Unterschiedliches ist gut - Martin Luchsinger - E-Book

Unterschiedliches ist gut E-Book

Martin Luchsinger

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Beschreibung

Unterschiedliches, das sind Gedichte und Theatertexte, das sind Literaturkritiken aus fast 30 Jahren und das sind Essays, zur Malerei der Gegenwart, zu Erinnerung im digitalen Zeitalter, zur Geschichte, Gegenwart und Zukunft von Schule, zu Kunst und Gewalt sowie zur Wirkung von Sprache: "Weltflucht, Wortkeule und Zaubervers".

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Dieses Buch ist all den Menschen gewidmet, die mich während der langen Entstehungszeit der folgenden Texte unterstützt haben

Vorbemerkung

Texte aus 30 Jahren sind in diesem Band versammelt, die ersten entstanden in einer Zeit, als die Literaturwissenschaft der Welt noch geholfen hat, so dachten wir damals zumindest, der letzte versucht Kriterien zu entwickeln, wie Schule befreit statt reformiert werden könnte. Dazwischen Streifzüge durch die Kultur, Literaturkritik zumeist, zu so unterschiedlichen Autorinnen und Autoren wie Antunes, Bachmann, Coetzee, Duvanel, Jirgl, Koeppen, Lehr, Menasse, Morsbach, Sebald, Semprún, Wedekind und anderen, aber auch Essays zur bildenden Kunst, zur Erinnerung im digitalen Zeitalter und zur Wirkung von Sprache: „Weltflucht, Wortkeule und Zaubervers“. Damit nicht genug, gibt es auch Literatur in diesem Band, verstreute Gedichte und zwei Theatertexte, die ebenfalls das Herz aller Lesenden erfreuen und ihren Geist beleben sollen.

Inhaltsverzeichnis

Lyrik

Das Ungesagte

Literaturkritik

Ich suche nicht X. Ich suche das Weib“ – „Ich bin weder das eine noch das andere.“

Zur Funktion des Weiblichen bei Frank Wedekind

Bilder des Andern – Das Andere der Bilder

Literatur und Theorie anhand von Wolfgang Koeppens „Der Tod in Rom“

Der Roman der Diktatur

Herta Müller: Herztier

Das Schweigen des Überlebens

Jorge Semprún: Schreiben oder Leben

Verbindung von Schönheit und Schrecken

Anne Duden: Der wunde Punkt im Alphabet

Panorama des alltäglichen Scheiterns

Adelheid Duvanel: Die Brieffreundin

Trockenblumen

Paul Nizon: Die Innenseite des Mantels

Weiterdenken gegen die Dampfwalze

Ingeborg Bachmann: Todesarten-Projekt

Schreiben am Schnittpunkt sehr vieler Stimmen

Durs Grünbein: Galilei vemisst Dantes Hölle und bleibt an den Massen hängen

Eine Implosion des Exotismus

Urs Widmer: Im Kongo

Lügen aus Menschlichkeit

Zum Tod von Jurek Becker

Brandmale des Glücks

Klaus Merz: Jakob schläft

Luftkrieg und Literatur

W.G. Sebalds Poetikvorlesungen in Zürich

„Wie eine volle Musick“

Der vollständige Briefwechsel von Clemens Brentano und von Achim von Arnim

Die Aufführung

Petra Morsbach: Opernroman

Vom Schwärmen beflügelt

Maarten t‘ Hart und Johann Sebastian Bach

Ein Fall von Verleugnung

Urs Faes: Und Ruth

Im Himmel grässliche Exzesse

Jacob von Hoddis

Nihilistisches Höllenspektakel

Robert Menasse: Vertreibung aus der Hölle

Essay

Kunst und Gewalt – (un-) versöhnliche Komplizen

Literaturkritik

Mama Papa Tsombi

Reinhard Jirgl: Genealogie des Tötens

Europa im Regen

J.M.Coetzee: Der Junge

Essay

„Das Bild ist vollendet – und ich bin gescheitert“: Albrecht Schnider I

Geschichte als Wahn, Erkenntnis und Hölle: Thomas Lehr

Massstab des (Un-) Sichtbaren: Friedrich Kittler

Literaturkritik

Nicht nur für Psychiater

António Lobo Antunes: Einblick in die Hölle

Essay

Ohne Titel

Literaturkritik

Wo die Seele sitzt

David Albahari: Fünf Wörter

Essay

Traumbilder-Bilderleere-Denkbilder: Albrecht Schnider II

Theater

Passionen der Lehre – Stationen des Lernens

Lyrik

Tarifa 2015

Essay

Weltflucht, Wortkeule und Zaubervers

Lyrik

Arbeit

Essay

Was heisst und wozu brauchen wir Erinnerung im digitalen Zeitalter

Lyrik

Februar

Theater

Rasender Stillstand

Lyrik

Schneller Abgang

Essay

Amnestie – Schule jenseits des Reformismus

Lyrik

Oktoberblau

Wie viele Jahreszeiten?

Nachbemerkung

Inhaltsverzeichnis

Anmerkungen und Verweise

Das Ungesagte

Unermesslich ist alles nur still Gedachte,

Unausgesprochene,

Nirgends Fixierte -

Und wie begrenzt erscheint im Vergleich

Alles Mitgeteilte.

Schafft das Ungesagte den Sprung nicht

Über die Lippen,

Droht es zu verschwinden,

Vernommen allein

Vom pochenden Herzen.

Gespräche mit den Toten müsste man führen können, Nie wäre es zu spät für einen ungesagten Satz.

Zurücknehmen aber lässt sich einmal Ausgesprochenes Nie wieder ganz.

Lieber ein Wort zu wenig als ein Wort zu viel?

Ein Blinzeln, ein Leuchten, Tränen, Schweigen –

Wortlose Sprache, unerhört.1

„Ich suche nicht X. Ich suche das Weib“ – „Ich bin weder das eine noch das andere.“

Zur Funktion des Weiblichen bei Wedekind: Von Subversionen und Aversionen.

Eine Semiotik der Geschlechter, die sich nicht damit begnügt, unterschiedliche Prägungen des Männlichen und des Weiblichen gleichberechtigt nebeneinander aufzulisten, könnte von Untersuchungen zur Funktion des Weiblichen nur gewinnen: So ist in diesen beispielsweise für die nicht unwichtige Frage nach der Konstitution von Geschlechtlichkeit eine Vorgehensweise entwickelt: Sie führt über die Frage nach dem, was als weiblich konstituiert wird, zur Funktionalität des Weiblichen innerhalb der Ordnung, in der es situiert ist, und verweist damit auch auf den Ort des Männlichen. Von Interesse müssten auch die Ergebnisse dieser Untersuchungen sein. Sie lassen sich in der These zusammenfassen, dass „die Tötung des Weiblichen konstitutiv für die Kunstproduktion wie für die Hervorbringung der kulturellen männlichen Ordnung überhaupt sei.“2

Im Folgenden soll es nicht einfach darum gehen, diese These mit Ausführungen zum Werk Frank Wedekinds zu illustrieren. Gezeigt werden soll vielmehr auch, dass sich, von ihr ausgehend, neue Fragen stellen lassen. Dazu ist zunächst auf die Lulu-Dramen „Erdgeist“ und „Die Büchse der Pandora“ einzugehen, weil in ihnen die Tötung des Weiblichen in spezifischer Weise thematisch wird.

Der Forschung galt Lulu lange Zeit als Inbegriff von Weiblichkeit. Uneins war man sich allerdings in der Frage, welche Weiblichkeit in ihr so treffend verkörpert sei: „Wandelnde(r) Männermord“3 meinten die einen, „unbedingte Moral“4 die anderen. Zur einen wie zur anderen Festschreibung, zur Dämonisierung wie zur Idealisierung, sagt Lulu selbst schlicht: „Ich bin weder das eine noch das andere“.5 Mit diesem Satz weist Lulu die Vorstellungen zurück, welche sich die männliche Hauptfigur im „Erdgeist“, Dr. Schön, von ihr macht. Ihre Verkennung ist damit im Stück selbst schon dargestellt. Hellhörige Interpretationen haben die Suche nach Lulus Wesen dann auch aufgegeben und stattdessen die inszenierten Männerprojektionen nachgezeichnet, wozu schon der Prolog im „Erdgeist“ einlädt: Zwar präsentiert der Tierbändiger Lulu stereotyp genug als „Schlange“6, als „Urgestalt des Weibes“7. Paradoxerweise ermahnt er sie aber anschliessend, nicht aus der Rolle zu fallen und markiert damit selbst die Künstlichkeit des angeblich wesenhaft Weiblichen; die „Urgestalt des Weibes“8 erscheint als Effekt einer Zurichtung.

Allerdings ergibt sich aus der These, in den Lulu-Dramen sei der Vorgang männlicher Projektion dargestellt, auch ein Problem: Diese These impliziert die Frage, worauf denn projiziert werde. Die Antwort aber droht, wenn auch auf einem anderen Reflexionsniveau, die Festschreibung der Lulu-Figur zu wiederholen, was sich leicht an der Wortwahl der genannten Interpretationen zeigen lässt: So erinnert beispielsweise die Bestimmung Lulus als „Hohlform männlicher Projektionen“9 doch unvermeidlich an die Gefässmetapher und bewegt sich damit bereits wieder auf eine Idealisierung zu. – Als wenn sich Lulu nicht die Finger schmutzig machte!

An dieser Stelle hat eine andere Lektüre der Lulu-Dramen eingesetzt und gezeigt, dass die disparaten Teile der bisherigen Forschung im altbekannten Mythos der femme fatale vereint sind: Lulu ist eben einerseits schön und anziehend, was nicht erst im 4. Akt von „Erdgeist“ überdeutlich wird: Im 3. Auftritt zieht sie gleichzeitig einen Ehemann, eine Verehrerin, einen Verehrer, zwei Liebhaber und zwei Männer, die sie zumindest ursprünglich haben heiraten wollen, in ihren Bann. Lulu ist aber auch zerstörend, davon zeugen nicht nur eine Reihe sterbender Männer, sondern auch eine vergiftete Frau.10

Das Besondere an Wedekinds Text liegt nun darin, dass er den langlebigen Mythos von der schönen aber dämonischen Frau gerade nicht in einer neuen Auflage wiederholt, sondern als Mythos selbst thematisch macht: Immer wieder wird auf die Künstlichkeit dieses Mythos verwiesen, auf seine Formierung durch ein männliches Begehren, und zwar so, dass keine Referenz auf eine ‚tatsächliche‘ Frau mehr möglich ist: Lulu ist weder Inbegriff weiblicher Natur noch Opfer männlicher Projektionen, ist nichts als deren Verkörperung. Zu den Verfahrensweisen, welche die Lulu- Dramen absetzen von der blossen Wiederholung des Mythos ,femme fatale‘ ebenso wie vom Drama einer verkannten Frau gehört etwa das Zitieren und Zusammenführen von Präsentationsformen des Weiblichen aus den unterschiedlichen Kunstbereichen Malerei, Zirkus, Revue und Theater. Die Verdoppelung und Vervielfältigung der ,künstlichen‘ Präsenz des Weiblichen aber macht erst auf eine prinzipielle Absenz aufmerksam: Wie die zahlreichen Namen Lulus auf das Fehlen eines eigenen Namens und damit auf das Fehlen eines eigenständigen Selbst verweisen - denn ‚Lulu‘ ist nur der Name ihres ersten Mannes, ihres inzestuösen Vaters Schigolch -, so gibt die schillernde „Inszenierung der inszenierten Weiblichkeit“11 die „Tragödie vom Fehlen der Frau“12 zu erkennen. Indem die Lulu-Dramen die Tötung des Weiblichen als dessen Zurichtung durch und für ein männliches Begehren nicht wiederholen, sondern inszenieren, unterbrechen sie aber deren Vollzug.

Wer in den Lulu-Dramen zumindest einen Ansatz für eine radikale Kritik der Geschlechterverhältnisse sieht, wird von den erst kürzlich wieder lückenhaft publizierten Tagebüchern Wedekinds enttäuscht sein. Wo immer das Ich sein Verhältnis zu Frauen thematisiert, erscheinen diese als Hure oder als Heilige. Daran ändern die häufigen Ortswechsel ebenso wenig wie der Lauf der Zeit. Ob das Ich noch auf dem elterlichen Schloss Lenzburg aus Langeweile mit nahen Bekannten tändelt, ob es als Einzelgänger in München oder Berlin keusch-schüchtern Tantalusqualen leidet oder in Paris als Bohemien mit schnell schwindendem väterlichen Erbe der Hurerei frönt, endlos wiederholt sich die Spaltung des Weiblichen in eine äusserst anziehende und eine sehr abstossende Hälfte: So kontrastiert die dauerhafte Vorliebe für Stupfnasen mit einem pauschalen Rundumschlag gegen alle Münchnerinnen13;Prostituierte erscheinen als „Priesterinnen“14oder als „scheussliche Huren“15; auch macht die Spaltung selbst vor Körpergrenzen nicht Halt: Beispielsweise beschreibt das Ich Wilhelmine zunächst noch ganzheitlich als „reizend“16, erwägt aber kurz danach, ihr den Mund zuzunähen.

An einigen Stellen aber wird die Funktion dieser durchgängigen Verobjektivierung des Weibliche deutlich, etwa, wenn sich das Ich vergegenwärtigen muss, was es sucht: „Ich suche nicht X. Ich suche das Weib.“17Wie der anschliessende Satz zeigt, will sich das Ich nicht gänzlich von X trennen: „In jeder Gestalt soll es mir willkommen sein“18- also auch in der Gestalt von X. Schon zwei Jahre zuvor hatte das Ich einer anderen Frau in reizender Manier eröffnet, „sie in erster Linie als Typus und dann erst als Individuum zu betrachten“19. Weniger souverän ist es jetzt allerdings damit beschäftigt, sich selbst diesen Satz einzuhämmern, aus Gründen, die ebenfalls zur Sprache kommen: Das Ich fürchtet angesichts der angeblichen Verliebtheit von X, selbst den Kopf zu verlieren. Die Eintragung beginnt dann auch mit dem nachdrücklichen Appell: „Kopf hoch! Kopf hoch! Ihr gegenüber die Maske nicht fallen lassen“20. Lesbar wird somit ein direkter Zusammenhang zwischen der Entsubjektivierung des Weiblichen und der Furcht des Ich vor Selbstverlust: Das Ich bleibt Herr der Lage nur, indem es eine Distanz zum/des Weiblichen erdichtet, die Verortung des Andern hat die Funktion, dem Ich die Einzigartigkeit zu sichern: „Ich bin nicht weniger, ich bin mehr als jeder andere.“21- eine Vorstellung, die übrigens nicht zuletzt von seinem Selbstverständnis als Künstler verfestigt wird.22

Die Gegenüberstellung der Lulu-Dramen und der Tagebücher von Frank Wedekind wollte vor allem eines nicht: Ein weiteres Mal einem männlichen Autor sein gespaltenes Frauenbild nachweisen. Nicht länger aber sollten Fragen zur Funktion des Weiblichen mit Hilfe der Opposition Autor-Werk auf die Texte beschränkt werden, die als ‚Werk‘ kursieren. Die Berücksichtigung der Tagebücher erfolgte vielmehr in der Absicht, einen ersten Ansatz zur Auffächerung dieser Opposition anzudeuten; ausgehend von der Verschriftlichung eines Autors wären mit dem ‘Werk‘ auch so unterschiedliche Textsorten wie Briefe, Notizbücher und Agenden in den Fragehorizont einzubeziehen. Anders als bei Vergleichen innerhalb eines Genres ginge es dabei nicht darum, subversive Texte von festschreibenden Texten nur zu unterscheiden. Vielmehr wären Texte aus unterschiedlichen Genres miteinander in Beziehung zu setzen, wobei auch genretheoretische Überlegungen berücksichtigt werden müssten.

In den Vergleich der Tagebücher mit den Lulu-Dramen ist beispielsweise mit einzubeziehen, dass Tagebücher wie Autobiographien bis zum Ende des 19. Jahrhunderts einen nicht zu überschätzenden Beitrag zur Subjektivierung der Menschen leisten.23 Vor diesem Hintergrund ist aber die Frage zu stellen, ob nicht die Verfestigung des Ich in den Tagebüchern, die ja einhergeht mit einer Verobjektivierung des Weiblichen, die Voraussetzung dafür bildet, dass in den Lulu-Dramen eine Bewegung, eine Verflüssigung, eine Subversion auch der erstarrten Weiblichkeitsmuster stattfinden kann. Zieht man diese Möglichkeit in Betracht, so stellt sich auch die Frage, ob eine Texttheorie, welche ganz allgemein ein „Subjekt im Prozess“24 postuliert und als dessen Voraussetzung nur nennt, die Kastration müsse traumatisch gewesen sein25, nahe genug an das vermutete Beziehungsgeflecht von Texten herankommt, um für eine radikale Kritik der Verobjektivierung des Weiblichen, die ja nicht zuletzt auch eine andere Konzeption des Männlichen im Blick haben müsste, zu taugen.26

Bilder des Andern – Das Andere der Bilder

Literatur und Theorie anhand von Wolfgang Koeppens „Der Tod in Rom“

Seit kurzem ist es wissenschaftlich bewiesen: Fremdenfeindlichkeit und Fremdenhass stehen in keinem direkten Zusammenhang mit dem Anteil der AusländerInnen an der Gesamtbevölkerung eines Landes. Eine Nationalfondsstudie hat den Nachweis erbracht, dass in den letzten 100 Jahren die Phasen verstärkter Thematisierung von Überfremdungsängsten in der Schweiz nicht mit den Phasen übereinstimmen, in denen der Anteil der ausländischen Wohnbevölkerung angestiegen ist.27 Auch wirtschaftliche Krisen lassen sich nicht als direkte Ursachen von intensiv betriebener Abwehr gegenüber den AusländerInnen ausmachen. Damit sind aber nur zwei zentrale Mythen offizieller politischer Rede widerlegt. Einen dritten Mythos lassen die Autoren der Studie unwidersprochen, sind sie selbst doch der Ansicht, die Hauptursache von Fremdenfeindlichkeit sei eine tiefgreifende Verunsicherung und Identitätskrise der Gesellschaft, wie sie im Prozess der Modernisierung phasenweise immer wieder auftrete: „Das Fremde ist immer auch das Unvertraute. Es braucht schon sehr viel Selbstsicherheit, um nicht mit Verunsicherung, Bedrohungsgefühlen zu reagieren.“28 Diese Aussage von Gaetano Romano, einem der Leiter des Projektes, steht in einem diametralen Gegensatz zu dem, was in den folgenden Ausführungen zur Sprache gebracht werden soll. In ihrer Konsequenz bedeutet die Aussage, dass die Ausbildung von Selbstsicherheit eine Strategie zur Bekämpfung von Fremdenfeindlichkeit darstellt, die wahren AntirassistInnen also an ihrer unerschütterlichen Identität zu erkennen sind. Dagegen steht am Ausgangspunkt der folgenden Überlegungen die These, dass die Ausbildung von Identität notwendig mit der Ausschliessung des Anderen einhergeht. Zur Illustration muss hier die Reflexion auf den bisherigen Verlauf dieses Textes genügen: Über eine Absetzung von einer anderen Position gewinnt die eigene Position nach und nach an Kontur…

Dreierlei soll in der Folge gezeigt werden: Dass diese Ausschliessung des Anderen jeweils in einem komplexen Geflecht abwertender und idealisierender Bilder des Anderen erfolgt, dass eine Kritik dieser Bilder, die auf ein Bilderverbot abzielt, das Kind mit dem Bade ausschüttet und dass der literarische Diskurs Strategien zur Arbeit an den Bildern des Anderen bereitstellt, von denen der theoretische Diskurs meist nur träumt.

Wolfgang Koeppens Roman „Der Tod in Rom“, 1954 erschienen und von der Kritik gut aufgenommen, aber noch immer nicht ausgeschöpft,29 versammelt eine Reihe deutscher Touristen im Rom der fünfziger Jahre. Einige von ihnen haben zuhause Goethes „Italienische Reise“ im Bücherschrank; mit dem einsetzenden Wirtschaftswunder wird auch Italien als „Land der Sehnsucht, Land der Deutschen“ (27)30 wieder aktuell. Doch weist schon der Titel des Romans darauf hin, dass nicht nur das klassische, idealisierte Bild von Italien als Land schöner Natur, bildender Kultur und edler Menschen zur Sprache kommt, sondern auch dessen Kehrseite, Italien als todbringender Ort, seit Thomas Manns „Der Tod in Venedig“ im deutschsprachigen literarischen Diskurs mit gleicher suggestiver Differenziertheit verbildlicht wie die Idealisierung.31 Die Verschiebung des Handlungsortes von Venedig, schon vor Thomas Mann als Ort morbiden Reizes bekannt, nach Rom, dem klassischen Ort abendländischer Kulturtradition, deutet eine Radikalisierung an, die für Koeppens Roman kennzeichnend ist. Zwar fahren erneut Touristen nach Rom in der Erwartung einer Begegnung mit der abendländischen Kulturtradition, doch wird im Verlauf des Textes, der aus der Perspektive mehrerer deutscher Reisender während zweier aufeinanderfolgender Tage erzählt ist, Rom nahezu durchgängig mit dem Tod in Verbindung gebracht. So werden alle erwähnten Sehenswürdigkeiten mit dem Tod assoziiert. Das Nationaldenkmal von Vittorio Emanuele 11 am Ende des Corso wird ausdrücklich als „Ehrenmal des toten Soldaten“ (58) vorgestellt, von der Engelsburg werden insbesondere die „Mordgruben, Todesbrunnen“ (115) beschrieben, auch der Petersdom wirkt nicht nur „kalt kalt kalt“ (110), sondern vermag vor allem durch eine Skulptur, die einen Toten darstellt - Michelangelos Pietà - zu beeindrucken. Doch nicht nur Sehenswürdigkeiten werden mit dem Tod in Zusammenhang gebracht: Der Abstieg zum Tiber wird als Gang „zu den Toten hinab“ (115) bezeichnet, ein nächtlich stiller Platz wird zum „stillen und toten Platz“ (82), ebenso ist „Am späten Abend [ ... ] die Via dei Lavatore eine tote Strasse“ (59), und selbst der Trevi-Brunnen wird mit dem Tod konnotiert. Die ‚Ewige Stadt‘ist in Koeppens Roman also auf vielfältige Weise mit dem Tod verknüpft. Eine genaue Lektüre zeigt dabei, dass diese Verbildlichung Roms durchgängig als Projektion der deutschen Touristen markiert ist. Besonders deutlich wird dies an einer Textstelle, an der das tote Rom deutschen Reisenden als Spiegel erscheint: „(...) und es war Adolf recht, dass die Stadt den Frieden eines Friedhofs hatte, und vielleicht war auch er gestorben, es war ihm recht, und ging als Toter durch die tote Stadt und suchte als Toter die Gasse mit der Absteige der reisenden Kleriker, auch sie Tote, tot in ihren toten Betten in ihrer Totenabsteige (…).“ (84) Verweist die Todeskonnotation Roms auch nur unbestimmt auf eine Kehrseite der «schönen Italienfahrt», so wird immerhin klar, dass sich im todesfixierten Bild vom anderen Land eigene Probleme artikulieren, dass die Wahrnehmung kultureller Differenzen überschattet ist von inneren Differenzen. Noch bevor anhand der Hauptfiguren des Romans genauer untersucht wird, welche Probleme hier zur Sprache drängen, ist die Komplexität, mit der Koeppen Bilder des Anderen zueinander in Beziehung setzt, theoretisch zu reflektieren. Bemerkenswert ist insbesondere, dass der scheinbar zentrale Bildzusammenhang des Textes, die Wahrnehmung Italiens durch die Deutschen, nicht nur in seiner Widersprüchlichkeit und Ambivalenz, im Schwanken zwischen Begeisterung für das schöne Italien und Abwehr der zahlreichen Hinweise auf den Tod ausgebreitet wird. Vielmehr wird deutlich, dass in der Idealisierung ebenso wie in der Abwertung immer schon verschiedene Bildbereiche überlagert sind: Italien wird als schöne Natur oder als bildende Kultur gepriesen; die Abwehr bemüht nicht nur das Andere des Subjektes, den Tod, sondern verweist ausserdem auf weitere, bisher noch nicht konkretisierte eigene Problembereiche der deutschen Figuren. Herrscht im theoretischen Diskurs oft eine Fixierung auf einen bestimmten Bildbereich des Anderen vor, etwa in der isolierten Thematisierung kultureller, sexueller oder sozialer Differenz, so zeigt Koeppens Roman in aller Deutlichkeit, wie sich stets verschiedene Bildbereiche des Anderen überlagern. Damit nimmt „Der Tod in Rom“ nicht zuletzt wichtige Forschungsergebnisse vorweg, die Tzvetan Todorov erst rund 30 Jahre später in einer Untersuchung über „Die Eroberung Amerikas. Das Problem des Andern“ vorgelegt hat. Am Ausgangspunkt von Todorovs Überlegungen stehen die Folgen der ersten europäischen Begegnung mit dem Anderen in der Neuzeit: „Nie mehr sollte es eine Begegnung von derartiger Intensität geben, wenn man dieses Wort hier überhaupt verwenden kann: Das 16. Jahrhundert sollte Zeuge des grössten Völkermordes in der Geschichte der Menschheit werden."32 Todorov analysiert die Schriften von spanischen Eroberern vor dem Hintergrund des Verlaufs dieser ‚Begegnung‘; er sucht nach den Voraussetzungen dieses Verlaufs in den Wahrnehmungsweisen der Spanier: „Der Wunsch nach Bereicherung und der Bemächtigungstrieb, diese beiden Formen des Machtstrebens, sind sicherlich eine Motivation für das Verhalten der Spanier; doch wird es gleichermassen durch die Vorstellung bestimmt, die sie sich von den Indianern machen“.33 Todorov rekonstruiert nicht nur das gespaltene Indianerbild der Spanier, das Schwanken zwischen ‚gutem Wilden‘ und ‚dreckigem Hund‘, mit dem sich schon bei Kolumbus „die Verkennung der Indianer und die Weigerung, sie als Subjekt anzuerkennen“34, manifestiert. Vielmehr arbeitet er auch den Zusammenhang zwischen verschiedenen Anderen aus der Perspektive des Einen heraus. So kann er zeigen, dass die Vorstellungen, die sich die Spanier von den Indianern machten, mit den Vorstellungen, die sich die Spanier vom Anderen innerhalb der eigenen Kultur, von spanischen Frauen, spanischen Juden oder auch dem eigenen Körper machten, korrespondieren. Die Bilder ‚interner Anderer‘ entsprechen also den Bildern ‚externer Anderer‘35; das Eine konstituiert sich demnach über die Konturierung und Situierung vieler Anderer, wobei dadurch die spezifischen Differenzen zwischen den verschiedenen Anderen ausgeblendet werden.

Bevor nun gezeigt werden soll, auf welche Weise dies in Koeppens Roman konkret zur Sprache kommt, muss auf eine Problematik von Todorovs Ansatz hingewiesen werden, die zugleich auch eine Problematik der Kritik der Bilder des Anderen darstellt. Denn seit es die neuzeitlichen Mythen des Anderen gibt, die verführerischen oder bedrohlichen Bilder unterschiedlichster Differenzen, gibt es auch eine Kritik an deren verkennender Tendenz. Berühmt wurde im Zusammenhang des deutschsprachigen Italiendiskurses etwa die Kritik am schönen Bild Italiens durch Gustav Nicolai. Programmatisch lautet schon der Titel seiner Schrift aus dem Jahre 1836: „Italien wie es wirklich ist“36. Diese Form von Kritik am Bild vom schönen Land führt ein aufklärerisches Anliegen aus, das sich allgemein als Kritik an der Verkennung kultureller Differenz in den Mythen über die Fremde fassen lässt. Im Vertrauen auf die Ergebnisse der neu sich formierenden Wissenschaften wie Geographie, Geschichte und Ethnologie werden die tradierten und neuentstehenden Bilder über fremde Länder als Trugbilder, Projektionen und Verleumdungen entlarvt, die mit der Wirklichkeit nichts gemein haben. Dabei wird nur in den seltensten Fällen reflektiert, dass die Kritik an der Verkennung kultureller Differenz in Bildern von fremden Ländern, die Kritik an ihrer Tendenz, zu beschönigen oder abzuwerten und damit von der tatsächlichen Vielfältigkeit und Widersprüchlichkeit zu abstrahieren, in den Wissenschaften als Anhäufung positiven Wissens über die einzelnen Länder in ihr Gegenteil umzuschlagen droht. Denn auf der Ebene der Beschreibungskategorien, aber auch schon in der Fixierung auf positive Tatsachen und Ereignisse sowie in der Orientierung an Eindeutigkeit wiederholt sich die Verkennung kultureller Differenz als Setzung universeller Begriffe und allgemeingültiger Verfahrens weisen.37 Diese Form von Kritik ersetzt, mit anderen Worten, die konkreten Projektionen durch abstrakte, tritt dabei aber gegen die konkreten Bilder des Anderen bilderstürmerisch auf. Tzvetan Todorov steht in der Tradition dieser aufklärerischen Kritik, auch wenn er entschieden differenzierter vorgeht als Nicolai. Doch gilt nicht auch für seine differenzierte Analyse von Bildern verschiedener Anderer, gilt nicht auch für diese Form von Kritik, die nicht mehr von einer souveränen Position des Wissens um die adäquate Darstellung des Anderen aus agiert, sondern detailliert nachzeichnet, wie die Bilder des Anderen in einem System zur Stabilisierung des Einen hervorgebracht werden, gilt nicht auch für diese Kritik, dass sie sich implizit von diesen Bildern distanziert, gerade indem diese ausgiebig, aber nüchtern analysiert werden? Was dabei fehlt, ist eine Auseinandersetzung mit der Faszination dieser Bilder; entweder werden sie, wie bei Nicolai, schlicht für ungültig erklärt, was konsequenterweise im Aufruf zu ihrem Verbot münden müsste, oder sie werden wie bei Todorov in einer positivistischen Analyse mit kritischer Attitüde einfach reproduziert. Ausserdem wiederholen beide Verfahren strukturell das Kritisierte; auch sie reden über das Andere, fixieren es in bestimmte Bilder. Wie aber ist es möglich, dasjenige an den Bildern des Anderen, das mehr ist, als einer nüchternen Analyse zugänglich ist, und das ihre Faszination ausmacht, zur Sprache zu bringen, ohne den Anspruch auf Kritik an den Fixierungen und ihren verheerenden Wirkungen aufzugeben, ohne kritiklos dem Chor idealisierender oder abwertender Stimmen beizutreten? Ein Ausweg aus den Sackgassen der Kritik von Bildern lässt sich in Walter Benjamins ‚Denkbildern‘ finden, mit denen er ein Verfahren des Umgangs mit Bildern und Mythen entwickelt hat, das weder die Suggestionskraft der Bilder ausblendet noch auf deren Kritik verzichtet. Benjamins Konzeption des Denkbildes oder ‚dialektischen Bildes‘ setzt sich von der blossen Wiederholung der Struktur des Imaginären, von „archaischen Bildern“38 gleichermassen ab wie von der Fiktion eines bilderlosen Denkens.39 Vielmehr geht es um eine bestimmte Lektüre von Bildern, in der diese aus ihren überkommenen Ordnungen herausgesprengt und blitzhaft als „gelesene Bilder“40 einem „Jetzt der Erkennbarkeit“41 zugänglich werden: „Nur dialektische Bilder sind echte (d. h.: nicht archaische) Bilder; und der Ort, an dem man sie antrifft, ist die Sprache.“42 Mit Benjamins Konzeption des Denkbildes wird also nicht im „geilen Drang aufs ‚Grosse Ganze‘“43 Endgültiges und Abschliessendes zu den Bildern des Anderen zusammenzutragen, sondern der Konfliktgehalt je spezifischer Bildkonstellationen hervorzutreiben sein, wie er heute, im „Jetzt der Erkennbarkeit“44, erscheint. Wolfgang Koeppens Roman «Der Tod in Rom» ist daher nicht nur daraufhin zu untersuchen, in welcher Weise in ihm konkret in der Darstellung des externen Anderen, Italiens, auf Bilder des internen Anderen der deutschen Figuren verwiesen wird. Im Mittelpunkt soll vielmehr stehen, ob sich „Der Tod in Rom“ als Denkbild im Sinne Benjamins lesen lässt, als Text, der kursierende Bilder des Anderen nicht bloss reproduziert, sondern so zueinander in Beziehung stellt, dass in deren Suggestionskraft auch ihr Konfliktpotential aufblitzt.

Wichtig ist zunächst, dass in „Der Tod in Rom“ die Perspektive des Einen auf das Andere, die Wahrnehmung der deutschen Figuren, auf vielfältige Weise aufgefächert wird, indem abwechselnd aus der Sicht der verschiedenen Figuren erzählt wird. Im Zentrum steht dabei mit deutlichem Bezug auf Thomas Mann ein Künstler, Siegfried Pfaffrath, der ungeplant in der Fremde seiner Familie wiederbegegnet. Zumeist wird die Figurenkonstellation des Textes deshalb als Kombination aus dem Muster des Künstler- und des Familienromans beschrieben. In den Blick gerät dadurch, dass nicht nur vom Komponisten Siegfried Pfaffrath die Rede ist, sondern auch seine Familienmitglieder eine wichtige Rolle spielen, allen voran sein Onkel Gottlieb Judejahn, ein ehemaliger SS-General. Er wurde zwar in Nürnberg zum Tode verurteilt, war aber bereits in einem arabischen Staat untergetaucht, wo er seitdem als Armeeausbilder damit beschäftigt ist, die Wüste in ein Exerzierfeld zu verwandeln. Zufällig befindet er sich zur gleichen Zeit in Rom wie Siegfried, doch während dieser nach Rom gereist ist, weil er auf einem Musikkongress mit seiner ersten Symphonie auf Erfolg hofft, geht Judejahn dem Auftrag nach, Waffen einzukaufen, «Panzer, Kanonen, Flugzeuge» (25). Ausserdem hat er ein Treffen mit seinem Schwager verabredet, Siegfrieds Vater, einem ehemaligen Regierungspräsidenten, der trotz Nazivergangenheit schon wieder Oberbürgermeister ist und seinen erneuten Einfluss spielen lassen will, damit auch Judejahn in Deutschland «von vorne anfangen» (32) kann. Erwähnt werden ausserdem Siegfrieds Mutter, sein jüngerer Bruder Dietrich, würdiger Nachfolger in den opportunistischen Fussstapfen des Vaters, sowie seine Tante Eva Judejahn, die Ehefrau seines Onkels, die noch immer unerschütterlich an der Nazi-Ideologie festhält. Ihr Sohn Adolf dagegen ist Priester geworden; wie sein in Zwölf-Tonreihen komponierender Vetter hat auch er einen entschiedenen Bruch mit seiner Nazi-Jugend vollzogen. Entscheidend für die Brisanz des Textes ist nun, dass auch von einem deutschen Emigrantenpaar erzählt wird, dem Dirigenten Kürenberg und seiner jüdischen Frau Ilse, was in der Forschung allenfalls im Zusammenhang mit Ilses Ermordung durch Judejahn am Schluss des Romans erwähnt wird.45 Damit wird aber ausgeblendet, dass Koeppens Roman auf zufällig-künstliche Weise in Rom eine Reihe deutscher Figuren zusammenführt, die allesamt vor zwanzig Jahren in derselben deutschen Provinzstadt gelebt und derselben Schicht angehört haben. Denn Kürenberg ist, wie sich schon zu Beginn des Textes herausstellt, 1934 Generalmusikdirektor in der Provinzstadt gewesen, aus der die Pfaffraths, Judejahns und die Familie Ilses, die Aufhäusers, kommen. Kürenbergs Versuch, bei Pfaffrath die Freilassung seines Schwiegervaters, eines assimilierten Kaufhausbesitzers, zu erwirken, ist fehlgeschlagen. Statt dem Rat Pfaffraths zu folgen, sich scheiden zu lassen und die in Aussicht stehende Stelle in Berlin so nicht zu verwirken, ist Kürenberg mit Ilse rechtzeitig nach England emigriert, während ihr Vater von Judejahns Männern ermordet worden ist. Kürenberg ist es nun, der Siegfried Pfaffraths Symphonie für den Musik-Kongress dirigiert. Dadurch wird nicht nur Siegfried konkret mit Menschen konfrontiert, an denen sich seine Verwandten schuldig gemacht haben, nach dem Konzert kommt es ausserdem zu einer erneuten Begegnung von Ilse und Kürenberg mit Siegfrieds Vater, bei der auch Judejahn anwesend ist. In der Figurenkonstellation des Romans wird somit nicht nur die mörderische Homogenisierung der deutschen Gesellschaft durch den Nationalsozialismus thematisiert, sondern, auf einen Nenner gebracht, der postfaschistische deutsche Schuldzusammenhang.46 Dass die deutschen Figuren in Rom so häufig auf den Tod verwiesen werden, hat weder etwas mit Rom selbst zu tun, noch ist es einfach Ausdruck einer diffusen Todesangst. Vielmehr artikuliert sich in der Todesfixierung der deutschen Figuren das, was in ihrem Selbstverständnis als „Davongekommene, einmal vom Schreck geschüttelte und dann Vergessende“(30) nicht vorkommt. „Es war vergangen, ich wollte nicht erinnert werden“(165), sagt Siegfried Pfaffrath an einer Stelle. Unwillkürlich stellt sich aber bei einem Abendessen mit den Kürenbergs die Erinnerung ein: „Und wir gingen zu Tisch, wir setzten uns, und Kürenberg tat die Speisen auf, sie schenkte den Wein ein, und sicher war es ein köstliches Mahl, ich hatte den Koch zu loben, aber ich konnte nicht, ich schmeckte nichts, oder doch - Asche schmeckte ich, lebenlose zum Verwehen bereite Asche, und ich dachte: Sie hat ihres Vaters Haus nicht brennen sehen. Und ich dachte: Sie hat auch unsere Häuser nicht brennen sehen. Und ich dachte: Das ist geschehen geschehen geschehen das ist nicht zu ändern nicht zu ändern das ist verdammt verdammt verdammt verdammt.“ (47) In der Auffächerung der Perspektiven des Einen, in der konkreten Gestaltung der unterschiedlichen deutschen Figuren in ihren Verflechtungen wird der Hintergrund der Todeskonnotation Roms deutlich, die Verstrickung in die Zeit des Nationalsozialismus. Dabei geht es nicht einfach nur um die Umkehr des Mythos von der Stunde Null, vielmehr werden die verschiedenen deutschen Figuren im externen Anderen, in Rom, so gestaltet, dass die Unterschiede zwischen den verschiedenen internen Anderen zur Sprache kommen. So erhält Ilse, als Jüdin interne Andere für die nicht jüdischen deutschen Figuren, eine eigene Stimme, wodurch die Projektionen und Zuschreibungen der anderen kontrastiert werden. Allerdings neigt der Text in der konkreten Zeichnung Ilses auch an