlich begann Sybil zu schreien.
Mommy! Daddy! Captain Daddy! Segelboot an Steuerbord, Daddy!
Mein Herz setzte aus. Sie hatte recht – ein Segelboot kreuzte unsere Steuerbordseite in seltsam dichtem Abstand. Woher war es gekommen? Offenbar hatte es sich hinter der großen Insel an Steuerbord hervorgeschoben. Überrascht stellte ich fest, dass Michael unter Deck war, und im gleichen Augenblick fiel mir ein, dass er mir vor wenigen Minuten gesagt hatte, er würde das Steuer verlassen. Sinnlos betrachtete ich das Boot, das nicht viel größer war als unseres, aber jetzt den gesamten Horizont ausfüllte. Sein mandelförmiger Rumpf war aus hellem Holz, und die komplizierte Anordnung der vielen Segel erinnerte mich an Origami.
Als ich endlich über die Kabinendecke ins Cockpit geklettert war, stand Michael bereits am Ruder, das Gesicht knallrot vor Anspannung.
Alles klar, Crew, sagte er. Sind wir in diesem Fall der Kurshalter?
Ja, rief ich. Nein? Soll ich schnell nachschauen, Michael?
Er lachte. Nein, Juliet, Schatz. Ich hatte gehofft, du wüsstest es. Wir müssen dem anderen Boot Platz machen. Hier, ich möchte mal sehen, wie du das machst.
Ist das der richtige Zeitpunkt für eine Segelstunde, Michael?
Aber er war bereits vom Ruder weggetreten, und ich musste vorstürzen, um zu verhindern, dass es sich von selbst drehte.
Wir sind nach Backbord ausgerichtet, sagte ich. Wir müssen abfallen.
Ich drehte das Ruder hart herum, und die Juliet fiel zurück, wie eine abgewiesene Frau, die dem vorbeifahrenden Schiff die kalte Schulter zeigt.
Das Origami-Schiff glitt vorbei wie ein Gefährt aus einer alten Sage. Wir waren dicht genug, um die Gegenstände im Cockpit zu sehen, die Klampen an Deck.
Ein alter Mann stand am Steuer und hatte seine Arme durch das Ruder gesteckt. Trotz der gefährlichen Nähe unserer Boote schien er unbeeindruckt. Hätte er etwas gesagt, ich hätte ihn gehört.
Er schaute uns mit einer Art altehrwürdiger Geduld an, winkte uns beiläufig zu, und dann war er verschwunden.
Tue ich das Richtige? Verdammt, ich weiß es nicht. Das ist noch mal eine völlig andere Frage.
Ich beginne schon damit, die Vergangenheit umzuschreiben. Ich lasse es so klingen, als wäre das Boot der erste Punkt gewesen, an dem wir wirklich aneinandergeraten wären. Aber nach Connecticut zurückgekehrt, stritten wir uns nicht nur wegen des Bootes. Michael und ich hatten weitaus schwerwiegendere Probleme. Es ging uns nicht gut. Als Paar, meine ich. Wir sahen die Welt nicht auf dieselbe Weise. Wir waren uns fundamental uneinig. Wir waren nicht – wie soll ich das in Worte fassen? Wie soll ich das jetzt noch in Worte fassen?
Juliet habe ich das nie gesagt, vielleicht ist es also keine so tolle Idee, es jetzt aufzuschreiben. Ich traue es ihr durchaus zu, mir hinterherzuspionieren. (HEY, JULIET. Wenn du dir die Zeit nimmst, das hier zu lesen, ist dir entweder a) wahnsinnig langweilig oder b) du bist an ein Krankenhausbett gefesselt.) Als ich noch meinen Job bei der Omni-Versicherung hatte, hab ich mich manchmal während der Arbeitszeit zu der Süßwasser-Marina in der Nähe vom Long Island Sound geschlichen. Bloß um mir Boote anzuschauen. In voller Berufsmontur. Niemand hat jemals zu mir gesagt: Was machen Sie denn hier? Niemand hat mir je auch nur eine persönliche Frage gestellt. Als wäre es das Selbstverständlichste von der Welt, dass ein Typ im Businessanzug mitten am Tag an den Anlegestellen herumläuft und die Segler fragt, wo sie gerade herkommen oder wohin sie aufbrechen. Anschließend bin ich dann zurück und hab den Kollegen irgendwas erzählt, wo ich gewesen bin.
Es gab da diese kanadische Familie, Mutter, Vater & zwei Kinder, denen eine unfassbar schöne Segelyacht mit Gaffeltakelung gehörte. Ich habe lange beobachtet, wie die Kinder mit Eimern & Kajaks spielten & Mom und Dad am Boot arbeiteten oder einfach an Deck saßen …
Eines Tages trat ein älterer Herr an mich heran. Schönes Boot, was?, sagte er.
Allerdings.
Sie leben auf dem Boot, erklärte er mir. Sind damit schon einmal um die Welt gesegelt.
Der alte Typ & ich standen da und betrachteten schweigend das Boot. Ich glaube nicht, dass ich schon einmal etwas so sehr gewollt habe. Ich meine, bis zu diesem Moment hatte ich noch nie jemanden um sein Leben beneidet.
Die Menschen glauben, Weltumsegler würden vor ihren Problemen davonlaufen. Aber sie laufen nicht vor Problemen davon – sie wollen bloß andere. Sie wollen nicht die Papierkram- und Verkehrs- und Politische-Korrektheits-Probleme. Sie wollen die Probleme von Wind und Wetter. Das Problem, nicht zu wissen, welche Richtung einzuschlagen ist.
Ich schaute mir den Mann neben mir an. Er trug einen Vollbart und graues Haar, das seitlich unter seiner MAGA-Baseballkappe hervorspross.
Harry Borawski, sagte er und streckte mir die Hand entgegen. Sie wären überrascht, wie günstig so ein Boot zu haben ist.
Nach Georgie hatte sich etwas verändert in unserer Ehe, und nirgends ließ sich dafür ein Schuldiger finden. Wir waren fast vierzig, und zugleich hatte sich unsere Ehe – ich weiß auch nicht – verdickt, verklebt, wie Haferbrei. Unterschiede zwischen uns, die früher Funken hatten sprühen lassen, schienen nun zu verpuffen. War da Liebe? Ja, ja, aber nur an der Peripherie. Im Zentrum herrschte reine Verwaltungsarbeit. Michael blieb bis sechs oder sieben Uhr abends in der Versicherung. War es so weit, wollte ich nur noch eine Übergabe für die letzte Stunde. Und wenn schließlich beide Kinder in der Badewanne saßen, glitschig und haarlos, und ich versuchte, entweder den einen oder die andere vom Ertrinken abzuhalten, flüsterte ich: Bitte, komm nach Hause, komm nachHause.
Die Tage waren lang und dunkel, aber ganz gleich, wie gut oder schlecht ich glaubte, mich als Mutter geschlagen zu haben – die letzte Stunde war immer die schlimmste. Wie sehr die Zeit dahinkroch am Ende des Tages. Ich hatte die Kinder einen ganzen Tag lang am Leben gehalten, in den letzten zehn Minuten aber fürchtete ich stets irgendeine unvorhergesehene Katastrophe nahen.
Manchmal machte es mir die Panik schwer zu atmen. Ich kam mir vor wie ein irisches Mädchen, das mit der Schürze voller Kartoffeln auf dem Feld vom Sonnenuntergang überrascht wird. Sollte ich die Kartoffeln fallen lassen, mich selbst retten und davonlaufen? Oder sollte ich sie in Ruhe und sorgsam durch den dunklen Wald tragen?
Von der Marina wären es acht Seemeilen bis zum Long Island Sound gewesen. Und von dort nach Portugal noch mal 3000 weitere.
Aber ich schwöre, ich habe nicht ein einziges Mal darüber nachgedacht, Juliet zu verlassen.
Ganz gleich, wie schwierig sie sein kann!
Ganz gleich, wie verschieden wir sind.
ICH LIEBE MEINE VERRÜCKTE FRAU.
(Da hast du’s, Juliet, du verdammte Schnüfflerin.)
Aber jetzt. Was gäbe ich nicht darum, wenn ich jetzt darauf warten könnte, dass er nach Hause kommt.
Keine Frage, ich mochte Harry Borawski. Wir saßen oft an diesem Picknicktisch, von dem aus man die Marina überblicken konnte, und blätterten Mappen mit Yachten durch, die zum Verkauf standen, oder redeten einfach irgendwelchen Blödsinn, während wir warmen Eistee aus Plastikflaschen tranken. Er verkaufte Yachten, hatte schon eine ganze Menge an den Mann gebracht, aber wann immer ich vorbeikam, schien er nicht das Geringste zu tun zu haben. Vielleicht hatte er seine Beschäftigung auch einfach aufgegeben. Er war einer dieser alten Männer mit enzyklopädischem Wissen in bestimmten Gebieten & riesigen Defiziten bei Dingen, die zum Allgemeinwissen gehörten. Ein großer Mann und ziemlich ungepflegt – man war irgendwie froh, dass es keine Ehefrau gab. Manchmal spürt man einfach eine Verbindung mit solchen schrägen Vögeln, vielleicht aus einem früheren Leben. Allerdings war ich ein leichtes Opfer, wenn ich dort auftauchte – mit der Krawatte um den Hals und meinen Erinnerungen an meinen verstorbenen Dad und die Odille. Aus irgendeinem Grund vertraute ich mich Harry an. Ich erzählte ihm Dinge, die ich anderen Leuten nicht erzählte.
Ich erzählte ihm von Juliet.
Ich glaube, Segeln wäre gut für meine Frau, sagte ich zu ihm. Sie leidet an Depressionen. Auch wenn sie es hasst, wenn ich das sage. Ihr ging’s gut, bis wir unsere Kinder bekamen. Ich glaube, das hat die Vergangenheit aufgewühlt. Die letzten Jahre sind ziemlich hart gewesen.
Und es ist auch niemand da, der uns helfen könnte, erzählte ich ihm. Mit ihrer Mutter spricht sie nicht. Und ich bin dauernd weg, bei der Arbeit oder auf Dienstreise. Ich bin keine Hilfe.
Dann sagte Harry zu mir: Einige der besten Segler sind Frauen. War schon immer so. Gerade erst ist eine sechzehnjährige Schülerin ganz alleine um die Welt gesegelt. Dem Meer ist es egal, wer du bist.
Das war der erste Moment, an dem mir in den Sinn kam, dass wir es wirklich tun könnten.
Dass das Boot für uns beide gut sein könnte. Und dass dieser Traum, den ich mit mir herumschleppte, seit ich 15 war, tatsächlich in Erfüllung gehen könnte.
Dem Meer ist es egal, wer du bist.
Das klang ziemlich gut!
Nicht jeder kommt mit Juliet klar.
Aber ich dachte: Juliet und das Meer würden gut miteinander auskommen.